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Es war an einem schönen Sommernachmittag, als mich die Kutsche an meines Vaters Thor absetzte. Mrs. Primmins eilte mir entgegen, um mich zu bewillkommnen, und ich hatte kaum ihren warmen, freundschaftlichen Händedruck erwiedert, als ich mich von den Armen meiner Mutter umschlungen fühlte.
Sobald sich diese zärtlichste aller Mütter überzeugt hatte, daß ich nicht ausgehungert war, indem ich vor wenigen Stunden bei Dr. Herman zu Mittag gegessen, führte sie mich durch den Garten nach der Laube hin.
»Du wirst Deinen Vater sehr heiter finden,« sagte sie, eine Thräne aus dem Auge wischend. »Sein Bruder ist bei ihm.«
Ich blieb stehen. Sein Bruder! Wird es der Leser wohl glauben? – ich hatte niemals von diesem Bruder gehört, so wenig wurden Familien-Angelegenheiten in meinem Beisein besprochen.
» Sein Bruder!« sagte ich. »Habe ich denn einen Onkel Caxton sowohl, als einen Onkel Jack?«
»Ja, mein Lieber,« erwiederte meine Mutter und setzte alsdann hinzu: »Dein Vater und er standen nicht so gut mit einander, als wohl recht gewesen wäre und der Capitän befand sich im Ausland. Doch, dem Himmel sei Dank, sie sind nun ganz ausgesöhnt.«
Wir hatten keine Zeit zu weiterer Besprechung, da wir in der Laube angelangt waren. Hier saßen die Herrn an einem mit Obst und Wein besetzten Tische bei ihrem Dessert: mein Vater, Onkel Jack, Mr. Squills und eine hohe, magere, bis an's Kinn zugeknöpfte Gestalt von aufrechter, kriegerischer, majestätischer und gebieterischer Haltung würdig eines Platzes in meines großen Ahnherrn »Buch der Ritterschaft«.
Alle erhoben sich bei meinem Eintreten; allein mein guter Vater, immer langsam in seinen Bewegungen, war der Letzte, welcher mich begrüßte. Onkel Jack hatte den gewaltigen Eindruck seines großen Siegelringes auf meinen Fingern zurückgelassen, Mr. Squills mich auf die Schulter geklopft und mich »wunderbar gewachsen« gefunden; mein neuentdeckter Verwandter hatte mit großer Würde gesagt: »Neffe, Deine Hand, – ich bin Capitän de Caxton,« und sogar die zahme Ente hatte ihren Schnabel unter ihrem Flügel hervorgezogen und ihn sanft zwischen meinen Beinen gerieben – ihre gewöhnliche Art der Begrüßung – bevor mein Vater seine blasse Hand auf meine Stirne legte und, nachdem er mich einen Augenblick mit unaussprechlicher Milde angesehen, sagte: »Mehr und mehr Deiner Mutter ähnlich – Gott segne Dich!«
Zwischen meinem Vater und seinem Bruder war ein Stuhl für mich freigelassen worden. Ich nahm hastig Besitz von demselben, während ich eine dunkle Röthe in meine Wangen steigen fühlte, und mir die Kehle wie zugeschnürt war, so tief hatte mich die ungewöhnliche Innigkeit in dem Gruße meines Vaters ergriffen. Nun erst kam mir meine neue Stellung zum Bewußtsein. Ich war nicht mehr der Schulknabe, welcher auf die kurze Dauer seiner Ferien nach Hause kam; ich war unter den Schirm des väterlichen Daches zurückgekehrt, um selbst eine seiner Stützen zu werden. Endlich fühlte ich mich als Mann berechtigt, jenen theuern Wesen, welche, bis jetzt ohne alle Wiedervergeltung, so viel an mir gethan hatten, Hülfe oder Trost zu geben. Es ist eine eigenthümliche Krisis in unserm Leben, wenn wir als »fertig« nach Hause kommen, Die Heimath erscheint uns als etwas ganz Anderes; früher war man im Grunde doch nur eine Art Gast in derselben, freudig bewillkommt und verhätschelt, und kleine Festlichkeiten wurden zu Ehren des erlösten und glücklichen Kindes veranstaltet. Kommt man aber als »fertig« zurück, hat man Schule und Knabenzeit abgestreift, so ist man nicht mehr der Gast, nicht mehr das Kind. Man soll hinfort Theil nehmen an den Sorgen und Pflichten des täglichen Lebens – eintreten in das häusliche Vertrauen. Ist es nicht so? Ich hätte mein Gesicht in meine Hände begraben und weinen mögen!
Trotz seiner Einfachheit und seinem zerstreuten Wesen verrieth mein Vater bisweilen einen eigenen Scharfblick, die innersten Gedanken des Herzens zu ergründen. Ich glaube wirklich, er las in diesem Augenblick alles, was in dem meinigen vorging, als ob es Griechisch gewesen wäre. Sachte schlang er seinen Arm um meinen Leib und flüsterte mir »Bst!« zu. Dann erhob er seine Stimme und rief laut: »Bruder Roland, Du mußt Dich von Jack nicht schlagen lassen.«
»Bruder Austin,« erwiederte der Capitän mit großer Förmlichkeit, »Mr. Jack, wenn ich mir die Freiheit nehmen darf, ihn so zu nennen –«
»Ganz gewiß dürfen Sie das,« rief Onkel Jack.
»Herr,« sagte der Capitän, sich verbeugend, »es ist dies eine Vertraulichkeit, welche ich mir zur Ehre schätze. Ich wollte bemerken, daß Mr. Jack bereits das Feld geräumt hat.«
»Weit entfernt,« entgegnete Mr. Squills, während er ein brausendes Pulver in eine chemische Mischung rührte, welche er mit großer Aufmerksamkeit aus Scherry und Citronensaft bereitet hatte; – »weit entfernt! Mr. Tibbets – dessen Kampforgan, beiläufig bemerkt, sehr schön ausgebildet ist – sagte eben –«
»Daß es eine Sünde und Schande für das neunzehnte Jahrhundert ist,« unterbrach ihn Onkel Jack, »wenn ein Mann, wie mein Freund Capitän Caxton –«
» De Caxton, Herr – Mr. Jack.«
»De Caxton – ein Mann von den höchsten militärischen Talenten, von der edelsten Abkunft – ein Held, von Helden entsprossen – so viele Jahre und mit solcher Auszeichnung in Seiner Majestät Dienst gestanden haben und nun nicht mehr sein soll, als ein Halbsoldcapitän Maßnahme zur Senkung der militärischen Personalkosten, wenn entweder gerade kein Krieg war oder die Soldaten trotz Krieg keine Verwendung fanden.. Ich behaupte, dies rührt von dem schändlichen Kaufsystem her, welches die höchsten Ehren dem Gelde zugänglich macht, wie es im römischen Reich der Fall war –«
Mein Vater spitzte die Ohren; allein Onkel Jack stürmte vorwärts, bevor Ersterer seine Streitkräfte sammeln konnte, um ihn zu unterbrechen.
»Ein System, welchem man mit einiger Anstrengung und einigem Zusammenwirken so leicht ein Ende machen könnte. Ja, Herr« – und Onkel Jack schlug dabei so heftig auf den Tisch, daß einige Kirschen in die Höhe und Capitän de Caxton an die Nase flogen – »ja, Herr, ich wage zu behaupten, daß ich die Armee auf einen ganz andern Fuß setzen wollte. Wenn die ärmeren und verdienstvolleren Gentlemen, gleich Capitän de Caxton, sich zu einer großen, antiaristokratischen Association vereinigen und vierteljährlich je eine kleine Summe bezahlen würden, so ließe sich ein Capital zusammenbringen, das zureichen dürfte, alle jene verdienstlosen Subjekte auszukaufen, so daß jeder würdige Mann die ihm gebührende Aussicht auf Beförderung hätte.«
»Wirklich, Herr!« sagte Squills, »darin liegt etwas Großartiges – meinen Sie nicht, Capitän?«
»Nein, Herr,« erwiederte der Capitän mit großem Ernste. »Es gibt in Monarchieen nur eine Grundlage der Ehre, und ich sehe in jenem Vorschlag einen Eingriff in die erste Pflicht des Soldaten – die Achtung vor seinem Landesvater.«
»Ehre,« fuhr der Capitän nach kurzer Pause mit Feuer fort, »ist der Lohn des Soldaten. Was kümmert es mich, wenn ein junger Hafenfuß mir eine Oberstenstelle wegkauft? Meine Wunden und meine Dienste kann er mir nicht abkaufen, Herr, so wenig, wie die Medaille, die ich bei Waterloo gewonnen. Er ist ein reicher Mann, ich bin arm; er wird Oberst genannt, weil er den Namen mit Geld bezahlt hat. Dies gefällt ihm – wohl und gut. Mir würde es nicht gefallen; ich bin lieber Capitän und mir meiner Würde bewußt – nicht der Würde, die im Titel, sondern die in den Diensten liegt, durch welche ich ihn errungen habe. Eine bettelhafte, spitzbübische Association von Actienspekulanten – denn was wäre es Anders? – sollte mir eine Compagnie kaufen? Ich möchte nicht unhöfllich sein, sonst würde ich sagen, zum Henker damit, Mr. Jack.«
Eine feierliche Stille folgte der Rede des Capitäns; selbst Onkel Jack schien gerührt zu sein, denn er sah den verdienten Veteranen mit großen Augen an und schwieg. Die Pause begann drückend zu werden, als Mr. Squills sie mit den Worten unterbrach: »Ich möchte sehr gerne Ihre Waterloo-Medaille sehen. Sie haben sie wohl nicht bei sich?«
»Mr, Squills,« erwiederte der Capitän, »sie liegt zunächst meinem Herzen, so lange ich lebe; sie soll mit mir begraben werden, wenn ich sterbe, und auf's Kommandowort stehe ich auf mit ihr am Tag der großen Heerschau!«
So sprechend knüpfte er langsam seinen Rock auf, lößte von einem gestreiften Bande ein so häßliches Stück Silberarbeit (der Verfertiger desselben möge mir verzeihen!), als nur je eines auf Kosten des Geschmacks das Verdienst belohnte, und legte die Medaille auf den Tisch.
Sie ging von Hand zu Hand, ohne daß ein Wort gesprochen wurde.
»Es ist seltsam,« sagte endlich mein Vater, »wie solche Kleinigkeiten einen so großen Werth gewinnen können – wie in dem einen Zeitalter der Mensch sein Leben an eine Sache zu setzen bereit ist, für welche er im nächsten keinen Heller geben würde! Der Grieche schätzte nichts höher, als einige Olivenblätter, in einen Kranz gewunden und ihm auf's Haupt gesetzt – ein Kopfputz, den wir heut zu Tag sehr lächerlich finden würden. Ein amerikanischer Indianer hält eine Reihe menschlicher Kopfhäute für den ehrenvollsten Schmuck, während wir wohl einstimmig (Mr. Squills ausgenommen, welcher an solche Dinge gewöhnt ist) dieselben für eine sehr widrige Zugabe zu den persönlichen Reizen eines Menschen erklären würden, und mein Bruder schätzt dieses Stückchen Silber, welches einen Werth von etwa fünf Schillingen haben mag, höher, als Jack eine Goldmine oder ich die Bibliothek des Museums in London. Eine Zeit wird kommen, in welcher die Menschen eine solche Medaille für einen eben so nichtigen Zierrath halten werden, wie die Olivenblätter und die Scalpe.«
»Bruder,« sagte der Capitän, »die Sache hat nichts Befremdliches, sondern ist Jedem, der sich auf die Grundsätze der Ehre versteht, so klar, wie ein Lanzenschaft.«
»Möglich,« entgegnete mein Vater in mildem Tone. »Ich möchte wohl hören, was Du über die Ehre zu sagen hast. Sicherlich würde es uns Allen sehr zur Erbauung gereichen.«
Onkel Rolands Abhandlung über die Ehre.
