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Zweiter Abschnitt.


Erstes Kapitel.

Mit meinem zwölften Jahre hatte ich alle Klassen der Vorbereitungsschule, in welche ich geschickt worden, durchlaufen und mir alles Wissen angeeignet, das in derselben zu erlangen war. Meine Eltern sahen sich daher nach einem weiteren Felde für meinen strebsamen Geist um. Während der letzten zwei Jahre meines Aufenthaltes in der Schule war meine Liebe zum Lernen aufs neue erwacht, allein es war eine kräftige, wache, nicht träumerische Liebe, angespornt durch den praktischen Wunsch, mich vor meinen Mitschülern auszuzeichnen.

Mein Vater suchte nicht länger mein geistiges Streben zu zügeln. Er fühlte zu große Verehrung vor der Gelehrsamkeit, um nicht zu wünschen, ich möchte wo möglich selbst ein Gelehrter werden, obgleich er mehr als einmal, in etwas wehmüthigem Tone zu mir sagte: »Bemeistere die Bücher, laß' aber nicht sie zum Meister über Dich werden. Lies, um zu leben, doch lebe nicht, um zu lesen. Ein Sclave der Lampe ist genug für einen Haushalt; meine Knechtschaft soll nicht zu einer erblichen Dienstbarkeit werden.«

Mein Vater sah sich, wie schon gesagt, nach einer passenden Anstalt um, und der Ruf von Dr. Hermans »Philhellenischem Institut« kam zu seinen Ohren.

Dieser Dr. Herman war der Sohn eines deutschen Musiklehrers und hatte sich in England niedergelassen. Seine eigenen Studien hatte er auf der Universität in Bonn beendigt; da er jedoch fand, daß die Gelehrsamkeit dort eine zu gemeine Waare, um den hohen Preis einzubringen, zu welchem er seine eigene anschlug, und zudem seine Ansichten über politische Freiheit ihm eine Vorliebe für England einflößten, so beschloß er, in letzterem Lande eine Schule zu gründen, welche »Epoche in der Geschichte des menschlichen Geistes machen sollte.« Dr. Herman war eine der ersten jener neumodischen pädagogischen Autoritäten, welche sich späterhin zahlreich unter uns verbreiteten und den Grundlagen, unserer großen classischen Seminarien vielleicht einen gefährlichen Stoß versetzt haben würden, wenn nicht letztere, ebenso weislich, wie vorsichtig, einige der vernünftigeren Grundsätze, welche mit den Grillen und Hirngespinsten ihrer neuerungssüchtigen Nebenbuhler bunt vermengt waren, in sich aufgenommen hätten.

Dr. Herman hatte viele gelehrte Werke gegen jede früher bestehende Unterrichtsmethode geschrieben. Dasjenige, welches am meisten Aufsehen erregte, war eine Schrift über die schmähliche Täuschung in den Buchstabirbüchern. »Ein lügenhafteres, unsinnigeres Blendwerk als das, mit welchem wir den klaren Instinkt der Wahrheit in unsern Buchstabirsystemen verwirren, ist niemals vom Vater der Lüge erfunden worden.« So lautete die Einleitung zu dieser berühmten Abhandlung. »Nehmen wir z. B. das einsylbige Wort Hund. Welche eherne Stirne muß man nicht besitzen, um einem Kinde zu sagen, es habe H, U, N, D – Hund zu buchstabiren; das heißt, vier Laute, die ein ganz entgegengesetztes Gemisch bilden – entgegengesetzt im Einzelnen und entgegengesetzt im Ganzen – sollen ein kleines einsylbiges Wort ausmachen, das, wenn man nur bei der einfachen Wahrheit stehen bliebe, ein Kind schon durch bloßes Anschauen lesen lernt! Wie können vier Laute, die dem Ohre so klingen: ha – uh – en – de, den Ton Hund hervorbringen? Klingen sie nicht eher wie ha – u – en – de oder hauende? Wie soll ein Erziehungssystem gedeihen, das mit einer so ungeheuerlichen Falschheit beginnt – einer Falschheit, die so ganz im Widerspruch mit dem Gehörsinn steht? Kein Wunder, daß das ABC-Buch die Verzweiflung der Mütter ist.« Aus diesem Pröbchen wird der Leser entnehmen, daß Dr. Herman in seinem Erziehungssystem bei dem Anfang begann – er nahm den Ochse n geradezu bei den Hörnern. Im Uebrigen hatte er auf der breiten Grundlage des Eclecticismus sich jede neue Patenterfindung zugeeignet, um mit Ideen für die Jugend um sich zu schießen. Den Drücker für sein Gewehr hatte er von Hofwyl, die Watte von Hamilton und die Zündhütchen von Bell und Lancaster. Die jugendliche Idee! er hatte sie fest und lose geladen – bald mit bildlichen Illustrationen, bald im Ermahnungssystem, kurz, in jeder erdenklichen Weise und mit jedem nur immer möglichen Ladstock; ich hege indeß einige traurige Zweifel, ob bei dieser Behandlung der Schoß der jugendlichen Idee auch nur um einen Zoll weiter trug, als unter dem alten Mechanismus von Stein und Stahl. Gleichwohl lehrte Dr. Herman Vieles, was an andern Schulen zu sehr vernachlässigt wurde; außer dem Lateinischen und Griechischen ertheilte er Unterricht in verschiedenen Lehrstoffen, welche man heutzutage in dem unbestimmten Ausdruck »gemeinnützige Kenntnisse« zusammenfaßt. Er hielt besondere Lehrer für Chemie. Mechanik und Naturgeschichte. Die Arithmetik und die Elemente der Physik wurden mit Eifer und Sorgfalt behandelt, und auf dem Spielplatz kamen alle Arten gymnastischer Uebungen zur Anwendung. Wenn daher die jugendliche Idee auch nicht weiter trug, verbreitete sie doch ihre Schrote auf einen größeren Raum, und ein Knabe konnte nicht fünf Jahre in der Anstalt zubringen, ohne wenigstens etwas zu lernen, ein Vortheil, der sich nicht allen Schulen nachrühmen läßt. Jedenfalls lernte er seine Augen, Ohren und Glieder gebrauchen und gewöhnte sich an Ordnung und Reinlichkeit – die Schule gewann den Beifall der Mütter und befriedigte die Väter; mit Einem Worte, sie gedieh, und Dr. Hermann zählte zu der Zeit, von der ich spreche, über hundert Zöglinge. Als der würdige Mann sein Lehramt antrat, hatte er öffentlich den humansten Abscheu gegen das barbarische System körperlicher Züchtigung kundgegeben; in demselben Maßstabe jedoch, in welchen, sich die Zahl seiner Schüler mehrte, kam er leider von diesen ehrenhaften, antibirkenen Ideen zurück. Er war, vielleicht mit Widerstreben, ohne Zweifel aus Ueberzeugung, jedenfalls mit voller Entschiedenheit zu dem Schlusse gelangt, daß es geheime Quellen gibt, zu deren Entdeckung nur die Zweige einer Wünschelruthe führen können, und nachdem er gefunden, mit welcher Leichtigkeit der ganze Mechanismus seines kleinen Reiches unter Beiziehung des birkenen Regulators sich leiten ließ, so wirbelte, je reicher, träger und fetter er wurde, das Philhellenische Institut munter fort, wie ein Kreisel, der nur durch beharrliche Anwendung der Peitsche in lebhafter Bewegung erhalten wird.

Ich glaube nicht, daß der Ruf der Schule unter dieser traurigen Abtrünnigkeit von Seiten ihres Vorstandes zu leiden hatte; im Gegentheil, ein solches System schien natürlicher und englischer, weniger ausländisch und ketzerisch zu sein. Jedenfalls befand sich die Anstalt im Zenith ihres Ruhmes, als ich eines schönen Morgens mit aufs Beste hergerichteten und ausgebesserten Kleidern und einem großen Rosinenkuchen in der Reisetasche an ihrem gastlichen Thron abgesetzt wurde.

Unter Dr. Hermans verschiedenen Wunderlichkeiten war eine, an welcher er mit weit mehr Zähigkeit festhielt, als an den antikörperlichen Strafartikeln seines Glaubensbekenntnisses, und in der That war sie es gewesen, welche ihn veranlaßt hatte, über dem Eingang seiner Anstalt die eindrucksvollen Worte »Philhellenisches Institut« in großen, vergoldeten Buchstaben glänzen zu lassen. Er gehörte zu jener erleuchteten Klasse von Gelehrten, welche unsern populären Mythologien offenen Krieg erklären und jede Ideenanknüpfung umstoßen, womit die Etonianer und Harrovianer die bekannten Namen der alten Geschichte in Verbindung bringen. Mit Einem Worte, er suchte in der verstümmelten Orthographie der griechischen Eigennamen die scholastische Reinheit wieder herzustellen. Seine größte Entrüstung riefen die kleinen Knaben hervor, wenn sie, ihrem früheren Unterricht gemäß, Zeus mit Jupiter, Ares mit Mars, Artemis mit Diana, kurz, die griechischen Gottheiten mit den römischen verwechselten, und an dem Grundsatze, diese beiden Arten von Persönlichkeiten scharf von einander zu trennen, hastete er mit einer solchen Starrheit, daß uns seine Kreuz- und Querfragen in steter Verwirrung erhielten.

»Wie« – konnte er, gegen einen neuen Schüler gewendet, ausrufen, welcher eben eine Grammatikschule nach dem Etonianischen System verlassen hatte – »was fällt Ihnen ein, Zeus mit Jupiter zu übersetzen? Hat der verliebte, zornige, wolkensammelnde Gott des Olymp mit seinem Adler und seiner Aegis auch nur die geringste Aehnlichkeit mit dem ernsten, förmlichen und sittenreinen Jupiter Optimus Maximus des römischen Kapitols? – mit einem Gotte, Master Simpkins, der sich vor dem Gedanken entsetzen würde, einem unschuldigen Fräulein unter der Maske eines Ochsen oder eines Schwanes nachzulaufen? Ich lege Ihnen diese Frage ein für allemal vor, Master Simpkins.« Master Simpkins beeilte sich, mit der Ansicht des Doctors einverstanden zu sein. »Und wie können Sie,« fuhr Dr. Herman majestätisch fort, an einen andern verbrecherischen Alumnus sich wendend – »wie können Sie sich unterstehen, den Ares des Homer mit dem dreisten Gemeinplatz Mars zu übersehen? Ares, Master Jones, der, wenn er verwundet wurde, so laut brüllte, wie zehntausend Streiter, oder wie Sie mir brüllen sollen, wenn ich Sie wieder darauf ertappe, daß Sie ihn Mars nennen! Ares, der sieben Plectra Landes bedeckte, Ares, den Todtschläger, zu verwechseln mit dem Mars oder Mavors, welchen die Römer den Sabinern stahlen! Mars, der feierliche und ruhige Beschützer Roms! Master Jones, Master Jones, Sie sollten sich vor sich selbst schämen!« Und immer mehr wuchs seine Begeisterung, immer stärker traten die deutschen Kehllaute und eine eigenthümliche Aussprache des Englischen hervor, bis endlich der gute Doctor seine beiden Hände mit zwei großen Ringen an den Daumen emporhob und ausrief: »Und Du, Aphrodite, Du, deren Geburt die Jahreszeiten willkommen hießen! Du, die Du den Adonis in einen Sarg legtest und alsdann in eine Anemone verwandeltest, Du solltest von diesem schnüffelnasigen kleinen Master Budderfield Venus genannt werden! Venus, die Beschützerin der Baumgärten, der Leichenbegängnisse und der garstigriechenden Abzugskanäle! Venus Cloacina – o mein Gott! Komm her, Master Budderfield, ich muß Dich dafür peitschen – ich muß in der That, kleiner Junge!«