Meine Herrn,« begann der Capitän, als diese deutliche Aufforderung an ihn ergangen war – »meine Herrn, Gott schuf die Erde, aber der Mensch schuf den Garten. Gott schuf den Menschen, aber der Mensch schafft sich selbst auf's Neue.«
»Allerdings, durch Kenntnisse,« sagte mein Vater.
»Durch Gewerbfleiß,« meinte Onkel Jack.
»Durch die physischen Verhältnisse seines Körpers,« erklärte Mr. Squills. »Er wäre nicht im Stande gewesen, sich zu etwas Anderem zu machen, als er ursprünglich in den Wäldern und Wildnissen war, wenn er Floßen hätte, wie ein Fisch, oder nur plappern könnte, wie ein Affe. Hände und Zunge, Herr, dies sind die Werkzeuge des Fortschritts.«
»Mr, Squills,« bemerkte mein Vater mit einem beifälligen Nicken, »in Betreff der Hände hat vor Ihnen schon Anaxagoras Anaxagoras (499-428 v.u.Z), vorsokratischer griechischer Philosoph. so ziemlich das Nämliche gesagt.«
»Kann nichts dafür,« entgegnete Mr. Squills; »man dürfte seinen Mund nicht mehr aufthun, wenn man nur sagen wollte, was vorher Niemand gesagt hat. Im Grunde aber verdanken wir diese Ueberlegenheit nicht sowohl unsern Händen, als der Größe unserer Daumen.«
»Albinus, de Sceleto Bernhard Siegfried Albinus, urspr. Weiss (1697-1770), deutsch-holländischer Anatom. Sein Grundlagenwerk De Sceleto Humano Liber erschien 1762. und unser gelehrter William Lawrence William Lawrence (1783-1867), englischer Chirurg und Anatom; in seinen Mittdreißigern veröffentlichte er Büchern mit prädarwinistischen Ideen, deren zweites er, nachdem der Lordkanzler es als blasphemisch bezeichnet hatte, zurückziehen musste. haben eine ähnliche Bemerkung gemacht,« warf mein Vater wieder dazwischen.
»Zum Henker, Herr!« rief Squills; »müssen Sie denn auch alles wissen?«
»Alles! Nein. Aber die Daumen können den einfachsten Verstand zu Betrachtungen veranlassen,« erwiederte mein Vater bescheiden.
»Meine Herrn,« begann Onkel Roland wieder. »Daumen und Hände besitzen die Eskimos so gut, als Gelehrte und Wundärzte sich derselben erfreuen – und, zum Henker, sind sie darum gescheidter? Meine Herrn, Sie können uns nicht zu bloßen Maschinen machen. Sie müssen auf das Innere sehen. Der Mensch, sage ich, schafft sich selbst auf's Neue. Wie? Durch das Princip der Ehre. Sein erster Wunsch ist, Andere zu übertreffen – sein erster Impuls. Auszeichnung vor seinen Nebenmenschen. Der Himmel legt in seine Seele, gleich als wäre sie ein Kompaß, eine Nadel, welche stets nach einem Ziele hindeutet – nämlich nach Ehre in dem, was seine Umgebung für ehrenwerth hält. Weil nun der Mensch anfangs mancherlei Gefahren, von wilden Thieren sowohl, als von Menschen, so wild, wie er selbst, ausgesetzt war, so ist der Muth die erste Eigenschaft, welche von der Menschheit geehrt wurde. Deßhalb ist der Wilde muthig; deßhalb begehrt er seinen Muth gepriesen zu sehen; deßhalb schmückt er sich mit den Häuten der von ihm erlegten Thiere oder mit den Scalpen seiner von ihm erschlagenen Feinde. Meine Herrn, sagen Sie nicht, die Häute und Scalpe seien nur Fell und Leder – sie sind Trophäen der Ehre! Nennen Sie dieselben nicht widrig und lächerlich, denn sie werden glorreich, als die Beweise, daß der Wilde aus seiner ursprünglichen, thierischen Selbstsucht sich aufgerafft hat und dem Lobe einen Werth beilegt, welches die Menschen nur einem Wirken zu Theil werden lassen, das ihre Wohlfahrt sichert oder fortschreiten läßt. Nach und nach, meine Herrn, kommen unsere Wilden zu der Ueberzeugung, daß sie nicht in Sicherheit unter einander leben können, wenn sie nicht die Uebereinkunft treffen, sich die Wahrheit zu sagen; deßhalb wird die Wahrheit geschätzt und zu einem Princip der Ehre erhoben. Bruder Austin kann uns gewiß bezeugen, daß in den Zeiten des Alterthums Wahrheitsliebe stets eine Eigenschaft der Helden war.«
»Ganz richtig,« erwiederte mein Vater; »Homer legt sie Achilles ausdrücklich bei.«
»Aus der Wahrheit entspringt das Bedürfniß nach irgend einer rohen Art von Recht und Gesetz. Deßhalb beginnen die Menschen, außer dem Muthe am Krieger und der Wahrheit an Allen, ihre Aeltesten zu ehren, welchen sie die Wahrung von Recht und Gerechtigkeit anvertrauen. So, meine Herrn, entstand das Gesetz –«
»Aber die ersten Gesetzgeber waren Priester,« bemerkte mein Vater.
»Meine Herrn, ich komme eben darauf zu sprechen. Woraus entspringt das Verlangen nach Ehre, wenn nicht aus dem Bedürfniß, sich auszuzeichnen – mit andern Worten, seine Fähigkeiten zum Wohle seiner Nebenmenschen auszubilden, obgleich man, dieser Folge unbewußt, nur nach deren Lobe ringt? Dieses Trachten nach Ehre aber ist unaustilgbar, und der Wunsch, ihren Lohn mit in das Jenseits hinüber zu nehmen, liegt in der Natur des Menschen. Deßhalb ist Derjenige, welcher am meisten Löwen oder Feinde erschlagen hat, zu dem Glauben geneigt, er werde in einem andern Leben das beste Jagdgebiet besitzen und bei Festgelagen den ersten Platz einnehmen. Die Natur legt in all' ihrem Wirken dem Menschen die Idee einer unsichtbaren Gewalt nahe, und das Princip der Ehre – das heißt, der Wunsch nach Lob und Belohnung – macht ihn lüstern nach dem Beifall dieser Gewalt. Daher kommt der erste, rohe Begriff von Religion, und in seiner Todeshymne am Folterpfahle singt der Wilde prophetische Lieder von den Auszeichnungen, die seiner harren. Die Gesellschaft schreitet voran; Dörfer werden gebaut; das Eigenthum gewinnt eine anerkannte Grundlage. Wer mehr besitzt, als ein Anderer, hat auch mehr Macht, als dieser. Die Macht wird geehrt. Der Mensch geizt nach der Ehre, welche an der Macht hastet, die hinwiederum Folge des Besitzes ist. So wird der Boden urbar gewacht; so werden Flöße gebaut; so tritt ein Stamm in Tauschverkehr mit dem andern; so wird der Handel begründet und die Civilisation begonnen. Meine Herrn, indem wir uns den Tagen der Gegenwart nähern, finden wir, daß alles, was am wenigsten mit der Ehre zusammen zu hängen scheint, dennoch seinen Ursprung in derselben hat und nur ein Mißbrauch ihrer Principien ist. Wenn heut zu Tage die Menschen Höcker und Krämer werden, wenn ein Spitzbube den Reichsadel erkauft, wenn sogar militärische Würden und Auszeichnungen um baares Geld erworben werden – so rührt doch alles von dem Verlangen nach Ehre her, welche die alternde Gesellschaft den äußern Zeichen von Titeln und Gold zutheilt, anstatt sie, wie früher, dem innern Werthe – dem Muthe, der Wahrheit, der Gerechtigkeit, dem Unternehmungsgeiste – vorzubehalten. Meine Herrn, ich wiederhole es – die Ehre ist die Grundlage allen menschlichen Fortschritts.«
»Du hast Deinen Beweis gleich einem Schulgelehrten durchgeführt, Bruder,« sagte Mr. Caxton bewundernd. »Dennoch aber, was dieses runde Stückchen Silber betrifft – kehren wir nicht zu den barbarischen Zeiten zurück, indem wir eine so hohe Bedeutung auf Dinge legen, welche an sich keinen wirklichen Werth haben und uns nicht die geringste Gelegenheit geben, unsern Geist auszubilden?«
»Man könnte kein Paar Stiefel damit bezahlen,« setzte Onkel Jack hinzu.
»Oder,« sagte Mr. Squills, »erspart es Ihnen auch nur ein einziges Kneipen des verwünschten Rheumatismus, welchen Sie sich für Lebenszeit bei jenem Bivouac in den portugiesischen Sümpfen zugezogen haben? – der Kugel in ihrer Hirnschale und des Korkbeines nicht zu gedenken, welches die heilsame Wirkung der für Ihre Constitution nothwendigen Spaziergänge sehr beeinträchtigen muß.«
»Meine Herrn,« begann der Capitän wieder, ohne sich aus seiner Fassung bringen zu lassen, »mit der Rückkehr zu jenen barbarischen Zeiten kehre ich auch zu dem wahren Princip der Ehre zurück. Dieses runde Stückchen Silber ist eben deßhalb, weil es auf dem Markte keinen Werth hat, unschätzbar, denn dadurch erscheint es einzig als ein Beweis des Verdienstes. Was hätte diese Medaille für einen Sinn, in Beziehung auf geleistete Dienste, wenn ich mein Bein damit zurückkaufen, oder sie um jährliche 40 000 Pfund verschachern könnte? Nein, meine Herrn, ihr Werth besteht darin, daß, wenn ich sie auf der Brust trage, die Menschen sagen: der steife, alte Kerl ist nicht so nutzlos, als er scheint. Er war einer von Denen, welche England retteten und Europa befreiten. Und selbst, wenn ich sie hier verberge« (Onkel Roland küßte die Medaille bei diesen Worten ehrfurchtsvoll, befestigte sie an das Band und brachte sie wieder an ihren früheren Ruheplatz), »und kein Auge sie sieht, wird sie mir noch wertvoller durch den Gedanken, daß mein Vaterland die alten und wahren Principien der Ehre nicht so weit herabgewürdigt hat, um den Krieger, der ihm sein Leben geweiht, mit derselben Münze zu bezahlen, mit welcher Sie, Mr. Jack, die Rechnung Ihres Schuhmachers bezahlen. Nein, nein, meine Herrn. Da der Muth die erste von der Ehre erzeugte Tugend war – die erste, von welcher alle Sicherheit und Civilisation ausging, so thun wir wohl, wenigstens diese einzige Tugend rein und unbefleckt zu erhalten von all' den geldsüchtigen, feilen Gräueln, welche die Laster, nicht die Tugenden, der von ihr hervorgebrachten Civilisation sind.«
Onkel Roland hatte ausgeredet. Er füllte sein Glas, erhob sich und sagte feierlich: »Noch ein Glas, meine Herrn – ›den Todten, die für England starben!‹«
In der That, mein Lieber. Du mußt sie nehmen. Du hast Dich ganz gewiß erkältet, ich habe Dich dreimal nacheinander niesen hören.«
»Ja, Mutter, weil ich mir eine Prise von Onkel Roland's Tabak holte, nur um sagen zu können, ich habe aus seiner Dose geschnupft – Du weißt, von wegen der Ehre.«
»Und was hast Du denn für eine witzige Bemerkung dabei gemacht, die Deinem Vater so wohl gefiel – etwas von Pulver und dem Olymp?«
»Pulver und – ah! › pulverem olympicum collegisse juvat,‹ Es erfreut, olympischen Staub gesammelt zu haben (Horaz, Carm. I, 1, 3f.) meine liebe Mutter – was heißen will, daß es ein Vergnügen sei, aus der Dose eines braven Mannes eine Prise zu nehmen. Ich bitte Dich. Mutter, stelle die Molken hin – ich will sie ja nehmen, gewiß, ich will. Und jetzt sehe Dich zu mir – so ist's recht – und erzähle mir alles, was Du von diesem prächtigen alten Capitän weißt. Zuvörderst – er ist älter, als mein Vater?«
»Das will ich meinen!« rief meine Mutter entrüstet. »Er sieht um zwanzig Jahre älter aus, der wirkliche Unterschied beträgt aber nur fünf. Dein Vater muß immer jung aussehen.«
»Und weßhalb setzt Onkel Roland jenes abgeschmackte französische de vor seinen Namen! und weßhalb war er mit meinem Vater verfeindet? und ist er verheirathet? und hat er Kinder?«
Der Schauplatz dieser Unterredung ist mein eigenes kleines Stübchen, neu tapezirt für den »fertig« Zurückgekehrten – die Tapeten Glanzpapier mit Blumen und Vögeln – alles so frisch, so rein und heiter; meine Bücher sind auf hübschen Brettchen aufgestellt, ein Schreibtisch steht am Fenster; draußen aber leuchtet ein stiller Sommermond. Das Fenster ist halb geöffnet, der Duft der Blumen und des frischgemähten Heu's dringt herein. Es ist elf Uhr vorüber, und der Knabe ist ganz allein mit seiner geliebten Mutter.