Da unser philhellenischer Lehrer seinen archäologischen Sprachreinigungseifer auf alle griechischen Eigennamen erstreckte, so war es nicht wahrscheinlich, daß mein unglücklicher Taufname seiner Aufmerksamkeit entgehen werde. Meine erste schriftliche Ausarbeitung unterzeichnete ich in bester runder Schrift mit »Pisistratus Caxton.« »Und man nennt Ihren Papa einen Gelehrten!« sagte der Doctor verächtlich.»Ihr Name, Herr, ist griechisch, und griechisch werden Sie so gut sein, ihn zu schreiben, mit einem e und einem o – P, E, I, S, I, S, T, R, A, T, O, S. Was läßt sich für die Zukunft von Ihnen erwarten, Master Caxton, wenn Sie nicht einmal Ihrem eigenen guten Namen die gebührende Beachtung schenken? Lassen Sie mir nie wieder eine solche schnöde Verunstaltung vor Augen kommen! Mein Gott, Pi! wenn es doch Peï heißen muß!«

Als ich meinem Vater das nächste Mal schrieb und ihm mit aller Bescheidenheit meldete, daß meine Kasse in einem schlechten Zustand sich befinde, daß ein Ballraket sehr willkommen wäre, und daß die Lieblingsgöttin unter den Knaben (gleichviel, ob griechisch oder römisch) die Diva Moneta sei, unterzeichnete ich meinen Brief mit einem Anflug von classischem Stolz: »Dein gehorsamer Sohn Peisistratos.« Die nächste Post brachte mir ein trauriges Dämpfungsmittel für meinen scholastischen Eifer. Die Antwort lautete, wie folgt:

»Mein lieber Sohn.

»Ich ziehe meine alten Bekannten Thucydides und Pisistratus dem Thoukydides und Peisistratos vor. Mit Horaz bin ich vertraut. Horatius aber kenne ich nur als Cocles. Pisistratus kann mit einem Ballraket spielen, ich finde jedoch keine griechische Autorität, welche mich vermuthen läßt, daß Peisistratos dieses Spiel bekannt war. Ich würde mich glücklich schätzen, Dir eine Drachme oder eine ähnliche Münze zu senden, bin aber nicht im Besitz von Geldsorten, welche in Athen Kurs hatten, als Pisistratus Peïsistratos buchstabirt wurde. Dein Dich liebender Vater

A. Caxton.«

Dies war in der That die erste praktische Verlegenheit, welche aus dem traurigen Anachronismus hervorging, den mein Vater prophetisch beklagt hatte. Es geht indeß nichts über die Erfahrung, wenn es gilt, den Werth eines Vergleichs zu beweisen, Peisistratos fuhr fort, seine Aufsätze zu schreiben, und einem zweiten Briefe von Pisistratus folgte das Ballraket.


Zweites Kapitel.

Ich war ungefähr sechzehn Jahre alt, als ich bei einem Besuche in der Heimath während der Ferien den Bruder meiner Mutter antraf, welcher sich unter den Schutz unserer Hausgötter begeben hatte. Onkel Jack, wie wir ihn vertraulich nannten, war ein heiterer, angenehmer, enthusiastischer, redseliger Mann, der drei kleine Vermögen in dem Versuche, ein großes zu erringen, verloren hatte.

Onkel Jack war ein großer Spekulant; in allen seinen Spekulationen jedoch gab er sich niemals den Anschein, als ob er dabei an sich selbst denke. Stets lag ihm nur das Wohl seiner Nebenmenschen am Herzen – aber wie wenig kann man sich in dieser undankbaren Welt auf die Nebenmenschen verlassen! Als Onkel Jack volljährig wurde, erbte er von seinem Großvater mütterlicher Seits 6000 Pfund. Da fiel ihm denn ein, daß seine Nebenmenschen von den Schneidern schmählich betrogen werden. Dieser neunte Theil der Menschheit fristete seine Existenz notorisch dadurch, daß er neunmal zu viel forderte für die Bekleidung, welche durch die Civilisation und vielleicht durch einen Wechsel des Klimas für uns nothwendiger geworden ist, als für unsere Vorfahren, die Picten. Aus reiner Menschenliebe gründete daher Onkel Jack eine »Uneigennützige große National-Bekleidungs-Gesellschaft«, welche es unternahm, das Publikum mit Beinkleidern vom besten sächsischen Tuch à 7 Schillinge 6 Pence, mit superfeinen Röcken, à 1 Pfund 18 Schillinge, und mit einem Dutzend Westen für denselben Preis zu versehen. Alles sollte durch Dampf gearbeitet und auf diese Weise die spitzbübischen Schneider bestraft, die Menschheit bekleidet und die Philanthropen (dies war jedoch nur Nebenrücksicht) durch einen reinen Gewinn von 30 Prozent belohnt werden. Allein trotz der augenscheinlichen Menschenfreundlichkeit dieses christlichen Planes und der unfehlbaren Berechnungen, auf welche er gegründet war, starb die Gesellschaft als ein Opfer der Unwissenheit und des Undanks unserer Nebenmenschen. Alles, was Jack von seinen 6000 Pfund übrig blieb, war der vierundfünfzigste Theil an einer kleinen Dampfmaschine, ein großer Vorrath von bereits fertigen Beinkleidern und die Verbindlichkeiten der Direktoren.

Onkel Jack verschwand und ging auf Reisen. Hier machte sich derselbe Geist der Philanthropie, welcher seine Geldspekulationen bezeichnete, in Gefährdung seiner Person geltend. Er fühlte sich zu allen bedrängten Gemeinschaften hingezogen; wenn es mit einem Stamme, einer Race oder einer Nation in der Welt abwärts ging, so warf sich Onkel Jack kühn in die Wagschale, um das Gleichgewicht wieder herzustellen. Mochten es Polen, Griechen (diese kämpften eben damals gegen die Türken), Mexikaner oder Spanier sein – Onkel Jack steckte seine Nase in alle ihre Händel. Der Himmel verhüte, daß ich mich über Dich lustig mache, armer Onkel Jack, wegen dieser Deiner edelmüthigen Vorliebe für die Unglücklichen; allein, wo immer eine Nation in Bedrängniß, gibt es stets auch Geschäfte zu machen. Die polnische Sache, die griechische Sache, die mexikanische Sache, die spanische Sache – sie alle standen nothwendig mit Anlehen und Subscriptionen in Verbindung. Wenn die Festlandpatrioten mit der einen Hand das Schwert aufnehmen, wissen sie in der Regel mit der andern tief in die Taschen ihrer Nachbarn zu fahren. Onkel Jack ging nach Griechenland, von da nach Spanien und von Spanien nach Mexiko. Ohne Zweifel war es ihm gelungen, den bedrängten Völkern wesentliche Dienste zu leisten, denn er kehrte mit einem unwidersprechlichen Beweis ihrer Dankbarkeit in der Form von 3000 Pfunden wieder zurück. Kurz nachher erschien ein Prospekt der »Uneigennützigen, neuen, großen National-Versicherungs-Gesellschaft für die gewerbtreibenden Klassen.« Dieses unschätzbare Aktenstück setzte die unendlichen Vortheile für die Menschheit auseinander, welche aus der Einführung von Versicherungs-Gesellschaften entspringen, wies jedoch zugleich die ungeheure Höhe der Einlagen nach, welche die bestehenden Anstalten forderten, so daß sie den Bedürfnissen ehrlicher Handwerker ganz und gar nicht entsprächen, und erklärte, daß nur die reinsten Absichten des Wohlwollens gegen den Nebenmenschen und der Wunsch, die Gesellschaft auf eine höhere Stufe der Sittlichkeit zu erheben, die Direktoren veranlaßt hätten, eine neue Gesellschaft zu bilden, gegründet auf die edelsten Principien und auf die mäßigste Berechnung; – schließlich ging es auf die Darlegung über, daß 24½ Prozent der kleinstmögliche Ertrag sei, welchen die Actionäre zu erwarten hätten. Die Gesellschaft begann unter den günstigsten Auspicien; ein Erzbischof ließ sich zur Uebernahme der Präsidentschaft bewegen, unter der Bedingung allerdings, daß er nichts weiter, als seinen Namen, beizusteuern habe. Onkel Jack – euphonistischer als »der gefeierte Philanthrop John Jones Tibbets, Esquire« bezeichnet – war Honorarsekretär, und das Kapital wurde zu zwei Millionen festgesetzt. Allein die arbeitenden Klassen waren so verblendet und begriffen so wenig die Wohlthat, vom einundzwanzigsten Lebensjahre an bis zum fünfzigsten wöchentlich einen Schilling neun Pence zu bezahlen, um sich von dem letztgenannten Alter an eine Jahresrente von 18 Pfund zu sichern, daß die Gesellschaft und mit derselben auch Onkel Jacks 3000 Pfund in dünne Luft zerflossen. Nun hörte und sah man drei Jahre lang nichts mehr von ihm. Sein Dasein war in solches Dunkel gehüllt, daß man sich genöthigt sah, nach dem Tode einer Tante, welche ihm eine kleine Farm in Cornwall hinterließ, ausschreiben zu lassen, daß: »Wenn John Jones Tibbets, Esquire, in den Stunden zwischen zehn und vier an die Herren Blunt und Tin, Lothbury, sich wenden wolle, ihm daselbst etwas Vortheilhaftes mitgetheilt werden würde.« Mit unglaublicher Geschwindigkeit kam Onkel Jack bei diesem Aufruf zum Vorschein, und ließ sich als »Gutsbesitzer« mit großer Befriedigung in seiner behaglichen Heimath nieder. Die Farm, welche ungefähr zwei hundert Morgen umfaßte, war im besten Zustande, und trotz ein oder zwei chemischen Versuchen, die Onkel Jack nach den wissenschaftlichsten Grundsätzen dreißig Morgen Buchwaizensaat kosteten – die armen Aehren kamen nämlich so voll Flecken und Narben hervor, als hätte man ihnen die Pocken eingeimpft – war er zwei Jahre lang ein wohlhabender Mann. Unglücklicher Weise jedoch mußte er eines Tages auf einem schönem mit schwedischen Rüben bepflanzten Felde eine Kohlenmine entdecken. Schon in der nächsten Woche war das Haus angefüllt mit Bergbaukundigen und Naturforschern, und einen Monat später erschien in meines Onkels bestem Style, der durch die Uebung sehr gewonnen hatte, ein Prospekt der »Großen Nationalantikohlen-Monopol-Gesellschaft, gegründet zum Besten der armen Ansässigen von London und zu Bekämpfung des ungeheuerlichen Monopols der Londoner Kohlenwerften.«

»Ein Gang der schönsten Kohlen ist auf dem Besitzthum des gefeierten Philanthropen John Jones Tibbets, Esq., entdeckt worden. Diese neue Mine, die Molly Wheal, welche von dem ausgezeichneten Bergbauverständigen Giles Compaß, Esq., untersucht und als vorzüglich befunden wurde, verspricht dem Gemeinsinn und dem Reichthum der Kapitalisten ein unerschöpfliches Feld. Man hat berechnet, daß die besten Kohlen in guter Ladung zu 18 Schillingen per Last bis in die Mündung der Themse geliefert werden können und dabei den Actionären einen Gewinn von nicht weniger als 48 Procent abwerfen. Die Actie kostet 50 Pfund, in 5 Raten einzuzahlen. Erforderliches Kapital: Eine Million. Um Actien wolle man sich zeitig melden bei den Herren Blunt und Tin, Sachwalter, Lothbury.«

Hier nun war wenigstens einmal etwas Greifbares für die Nebenmenschen – Land, eine Mine, Kohlen – und es fanden sich wirklich Actionäre und Kapital. Onkel Jack war jetzt so fest überzeugt, daß sein Glück gemacht sei, und hegte dabei einen so sehnlichen Wunsch nach Betheiligung an dem Ruhm, das ungeheuerliche Monopol der Londoner Werften zu Grunde zu richten, daß er ein sehr vortheilhaftes Angebot für den Verkauf des ganzen Gutes zurückwies, Hauptactionär blieb und nach London zog, wo er sich eine eigene Equipage hielt und seinen Mitdirektoren Diners gab. Die Gesellschaft machte drei Jahre lang treffliche Geschäfte. Die Leitung und Bearbeitung der Mine war ganz dem ausgezeichneten Bergbauverständigen Giles Compaß übertragen worden, und da dieser Gentleman den Actionären regelmäßig zwanzig Prozent ausbezahlte, so hatten sich die Actien um mehr als hundert Prozent gehoben. Eines schönen Morgens aber, als man es am wenigsten erwartete, war Giles Compaß, Esq., nach einem ausgedehnteren Felde für ein Genie, wie das seinige, nach den Vereinigten Staaten entwichen, und es stellte sich nun heraus, daß die Miene schon seit mehr als einem Jahre in eine große Wassergrube ausgelaufen war, und Mr. Compaß die Actionäre von ihrem eigenen Kapitale bezahlt hatte. Diesmal konnte es meinem Onkel wenigstens zum Troste gereichen, daß er in sehr guter Gesellschaft zu Grunde gerichtet worden war: drei Doctoren der Gottesgelehrtheit, zwei Parlamentsmitglieder, ein schottischer Lord und ein Direktor der ostindischen Compagnie befanden sich alle in einem und demselben Boote mit ihm – in jenem Boote, welches mit der Kohlenmine in der großen Wassergrube seinen Untergang fand.

Unmittelbar nach diesen, Ereignisse erinnerte sich Onkel Jack, leichten Herzens und sanguinisch, wie immer, plötzlich seiner Schwester Mrs. Caxton, und da er nicht wußte, wo er sich sonst ein Mittagessen holen sollte, hielt er es für das Beste, seine Beine unter meines Vaters trabes citrea nach Horaz, Oden IV, 1, 1: sub trabe citrea, unter dem Cedernbaum. – was der scharfsinnige W. S. Landor mit »Mahagony« übersetzt wissen will – ausruhen zu lassen. Einen einnehmenderen Mann, als Onkel Jack, gab es gewiß niemals. Alle rundlichen Personen sind beliebter, als die hagern; der Anblick eines vollen Gesichtes hat etwas so heiteres und Angenehmes! Mußte nicht eine Verschwörung, an deren Spitze ein hagerer, hungrig aussehender Mensch, wie Cassius Gaius Cassius Longinus gilt neben seinem Freund und Schwager Marcus Iunius Brutus als das Haupt der Verschwörung gegen Gaius Iulius Caesar., stand, mit Bestimmtheit auf Erfolg rechnen können? Hätten die römischen Patrioten Onkel Jack unter sich gehabt, so würden sie Shakespeare vielleicht niemals den Stoff zu einem Trauerspiel geliefert haben. Onkel Jack war so rund, wie ein Rebhuhn – nicht schwerfällig, nicht corpulent, nicht fett, nicht » vastus« plump., was Cicero an einem Redner so sehr tadelt – sondern jede Furche behaglich ausgefüllt. Wie bei dem Ocean »schrieb die Zeit keine Runzeln auf seine spiegelglatte Stirne.« Seine natürlichen Linien bestanden durchweg aus Curven, sein Lächeln war höchst gewinnend, sein Auge offen, und selbst seine Art, sich die wohlgenährten, englisch aussehenden Hände zu reiben, hatte etwas Einschmeichelndes, Liebenswürdiges, ein Etwas an sich, daß man sich wirklich versucht fühlte, sein Geld so einnehmenden Organen anzuvertrauen. Auf ihn ließ sich in der That der Ausdruck trefflich anwenden – » Sedem animae in extremis digitis habet« – »der Sitz der Seele ist in seinen Fingerspitzen.« Die Kritiker bemerken, daß wenige Menschen Phantasie und wissenschaftliches Talent in gleicher Vollkommenheit in sich vereinigen, und Schiller ruft aus: »Glücklich der, welcher die Wärme des Begeisterten mit dem Lichte des Weltmanns verbindet!« Licht und Wärme – beides war bei Onkel Jack zu finden; hinreißender Enthusiasmus und überzeugende Berechnung waren bei ihm harmonisch vereinigt. Dicäopolis in den »Acharnensern« Komödie des antiken Komödiendichters Aristophanes (um 450-380 v.u.Z.). bemerkt, Nicharchus dem Publikum vorstellend. – »Er ist klein, ich gestehe es, aber er hat dabei nichts verloren; alles, was er nicht vom Narren besitzt, hat er vom Spitzbuben.« Als Parodie zu diesem zweideutigen Compliment möchte ich sagen, daß Onkel Jack, obschon er nicht zu den Riesen gehörte, nichts dabei verloren hatte. Was an ihm nicht der Philanthropie anheimfiel, war Arithmetik, und was nicht zur Arithmetik gehörte, war Philanthropie. Howard John Howard (1726-90), engl. Philanthrop und Reformer des Strafvollzugs. und Cocker Edward Cocker (1631-76), engl. Rechenmeister, verfasste das berühmte Lehrwerk »Arithmetick«. würden ihn auf gleiche Weise geschätzt haben. Onkel Jack war auch hübsch; er besaß eine feine, blühende Haut, hatte einen kleinen Mund mit guten Zähnen und trug keinen Bart, seine Wange sah im Gegentheil so glattgeschoren aus, als wäre sie eine seiner großen Nationalcompagnien. Seine vormals etwas röthlichen Haare hatten jetzt eine mehr graue Farbe angenommen, wodurch die Ehrbarkeit seiner äußern Erscheinung erhöht wurde; er trug sie glatt an den Seiten und über dem Scheitel in die Höhe gekämmt. Die Organe feines Kunstsinns und seiner Idealität wurden von Mr. Squills für wunderbar erklärt, und diese stark entwickelten Beulen verliehen seiner Stirne eine bedeutende Breite. Schön gebaut war Onkel Jack ebenfalls, fünf Fuß acht Zoll, gerade die rechte Größe für einen thätigen Geschäftsmann, mag er etwa gemessen haben. Er trug einen schwarzen Frack, welcher aber, damit das Tuch frischer aussehe, mit vergoldeten Knöpfen versehen worden, auf denen eine Krone und ein Anker abgeprägt waren. In der Entfernung glichen diese Knöpfe denjenigen einer königlichen Uniform und gaben Onkel Jack das Ansehen, als bekleide er eine Stelle bei Hofe. Stets trug er eine ungesteifte, weiße Halsbinde und einen gefältelten Busenstreif mit einer Diamantnadel. Letztere gab ihm Veranlassung zu Bemerkungen über gewisse Minen in Mexiko und zu Kundgebung seines bisher unbefriedigten, sehnlichen Wunsches, dieselben durch eine »Große vereinigte britische Nationalcompagnie« ausgebeutet zu sehen. Seine Morgenweste war von hellem Büffelleder, seine Abendweste von gesticktem Sammt, womit unterschiedliche Entwürfe zu einer »Association für Verbesserung der einheimischen Manufakturen« in Verbindung standen. Die Beinkleider, welche er Vormittags trug, waren von der Farbe, die man gemeiniglich »Löschpapier« Auch in seinem Roman »Alice« weist Bulwer-Lytton auf den Löschpapierfarbton der Hose von Mr. Douce hin, der mit Onkel Jack einige Verwandtschaft besitzt. nennt; Stiefel trug er nie, weil dieselben nach seiner Behauptung für einen Mann nicht paßten, der sich viel Bewegung mache, sondern kurze Gamaschen mit vorne abgestumpften Schuhen. An seiner Uhrkette hingen eine Menge Siegel, von denen jedes die Devise einer verstorbenen Gesellschaft zeigte, und die man daher mit den Scalpen der Erschlagenen vergleichen konnte, welche die irokesischen Eingebornen zu tragen pflegen. In Betreff eben dieser Irokesen hatte sich Onkel Jack in der That einmal mit philanthropischen Plänen getragen, in welchen die Bekehrung derselben zum Christenthum, nach den Grundsätzen der englischen Staatskirche, und ein vortheilhafter Austausch von Bibeln, Branntwein und Schießpulver gegen Biberfelle eng miteinander verbunden waren.

Es war kein Wunder, daß Onkel Jack mein Herz in kurzer Zeit gewann; dasjenige meiner Mutter hatte er immer besessen von ihrer frühesten Erinnerung an, als er sie überredete, ihre große Puppe (ein Geschenk ihrer Pathin) zum Besten der Schornsteinfeger ausspielen zu lassen. »Das sah ihm so gleich – seinem, guten Herzen!« pflegte sie oft gedankenvoll zu sagen. »Man zahlte sechs Pence für das Loos, zwanzig wurden verschlossen, und die Puppe hatte zwei Pfund gekostet. Niemand wurde angeführt, und die Puppe – das arme Ding mit den schönen blauen Augen – ging weg um den vierten Theil ihres Werthes, Jack aber versicherte, Niemand könne sich denken, wie gut die zehn Schillinge den Schornsteinfegern gethan!« Daß meine Mutter Onkel Jack liebte, war natürlich genug; allein auch mein Vater hatte ihn eben so lieb, und dies war ein sprechender Beweis, in welch' hohem Grade er die Gabe besaß, für sich einzunehmen. Es ist übrigens bemerkenswerth, daß, wenn ein zurückgezogen lebender Gelehrter einmal Interesse an einem thätigen Weltmanne nimmt, er mehr, als Andere, geneigt ist, demselben seine Bewunderung zu schenken. Die Sympathie mit einem solchen Gefährten befriedigt sowohl seine Wißbegierde, als auch seine Bequemlichkeit; er kann mit ihm reisen, mit ihm Entwürfe machen, mit ihm kämpfen – kurz, alle Abenteuer mit ihm bestehen, die seine Bücher ihm so beredt schildern, ohne sich dabei von seinem Lehnstuhl zu erheben. Mein Vater konnte manchmal sagen, »er glaube Ulysses zu hören, wenn Onkel Jack erzähle!« Auch war Onkel Jack in Griechenland und Kleinasien gewesen, hatte den Boden betreten, auf welchem die Belagerung von Troja stattgefunden, hatte bei Marathon Feigen gegessen, im Peloponnes Hafen geschossen und auf der Spitze der großen Pyramide drei Pinten Braunbier getrunken.