»Mein lieber, guter Sohn! Du stellst so viele Fragen auf einmal!«
»So antworte nicht darauf, sondern fange von vorne an, wie Mrs. Primmins bei ihren Feengeschichten – ›es war einmal –‹«
»Nun denn,« begann meine Mutter, mich auf die Stirne küssend, »es war einmal ein gewisser Geistlicher in Cumberland, der zwei Söhne besaß. Er hatte nur eine kleine Pfründe, und den Knaben blieb keine andere Aussicht, als sich selbst ihren Weg durch die Welt zu bahnen. Ganz nahe bei dem Pfarrhause jedoch erhob sich auf einem Hügel eine alte Ruine, von der ein Thurm noch stand, und diese, nebst einem großen Theil des umliegenden Landes, hatte einst der Familie des Geistlichen gehört. Nach und nach war aber alles verkauft worden, außer der Präsentation auf die Pfründe (das sogenannte Patronatsrecht war auch verkauft), welche dem letzten Glied der Familie gesichert worden war. Der ältere von jenen Söhnen war Dein Onkel Roland, der jüngere Dein Vater. Der erste Zwist der Brüder entsprang, wie Dein Vater sagt, aus dem abgeschmacktesten Anlaß, aber Roland war ungemein empfindlich in allen Dingen, welche sich auf seine Vorfahren bezogen. Stets studirte er den alten Stammbaum, wanderte unter den Ruinen umher oder las Erzählungen von fahrenden Rittern. Wo, wann und mit wem dieser Stammbaum begann, weiß ich nicht; allein es scheint, daß König Heinrich II. einige Ländereien in Cumberland einem gewissen Sir Adam de Caxton schenkte, und von dieser Zeit an führte der Stammbaum regelmäßig von Vater auf Sohn bis zu Heinrich V. Dann kam, augenscheinlich in Folge der Wirren, welche, wie Dein Vater sagt, durch die Kämpfe der beiden Rosen hervorgerufen worden waren, eine dunkle Lücke – nur ein oder zwei Namen, ohne Datum oder Vermählungsangabe, waren bis zur Zeit Heinrichs VII. eingezeichnet, außer, daß unter der Regierung Eduard's IV. in einer Urkunde ein William Caxton genannt war. Nun stand in der Dorfkirche ein schönes, ehernes Denkmal, zu Ehren eines Sir William de Caxton errichtet, welcher in der Schlacht bei Bosworth Eine Schlacht innerhalb der sog. »Rosenkriege«. Am 22. August 1485 stießen hier die Heere von König Richard III. und Heinrich Tudor, Earl of Richmond, dem späteren König Heinrich VII. von England, aufeinander. Der Kampf endete mit dem Tod Richards III. Die »Rosenkriege« waren damit so gut wie beendet., für den schändlichen König Richard III. kämpfend, geblieben war. Zu derselben Zeit lebte, wie Du weißt, der berühmte Buchdrucker William Caxton. Dein Vater nun gab sich einstmals während eines Besuches bei seiner Tante in London die größte Mühe, alle alten Papiere und genealogischen Verzeichnisse, welche darauf Bezug haben konnten, auf dem Heroldenamte zusammen zu suchen und durchzusehen, und war denn auch hocherfreut über die Entdeckung, daß er nicht von jenem armen Sir William, der in einer so schlechten Sache getödtet worden war, sondern von dem großen Buchdrucker abstammte, welcher einem jüngern Zweig derselben Familie angehörte, und auf dessen Nachkommen die Güter unter der Regierung Heinrichs VIII. übergingen. Dies war die Veranlassung, weßhalb sich Dein Onkel Roland mit Deinem Vater entzweite, und, in der That, ich zittre bei dem Gedanken, daß sie diesen Gegenstand wieder berühren könnten.«
»Meine liebe Mutter, ich muß sagen, daß, soweit der gesunde Menschenverstand dabei in Frage kömmt, mein Onkel Unrecht hatte; doch kann ich die Sache am Ende begreifen – sicherlich aber war dies nicht der einzige Grund der Entfremdung?«
Meine Mutter blickte zur Erde und fuhr sanft mit der einen Hand über die andere, wie sie zu thun pflegte, wenn sie in Verlegenheit war.
»Was war es, mein Mütterchen?« frug ich schmeichelnd.
»Ich glaube, das heißt, ich – ich vermuthe, sie liebten beide dieselbe junge Dame.«
»Wie! Du willst doch nicht sagen, daß mein Vater jemals eine Andere liebte, als Dich?«
»Ja Sisty – ja! und sehr tief und innig! und,« setzte sie nach einer kurzen Pause mit einem sehr leisen Seufzer hinzu, »in mich war er nie verliebt; und, was noch mehr ist, er war so offen, es mir zu sagen!«
»Und dennoch hast Du –«
»Ihn geheirathet – ja!« sagte meine Mutter, die sanftesten und reinsten Augen aufschlagend, in welchen jemals ein Liebhaber sein Schicksal zu lesen begehrt hatte.
»Ja, denn die alte Liebe war hoffnungslos. Ich wußte, daß ich ihn glücklich machen konnte. Ich wußte, daß er mich zuletzt lieben würde – und es ist wirklich so gekommen! Mein Sohn, Dein Vater liebt mich!«
Indem sie sprach, überflog ein Roth, so unschuldig, als je eines das Antlitz einer Jungfrau zierte, die zarten Wangen meiner Mutter, und dabei sah sie so schön, so gut und so jung aus, daß wahrhaftig entweder Dusius, der böse Geist der Teutonen, oder Nock, der skandinavische Seekobold, von dem die Gelehrten unsere modernen Dämonen ableiten wollen, leibhaftig in meinem Vater gesteckt haben müßte, wenn er nicht gelernt hätte, ein solches Wesen zu lieben.
Ich drückte ihre Hand an meine Lippen, allein mein Herz war zu voll, als daß ich im Augenblick hätte sprechen können. Hierauf wechselte ich theilweise den Gegenstand des Gesprächs.
»Nun, und diese Nebenbuhlerschaft entzweite sie noch mehr? Wer war denn die Dame?«
»Dein Vater hat es mir nie gesagt, und ich habe ihn nie gefragt,« erwiederte meine Mutter mit der größten Einfachheit. »Allein sie war sehr verschieden von mir, das weiß ich. Sehr gebildet, sehr schön und sehr vornehm.«
»Dessen ungeachtet darf sich mein Vater glücklich schätzen, daß er ihr entging. Nun, und was that der Capitän?
»Um dieselbe Zeit starb Dein Großvater und bald darauf eine Tante mütterlicher Seits, welche reich und sparsam gewesen war und ganz unerwartet jedem der Brüder sechzehntausend Pfund hinterließ. Dein Onkel brachte mit seinem Antheil das alte Schloß und einiges umliegende Land zu einem ungeheuern Preise wieder an sich und ich höre, daß ihm das Ganze keine dreihundert Pfund jährlich eintrage. Mit dem kleinen Rest, der ihm übrig blieb, kaufte er sich eine Offiziersstelle in der Armee, und die Brüder sahen sich nicht wieder, bis in der vergang'nen Woche Roland plötzlich hier ankam.«
»Er hatte die vornehme junge Dame nicht geheirathet?«
»Nein, er heirathete eine Andere und ist jetzt Wittwer.«
»So war er eben so unbeständig, wie mein Vater, und, ich bin überzeugt, ohne einen so guten Entschuldigungsgrund. Wie kam das?«
»Ich weiß es nicht. Er spricht nicht davon.«
»Hat er Kinder?«
»Zwei; einen Sohn – doch von diesem rede nie mit ihm. Als ich Deinen Onkel frug, wie viele Kinder er habe, erwiederte er kurz: ›Ein Mädchen. Ich hatte einen Sohn, aber –‹«
»›Er ist todt,‹ rief Dein Vater im Tone theilnehmenden Mitgefühls.«
»›Todt für mich, Bruder – und ich bitte Dich, seiner nie mehr zu erwähnen.‹ Du hättest sehen sollen, wie streng Dein Onkel aussah – ich erschrack förmlich darüber.«
»Aber das Mädchen – warum brachte er sie nicht mit hierher?«
»Sie ist noch in Frankreich; allein er spricht davon, sie zu holen, und wir haben ihm halb und halb versprochen, sie beide in Cumberland zu besuchen. – Doch, mein Himmel! ist das zwölf Uhr? und die Molken sind ganz kalt geworden!«
»Ein Wort noch beste Mutter – ein Wort. Meines Vaters Buch – arbeitet er noch immer fort daran?«
»O ja, gewiß!« rief meine Mutter, die Hände zusammen legend; »und er muß es Dir vorlesen, wie er es mir vorliest – Du wirst es so gut verstehen. Ich habe immer so sehr gewünscht, daß die Welt ihn kennen und stolz auf ihn sein möchte, wie wir es sind – o, ich habe es so sehr gewünscht! – denn, vielleicht Sisty, wenn er jene vornehme Dame geheirathet hätte, so würde er sich aufgerafft haben, ehrgeiziger geworden sein – und ich konnte ihn nur glücklich, ich konnte ihn nicht groß machen!«
»So hat er Dir endlich Gehör geschenkt?«
»Mir?« erwiederte meine Mutter, mit einem sanften Lächeln den Kopf schüttelnd. »Nein, vielmehr Deinem Onkel Jack, und ich freue mich sagen zu können, daß dieser endlich einen bedeutenden Einfluß über ihn gewonnen hat.«
»Einen bedeutenden Einfluß, meine liebe Mutter! Nimm Dich vor Onkel Jack in Acht, oder wir werden Alle mit einander in einer Kohlenmine versinken oder mit einer großen Nationalcompagnie zu Fertigung von Schießpulver aus Theeblättern in die Luft fliegen!«
»Böses Kind!« sagte meine Mutter lachend. Hierauf nahm sie das Licht, zögerte noch einige Augenblicke, während ich meine Uhr aufzog, und setzte alsdann nachsinnend hinzu: »Jack hat gleichwohl sehr, sehr viel Verstand – und wenn wir, um Deinetwillen, Sisty, uns ein Vermögen erwerben könnten –«
»Mutter, ich bitte Dich! Du sprichst nicht im Ernste?«
»Und wenn mein Bruder das Mittel würde, ihn zu heben in der Welt –«
»Dein Bruder würde hinreichen, alle Schiffe im Kanal in den Grund zu bohren, Mutter!« unterbrach ich sie sehr unehrerbietig, erschrack jedoch, noch ehe ich die Worte ganz ausgesprochen, schlang meine Arme um meiner Mutter Hals und küßte den Schmerz hinweg, den ich ihr bereitet hatte.