So war denn Onkel Jack für meinen Vater wie ein Buch, in welchem er nur nachzuschlagen brauchte. Und in der That betrachtete er ihn nicht selten als ein solches und nahm ihn nach Tische mit sich in sein Zimmer, wie er mit einem Band von Dodwell Edward Dodwell (1767-1832), irischer Reiseschriftsteller und Altertumsforscher. oder Pausanias griechischer Reiseschriftsteller und Geograph des 2. Jh. gethan haben würde. Ich glaube wirklich, daß die Gelehrten, welche nie aus ihrer Zelle herauskommen, an Neugierde, Thätigkeit und Regsamkeit Niemand nachstehen, wenn man sie vom richtigen Standpunkte aus zu beurtheilen versteht. Wie der alte Burton Robert Burton (1577-1640), engl. Gelehrter in Oxford, am bekanntesten für sein Werk The Anatomy of Melancholy. von sich selbst sagt: »Obgleich ich wie ein Collegiatstudent arbeite, und fern von dem Gewühl und Lärm der Welt das Leben eines Mönches führe, höre und sehe ich doch, was auswärts vorgeht, wie in Stadt und Land die Merischen rennen und jagen, sich abquälen und abhärmen« – ein Citat, welches hinlänglich beweist, daß die Gelehrten von Natur die thätigsten Personen der Welt sind; nur findet bei ihnen, während sie mit Augustus Ränke schmieden, mit Cäsar in den Kampf ziehen, mit Columbus einen neuen Welttheil entdecken und mit Alexander, Attila oder Mahomed der Erde eine neue Gestalt geben, zwischen jenem unteren und antipoden Theil des menschlichen Körpers, welchen man meiniglich den »Sitz der Ehre« nennt, und dem ausgepolsterten Leder eines Armstuhles eine gewisse geheimnißvolle Anziehung statt, welche unsere Fortschritte in der Kenntniß des Mesmerismus Bezeichnung für eine dem Elektromagnetismus analoge Kraft im Menschen, die von Franz Anton Mesmer (1734-1815) propagiert wurde. sicherlich noch zur Befriedigung der Wissenschaft aufklären werden. Die Gelehrsamkeit sinkt irgendwie nach jenem Theil hinunter, durch welchen sie ursprünglich hineingetrieben wurde, und erzeugt daselbst eine bleierne Schwere, welche den lebhaften Erregungen des Gehirns entgegen arbeitet, da diese sonst die Männer des Studiums regsamer und quecksilberner machen könnten, als für das Bestehen der hergebrachten Ordnung wünschenswerth sein möchte. Ich stelle diese meine Vermuthung den Experimentalphysikern zur Berücksichtigung anheim.

Noch weit mehr, als mein Vater, war ich selbst von Onkel Jack entzückt. Er machte die unterhaltendsten Possen, verstand sich trefflich auf Taschenspielerkünste, konnte einen Schlüsselbund tanzen lassen, und wenn man ihm eine halbe Krone gab, durfte man darauf zählen, daß er sie im Nu in einen halben Penny verwandelt hatte; meine halben Pence zu halben Kronen zu machen, wollte ihm jedoch niemals gelingen.

Wir machten lange Spaziergänge zusammen, wobei ich oft bemerkte, daß auch im unterhaltendsten Gespräch Onkel Jack stets ein aufmerksamer Beobachter war. Er konnte plötzlich stehen bleiben, um die Natur des Bodens zu untersuchen, und pflegte dann meine Taschen (niemals seine eigenen) mit großen Stücken Thon, mit Steinen und Gerölle zu füllen, um sie zu Hause mit Hülfe eines chemischen Apparats, den er von Mr. Squills geborgt hatte, zu untersuchen. Dann konnte er wieder stundenlang, vor der Thüre eines Bauernhauses stehend, dem Strohflechten der kleinen Mädchen mit Bewunderung zusehen und hierauf in die nächsten Pächterhäuser sich begeben, um einer »National-Strohflechtassociation« das Wort zu reden. Leider jedoch ging die ganze Fruchtbarkeit seines Geistes an der ingrata terra verloren, auf welcher Onkel Jack leben mußte. Kein Gutsbesitzer wollte sich zu dem Glauben überreden lassen, daß sein Grund und Boden werthvolle Mineralien in seinem Schooße berge, und kein Wächter wollte etwas von einer Strohflechtassociation wissen. Wie nun ein Währwolf, nachdem er die ganze Umgegend verwüstet hat, das hungrige Auge auf seine eigenen Jungen zu werfen beginnt, so bedrohte Onkel Jack, in seinen anderweitigen Hoffnungen und Entwürfen getäuscht, meinen unschuldigen Vater mit einem Angriff.


Drittes Kapitel.

Für Leute, welche keinen Werth auf den äußern Schein legen, war zu jener Zeit die Einrichtung unseres Hauses, sowie unsere Lebensweise, eine in jeder Beziehung anständige. An dem Ende eines großen Dorfes stand ein viereckiges, aus rothen Backsteinen erbautes Haus, etwa aus der Zeit der Königin Anna. Auf dem Giebel befand sich eine Ballustrade – der Himmel weiß, zu welchem Zwecke, denn Niemand, außer unserm großen Kater Ralph, erging sich jemals auf derselben; allein sie war nun einmal da, und man sieht jetzt noch viele dergleichen auf Häusern, welche unter Königin Elisabeth sowohl, als unter Königin Victoria gebaut worden. Die Ballustrade war durch niedrige Pfeiler abgetheilt, deren jeder oben eine Kugel trug.

Der mittlere Theil des Hauses machte sich durch einen Architrav in der Form eines Dreiecks kenntlich, unter welchem sich eine Nische befand – wahrscheinlich zu Aufnahme einer Figur bestimmt, die aber nie eingesetzt worden. Unter dieser Nische war das mit geschnitzten Pilastern eingefaßte Fenster des kleinen Wohnzimmers meiner lieben Mutter, und noch etwas tiefer, über einer Treppe von sechs Stufen, befand sich eine sehr hübsche Thüre mit einem portikusähnlichen Vorbau.

Sämmtliche Fenster, die ziemlich hohe Rahmen, aber etwas kleine Scheiben hatten, waren mit Steinhauerarbeit umgeben, so daß das Haus einen Charakter von Solidität und Behaglichkeit zeigte – einerseits nichts Gekünsteltes, andererseits nichts Verfallenes. Es stand ein wenig gegen das große Gartenthor, dessen Pfeiler mit Vasen geschmückt waren, zurück, was Manche sehr unbequem gefunden haben würden, weil man bei regnerischem Wetter eine kleine Strecke zu Fuße zurücklegen mußte, um zu dem Wagen zu gelangen; diesen Uebelstand umgingen wir jedoch dadurch, daß wir keinen Wagen hielten.

An der rechten Seite des Hauses befand sich ein kleiner Rasen, eine Lorbeerlaube, ein viereckiges Wasserbecken, ein bescheidenes Gewächshaus und ein halbes Dutzend Beete mit Reseden, Heliotropen, Rosen, Nelken u. s. w. Zur Linken breitete sich der Küchengarten aus, geschützt von Spalierbäumen, welche die schönsten Aepfel in der ganzen Umgegend trugen, und durch drei geschlungene Kieswege abgetheilt, von denen der äußerste an der südlich gelegenen Mauer hinlief, wo Pfirsiche, Birnen und Aprikosen in der Sonnenhitze frühe ihren bekannten Wohlgeschmack gewannen.

Dieser Weg war ausschließlich für meinen Vater bestimmt. Ein Buch in der Hand pflegte er daselbst an schönen Tagen auf und ab zu gehen, wobei er jedoch oftmals stehen blieb, um mit dem Bleistifte eine Bemerkung zu machen, zu gestikuliren oder mit sich selbst zu reden. Hier konnte ihn auch meine Mutter, wenn er sich nicht in seinem Studirzimmer befand, zuverlässig finden. Auf diesen Deambulationen Umherwanderungen., wie er sie nannte, hatte er in der Regel eine so außerordentliche Begleiterin, daß ich fürchte, ein sehr ungläubiges, verächtliches Lächeln hervorzurufen, wenn ich dieselbe näher beschreibe. Gleichwohl aber kann ich betheuern, daß ich die reine Wahrheit und nicht die Erfindung eines übertreibenden Novellenschreibers berichte.

Meine Mutter hatte eines Tages Mr. Caxton überredet, mit ihr auf den Markt zu gehen. Unterwegs kamen sie an einer Wiese vorbei, auf welcher sich eben einige kleine Knaben das Vergnügen machen wollten, eine lahme Ente mit Steinen todt zu werfen, welche wahrscheinlich deßhalb nicht auf den Markt gebracht worden, weil sie nicht nur lahm war, sondern weil auch ihre Verdauungswerkzeuge gestört schienen – vielleicht hatte sich irgend ein unschuldiges Gras an einen Ort verirrt, wo es nicht hin gehörte, und dadurch den krankhaften Zustand des armen Thieres herbeigeführt. Wie dem nun war, die Eigenthümerin hatte die Ente für unbrauchbar erklärt und sie ihren Kindern auf deren Bitte überlassen, damit sie sich eine unschuldige Belustigung damit machen könnten und in solcher Weise von anderem Unfug abgehalten würden. Meine Mutter versicherte nachher, sie habe nie zuvor ihren Herrn und Meister in so große Aufregung gerathen sehen. Er jagte die kleinen Schlingel auseinander, befreite die Ente und nahm sie mit nach Hause, wo er sie in einem Korb an das Feuer setzte, sie fütterte und ihr Arznei gab, bis sie genas, und ihr alsdann das viereckige Wasserbecken zum Aufenthalt anwies.

Aber siehe da – die Ente kannte ihren Wohlthäter, und so oft mein Vater sich vor dem Hause blicken ließ, schlug sie mit den Flügeln, kam aus dem Wasser auf den Rasen und hinkte hinter ihm her (denn sie lernte ihr linkes Bein nie wieder ganz gebrauchen), bis sie den Gang bei den Pfirsichen erreicht hatte. Dort setzte sie sich bisweilen nieder, um mit ernster Miene die Deambulationen ihres Herrn zu beobachten, oder humpelte sie wohl auch an seiner Seite hin; nie aber verließ sie ihn, bis er sie vor seiner Rückkehr in das Haus eigenhändig gefüttert und sie ihm ihr dankbares Lebewohl zugequackt hatte, worauf die Nymphe in ihr natürliches Element zurückkehrte.

Mit Ausnahme des kleinen Wohnzimmers, in welchem sich meine Mutter Morgens am liebsten aufhielt, lagen alle übrigen Hauptgemächer – nämlich das Studirzimmer, das Speisezimmer und das sogenannte »beste Besuchzimmer«, welches nur bei wichtigen Veranlassungen benützt wurde – gegen Süden. Hohe Buchen, Forchen, Pappeln und einige Eichen schirmten den hintern Theil des Hauses oder umgaben es vielmehr von allen Seiten, so daß man in gleicher Weise gegen die Kälte des Winters, wie gegen die Hitze des Sommers, geschützt war.

Was Würde und Stellung betraf, so war unsere Hauptdienstperson Mrs. Primmins, welche die Aemter einer Kammerfrau, einer Haushälterin und einer diktatorischen Tyrannin über das ganze Hauswesen in sich vereinigte. Zwei weitere Mädchen, ein Gärtner und ein Bedienter bildeten das übrige Dienstpersonal. Außer einigen Wiesen, welche verpachtet wurden, war mein Vater nicht weiter mit Landbesitz belästigt. Sein Einkommen bestand aus den Interessen von ungefähr 15.000 Pfunden, theilweise in dreiprocentigen Staatspapieren, theilweise auf Hypotheken angelegt, was bei der Sparsamkeit meiner Mutter und Mrs. Primmins hinreichte, um die einzige Liebhaberei meines Vaters für Bücher, meine Erziehung und öftere Einladungen unserer Nachbarn zum Thee, selten jedoch zu einem Diner, zu bestreiten.

Meine liebe Mutter that sich etwas darauf zu gut, daß unser Umgang ein sehr gewählter sei. Er bestand hauptsächlich aus dem Geistlichen und seiner Familie, zwei alten Jungfern, welche sich ein großes Ansehen gaben, einem Gentleman, der in ostindischen Diensten gewesen war und ein großes weißes Haus auf der Spitze des Berges bewohnte, einem Halbdutzend Gutsbesitzern sammt Frauen und Kindern, und dem noch immer unverheiratheten Mr. Squills. Einmal im Jahr wurden Karten – und wohl auch Diners – gewechselt mit einigen aristokratischen Familien, welche meiner Mutter bedeutende, jedoch ganz unnöthige Ehrfurcht einflößten, da sie selbst dieselben für die gemüthlichsten und umgänglichsten Leute von der Welt erklärte, und ihre Karten stets in den augenfälligsten Theil des Spiegelrahmens steckte, welcher über dem Kamin des »besten Besuchzimmers« hing.

Der Leser sieht hieraus, daß unsere Stellung eine sehr ehrenvolle war, indem sie den guten Zustand unserer Finanzen und die unserm Stammbaum gezollte Achtung bewies – von diesem letzteren später mehr; für jetzt begnüge mich damit, in Beziehung darauf zu sagen, daß selbst die stolzesten der benachbarten Edelleute von unserer Familie stets als von einer sehr alten sprachen. Meinem Vater war dies jedoch ziemlich gleichgültig, und wenn er irgend welchen Stolz auf seine Vorfahren an den Tag legte, so geschah es zu Ehren von William Caxton,. Bürgers und Buchdruckers, unter der Regierung Eduard's IV. – » Clarum et venerabile nomen« ein berühmter und ehrenwerter Name. – ein Ahne, auf den ein Mann der Wissenschaft mit Recht stolz sein durfte.

» Heus,« sagte mein Vater, sich plötzlich unterbrechend und seine Augen von den Gesprächen des Erasmus erhebend, » salve multum, jucundissime

Onkel Jack war kein großer Gelehrter, allein er verstand genug Latein, um zu erwiedern: » Salve tantundem, mi frater»Hallo, sei vielmals gegrüßt, mein Wertester!« – »Sei ebenfalls gegrüßt, mein Bruder.« – Im Anschluss an die Colloquia des Erasmus von Rotterdam gab es noch im 19. Jh. zweisprachige Bücher zur Übung in der lateinischen Umgangssprache, die auch Grußsituationen enthielten. Siehe z.B. Leopold Chimani: Colloquia latino-germanica. Lateinisch-deutsche Gespräche, zur Übung in der lateinischen Umgangssprache. 3. Aufl. Wien 1822.

Mein Vater lächelte beifällig. »Ich sehe. Du begreifst die wahre Urbanität, oder Höflichkeit, wie wir es nennen. Es liegt eine Anmuth darin, den Gatten der Schwester als Bruder anzureden. Erasmus empfiehlt es in seinem Einleitungskapitel unter dem Paragraphen › Salutandi formulae.‹ Und in der That,« setzte mein Vater gedankenvoll hinzu, »es ist kein großer Unterschied zwischen Höflichkeit und Wohlwollen. Mein Autor hier bemerkt, es sei höflich, bei gewissen kleineren Nöthen der menschlichen Natur einen Gruß auszudrücken. Man sollte seinem Nebenmenschen Glück wünschen beim Gähnen, beim Schluchzen, beim Niesen und beim Husten – und zwar augenscheinlich aus dem Grunde, weil man Theil nimmt an seinem Wohlbefinden. Beim Gähnen könnte er sich den Unterkiefer ausrenken, das Schluchzen ist oft Symptom einer bedeutenden Unpäßlichkeit, das Niesen wird, leicht den kleinen Blutgefäßen des Kopfes gefährlich, und der Husten deutet auf eine Affection des Kehlkopfes, der Luftröhre, der Lungen oder der Nerven.«

»Sehr wahr. Die Türken grüßen einander stets beim Niesen, und sie sind ein ganz besonders höfliches Volk,« sagte Onkel Jack. »Doch, mein lieber Bruder, ich habe eben mit Bewunderung Deine Aepfelbäume betrachtet; niemals sah ich eine schönere Sorte, und ich bin ein Kenner von Aepfeln. Ich habe mit meiner Schwester darüber gesprochen und finde, daß Du sehr wenig Nutzen daraus ziehst. Das ist in der That Schade. Man sollte die Erzeugung des Aepfelweins in der Grafschaft einführen. Du könntest Deine eigenen Felder in die Hand nehmen und noch mehr dazu pachten, so daß im Ganzen etwa hundert Morgen beisammen wären. Da ließe sich schon ein Obstgarten in großartigem Maßstab anlegen. Ich habe eben eine Berechnung darüber gemacht, und das Ergebniß ist ganz erstaunlich. Nehmen wir für den Morgen 40 Bäume an – dies ist die geeignete Durchschnittszahl – den Baum zu 1 Schilling 6 Pence; 4000 Bäume für 100 Morgen machen 300 Pfund. Taglohn für Grabarbeiter will ich 10 Pfund für den Morgen sagen – Gesammtbetrag für 100 Morgen 1000 Pfund. Das Auspflastern der Löcher, damit die Herzwurzel nicht in schlechten Boden gerathe – o, ich bin sehr pünktlich und sorgfältig, wie Du siehst, bis in's Kleinste! bin es immer gewesen! – das Auspflastern der Löcher mit Trümmergestein, zu 6 Pencen für das Loch, macht für 4000 Bäume auf den 100 Morgen 100 Pfund. Dazu noch der Bodenpacht, à 30 Schillinge für den Morgen, betrüge 150 Pfund. Wie sieht's nun mit der Gesammtsumme?«

Hier zählte Onkel Jack die einzelnen Posten rasch an den Fingern ab:

Bäume 300 Pfund
Taglohn 1,000 "
Pflastern der Löcher 100 "
Grundpacht 150 "
_________________________________
Zusammen 1,550 "

»Das wäre Deine Ausgabe. Merke wohl. Nun aber die Einnahme. Die Obstgärten in Kent bringen 100 Pfund für den Morgen ein, manche sogar 150. Wir wollen aber nur mäßig rechnen und 50 Pfund annehmen, so erzielst Du aus einem Capital von 1550 Pfund einen jährlichen Ertrag von 5000 Pfund. – 5000 Pfund jährlich! bedenke, Bruder Caxton! Ziehen wir davon 10 Procent oder 500 Pfund für den Gärtner, für Dünger u. s. w. ab, so bleibt noch immer ein Reinertrag von 4500 Pfund. Dein Glück ist gemacht – Du wirst ein reicher Mann! Ich gratulire Dir!« Und Onkel Jack rieb sich die Hände.

»Wahrhaftig, Vater,« sagte der junge Pisistratus eifrig, nachdem er mit entzücktem Ohr jede Sylbe und jede Ziffer dieser einladenden Berechnung verschlungen hatte – »wahrhaftig, wir wären so reich wie Squire Rollick; und dann, weißt Du, könntest Du eine Meute Jagdhunde halten!«

»Und eine große Bibliothek kaufen,« setzte Onkel Jack mit feinerer Kenntniß der menschlichen Natur und der ihr gefährlichsten Versuchungen hinzu. »Die Sammlung meines Freundes, des Erzbischofs, ist zum Verkauf ausgesetzt.«

Langsam aufathmend ließ mein Vater ruhig seine Augen zwischen uns hin und hergleiten; alsdann legte er seine Linke auf meinen Kopf, erhob mit der Rechten vorwurfsvoll den Erasmus gegen Onkel Jack und sprach:

»Sieh', wie leicht Habsucht und Geldgier in dem jugendlichen Gemüthe Wurzel schlagen! Ah, Bruder!«

»Du bist zu streng. Sieh, wie der arme Junge den Kopf hängt! Pfui! – ein Enthusiasmus, der seinen Jahren so natürlich ist – fröhliche Hoffnung, durch die Phantasie genährt, wie der Dichter sagt. Wirklich, schon um des hübschen Knaben willen solltest Du diese sichere Gelegenheit, einen, ich möchte sagen, unberechenbaren Reichthum zu erwerben, nicht vorübergehen lassen. Denn, merke wohl, Deine Baumschule ist nur der Anfang; von Jahr zu Jahr wirst Du Deine Pflanzung erweitern, indem Du mehr Land pachtest – oder nein, warum nicht lieber kaufen? Alle Welt, in zwanzig Jahren hast Du die halbe Grafschaft in ein Baumgut umgewandelt. Doch, wir wollen nur bei 2000 Morgen stehen bleiben – diese werfen jährlich einen Reingewinn von 90,000 Pfund ab. Das Einkommen eines Herzogs wahrhaftig! – und ohne alles Zuthun, möcht' ich beinahe sagen.«

»Aber«, bemerkte ich bescheiden, »die Bäume wachsen nicht in einem Jahre. Ich weiß, als unser letzter Apfelbaum gepflanzt wurde – es sind jetzt fünf Jahre – war er drei Jahre alt, und letzten Herbst hat er den ersten Korb voll getragen.«