Ich war allein und suchte mein Lager auf, wo mein Schlummer stets so sanft und leicht gewesen war – heute aber hätte ich eben so gut auf geschnittenem Stroh liegen können. Ich warf mich hin und her – schlafen konnte ich nicht. Ich stand auf, zog meinen Schlafrock an, machte Licht und setzte mich an den Tisch neben dem Fenster. Zuerst gedachte ich der unbestimmten Umrisse von meines Vaters Jugendleben, welche so plötzlich vor mir entworfen worden waren. Meine Phantasie ersetzte die fehlenden Farben, und das Bild schien mir nun alles zu erklären, was mich in meinen Vermuthungen so oft irre gemacht hatte. Ich begriff, wahrscheinlich in Folge irgend einer geheimen Sympathie in meinem eigenen Wesen (denn die Erfahrung konnte mich noch wenig Menschenkenntniß gelehrt haben), wie ein feuriger, ernster und forschender Geist, bei seinem rastlosen Ringen nach Wissen von einer mächtigen Leidenschaft getragen, nachdem diesem Sporn in plötzlicher und beklagenswerther Weise die Spitze abgebrochen worden, in die Ruhe eines passiven, ziellosen Studiums zu versinken vermochte. Ich begriff, wie in einer glücklichen, aber leidenschaftslosen Ehe, an der Hand einer so sanften, aufmerksamen und besorgten Gefährtin, welche jedoch so wenig geeignet war, einen von Natur ruhigen und beschaulichen Geist zu wecken, aufzumuntern und zu entzünden, Jahre um Jahre in dem gelehrten Müßiggang eines von der Welt abgeschiedenen Büchermannes hinschleichen konnten. Ich begriff endlich, wie mein Vater beim Eintritt in jene Periode des mittleren Lebens, in welcher die Männer sich vorzugsweise dem Ehrgeiz zuneigen, langsam und allmählig dem lange zum Schweigen gebrachten Flüstern wieder Gehör schenkte, und der Geist, des Bleigewichts sich entschlagend, welches ein gekränktes und getäuschtes Herz ihm auferlegt hatte, noch einmal schön und glänzend, wie in den Tagen der Jugend, die einzigen wahren Ideale des Genies vor sich sah – Ruhm und Anerkennung!
O, und der milde Triumph meiner Mutter, wie konnte ich auch diesen mitempfinden! Wie deutlich sah ich, beim Rückblick auf die Vergangenheit, wie sie Jahr um Jahr mehr in das innerste Herz meines Vaters sich eingeschlichen hatte – wie, was früher Wohlwollen gewesen, nun Liebe geworden – wie die Gewohnheit und die zahllosen Glieder, welche die Kette einer glücklichen Heimath bilden, dem geistvollen Manne ersetzt hatten, was der einsame Gelehrte anfangs vermißt haben mochte.
Zuletzt gedachte ich auch des grauköpfigen, adleraugigen alten Kriegers mit seinem verfallenen Thurm und seinen unfruchtbaren Aeckern. Ich versetzte mich in seine stolzen, vorurtheilsvollen, für das Ritterthum begeisterten Knabenjahre; ich sah ihn durch die Ruinen schleichen oder den alten Stammbaum studiren, und sein Sohn – verstoßen – was mochte sein schweres Vergehen gewesen sein? Ein Schauder ergriff mich. Und dieses Mädchen – sein Lämmchen – sein Alles – war sie schön? hatte sie blaue Augen, wie meine Mutter, oder eine hohe römische Nase und hervorragende Brauen, wie Capitän Roland? Ich sann, und sann und sann – und das Licht ging aus – und der Mond schien heller und stiller – bis ich endlich mit Onkel Jack in einem Ballon durch die Luft segelte und eben in das rothe Meer gestürzt war – als mich Mrs. Primmins' wohlbekannte Stimme durch den Ausruf in's Leben zurückrief: »Gott steh' mir bei, der Junge ist die ganze Nacht nicht in's Bett gekommen!«
Sobald ich angekleidet war, eilte ich die Treppe hinunter, denn ich sehnte mich, die alten, wohlbekannten Orte wieder aufzusuchen – das kleine Gartenbeet, von meiner Hand mit Anemonen und Kresse angesät; den Gang bei der Pfirsichmauer; den Teich, aus welchem meine Angel manchen Fisch herausgeholt hatte.
Als ich in die Halle eintrat, bemerkte ich Onkel Roland in großer Verlegenheit. Das Dienstmädchen reinigte eben den steinernen Fußboden an der Thüre der Halle; sie war von Natur wohl beleibt, und es ist erstaunlich, wie viel umfangreicher ein weibliches Wesen wird, wenn es auf Händen und Füßen sich bewegt! Das Mädchen scheuerte, wie gesagt, den Fußboden, ihr Gesicht von dem Capitän abgewendet, während dieser augenscheinlich das Haus verlassen wollte und nun mit kläglicher Miene auf das Hinderniß unter der Thüre niederschaute. Er räusperte sich laut – aber ach, das Mädchen hörte nicht gut! Ich blieb stehen, neugierig, zu sehen, wie Onkel Roland sich aus dieser Klemme ziehen werde.
Als er fand, daß sein Räuspern umsonst war, machte er sich so schmal, als möglich und glitt dicht an der linken Seite der Wand hin; in diesem Augenblick jedoch wandte sich das Mädchen plötzlich nach rechts und versperrte dadurch den einzigen Spalt, durch welchen ihrem Gefangenen ein Hoffnungsstrahl geleuchtet hatte. Mein Onkel blieb wie festgebannt stehen – in Wahrheit hätte er sich auch nicht einen Zoll weit bewegen können, ohne in persönliche Berührung mit den abgerundeten Reizen zu kommen, welche seine Schritte hemmten. Er nahm seinen Hut ab und rieb sich die Stirne in vollständiger Rathlosigkeit. Durch eine leichte Flankenbewegung gab ihm jetzt der Feind Gelegenheit zum Rückzug, während zugleich jede Möglichkeit, auf dieser Seite hinauszukommen, gänzlich dadurch abgeschnitten war. Onkel Roland zog sich denn auch hastig zurück und zeigte sich nun auf dem rechten Flügel des Gegners; kaum war dies jedoch geschehen, als der blockirende Theil, ohne sich umzusehen, die Wassergölte, welche die weiteren Operationen desselben hinderte, auf die Seite schob und so aufstellte, daß sie eine formidable Barrikade bildete, welche dem hölzernen Beine meines Onkels keine Aussicht auf Uebersteigung ließ. Capitän Roland hob seine Augen flehentlich zum Himmel auf, und ich hörte ihn deutlich ausrufen –
»Wollte Gott, es wäre ein Geschöpf in Hosen!«
Glücklicher Weise wandte in diesem Augenblick das Mädchen den Kopf schnell um, stand, als sie den Capitän erblickte, sogleich auf, stellte die Gölte bei Seite und machte einen erschrockenen Knix.
Onkel Roland berührte seinen Hut.
»Ich bitte tausendmal um Verzeihung, mein gutes Mädchen,« sagte er und glitt mit einer leichten Verbeugung in's Freie hinaus.
»Du hast die Höflichkeit eines Soldaten, Onkel,« sagte ich, meinen Arm in den seinigen legend.
»Still, mein Junge,« erwiederte er mit einem ernsten Lächeln und bis an die Schläfe erröthend; »sage, diejenige eines Gentleman! Für uns ist jedes Frauenzimmer eine Dame, kraft ihres Geschlechts.«
Ich hatte später oft Gelegenheit, mich dieses Ausspruchs meines Onkels zu erinnern; er erklärte mir auch, wie es kam, daß ein in Betreff des Familienstolzes so vorurtheilsvoller Mann nie einen Anstoß daran zu nehmen schien, daß mein Vater ein Mädchen geheirathet, deren Stammbaum so klein, wie derjenige meiner lieben Mutter, war. Wäre sie eine Montmorenci gewesen, mein Onkel hätte ihr nicht mehr Achtung und Ehrerbietung erweisen können, als er diesem bescheidenen Abkömmling der Familie Tibbets erwies. In der That huldigte er einer Ansicht, welche meines Wissens noch kein auf seine Familie stolzer Mann je gebilligt oder unterstützt hat – eine Ansicht, die er aus folgenden Schlüssen ableitete: 1) Die Geburt hat an sich selbst keinen Werth, sondern gewinnt ihn nur durch die Vererbung gewisser Eigenschaften, welche die Sprößlinge eines Geschlechtes von Kriegern fortzupflanzen berufen sind – nämlich: Wahrheit, Muth und Ehre. 2) Während wir von der weiblichen Seite unsere intellectuellen Fähigkeiten ableiten, so stammen von der männlichen Seite unsere sittlichen Fähigkeiten her; ein verständiger und witziger Mann hat in der Regel eine verständige und witzige Mutter, ein tapferer und ehrenhafter Mann einen tapfern und ehrenhaften Vater. Daher sind alle die Eigenschaften, welche sich von Geschlecht zu Geschlecht fortpflanzen sollten, männliche, ausschließlich vom Vater herrührende Eigenschaften. Ferner war es seine Ansicht, daß, während der Adel höhere und ritterliche Begriffe habe, das Volk im Allgemeinen schärfere und aufgewecktere Ideen besitze, daher eine Vermischung mit dem letzteren, stets vorausgesetzt, daß diese nur den weiblichen Theil betreffe, nicht nur entschuldbar, sondern sogar zweckmäßig sei. Und endlich war nach meines Onkels Dafürhalten der Mann ein rohes, sinnliches Geschöpf, das zu seiner Veredlung Berührungen aller Art nöthig habe, das Weib dagegen von Natur so empfänglich für alles Schöne und Edle, daß es nur wahrhaft weiblich zu sein brauche, um eine würdige Gefährtin für einen König zu sein. Sonderbare und widersinnige Ansichten ohne Zweifel, über welche viel gestritten werden könnte, namentlich, soweit die Lehre von der Abstammung in Frage käme (wofern diese überhaupt haltbar wäre); indeß – die einfache Thatsache ist, daß mein Onkel Roland ein ebenso überspannter und widerspruchsvoller Mann war, wie – wie – mein lieber Leser, wie Du und ich, wenn wir es einmal wagen, für uns selbst zu denken.
»Nun, für welchen Beruf bist Du bestimmt?« frug mein Onkel. »Nicht für den Soldatenstand, fürchte ich.«
»Ich habe noch nie über diesen Punkt nachgedacht, Onkel.«
»Dem Himmel sei Dank,« sagte Capitän Roland, »wir haben niemals einen Advokaten in der Familie gehabt! so wenig, wie einen Geldmäkler, oder einen Gewerbs – hm!«
Ich sah meinen großen Vorfahr, den Buchdrucker, plötzlich in diesen, hm erstehen!
»Ei, Onkel, es gibt ehrenwerthe Männer in allen Berufsarten.«
»Gewiß. Aber nicht in allen Berufsarten ist die Ehre das erste Princip allen Handelns.«
»Doch kann sie es sein, wenn ein Mann von Ehre den Beruf ergriffen hat. Ich weiß von manchen Soldaten, welche große Schurken waren!«
Mein Onkel wurde verlegen, und seine dunkeln Brauen zogen sich gedankenvoll zusammen.
»Du magst Recht haben, Junge,« erwiederte er in mildem Tone. »Aber glaubst Du, daß mir der Anblick meines alten, verfallenen Thurmes eben so viel Vergnügen gewähren würde, wenn ich mir dabei sagen müßte, er sei ursprünglich von irgend einem Häringshändler gebauet worden, statt daß ich weiß, er wurde einem Ritter und Gentleman (welcher seine Abkunft von einem Anglodänen aus König Alfred's Zeit herleitete) für treugeleistete Dienste in Aquitanien und in der Gascogne von Heinrich Plantagenet geschenkt? Und meinst Du, ich würde geworden sein, was ich bin, wenn ich nicht von Kindheit an jenen alten Thurm mit allen Vorstellungen von dem, was seine Eigenthümer als Ritter und Gentlemen waren und sein sollten, in Verbindung gebracht hätte? Neffe, ich wäre ein anderer Mann geworden, wenn an der Spitze meines Stammbaums ein Häringkrämer stände, obschon der Häringkrämer ein ebenso wackerer Mann hätte sein können, als der Anglodäne jemals war! Gott habe ihn selig!«
»Und aus demselben Grunde denkst Du vermuthlich, mein Vater wäre niemals der Mann geworden, der er ist, wenn er nicht jene merkwürdige Entdeckung in Betreff unserer Abkunft von dem großen Buchdrucker, William Caxton, gemacht hätte!«
Mein Onkel sprang auf, als hätte ihn eine Kugel getroffen – unvorsichtig genug, in Anbetracht des Stoffes, aus welchem das eine seiner Beine bestand – und wäre sicherlich in ein Erdbeerbeet gefallen, wenn ich nicht seinen Arm erfaßt hätte.
»Ei, Du – Du – Du junger Naseweis!« rief der Capitän, indem er mich abschüttelte, sobald er sein Gleichgewicht wieder gewonnen hatte. »Du wirst doch nicht die unselige Grille geerbt haben, die mein Bruder sich in den Kopf gesetzt hat? Du wirst doch nicht Sir William de Caxton, der bei Bosworth kämpfte und fiel, gegen den Handwerker vertauschen wollen, der gothisch gedruckte Flugblätter in dem Sanctuarium von Westminster verkaufte?«
»Das hängt von den Beweisen ab, Onkel!«
»Nein, junger Herr, sondern es beruht, gleich allen edlen Wahrheiten, auf dem Glauben. Die Menschen,« fuhr mein Onkel mit einem Blicke unaussprechlicher Verachtung fort, »verlangen heutzutage freilich, daß jede Wahrheit bewiesen werden solle.«
»Es ist ohne Zweifel ein trauriger Wahn unserer Zeit, mein theurer Onkel. Allein, wie können wir wissen, ob eine Wahrheit wirklich Wahrheit ist, ehe sie bewiesen worden?«
Ich glaubte, mit dieser sehr scharfsinnigen Frage meinen Onkel gefangen zu haben. Mit nichten – er schlüpfte hindurch, wie ein Aal.
»Was immer,« begann er, »in einer Wahrheit das Herz wärmer und die Seele reiner macht, das ist der Glaube, nicht das Wissen. Der Beweis ist eine Handschelle – der Glaube ein Flügel! Einen Beweis zu fordern über einen Ahnherrn aus König Richard's Zeit! Junge, Du kannst nicht einmal zur Befriedigung eines Logikers beweisen, daß Du der Sohn Deines eigenen Vaters bist. Ein frommer Mann hat nicht nöthig, seine Religion mit Vernunftgründen zu belegen – Religion ist keine Mathematik. Sie muß gefühlt, nicht bewiesen werden. Es gibt sehr viele Dinge in der Religion eines braven Mannes, welche nicht im Katechismus stehen. Beweis!« fuhr mein Onkel mit wachsender Heftigkeit fort – »der Beweis, Neffe, ist ein schlechter, gemeiner, schurkischer Jacobiner – der Glaube ein pflichtgetreuer, edelmüthiger, ritterlicher Gentleman! Nein, nein – beweise, was Du willst, meinen Glauben wirst Du mir nicht entreißen; er hat mich gemacht zu –«
»Dem großherzigsten Geschöpf, das jemals Unsinn schwatzte,« vollendete mein Vater, welcher, gleich Horazens deus ex machina Mit Hilfe einer Maschinerie tauchte gelegentlich auf der Bühne in der antiken Tragödie eine Gottheit auf, die einen Konflikt löste; die Stelle spielt an auf Horaz, de arte poetica V. 191 f.: » nec deus intersit, nisi dignus vindice nodus / inciderit« (»und kein Gott sei im Spiel, außer es hat sich eine Verstrickung ergeben, die einen Befreier verlangt«). Die Formulierung » deus ex machina« stammt mithin nicht von Horaz selbst., gerade im rechten Augenblick zu uns traf. »An was willst Du glauben, Bruder, wenn auch alle Beweise gegen Dich wären?«
Mein Onkel antwortete nicht und bohrte mit großer Gewalt die Spitze seines Stockes in den Sand.
»Er will nicht an unsern großen Ahnherrn, den Buchdrucker, glauben!« sagte ich boshaft.
Meines Vaters heitere Stirne umwölkte sich sogleich.
»Bruder,« ergriff der Capitän stolz das Wort. »Du hast ein Recht auf Deine eigenen Ideen, allein Du solltest Dich hüten, Dein Kind mit denselben zu beflecken.«
»Beflecken!« rief mein Vater, und zum ersten Male sah ich sein Auge zornig aufblitzen; er bezwang sich jedoch sogleich. »Nimm das Wort zurück, mein lieber Bruder.«
,Nein, Herr, ich werde es nicht zurücknehmen und damit die Familienberichte Lügen strafen!«
»Familienberichte! Eine Erztafel in einer Dorfkirche gegen die ganze Registratur des Heroldenamtes!«
»Einen Ahnherrn zu verleugnen, der als Ritter auf dem Schlachtfelde starb!«
»In der schlechtesten Sache, für welche jemals ein Schwert gezogen worden!«
»Für seinen König!«
»Der seine Neffen ermordet hatte!«
»Ein Ritter, der unser Wappen auf seinem Helme führte!«
»Und kein Gehirn darunter hatte, denn sonst würde er sich nicht wegen eines so blutdürstigen Bösewichts den Schädel haben einschlagen lassen!«
»Ein elender, gemeiner, geldgieriger Buchdrucker!«
»Der weise und glorreiche Einführer einer Kunst, welche die ganze Welt erleuchtet hat. Einem Vorfahren, dessen Name der Gelehrte und Weise nie ohne Verehrung nennt, sollte ich einen unwürdigen, unbekannten, einfältigen Tölpel im Panzerhemd vorziehen, dessen einziges auf die Nachwelt vererbtes Erinnerungszeichen eine Erztafel in einer Dorfkirche ist!«
Mein Onkel wandte sich um; er war leichenblaß geworden,
»Genug – genug! Ich bin hinreichend beschimpft. Ich hätte es erwarten sollen. Ich wünsche Dir und Deinem Sohne guten Tag.«
Mein Vater stand wie vernichtet. Der Capitän hinkte dem eisernen Thore zu; noch ein Augenblick, und er wäre verschwunden gewesen. Ich eilte ihm nach und hing mich an ihn.
»Onkel, es ist alles meine Schuld. Unter uns, ich bin ganz auf Deiner Seite. Bitte, vergieb uns Beiden. Wie konnte ich Dich auch nur so ärgern! Und mein Vater, den Dein Besuch so glücklich machte!«
Mein Onkel blieb stehen und suchte die Klinke des Thores zu ergreifen. Allein mein Vater war in diesem Augenblick zu uns getreten und faßte seine Hand.
»Was sind alle Buchdrucker, die je lebten, und alle Bücher, die je gedruckt wurden, gegen eine einzige Kränkung Deines edlen Herzens, Bruder Roland? Schande über mich! Allein, Du weißt, eines Büchermannes schwache Seite! Es ist sehr wahr, ich hätte den Jungen niemals etwas lehren sollen, was Dir Schmerz bereiten konnte. Bruder Roland – obgleich ich mich nicht erinnern kann,« fuhr mein Vater mit verwirrter Miene fort, »daß ich es je gethan hätte! Pisistratus, wenn Dir mein Segen theuer ist, so achte als Deinen Ahnherrn Sir William de Caxton, den Helden von Bosworth. Komm, komm, Bruder!«
»Ich bin ein alter Thor,« sagte Onkel Roland, »mag man die Sache betrachten, wie man will. Und Du, junger Schlingel! Du lachst uns beide aus!«
»Ich habe das Frühstück auf den Grasplatz bestellt,« ließ sich die Stimme meiner Mutter vernehmen, welche eben mit ihrem freundlichen Lächeln auf den Lippen aus dem Portale trat. »Ich denke, der Seeteufel wird heute nach Deinem Geschmacke sein, Schwager Roland.«
»Wir haben bereits genug vom Teufel gehabt, meine Liebe,« sagte mein Vater, indem er sich die Stirne wischte.
Die Vögel sangen über unsern Häuptern oder hüpften zutraulich über den Rasen, um die ihnen hingeworfenen Krumen aufzupicken, die Sonne stand noch kühl in Osten und die Blätter rauschten in der lieblichen Morgenluft, während wir mit so vollkommen versöhnten Herzen und so friedlich erfüllt mit Dank gegen Gott für die schöne Welt um uns her bei Tische saßen, als wäre der Fluß nie geröthet worden durch den blutigen Wahlplatz Von germanisch »wal«: Schlachtfeld. von Bosworth, und als hätte jener treffliche Mr. Caxton niemals Zwietracht unter die Menschen gesäet durch eine aufreizende Erfindung, welche tausendmal mehr geeignet ist, die Organe der Kampflust in Thätigkeit zu rufen, als das Schmettern der Trompete und das Wehen des Banners!
Bruder,« sagte Mr. Caxton, »ich will Dich heute in das römische Lager begleiten.«
Der Capitän fühlte, daß dieses Anerbieten das größte Sühnopfer in sich schloß, welches mein Vater bringen konnte; denn erstens war der Weg sehr weit, und mein Vater haßte weite Spaziergänge, und zweitens opferte er damit die Arbeit eines ganzen Tages an dem großen Werke. Gleichwohl nahm Onkel Roland mit jenem Zartgefühl, das nur edlen Naturen eigen ist, den Vorschlag sogleich an. Hätte er es nicht gethan, so würde mein Vater wenigstens einen ganzen Monat eine Last auf seinem Herzen gefühlt haben. Und wie hätte das große Werk fortschreiten können, wenn den Verfasser alle Augenblicke Gewissensbisse störten?
Eine halbe Stunde nach dem Frühstück machten sich die Brüder Arm in Arm auf den Weg; ich folgte in einiger Entfernung und bewunderte den alten Soldaten, wie er, seinem hölzernen Beine zum Trotz, so fest und sicher dahinschritt. Es war angenehm genug, ihrer Unterhaltung zuzuhören und die Gegensätze in diesen beiden excentrischen Abgüssen aus der Mutter Natur stets wechselnder Form zu beobachten – denn die Natur gießt nichts stereotyp, und ich glaube nicht, daß auch nur zwei Fliegen aufgefunden werden könnten, welche einander vollkommen gleich wären.