»Was das für ein verständiger Junge ist! – In der That ein guter Kopf. O, er wird seinem großen Vermögen Ehre mache, Bruder,« sagte Onkel Jack beifällig. »Ganz recht, mein Junge; wir können aber in der Zwischenzeit den Boden mit Stachelbeeren und Johannisbeeren oder mit Kohl und Zwiebeln anpflanzen, wie sie es auch in Kent thun. Gleichwohl fürchte ich, in Anbetracht des Umstandes, daß wir keine große Kapitalisten sind, wir werden auf einen Theil des Gewinns verzichten müssen, um die Auslagen zu vermindern. Gieb Achtung, Pisistratus – (sieh ihn an, Bruder – so einfach er auch dasteht,h glaube ich doch, daß er mit einem silbernen Löffel im Munde zur Welt kam) – gieb Achtung, nun kommen die Geheimnisse der Spekulation. Dein Vater kauft in aller Stille das Land, und dann – presto geben wir einen Prospekt aus und gründen eine Gesellschaft. Associationen können fünf Jahre auf den Ertrag warten. Mittlerweile steigt der Werth der Actien mit jedem Jahre. Dein Vater nimmt, wir wollen sagen 50 Actien à 50 Pfund, an denen er nur je 2 Pfund einzuzahlen braucht. Alsdann verkauft er 35 Actien mit hundert Prozent Agio und behält die übrigen 15. Auf diese Weise kömmt er auch zu einem schönen Vermögen, wenn auch nicht zu einem so großen, als wenn er alles selbst in Händen behalten hätte. Was sagst Du nun, Bruder Caxton? › Visne edere pomum?‹ Möchtest du einen Apfel essen? wie wir in der Schule zu sagen pflegten.«

»Ich verlange keinen Schilling mehr, als ich habe!« erwiederte mein Vater entschieden. »Meine Frau würde mich nicht mehr lieben, meine Nahrung wurde mich nicht mehr sättigen, mein Junge würde aller Wahrscheinlichkeit nach nicht halb so abgehärtet und nicht den zehnten Theil so fleißig werden, und –«

»Aber,« unterbrach ihn Onkel Jack hartnäckig – sein Hauptbeweismittel hatte er bis zuletzt aufgespart – »das Gute, das für das Gemeinwesen daraus entspringen würde – das Emporbringen der Naturprodukte Deines Vaterlandes – das gesunde Getränk, welches im Apfelwein den arbeitenden Klassen zu einem wohlfeilen Preise zugänglich gemacht würde! Hätte ich wohl bloß um Deinetwillen diese Frage in Anregung gebracht? würde ich ihr jetzt noch das Wort reden? liegt dies in meinem Charakter? Nein! Aber um der Menschheit, um unserer Mitgeschöpfe willen! Wahrhaftig, England könnte nicht vorwärts kommen, wenn nicht Leute von Deinen Mitteln auch ein wenig Menschenliebe und Unternehmungsgeist besäßen!«

» Papae! Hier als Exklamation im Sinne von »merkwürdig, seltsam!«« rief mein Vater, »zu denken, England könne nicht vorwärts kommen, ohne aus Austin Caxton einen Aepfelhändler zu machen! Mein lieber Jack, höre mich an. Du erinnerst mich an ein Gespräch in diesem Buch; warte einen Augenblick – hier ist es –Pamphagus und Cocles. Die beiden Gesprächspartner in Erasmus' Dialog De Captandis Sacerdotiis (Über die Jagd nach Pfründen). – Cocles erkennt seinen Freund, welcher viele Jahre abwesend war, an seiner ungeheuern, merkwürdigen Nase. Pamphagus erwiederte etwas ärgerlich, daß er sich seiner Nase nicht schäme. ›Dich ihrer schämen? nein, wahrhaftig nicht,‹ sagt Cocles. ›Ich sah niemals eine Nase, die sich zu so vielen Zwecken gebrauchen läßt!‹ ›Ha,‹ versetzt Pamphagus, dessen Neugierde erwacht, ›zu vielen Zwecken brauchbar? zu welchen dann?‹ Worauf ( lepidissime frater! Sehr geistreich, Bruder!) Cocles mit einer Beredtsamkeit, gleich der Deinigen, eine endlose Liste von nützlichen Zwecken aufzählt, für welche eine so großartige Entwicklung des gedachten Organs befähigt sei. ›Aus einem tiefen Keller könne sie den Wein wie mit einem Elephantenrüssel heraufholen – wenn es an einem Blasebalg fehle, könne sie dessen Dienst versehen – wenn die Lampe zu hell brenne, könne sie als Lichtschirm dienen – ein Herold könne sie als Sprachrohr gebrauchen – im Felde könne sie die Schlachtsignale geben – beim Holzfällen ersetze sie den Keil – beim Graben den Spaten – beim Mähen die Sichel – auf dem Schiffe den Anker.‹ – ›Glücksvogel, der ich bin!‹ ruft Pamphagus, ›und wußte bisher nicht einmal, was für ein nützliches Stück Geräthe ich mit mir herumtrage.‹«

Mein Vater hielt inne und versuchte zu pfeifen, der Versuch mißlang jedoch, und er setzte lächelnd hinzu: »So viel, was meine Aepfelbäume betrifft, Bruder John. Ueberlasse sie ihrer natürlichen Bestimmung, Torten und Pasteten zu füllen.«

Onkel Jack schien für einen Augenblick außer Fassung gebracht, dann aber lachte er mit seiner gewöhnlichen Heiterkeit und sah ein, daß er der schwachen Seite meines Vaters noch nicht beigekommen war. Ich gestehe, daß nach diesem Gespräch mein verehrter Vater in meiner Achtung ungemein stieg, und ich begann einzusehen, daß man ein Gelehrter sein und dennoch gesunden Menschenverstand besitzen könne. War es, daß Onkel Jacks Besuch als ein mildes Reizmittel auf seine erschlafften Fähigkeiten wirkte, oder daß ich mit zunehmenden Jahren und gereifterer Einsicht seinen Charakter richtiger erfaßte – jedenfalls schreibt sich von diesen Sommerferien an der Beginn jener vertraulichen, herzlichen Innigkeit, welche nachher für immer zwischen meinem Vater und mir bestand. Statt Onkel Jack auf seinen weiteren Spaziergängen zu begleiten oder der größeren Verlockung nachzugeben, ein Ballspiel im Dorfe mitzumachen oder einen Tag auf Squire Rollick's Teichen zu fischen, zog ich es oftmals vor, mit meinem Vater an der alten Pfirsichmauer auf und ab zu wandeln – manchmal allerdings schweigend und bereits über die Zukunft nachsinnend, während er sich mit der Vergangenheit beschäftigte, aber reichlich belohnt, wenn er sein Buch schloß und die Schätze seines vielseitigen Wissens vor mir entfaltete, welche er durch seine eigenthümlichen Bemerkungen unterhaltend zu machen und durch jene sokratische Satyre zu würzen verstand, welche nur deßhalb sich nicht bis zum Witze steigerte, weil sie nie in Bosheit überging. Für Augenblicke wurde er in der That beredt, und wenn er eine schöne, heroische Stelle aus seinen alten Büchern citirte, erhob sich seine gebeugte Gestalt, sein Auge funkelte, und man sah, daß er ursprünglich nicht für die dunkle Abgeschiedenheit geschaffen und bestimmt war, in welcher nun seine harmlosen Tage zufrieden dahinflossen.


Viertes Kapitel.

Ich sage Ihnen, Herr, die ganze Grafschaft geht zu Grunde! Unsere Gesinnungen sind weder in noch außer dem Parlament vertreten. Der Grafschafts-Merkur hat sich abfangen lassen – und den Galgen dadurch verdient! – und nun besitzen wir in der ganzen Provinz nicht eine einzige Zeitung, in welcher der achtbare Theil der Gemeinschaft seine Ansichten aussprechen kann.«

Diese Rede wurde von keiner geringeren Person, als von Squire Rollick von Rollickhall, Präsident der Quartalsitzungen, bei Gelegenheit eines der seltenen Diners gehalten, welche Mr. und Mrs. Caxton ihren vornehmen Nachbarn zu geben pflegten.

Ich gestehe, daß ich – (es war nämlich das erste Mal, daß ich die Erlaubniß erhalten hatte, nicht nur mit den Gästen zu speisen, sondern auch, in Anbetracht meiner zunehmenden Jahre und meines Versprechens, mich der Flaschen zu enthalten, nach Entfernung der Damen noch da zu bleiben) – ich gestehe, sage ich, daß ich mir in meiner Unschuld nicht zu erklären vermochte, welch' plötzliches Interesse an der Grafschaftszeitung Onkel Jack veranlaßte, die Ohren wie ein Schlachtroß beim Schall der Kriegstrompete zu spitzen und den Raum zwischen Squire Rollick und sich selbst in einem Nu zu überspringen. Allein der Geist eines so tiefen und wahrhaft ausgelernten Mannes war durch einen Gelbschnabel meines Alters nicht zu ergründen. Es geht nicht, nach dem scheuen Salmen mit einer gekrümmten Stecknadel und einem Korke zu fischen, wie es etwa bei Gründlingen thunlich ist; oder, um mich eines würdigen Bildes zu bedienen, man konnte von ihm nicht sagen, was der h. Gregor von den Wassern des Jordans versichert, »daß ein Lamm mit Leichtigkeit seine Fluthen zu durchwaten vermöge.«

»Keine Zeitung in der Grafschaft, zur Verfechtung der Rechte der –« hier hielt mein Onkel inne, wie in Verlegenheit, und flüsterte mir in's Ohr: »Wie ist seine Politik?«

»Weiß nicht,« erwiederte ich, worauf mein Onkel instinktmäßig eine schnell zur Hand liegende Phrase aus dem Gedächtniß aufgriff und in einem Nasentone hinzusetzte – »der Rechte unserer bedrängten Nebenmenschen!«

Mein Vater kratzte sich mit dem Zeigefinger an den Augenbrauen, wie er zu thun pflegte, wenn er im Zweifel war; die übrige Gesellschaft – ein stummes Häuflein – schaute auf.

»Nebenmenschen!« sagte Mr. Rollick – »Pah, Alfanzereien!«

Onkel Jack war offenbar irre gefahren. Er kehrte vorsichtig wieder um. »Ich meine,« sagte er, »unserer achtbaren Nebenmenschen.« Und dann fiel ihm plötzlich ein, daß ein »Grafschafts-Merkur« natürlich die landwirthschaftlichen Interessen vertreten werde, und wenn Mr. Rollick gesagt hatte, »der Grafschafts-Merkur verdiene, gehängt zu werden,« so gehörte er ohne Zweifel zu jenen Politikern, welche bereits das Interesse des Landbaues einen »Vampyr« genannt hatten. Gesteigert durch diese eingebildete Entdeckung, brauste Onkel Jack fort, mit der Absicht, in dem so glücklich geleiteten Strom all' den »Unrath« »Als wir begannen, schwatzten wir kläglichen Unrath,« sagt Mr. Cobden in einer seiner Reden. [ Anm.d.Verf. – Richard Cobden, 1804-65, führender Vertreter des Manchesterliberalismus und der Freihandelsbewegung.] mitzunehmen, der sich später in Coventgarden und in der Handelshalle aufhäufte.