Mein Vater war weder ein rascher, noch ein sorgfältiger Beobachter ländlicher Schönheiten. Das Organ des Ortssinnes fehlte ihm so ganz und gar, daß ich vermuthe, er hätte sich in seinem eigenen Garten verirren können. Der Capitän dagegen war sehr empfänglich für äußere Eindrücke – es entging ihm kein einziger Punkt der Gegend. Bei jedem phantastisch aussehenden, knorrigen Baumstamme blieb er stehen, um ihn zu betrachten; sein Auge folgte der vor seinen Füßen sich aufschwingenden Lerche; und wenn ein frischerer Luftzug vom Hügel her wehte, so athmete er denselben mit wahrer Wollust ein. Mein Vater war bei all' seiner Gelehrsamkeit und seiner Bekanntschaft mit den literarischen Schätzen aller Sprachen nur selten beredt; in den Worten aber, welche der Capitän mit tiefer, bebender Stimme und lebhaften Geberden vortrug, lag eine Glut und Leidenschaftlichkeit, welche der Hälfte von dem, was er sprach, einen poetischen Schwung verlieh. Jeder Satz, jeder Ton seiner Stimme und jedes Spiel seiner Züge trug das Gepräge des Stolzes, während mein Vater, wenn man ihn auf sein Lieblingsthema, unsern großen Ahnherrn, den Buchdrucker, brachte, von dieser Eigenschaft so wenig besaß als ein Homöopath in eine Pille zu bringen vermag. Er war nicht einmal stolz darauf, nicht stolz zu sein. Mochte man ihm alle Federn ausrupfen, so konnte man doch nur die Taube in ihm wecken. Mein Vater war langsam und mild, mein Onkel rasch und feurig; mein Vater ließ den Verstand sprechen, mein Onkel seiner Einbildungskraft freien Lauf; mein Vater hatte selten Unrecht, mein Onkel nie ganz Recht! aber, wie mein Vater einst von ihm sagte: »Roland schlägt auf den Busch, bis der Vogel herausfliegt, den wir suchten. Er hat nie Unrecht, ohne uns zugleich auf das Rechte aufmerksam zu machen.« An meinem Onkel war alles ernst, rauh und eckig, an meinem Vater alles lieblich, zart und zu einer natürlichen Anmuth abgerundet. Der Charakter meines Onkels warf eine Menge von Schatten, gleich einem gothischen Bau unter einem nördlichen Himmel – während mein Vater heiter im Lichte stand, wie ein griechischer Tempel um die Mittagszeit in einem südlichen Klima. Dem Wesen der Brüder entsprach auch ihr Aeußeres. Die hohen Adlerzüge meines Onkels, seine dunkle Farbe, das rasche Feuer seiner Augen und die stets zuckende Oberlippe bildeten einen lebhaften Gegensatz zu meines Vaters zartem Gesichtsschnitt, dem ruhigen, zerstreuten Blick und der Lieblichkeit, die in seinem sanften, sinnenden Lächeln lag. Roland's Stirne war auffallend hoch und spitzte sich in der Mitte zu (nach der Richtung, in welche die Phrenologen das Organ der Ehrfurcht verlegen); sie war jedoch schmal und von tiefen Furchen durchzogen. Meines Vaters Stirne mochte eben so hoch sein, allein weiche, seidene Haare wehten achtlos darüber hin und verbargen zwar ihre Höhe, doch nicht ihre bedeutende Breite; keine Runzel war auf ihr zu sehen. Trotz dieser Verschiedenheiten war übrigens eine große Familienähnlichkeit zwischen den beiden Brüdern nicht zu verkennen. Wenn irgend ein weicheres Gefühl Roland milder stimmte, hatte er ganz den Blick Augustin's, und wenn eine hohe Erregung meinen Vater beseelte, hätte man ihn für Roland halten können. Es hat sich mir inzwischen, nachdem ich im Leben Gelegenheit gehabt, mir größere Menschenkenntniß zu erwerben, oftmals die Ansicht aufgedrungen – so seltsam sie auch scheinen mag – daß jeder der beiden Brüder mehr Erfolg in der Welt gehabt haben würde, wenn sie in frühen Jahren ihre Bestimmungen vertauscht hätten, wenn mein Vater in ein Feld der Thätigkeit gezwungen worden wäre, Roland aber sich der Gelehrsamkeit ergeben hätte. Gewiß würde die Leidenschaftlichkeit und Energie des Letzteren seinen Studien eine schnelle und nachdrückliche Wirkung gesichert haben – er wäre vielleicht ein Geschichtsforscher oder ein Dichter geworden. Es ist nicht das Studium allein, welches den Schriftsteller hervorbringt, es ist die Kraft; und wenn im Geiste das Feuer heiß und rasch brennen soll, muß man, wie im Kamin, den Zug verengern. Wäre dagegen mein Vater in die praktische Welt hineingedrängt worden, so hätte die ruhige Tiefe seiner Auffassung, die Klarheit seines Verstandes und die Richtigkeit der Ansichten, welche er nach reifer Erwägung zu den seinigen machte, verbunden mit einer Gemüthsart, die weder durch Widerwärtigkeiten, noch durch Verlust aus dem Gleichgewicht zu bringen war, und mit einem gänzlichen Mangel an Eitelkeit, Eigenliebe, Vorurtheil und Leidenschaft – ihn vielleicht zu einem weisen und erleuchteten Rathgeber in den großen Angelegenheiten des Lebens, zu einem Rechtsgelehrten, einem Diplomaten oder Staatsmann, vielleicht sogar zu einem großen General gestempelt, wenn nicht etwa seine warme Menschenfreundlichkeit der militärischen Mathematik hinderlich geworden wäre.
So aber – seine langsamen Pulse niemals durch eine Nothwendigkeit des Handelns zu rascherem Schlagen gebracht und selbst durch den Ehrgeiz des Gelehrten zu wenig angeregt – erweiterte sich der Geist meines Vaters mehr und mehr, bis sich seine Grenzen in dem großen Ocean der Betrachtung verloren, während Roland's leidenschaftliche Energie – durch jedes Hinderniß im Kampf mit seinem Geschlechte fieberhaft gesteigert und durch die Unterwerfung unter Disciplin und Pflicht mehr und mehr eingeengt – ihre wahre Laufbahn ganz verfehlte und ihn statt zum Dichter zum bloßen Humoristen machte.
Und doch – wer, der Euch je gekannt, hätte Euch anders wünschen mögen, Ihr arglose, liebevolle, ehrliche und einfache Männer? Einfach beide, trotz der Gelehrsamkeit des Einen und ungeachtet der Vorurtheile, der Reizbarkeit, der Launen und Grillen des Andern! Dort sitzt Ihr nun auf der Höhe des alten Römerlagers, mein Vater einen Band der Kriegskunst des Poliänus Polyainos (lateinisch Polyaenus), um 100 geb., makedonischer Rhetor, Anwalt und Schriftsteller in Rom; überliefert sind seine Strategemata, eine Sammlung militärischer Strategeme (Kunstgriffe im Krieg). (oder ist es Frontinus Sextus Iulius Frontinus (um 35-103), ein römischer Senator, Soldat und Schriftsteller; hier geht es um seine Strategematicon libri III.?) aufgeschlagen auf seinen Knien, während die Schaafe in den Furchen der Umschanzungen grasen, und der Stier von jener Stelle aus, wo die römischen Cohorten mit blitzenden Waffen hinausbrachen, neugierig nach Dir hinsieht. Euer jugendlicher Biograph steht mit verschlungenen Armen hinter Euch, und, während der Gelehrte vorliest, und der Soldat mit seinem Stocke jeden eingebildeten Kriegsposten andeutet, füllt er die idyllische Landschaft mit den Adlern Agricoläs und mit den Sichelwagen Boadiceäs. Der Aufstand der keltischen Icener gegen die römische Unterdrückung wurde von Königin Boudicca (»Beodicea«) in den Jahren 60 und 61 zunächst sehr erfolgreich angeführt, bis sie in der Schlacht an der Watling Street durch Gaius Suetonius Paulinus geschlagen werden konnte. Die Statue der Boudicca und ihrer Töchter im Streitwagen in London zeigt die mit Sicheln bewehrten Radnaben. – Gnaeus Iulius Agricola war zu dieser Zeit noch als Militärtribun im Stab des Statthalters Gaius Suetonius Paulinus tätig und half in dieser Stellung höchstwahrscheinlich bei der Unterdrückung des Boudicca-Aufstandes mit. Statthalter in Britannien war er erst von 77 bis 87. Die ihm im Roman zugewiesenen Adler ( aquila) verweisen auf das höchstrangige Feldzeichen der römischen Legionen.
In diesen, Lande ist es nie zwei Stunden hinter einander gleich,« bemerkte Onkel Roland, als wir nach dem Mittagessen, oder vielmehr nach dem Nachtisch, meiner Mutter in das Wohnzimmer folgten.
In der That hatte sich seit den letzten zwei Stunden ein kalter Nebelregen eingestellt, und, obgleich Juli, war es so kühl geworden, als wäre es October. Meine Mutter flüsterte mir etwas zu, worauf ich hinausging. Nach zehn Minuten loderte ein lustiges Holzfeuer (wir wohnten in einer holzreichen Gegend) im Kamine. Warum hatte meine Mutter nicht die Klingel gezogen und dem Mädchen Befehl ertheilt, Feuer anzuzünden? Mein lieber Leser, Capitän Roland war arm und die Sparsamkeit in seinen Augen eine Haupttugend!
Die beiden Brüder rückten ihre Stühle in die Nähe des Kamins, mein Vater links, mein Onkel rechts, und meine Mutter und ich setzten uns zu einem »Fuchs- und Gänsespiel« Ein strategisches Brettspiel, seit etwa dem Jahre 1000, von isländischen Wikingern ausgehend, in ganz Europa verbreitet. nieder.
Der Kaffee kam – nur eine einzige Tasse für den Capitän, wir Andere vermieden dieses aufregende Getränk – und auf dieser Tasse befand sich das Porträt – Seiner Gnaden, des Herzogs von Wellington Des Siegers in der Schlacht von Waterloo 1815 gegen Napoleon.!
Während unseres Spaziergangs nach dem Römerlager hatte meine Mutter Mr. Squills' kleinen Wagen geborgt und war nach dem nächsten Städtchen gefahren, um die Augen des Capitäns mit dem Anblick seines alten Generals erfreuen zu können.
Mein Onkel wechselte die Farbe, stand auf, führte die Hand meiner Mutter an seine Lippen und setzte sich schweigend wieder nieder.
»Ich habe gehört,« sagte er nach einer Pause, »daß der Marquis von Hastings, an dem jeder Zoll ein Soldat und ein Gentleman ist (und dieß will nicht wenig heißen, da er vom Scheitel bis zur Sohle fünfundsiebzig Zolle mißt), als er den damals in der Verbannung lebenden Ludwig XVIII. in Donnington empfing, die für denselben bestimmten Gemächer genau so einrichten ließ, wie diejenigen, welche Seine Majestät in den Tuilerien bewohnt hatte. Es war eine königliche Aufmerksamkeit – Lord Hastings stammt bekanntlich von den Plantagenets ab – eine königliche Aufmerksamkeit gegen einen König. Die Sache kostete viel Geld und machte viel Aufsehen. Eine Frau kann dasselbe königliche Zartgefühl in einem Stückchen Porzellan zeigen, und zwar so ruhig, daß wir Männer glauben, es verstehe sich ganz von selbst, Bruder Austin.«
»Du bist ein so großer Verehrer der Frauen, Roland, daß es in der That traurig ist, Dich ohne Gattin zu sehen. Du mußt wieder heirathen!«
Mein Onkel lächelte, doch nur einen Augenblick, dann legte sich seine Stirne in düstere Falten, und endlich seufzte er tief auf.
»Die Zeit wird Dir in Deinem alten Thurme langsam verstreichen, armer Bruder,« fuhr mein Vater fort, »wenn Du Dein kleines Mädchen als einzige Gesellschaft hast.«
»Und die Vergangenheit!« entgegnete mein Onkel. »Die Vergangenheit, diese gewaltige Welt –«
»Liesest Du noch immer Deine alten Ritterbücher, Froissart und die Chroniken Jean Froissart (um 1337 – um 1405), französischsprachiger Dichter und Chronist. Sein Hauptwerk ist eine umfangreiche Chronik der ersten Hälfte des Hundertjährigen Krieges (1337–1453) zwischen den Kronen Englands und Frankreich., Palmerin von England und Amadis von Gallien Francisco de Moraes Cabral, ein portugiesischer Schriftsteller, verfasste zwischen 1540 und 1546 den Ritterroman Palmerin d'Angleterre ( Palmeirim de Inglaterra), ein Derivat der populären » Amadis de Gaula«-Romane, deren früheste überlieferte Fassung, von Garci Rodríguez de Montalvo, 1508 im Druck erschien (frühere von Montalvo verwendete Fassungen sind verloren).?«
»Ich habe versucht,« erwiederte mein Onkel erröthend, »aus etwas kernhafteren Studien Nutzen zu ziehen. Und« – fügte er mit einem schlauen Lächeln hinzu – »Dein großes Werk wird mir für manchen langen Winter hinreichenden Belehrungsstoff bieten.«
»Hm!« war meines Vaters verlegene Antwort.
»Weißt Du,« bemerkte mein Onkel, »daß Dame Primmins eine sehr verständige Frau ist, voll Phantasie und eine treffliche Mährchen-Erzählerin?«
»Nicht wahr, Onkel!« rief ich, meinen Fuchs in einer Ecke lassend. »O, wenn Du sie hättest die Geschichte von König Arthur und dem Zaubersee, oder von der grimmigen weißen Dame erzählen hören!«
»Ich habe sie bereits beides erzählen hören,« sagte mein Onkel.