»Ja, unserer achtbaren Nebenmenschen, der Männer von Kapital und Unternehmungsgeist! Denn was sind diese Gutsbesitzer in Vergleichung mit unsern reichen Kaufleuten? Was ist das Agriculturinteresse, das sich für die Stütze des Landes ausgibt?«

»Ausgibt?« rief Squire Rollick; »es ist die Stütze des Landes, und was die elenden Fabrikanten betrifft, welche den Merkur aufgekauft haben –«

»Den Merkur aufgekauft? haben sie das gethan? die Schurken!« unterbrach ihn Onkel Jack, der nun mit einem Mal die volle Witterung hatte. »Verlassen Sie sich darauf, Herr, dies ist ein Stück jenes teuflischen Systems des Aufkaufens, das mannhaft bloßgestellt werden muß. – Ja, wie ich sagen wollte, was ist jenes Agriculturinteresse, das sie zu Grunde richten möchten? das sie einen ›Vampyr‹ nennen? sie die wahren Blutsauger, die giftigen Millocraten! Nebenmenschen, Herr! Ich mag sie wohl bedrängte Nebenmenschen nennen, die Mitglieder der in so hohem Grade leidenden Klasse, welcher Sie selbst zur Zierde gereichen. Wer verdient es mehr, daß wir unsere besten Kräfte zur Abhülfe aufbieten, als ein Landedelmanm wie Sie, mit einem nominellen Einkommen von – ich will sagen – fünftausend Pfund jährlich, welcher gezwungen ist, ein Haus zu machen, Jagdhunde zu halten, die ganze Bevölkerung durch Armensteuern zu ernähren, durch Zehnten den Bestand der Kirche zu sichern, die Rechtspflege, Gefängnisse und Polizei durch Grafschaftssteuern zu unterstützen und die Unterhaltung der Straßen durch Weg- und Brückengelder zu bestreiten? Dann die Verpfändungen, die Juden, die Leibgedinge Verpflichtung, Naturalleistungen wie Wohnung, Nahrungsmittel, Hege und Pflege gegenüber einer Person bis zu deren Ableben zu erbringen.; die Versorgung der jüngeren Kinder, die ungeheuren Kosten für das Fällen des Holzes, das Düngen und Bebauen einer Musterfarm, das Mästen von Riesenochsen, deren Fütterung mit Oelkuchen allein so viel kostet, daß das Pfund Fleisch den Producenten auf fünf Pfund Sterling zu stehen kommt! Endlich die Prozesse zum Schutze seines Rechtes und die Plünderung nach allen Seiten hin durch Wilderer, Hunde, und Schaafdiebe, Kirchenvorsteher, Aufseher, Gärtner, Forstschüler und vor allem durch jenen unentbehrlichen Spitzbuben, den Rentmeister. Wenn es jemals einen bedrängten Nebenmenschen in der Welt gab, so ist es ein Landedelmann mit großem Grundbesitz.«

Mein Vater hielt dies augenscheinlich für ein köstliches Stückchen Spott, denn das Zucken seines Mundwinkels verrieth mir, daß er innerlich lächelte.

Squire Rollick, der die Rede durch verschiedene zustimmende Ausrufungen unterbrochen hatte, namentlich bei Erwähnung der Armensteuer, der Zehnten, der Grafschaftssteuer, der Verpfändungen und der Wilddiebe, schob nun Onkel Jack die Flasche zu und sagte höflich:

»Es liegt viel Wahres in dem, was Sie sagten, Mr. Tibbets. Das Agriculturinteresse geht seinem Untergang entgegen, und ist's einmal so weit, so gebe ich nicht soviel mehr für Altengland!« Und dabei schnippte Mr. Rollick mit dem Finger und dem Daumen. »Aber was ist anzufangen? was läßt sich für die Grafschaft thun? Da sitzt der Knoten.«

»Ich wollte eben auf diesen Punkt zu sprechen kommen,« erwiederte Onkel Jack. »Sie sagen, daß Sie nicht eine Grafschaftszeitung haben, welche Ihre Sache unterstützt und Ihre Feinde bloßstellt?«

»Nicht mehr, seit die Whigs den shire Merkur aufgekauft haben.«

»Nun, gütiger Himmel! Mr. Rollick, wie können Sie erwarten, daß man Ihnen Gerechtigkeit widerfahren lasse, wenn Sie heutigen Tages die Presse vernachlässigen? Die Presse, Herr – das ist's – das ist unsere Lebensluft! Was Sie brauchen, ist ein großes National – nein, nicht National – ein Provinzial-Wochenblatt, freigebig und nachhaltig unterstützt von jener mächtigen Partei, deren ganze Existenz auf dem Spiele steht. Ohne ein solches Blatt sind Sie verloren, todt, ausgelöscht, gestorben, lebendig begraben; mit einem solchen Blatt, herausgegeben und gut geleitet durch einen Mann von Welt, Bildung und praktischer Erfahrung, was Agricultur und Menschennatur, Minen, Korn, Dünger, Versicherungsanstalten, Parlamentsakten, Viehausstellungen, den Stand der Parteien und die wahren Interessen der Gesellschaft betrifft – mit einem solchen Mann und einem solchen Blatt werden Sie alles mit sich fortreißen. Allein es muß durch Subscription, durch Association, durch gemeinsames Zusammenwirken, durch eine große, uneigennützige, landwirthschaftliche Antineuerungs-Provinzial-Gesellschaft geschehen.«

»Wahrhaftig, Herr, Sie haben Recht!« sagte Mr. Rollick, auf den Tisch schlagend; »und ich will morgen zu unserm Lord-Lieutenant hinüber reiten. Sein ältester Sohn muß für die Grafschaft in's Parlament kommen.«

»Und er wird es auch, wenn Sie die Presse unterstützen und ein Blatt gründen,« erwiederte Onkel Jack, indem er sich die Hände rieb, sie dann sanft ausstreckte und allmählig wieder zusammenzog, als umfaßte er in diesem lustigen Kreise bereits die arglosen Guineen der ungeborenen Association.

Alles Glück liegt mehr in der Hoffnung, als in dem Besitz, und ich möchte darauf schwören, daß Onkel Jack in diesem Augenblick ein lebhafteres Entzücken, circum praecordia um das Zwerchfell herum., empfand, welches seine Eingeweide durchwärmte und in seinen ganzen, fünf Fuß acht Zoll hohen Körper die prophetische Glut der Magna Diva Moneta Eigentlich: »der großen göttlichen Mahnerin«; moneta war einer der Beinamen der antiken Göttin Juno. Neben ihrem Tempel in Rom befand sich allerdings die Münzprägestätte, so dass allmählich der Begriff »Moneta« zur Bedeutung »Geld« überwechselte. ausgoß, als wenn er sich zehn Jahre lang des wirklichen Besitzes von König Krösus' Privatbörse erfreut hätte.

»Ich hatte Onkel Jack nicht für einen Tory gehalten,« sagte ich den andern Tag zu meinem Vater.

Mein Vater, der sich nicht um Politik bekümmerte, sah mich groß an.

»Bist Du ein Tory oder ein Whig, Papa?«

»Hem,« versetzte mein Vater – »es läßt sich viel sagen über beide Seiten der Frage. Du siehst, mein Junge, Mrs. Primmins hat gar viele Formen für unsere Butterbällchen; zuweilen bekommen wir sie mit einer Krone geschmückt, zuweilen mit dem populäreren Gepräge einer Kuh. Es ist ganz recht für Diejenigen, welche die Butter machen, derselben einen beliebigen Stempel, je nach ihrem Geschmack oder ihrer Geschicklichkeit aufzudrücken; für uns genügt es, wenn wir unser Brod damit bestreichen, dem lieben Gott dafür danken und die Milchkammer bezahlen. Verstehst Du mich?«

»Nicht im geringsten, Vater.«

»Dann war Dein Namensvetter Pisistratus weiser, als Du,« sagte mein Vater. »Und nun laß' uns die Ente füttern. Wo ist Dein Onkel?«

»Er hat Mr. Squills Pferd geborgt und ist mit Squire Rollick zu dem vornehmen Lord geritten, von dem gestern die Rede war.«

»Oho!« versetzte mein Vater, »Bruder Jack ist im Begriff, seine Butter zu drücken!«

Und in der That spielte Onkel Jack bei dieser Gelegenheit seine Karten so gut und legte dem Lord-Lieutenant, mit welchem er eine persönliche Besprechung hatte, einen so schönen Prospekt mit einer so pünktlichen Berechnung vor, daß er noch vor Ablauf meiner Ferien ein sehr hübsches Büreau mit den erforderlichen Wohngelassen in der Hauptstadt der Grafschaft bezog, nebst einem jährlichen Gehalt von 500 Pfund – für die Vertheidigung der Sache seiner bedrängten Nebenmenschen, einschließlich der Edelleute, Squire, Freisassen, Farmer und sämmtlicher Abonnenten auf das »Neue shirer landwirthschaftliche Antineuerungs-Wochenblatt.« Als Devise ließ Onkel Jack über seine Zeitung eine von Sichel und Dreschflegel unterstützte Krone setzen, mit dem Motto: » Pro rege et gregeFür den König und das Volk. – Abwandlung des Mottos » Pro lege, rege et grege«, für das Gesetz, den König und das Volk, mit dem Prinz Wilhelm von Oranien ab 1568 in den Niederlanden zum Widerstand gegen Herzog Alba und die Spanier aufrief. – Dies war die Art, wie Onkel Jack seine Butterbällchen drückte.


Fünftes Kapitel.

Als ich wieder in die Schule zurückkehrte, kam es mir vor, als hätte ich einen großen Sprung im Leben gemacht. Ich fühlte mich nicht länger mehr als Knabe. Onkel Jack hatte mich aus seiner eigenen Börse mit dem ersten Paar Wellingtonstiefeln beschenkt; meine Mutter hatte sich zu der Erlaubniß überreden lassen, daß meinen bisher kurzen Jacken ein kleiner Schweif angefügt werden durfte, und mein Hemdkragen, welcher mir früher nach Wachtelhund-Art flach am Halse niederfiel, stand nun gerade und aufrecht, gleich dem Ohre eines Spitzers, und war von einem Wall von Fischbein, Steifleinwand und schwarzer Seide umgeben. Ich zählte in Wahrheit demnächst siebzehn Jahre und gab mir das Ansehen eines Mannes. Hier möchte ich die Bemerkung machen, daß jene Krisis des jugendlichen Alters, welche uns zuerst von einem Master Sisty in einen Mr. Pisistratus, oder Pisistratus Caxton, Esq., umwandelt, und in welcher wir uns unter dem stillschweigenden Zugeständniß unserer Eltern den langersehnten Titel eines »jungen Mannes« anmaßen, stets ein plötzliches Emporschießen, eine Erhebung aus dem Stegreif zu sein scheint. Wir bemerken die allmähligen Vorbereitungen dazu nicht, wir erinnern uns nur einer bestimmten Periode, in welcher alle Zeichen und Symptome gleichzeitig zum Ausbruch kommen – Wellingtonstiefel, Jacke mit Schößen, Vatermörder bis an die Oberlippe, Gedanken an Rasirmesser, Träumereien von jungen Damen und eine neue Ansicht von der Poesie.

Ich begann nun, mit Ausdauer zu lesen, das Gelesene zu verstehen und einige ängstliche Blicke auf die Zukunft, zu werfen unter dem unbestimmten Eindruck, daß ich eine Stellung in der Welt erringen müsse, und nichts sich erzielen lasse ohne Beharrlichkeit und Arbeit. So fuhr ich fort, bis ich siebzehn Jahre alt und der Erste in der Schule war, als ich die beiden nachstehenden Briefe erhielt.