»Zum Henker auch, Bruder! Meine Liebe, da müssen wir aufpassen. Diese Capitäne sind gefährliche Gäste in einem geordneten Haushalt. Ich bitte Dich, wo kannst Du nur Gelegenheit zu solchen Privatunterhaltungen mit Mrs. Primmins gefunden haben?«
»Das eine Mal,« erwiederte mein Onkel bereitwillig, »als ich in ihr Zimmer ging, um mir meine Halsbinde ausbessern zu lassen, und das andere Mal –« er hielt inne und sah zu Boden.
»Das andere Mal? heraus damit!«
»Als sie mir das Bett wärmte,« fuhr Onkel Roland halb flüsternd fort.
»O Himmel!« sagte meine Mutter unschuldig, »daher also kam das böse Loch in der Mitte des Leintuchs. Ich dachte doch, es müsse die Wärmpfanne gewesen sein.«
»Ich bin ganz bestürzt!« stotterte mein Onkel.
»Du hast auch Ursache dazu,« sagte mein Vater. »Eine Person, die bisher über allen Verdacht erhaben gewesen war! Doch genug davon,« fuhr er fort, als er die niedergeschlagene Miene meines Onkels bemerkte, der ohne Zweifel im Geiste den wahrscheinlichen Preis von zweimal sechs Ellen holländischer Leinwand berechnete, »genug davon; Du warst von jeher selbst ein vortrefflicher Rhapsodist oder Geschichtenerzähler, Bruder Roland; so laß' uns nun etwas von Dir selbst hören, etwas aus Deiner eigenen Erfahrung, das Dir einen tiefen Eindruck hinterlassen hat.«
»Wir wollen zuerst die Lichter anzünden lassen,« sagte meine Mutter.
Die Lichter wurden gebracht, die Vorhänge niedergelassen – wir rückten mit unsern Stühlen näher zum Kamin. Inzwischen aber war mein Onkel in ein düsteres Träumen versunken, und als wir ihn aufforderten, anzufangen, schien er mit Gewalt irgend eine schmerzliche Erinnerung abzuschütteln.
»Ihr wünscht,« sagte er endlich, »daß ich Euch eine Begebenheit aus meiner Erfahrung mittheile, welche in meiner Erinnerung einen tiefen Eindruck zurückließ – ich will Euch eine solche erzählen; sie betrifft zwar nicht mich selbst, hat sich mir aber dennoch unauslöschlich eingeprägt. Sie ist seltsam und traurig, Madame.«
»Madame! Bruder?« erwiederte meine Mutter vorwurfsvoll, indem sie auf die große, sonnverbrannte Hand des Capitäns, welche dieser während des Sprechens gegen sie erhoben hatte, ihre eigene kleine Hand legte.
»Austin, Du hast einen Engel geheirathet!« sagte mein Onkel – und ich vermuthe, er war wohl der erste Schwager, der sich jemals eine so gewagte Behauptung erlaubte.
Onkel Roland's Erzählung.
Es war in Spanien – gleichviel, wo oder wie – daß ich das Glück hatte, einen französischen Offizier von gleichem Range mit mir, einen Lieutenant, gefangen zu nehmen. In unserer Gesinnungsweise lag so viel Uebereinstimmung, daß wir warme Freunde wurden – er war mir der theuerste Freund, Schwester, den ich jemals außerhalb dieses lieben Kreises besaß. Er gehörte zu den rauhen Soldaten, welche von der Welt nicht gut behandelt wurden, schmähte jedoch nie auf eben diese Welt und behauptete, daß nichts ihm seine Verdienste rauben könne. Die Ehre war sein Abgott, und das Bewußtsein derselben entschädigte ihn für den Verlust alles Uebrigen.
Wir waren beide zu jener Zeit Freiwillige in einem fremden Dienste – in dem schlimmsten aller Dienste, dem Bürgerkrieg – er auf der einen, ich auf der andern Seite – und vielleicht beide getäuscht in der Sache, für welche wir Partei ergriffen hatten.
Auch in unsern häuslichen Verhältnissen fand Aehnlichkeit statt. Mein Freund besaß einen Sohn – einen Knaben – der ihm, nächst Vaterland und Pflicht, sein Alles im Leben war. Auch ich hatte damals einen solchen Sohn, obgleich jünger an Jahren.« (Der Capitän schwieg einen Augenblick; wir sahen einander an, und ein peinliches Gefühl des Schmerzes und der Spannung bemächtigte sich unser.) »Wir waren gewohnt, Bruder, von diesen Kindern zu sprechen, ihre Zukunft uns auszumalen, unsere Hoffnungen und Träume zu vergleichen. Wir hofften und träumten in derselben Weise. Eine kurze Zeit hatte genügt, dieses Vertrauen herbeizuführen. Mein Gefangener wurde in das Hauptquartier geschickt und bald darauf ausgewechselt.
Wir sahen uns nicht wieder bis voriges Jahr. Ich kam damals nach Paris, erkundigte mich nach meinem alten Freunde und erfuhr, daß er in R–, einige Meilen von der Hauptstadt entfernt, wohne. Ich wollte ihn dort aufsuchen, fand aber sein Haus leer und verlassen. An demselben Tage war er, eines schweren Verbrechens beschuldigt, in das Gefängniß abgeführt worden. Ich folgte ihm dorthin und vernahm den Zusammenhang aus seinem eigenen Munde. Sein Sohn war, wie er in der Wärme seines Herzens wähnte, in den ehrenhaftesten Gewohnheiten und Grundsätzen erzogen worden und kam, nachdem seine Ausbildung beendigt, nach R–, um bei seinem Vater zu wohnen. Der junge Mann ging häufig nach Paris. Ein junger Franzose liebt Vergnügungen, Schwester, und Vergnügungen sind in Paris leicht zu haben. Der Vater fand es natürlich und entzog seinem Alter manche Bequemlichkeiten, um den Sohn seine Jugend genießen zu lassen.
Kurze Zeit nach der Ankunft des jungen Mannes entdeckte mein Freund, daß er bestohlen wurde. Verschiedene Geldsummen verschwanden aus seinem Schreibtische, ohne daß er sich denken konnte, auf welche Weise und durch wessen Hand. Es konnte nur bei Nacht geschehen. Er verbarg sich, um dem Diebe aufzupassen, sah eine Gestalt verstohlen hereinschleichen, sah einen falschen Schlüssel in das Schloß stecken, sprang hervor und – erkannte seinen Sohn. Was hätte der Vater thun sollen? Ich frage nicht Dich, Schwester! ich frage diese Männer; Vater und Sohn. Euch frage ich.«
»Ihn aus dem Hause stoßen,« rief ich.
»Seine Pflicht erfüllen und den Unglücklichen bessern,« sagte mein Vater. » Nemo repente turpissimus semper fuit Nach Juvenal, Satiren II, 83. – Der Satz war auch beliebter Bestandteil grammatischer Lehrbücher im 19. Jh. – Kein Mensch ist von Anfang ganz schlecht.«
»Der Vater that, wie Du ihm gerathen hättest, Bruder. Er behielt den Jüngling bei sich; er machte ihm Vorstellungen; ja, noch mehr – er gab ihm den Schlüssel zum Schreibtisch.
›Nimm, was ich habe,‹ sagte er; ›lieber will ich ein Bettler sein, als mir sagen müssen, mein Sohn ist ein Dieb.‹«
»Recht so! Und der Jüngling bereute und wurde ein braver Mann?« rief mein Vater.
Capitän Roland schüttelte den Kopf.
»Er versprach Besserung und schien reumüthig zu sein, indem er sich mit den Versuchungen, welchen er in Paris ausgesetzt war, mit den Spieltischen u. s. w. zu entschuldigen suchte. Seine täglichen Besuche in der Hauptstadt gab er auf und schien sich seinen Studien zu widmen. Bald darauf wurde die Nachbarschaft durch Gerüchte von nächtlichen Straßenräubereien in Schrecken gesetzt. Bewaffnete Männer mit Larven vor dem Gesichte plünderten die Reisenden und drangen sogar in die Häuser ein.
Die Polizei wurde aufmerksam. Eines Abends klopfte ein alter Waffenbruder an die Thüre meines Freundes. Es war spät; der Veteran (beiläufig bemerkt ein Krüppel, wie ich – sonderbares Zusammentreffen!) lag zu Bett, kam jedoch eilig herunter, als sein Diener ihn weckte und ihm sagte, sein alter Freund, verwundet und blutend, suche eine Zuflucht unter seinem Dache. Er war unterwegs angefallen und beraubt worden; zum Glück war die Wunde nur leicht. Den andern Tag wurde der Stadtbehörde Anzeige von dem Vorfall gemacht; der Beraubte beschrieb seinen Verlust – Papiergeld im Werthe von ungefähr 2000 Francs in einer Brieftasche, auf welcher sein Name und die Krone (er war Vicomte) gestickt waren. Der Gast blieb beim Mittagmahl; kurz vor demselben trat der Sohn seines Wirthes in das Zimmer. Der Gast fuhr bei seinem Anblick zusammen, und mein Freund bemerkte des Sohnes Blässe. Bald nachher zog sich der Vicomte unter dem Vorwande einer Schwächeanwandlung auf sein Zimmer zurück und ließ seinen Wirth zu sich bitten.
›Mein Freund,‹ sagte er, ›wollen Sie mir eine Gefälligkeit erweisen? Gehen Sie auf das Polizeiamt und nehmen Sie das von mir abgegebene Zeugniß zurück.‹
›Unmöglich,‹ entgegnete mein Freund. ›Welch' ein Einfall ist das?‹
Der Gast schauderte. › Peste!‹ sagte er, ›ich möchte in meinen alten Tagen nicht hart gegen Andere sein. Wer weiß, was den Räuber verlockt haben mag? wer weiß, wer seine Angehörigen sind –ehrenhafte Leute vielleicht, welche sein Verbrechen für immer beschimpfen würde! Gütiger Himmel! wird er entdeckt, so trifft ihn die Galeere – die Galeere!‹
›Und was dann? Der Räuber wußte, was ihm drohte.‹
›Aber wußte es sein Vater?‹ rief der Vicomte.
Ein Licht blitzte vor meinem unglücklichen Waffengefährten auf. Er ergriff die Hand seines Freundes – ›Sie erblaßten bei dem Anblick meines Sohnes – wo sahen Sie ihn zuvor? Sprechen Sie!‹
›In der vergang'nen Nacht auf dem Wege nach Paris. Die Maske hatte sich verschoben. Verlangen Sie mein Zeugniß zurück!‹
›Sie irren sich,‹ sagte mein Freund ruhig. ›Ich sah meinen Sohn in seinem Bette und segnete ihn, ehe ich mich selbst niederlegte.‹
›Ich will Ihnen glauben,‹ erwiederte der Gast, ›und nie soll der übereilte Verdacht über meine Lippen kommen – aber verlangen Sie das Zeugniß zurück!‹
Der Vicomte verabschiedete sich vor Einbruch der Dunkelheit. Mein Freund unterhielt sich mit seinem Sohne über dessen Studien, begleitete ihn auf sein Zimmer, wartete, bis er zu Bett gegangen war und wollte sich eben entfernen, als ihm der Sohn noch zurief: ›Vater, Du hast Deinen Segen vergessen.‹
Der Vater kehrte zurück, legte die Hand auf des Jünglings Haupt und betete. Er war leichtgläubig – alle Väter sind es! Sein Freund mußte sich getäuscht haben. Er begab sich zur Ruhe und schlief ein. Mitten in der Nacht erwachte er plötzlich, und es war ihm (ich führe hier seine eigenen Worte an) – ›es war mir,‹ sagte er, ›als ob mich eine Stimme geweckt hätte, die mir zurief: Stehe auf und suche nach! Ich erhob mich sogleich, machte Licht und begab mich nach meines Sohnes Zimmer. Die Thüre war verschlossen. Ich klopfte einmal, zweimal, dreimal – keine Antwort. Laut zu rufen wagte ich nicht, um nicht die Dienstboten zu wecken; so stieg ich die Treppe hinunter, öffnete die Hinterthüre und ging nach dem Stalle. Mein eigenes Pferd war da, dasjenige meines Sohnes nicht. Das Thier wieherte; es war alt, wie ich selbst – mein altes Schlachtroß von Mount St. Jean! Ich schlich zurück, verbarg mich neben der Thür meines Sohnes im Schatten der Wand und löschte mein Licht aus. Ich kam mir selbst wie ein Dieb vor.‹«
»Schwager,« unterbrach meine Mutter den Capitän mit zurückgehaltenem Athem, »sprich in Deinen eigenen Worten, nicht in denen jenes unglücklichen Vaters. Ich weiß nicht weßhalb, allein ich glaube, es würde mich weniger erschüttern.«
Onkel Roland nickte.