   

1. Von Augustin Caxton, Esq.

»Mein lieber Sohn»

»Ich habe Dr. Herman mitgetheilt, daß Du nach den bevorstehenden Ferien nicht mehr zu ihm zurückkehren werdest, Du bist nun alt genug, um Dich nach den Umarmungen unser geliebten Alma Mater Universität. umzusehen, und, wie ich hoffe, auch fleißig genug, um mit Erfolg nach den Ehren zu ringen, welche sie ihren würdigeren Söhnen verleiht. Du bist bereits an dem Trinity-College eingeschrieben, und in Gedanken sehe ich in Dir meine Jugend zu mir zurückkehren. Ich sehe Dich lustwandeln, da, wo der Cam durch jene herrlichen Gärten sich schlängelt, und, mein eigenes Ich mit dem Deinigen verwechselnd, rufe ich mir die alten Träume zurück, die mich umschwebten, wenn das Geläute der Glocken über das ruhige Wasser herübertönte. › Verum secretumque Mouseion, quam multa dictatis, quam multa invenitis!‹ Du wahrer und abgelegener Musentempel! Wie viele Schätze der Wissenschaft lasst ihr mich entdecken, wie vieles lehrt ihr mich! (Plinius d. Jg., Briefe I , 9, 6). Dort, an jenem berühmten College, wirst Du Dich wenn anders das Geschlecht nicht entartet ist, mit jungen Riesen messen. Du wirst Diejenigen sehen, welche bestimmt sind, in der Rechtspflege, in der Kirche, im Staate oder in den stillen Klöstern der Gelehrsamkeit die hervorragenden Leiter ihrer Zeit zu werden. Mit ihnen auf gleicher Linie zu stehen – darnach zu streben ist Dir nicht verboten; wer in der Jugend das Vergnügen gering schätzt und die Tage der Arbeit liebt, darf seinem Ehrgeiz ein hohes Ziel setzen.

Dein Onkel Jack sagt, er habe Wunder mit seiner Zeitung gewirkt, – obgleich Mr. Rollick brummt und behauptet, sie sei voll von Theorien und verwirre die Pächter. Onkel Jack dagegen erklärt, er müsse sich ein Publikum schaffen, nicht ein solches anreden, – und seufzt, daß sein Genie in einer Provinzialstadt weggeworfen sei. Er ist in der That ein sehr gewandter Mann und würde gewiß in London manches zu Stande bringen. Seine Energie ist erstaunlich und – ansteckend. Kannst Du Dir vorstellen, daß es ihm durch fortgesetztes Schüren gelungen ist, die Flamme meiner Eitelkeit anzufachen? Metapher bei Seite – ich sammle gegenwärtig meine Notizen und Aufzeichnungen und bin selbst erstaunt, wie leicht sie in Methode fallen und die Gestalt von Capiteln und Büchern annehmen. Ich kann mich eines Lächelns nicht erwehren, wenn ich hinzusetze, daß ich mich in Gedanken bereits als Schriftsteller sehe – noch weniger, wenn ich denke, daß Dein Onkel Jack einen so hochstrebenden Ehrgeiz in mir geweckt hat. Uebrigens habe ich Deiner Mutter einige Stellen aus meinem Buche vorgelesen, und sie erklärt sie für ›ungemein schön,‹ was mir eine Ermuthigung ist. Deine Mutter hat viel natürlichen Verstand, obgleich ich nicht sagen will, daß sie viel Gelehrsamkeit besitze – ein Wunder allerdings, wenn man bedenkt, daß Pic de la Mirandola Giovanni Pico della Mirandola (1463-94), ein italienischer Philosoph der Renaissance. nichts gegen ihren Vater war. Und dennoch starb er, der theure, große Mann, ohne je eine Zeile drucken zu lassen, während ich – in der That, ich erröthe, wenn ich an meine Kühnheit denke!

Lebe wohl, mein Sohn, und benütze noch so gut, wie möglich, die Zeit Deines Aufenthaltes in dem Philhellenium. Ein voller Geist ist der wahre Pantheismus – plena Jovis. Wo immer Kenntnisse sind, da ist Gott. Nur in dem Winkel des Gehirns, den wir leer lassen, kann das Laster Wohnung nehmen. Klopft dieses an Deiner Thüre an, mein Sohn, so sei im Stande, zu sagen: ›Kein Platz da für Euer Gnaden – nur weiter.‹

Dein

Dich liebender Vater
A. Caxton

 

2. Von Mrs. Caxton.

»Mein theurer Sisty.

Du kömmst nach Hause! – Mein Herz ist so voll von diesem Gedanken, daß ich meine, nichts Anderes schreiben zu können. Liebes Kind. Du kömmst nach Hause – bist fertig mit der Schule, fertig mit den Fremden, Du gehörst wieder uns, bist wieder ganz unser Sohn! Ja, Du gehörst wieder mir, wie Du mir gehörtest in der Wiege, in der Kinderstube und im Garten, Sisty, wo wir uns mit Gänseblümchen zu werfen pflegten! Wie wirst Du über mich lachen, wenn ich Dir sage, daß, sobald ich gehört hatte, Du kommest nach Hause zurück, ich mich aus dem Zimmer an meine Kommode schlich, in welcher ich, wie Du weißt, alle meine Schätze aufbewahre. Da war Deine kleine Mütze, die ich selbst gearbeitet hatte, und Deine arme Nankingjacke, die Du so stolz bei Seite warfst – o, und viele andere Reliquien von Dir aus jener Zeit, da Du noch der kleine Sisty warst, und ich nicht die ›kalte, förmliche Mutter,‹ wie Du mich jetzt nennst, sondern Deine ›liebe Mama‹. Ich küßte sie, Sisty, und sagte zu mir selbst: ›Mein Kindchen kömmt wieder zurück!‹ So thöricht war ich, alle die langen Jahre, welche inzwischen vergangen waren, zu vergessen und mir einzubilden, ich könnte Dich wieder auf den Armen tragen und Dich schmeichelnd dazu bewegen, ›Gott erhalte den Papa‹ zu sagen. Nun, nun! ich schreibe zwischen Lachen und Weinen. Du kannst nicht mehr sein, was Du warst, bist aber doch noch immer mein theurer Sohn – Deines Vaters Sohn – mir lieber, als alles auf der Welt – diesen Vater ausgenommen.

Ich bin sehr froh, daß Du so bald kommen wirft; komme nur, so lange Dein Vater noch so eifrig an seinem Buche ist, damit Du ihn ermuthigen und dabei festhalten kannst. Denn warum sollte er nicht groß und berühmt werden? Warum sollten ihn nicht auch Andere bewundern, wie wir es thun? Du weißt, wie stolz ich immer auf ihn war, aber ich sehne mich darnach, die Welt wissen zu lassen, weßhalb ich so stolz war. Und doch ist es am Ende nicht bloß, weil er so verständig und gelehrt, sondern weil er so gut ist und ein so großes, edles Herz besitzt. Allein sein Herz muß in dem Buche so gut sich zeigen, wie seine Gelehrsamkeit. Denn obgleich es viele Dinge enthält, die mir unklar sind, so finde ich doch hin und wieder etwas, das ich verstehe – und da meine ich denn, dieses Herz spreche zu der ganzen Welt.

Dein Onkel hat es übernommen, das Buch in den Druck zu bringen, und sobald der erste Band fertig ist, will Dein Vater deßhalb mit ihm nach London gehen.

Alles ist ganz wohl, die arme Mrs. Jones ausgenommen, welche am kalten Fieber schlimm darnieder liegt. Primmins hat ihr ein Amulet zum Anhängen gegeben, und in der That versichert Mrs. Jones, sie fühle sich schon viel besser. Es scheint zwar ganz gegen die Vernunft zu sein, allein man kann doch nie leugnen, daß oft besondere Kräfte in diesen Dingen liegen.,Warum nicht?‹ sagt Dein Vater darüber. ›Ein Zauber muß von dem lebhaften Wunsche des Zauberers begleitet sein, daß er Erfolg habe – und was ist der Magnetismus Anderes, als ein Wunsch?‹ Ich verstehe dies nicht ganz, aber gewiß liegt – bei allem, was Dein Vater spricht – mehr darin, als man auf den ersten Blick wahrnimmt.

Nur noch drei Wochen bis zu den Ferien, und dann keine Schule mehr, Sisty – keine Schule mehr!

Dein Stübchen soll ganz neu hergerichtet und recht hübsch herausgeputzt werden; morgen wird daran angefangen.

Die Ente ist ganz wohl und, ich meine wirklich, nicht mehr so lahm, wie sonst.

Gott behüte Dich, mein liebes, theures Kind!

Deine

Dich liebende, glückliche Mutter
K. C.«

 

Die Zeit zwischen dem Empfang dieser Briefe und dem Morgen, an welchem ich nach Hause zurückkehren sollte, erschien mir wie einer von jenen langen, ruhelosen und doch halb träumerischen Tagen, welche ich während einer Kinderkrankheit auf meinem Lager zugebracht hatte. Ich arbeitete meine Aufgaben mechanisch aus und verfaßte eine griechische Abschiedsode an das Philhellenicum, welche Dr. Hermann für ein Meisterwerk erklärte und mein Vater, dem ich sie im Triumph zuschickte, mit einem Briefe erwiederte, in welchem er alle meine griechischen Barbarismen durch Nachahmung in der Muttersprache mit falschem Englisch parodirte. Ich schluckte jedoch die Pille und tröstete mich mit der angenehmen Erinnerung, daß, nachdem ich sechs Jahre darauf verwendet, schlecht Griechisch schreiben zu lernen, ich fürderhin keine Gelegenheit mehr haben werde, von einer so kostbaren Errungenschaft Gebrauch zu machen.

So kam der letzte Tag heran. Allein und in einer Art wonniger Melancholie besuchte ich noch einmal jeden der alten Tummelplätze und Schlupfwinkel; die Räuberhöhle, die wir eines Winters gegraben und, sechs Mann stark, gegen die gesammte Polizei des kleinen Königreichs behauptet hatten; den Platz bei den Pallisaden, wo ich meine erste Schlacht gekämpft; den alten Buchenstumpf, auf welchem ich so oft gesessen, um die Briefe aus der Heimath zu lesen!

Mit meinem Taschenmesser, welches außer sechs Klingen auch noch einen Korkzieher, einen Federnspalter und einen Knopfhacken in sich vereinigte, schnitt ich in großen Anfangsbuchstaben meinen Namen über meinem Pulte ein. Dann kam die Nacht, die Glocke läutete, und wir gingen auf unsere Zimmer. Ich öffnete das Fenster und schaute hinaus. Die Sterne funkelten am Himmel – welches mochte wohl der meinige sein, der mir zu Ruhm und Glück voranleuchten sollte? Hoffnung und Ehrgeiz erfüllten meine Seele, und doch – im Hintergrund stand die Melancholie. Ach, wer unter euch, meine Leser, kann sich alle jene süßen und traurigen Gedanken, jenes unausgesprochene, halbbewußte Leid über die Vergangenheit, jenes unbestimmte Sehnen nach der Zukunft zurückrufen, wodurch auch der Blödeste in der letzten Nacht, ehe er die Knabenzeit und die Schule für immer verläßt, zum Dichter wird!



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