»Vor Tagesanbruch hörte mein Freund die Hinterthüre leise öffnen; Fußtritte kamen die Treppe herauf, ein Schlüssel knarrte im Schloß der nahen Zimmerthüre – und der Vater schlich hinter dem Sohne, welchen er in der Dunkelheit nicht sehen konnte, in das Gemach.
Er hörte das Klappen des Feuerzeugs, ein Licht flammte auf, die Helle verbreitete sich über das Zimmer, doch nicht, ehe er Zeit gefunden, sich hinter einem nahen Fenstervorhang zu verbergen. Die Gestalt vor ihm stand einen Augenblick regungslos und schien zu horchen, indem sie sich bald rechts, bald links wandte; das Gesicht war mit einer häßlichen schwarzen Maske bedeckt, wie man sich deren bei Mummenschanz bedient; langsam wurde sie abgenommen – konnte dieß das Gesicht seines Sohnes, des Sohnes eines tapferen Mannes sein? Es war bleich und geisterhaft, die Angst des Bösewichts, der schnöde Schweiß der Furcht stand in großen Tropfen auf seiner Stirne und sprach aus dem wilden, blutunterlaufenen Auge. So konnte nur eine feige Memme im Angesicht des Todes aussehen!
Der Jüngling ging oder wankte vielmehr nach dem Schreibtisch, schloß ihn auf, öffnete ein geheimes Fach und verbarg darin den Inhalt seiner Taschen und die schreckliche Maske. Der Vater näherte sich ihm leise, blickte über seine Schultern und sah in dem Fach die mit dem Namen seines Freundes gestickte Brieftasche liegen. Inzwischen nahm der Sohn seine Pistolen heraus, untersuchte vorsichtig, ob kein Hahn mehr gespannt war, und wollte sie eben gleichfalls verbergen, als der Vater seinen Arm zurückhielt. ›Räuber, diese haben noch nicht ausgedient!‹
Des Sohnes Kniee schlugen zusammen, und ein Ruf um Gnade entrang sich seinen Lippen; als er sich jedoch von der Erschütterung seiner feigen Nerven erholt hatte und bemerkte, daß es nicht ein Miethling des Gesetzes, sondern die Hand eines Vaters war, welche seinen Arm festhielt, kehrte die schnöde Frechheit, welche nur von einer körperlichen Ursache etwas fürchtet, die niederschmetternde Gewalt der Scham aber nicht kennt, wieder zurück.
›Stille,‹ sagte er, ›verschwende die Zeit nicht mit Vorwürfen, denn ich fürchte, die Gensd'armen sind mir auf der Spur. Es ist gut, daß Du hier bist; Du kannst schwören, daß ich die Nacht im Hause zugebracht habe. Laß' mich los, alter Mann – ich habe diese Zeugen noch zu verbergen,‹ und er deutete auf seine nassen, mit Straßenkoth beschmutzten Kleider. Kaum hatte er ausgeprochen, als die Wände erdröhnten, und man den schweren Hufschlag vieler Rosse auf dem Pflaster vernahm.
›Sie kommen,‹ rief der Sohn. ›Hinweg, alter Thor! Rette Deinen Sohn von der Galeere.‹
›Die Galeere, die Galeere!‹ wiederholte der Vater und bebte zurück; ›es ist wahr – er sagte, die Galeere!‹
Am Thore wurde laut geklopft. Die Gensd'armen umringten das Haus. ›Oeffnet im Namen des Gesetzes!‹ Es erfolgte keine Antwort, und die Thüre blieb verschlossen. Einige der Gensd'armen ritten nach der Hinterseite des Hauses, wo sich der Stall befand. Aus dem Fenster in dem Zimmer seines Sohnes sah der Vater das plötzliche Aufflammen von Fackeln und die schattenhaften Gestalten der Menschenjäger. Er vernahm das Geklirre ihm Waffen, als sie sich von ihren Rossen schwangen – er hörte eine Stimme rufen: ›Ja, das ist der Grauschimmel des Räubers – seht, er dampft noch vom Schweiß!‹ Und hinten und vorn, von jeder Thüre her erscholl wieder das Klopfen und der Ruf: ›Oeffnet im Namen des Gesetzes!‹
Dann begannen sich die Fenster der Nachbarhäuser zu erhellen. Der Raum füllte sich schnell mit Neugierigen, die aus ihrem Schlaf gestört worden waren, und die Menge suchte zu erfahren, welches Verbrechen oder welche Schandthat Zutritt zu dem Hause des alten Soldaten gewonnen hatte.
Plötzlich ertönte von innen der Knall einer Feuerwaffe; eine Minute später wurde die Vorderthüre geöffnet, und der Soldat erschien.
›Tretet ein,‹ sagte er zu den Gensd'armen. ›Was wollt Ihr?‹
›Wir fahnden auf einen Räuber, der sich innerhalb dieser Mauern befindet.‹
›Ich weiß es; kommt und sucht ihn – ich will Euch den Weg zeigen.‹
Er stieg die Treppe hinan und riß das Zimmer seines Sohnes auf. Die Diener der Gerechtigkeit drangen hinein – am Boden lag die Leiche des Räubers.
Sie sahen sieh erstaunt an.,Nehmt, was noch von ihm übrig ist,‹ sagte der Vater. ›Nehmt den Todten, dem die Galeere erspart ist; nehmt auch den Lebenden, an dessen Hand das Blut des Todten klebt!‹
Ich war bei dem Prozesse meines Freundes zugegen. Die Thatsachen waren schon vorher bekannt geworden. Da stand er mit seinen grauen Haaren, seinen zerstümmelten Gliedern, der tiefen Narbe in seinem Gesicht, und dem Kreuz der Ehrenlegion auf der Brust! Nachdem er seine Erzählung beendigt, schloß er mit den Worten: ›Ich habe dem Sohn, den ich für Frankreich erzog, einen Urtheilsspruch erspart, welcher das Leben schont, um es mit Schande zu brandmarken. Ist dies ein Verbrechen? Ich gebe mein Leben als Sühne für,die Schmach meines Sohnes. Bedarf mein Vaterland eines Opfers? Ich habe für den Ruhm desselben gelebt und kann zufrieden sterben, wenn damit seinen Gesetzen Genüge geleistet wird. Nehme ich doch die Gewißheit mit mir, daß Diejenigen, welche mich tadeln, mich nicht verachten, und daß die Hände, welche mich dem Henker überliefern, mein Grab mit Blumen bestreuen werden. Ich bekenne Alles. Als Soldat blicke ich umher auf eine Nation von Soldaten, und im Namen des Sternes, der an meiner Brust glänzt, fordere ich die Väter Frankreichs heraus, mich zu verurtheilen!‹
Sie sprachen den Soldaten frei, oder gaben wenigstens ein Verdikt ab, welches man in unsern Gerichtshöfen mit dem Ausdruck ›nicht zurechenbare Tödtung‹ bezeichnen würde. Ein Jubel, den keine Beamtenstimme zu stillen vermochte, erscholl durch den ganzen Saal, und die Menge würde meinen Freund im Triumph nach Hause getragen haben, wenn sein Blick nicht solche Eitelkeiten zurückgewiesen hätte. Nach Hause kehrte er allerdings zurück, allein den andern Tag fand man ihn todt neben der Wiege, an welcher er sein erstes Gebet, über sein sündenloses Kind hingehaucht hatte. Nun frage ich Euch, Vater und Sohn, verdammt Ihr diesen Mann?«
Mein Vater ging dreimal im Zimmer auf und ab; blieb alsdann vor dem Kamine stehen und wandte sich gegen seinen Bruder.
»Ich verdamme seine That, Roland,« begann er. »Im besten Falle war er nur ein stolzer Egoist. Ich begreife, weßhalb Brutus seine Söhne tödten ließ, denn durch dieses Opfer rettete er sein Vaterland. Was rettete aber dieser arme Mann, der sich von seinem übertriebenen Gefühl hinreißen ließ? nichts, als seinen eigenen Namen. Er konnte das Verbrechen von seines Sohnes Seele nicht hinwegnehmen und eben so wenig das Andenken an denselben von Schande befreien. Es handelte sich nur um die Befriedigung seines eigenen Stolzes, und, ohne daß er es wußte, wurde ihm jene That von dem Feinde eingegeben, der dem Menschenherzen stets zuflüstert: ›Fürchte die Ansichten der Menschen mehr, als das Gebot Gottes!‹ O, mein lieber Bruder, ein Gemüth, wie das Deinige, braucht sich gegen das Böse nicht zu waffnen, wenn es in dem Gewande der Gemeinheit auftritt, wohl aber, wenn es einen falschen Adel sich anmaßt und in der königlichen Majestät der Tugend einherschreitet.«
Mein Onkel trat an das Fenster, öffnete es und sah einen Augenblick hinaus; als wollte er frische Luft einathmen; dann schloß er es leise wieder und kehrte auf seinen Platz zurück. In der kurzen Zeit jedoch, während welcher das Fenster offen gestanden, war ein Nachtfalter hereingeflogen.
»Erzählungen gleich dieser,« nahm mein Vater wieder auf, »mögen sie von einem großen Trauerspieldichter oder in Deinem einfachen Style erzählt werden, Bruder, Erzählungen gleich dieser haben übrigens ihren Nutzen. Sie dringen zum Herzen und machen es weiser; alle Weisheit aber ist demüthig, mein Roland. Sie fordern uns auf, die Frage, die Du gestellt, an uns selbst zu richten – ›Können wir diesen Mann verdammen?‹ und die Vernunft antwortet, wie ich gethan – ›Wir bemitleiden den Menschen und verdammen die That.‹ Wir – gib Acht, meine Liebe, der Schmetterling wird in das Licht fliegen. Wir – bsch, bbsch!« – und mein Vater hielt inne, um den Falter zu verscheuchen. Onkel Roland wandte sich um, nahm das Taschentuch, mit welchem er den untern Theil seines Gesichtes verhüllt hatte, um die Aufregung seiner Züge zu verbergen, und suchte durch Schwenken desselben das Insekt von der Flamme abzuhalten. Meine Mutter stellte die Lichter in größere Entfernung, und ich bemühte mich, den Schmetterling mit meines Vaters Strohhut zu fangen. Aber der Teufel steckte in dem Thiere, es hatte uns Alle zum Besten; bald kreiste es an der Decke hin, bald wieder um die verhängnißvollen Flammen her. Wie in Folge eines gemeinschaftlichen Antriebs näherte sich jetzt mein Vater dem einen und mein Onkel dem andern Lichte, und in demselben Momente, in welchem der Falter hin und her flatterte, unschlüssig, welches er zu seinem Scheiterhaufen wählen sollte, waren beide ausgelöscht. Das Feuer im Kamine brannte nur noch schwach, und in der plötzlichen Dunkelheit erklang meines Vaters sanfte, liebliche Stimme wie diejenige eines unsichtbaren Wesens: – »Wir versetzen uns in Finsterniß, um einen Schmetterling vom Flammentod zu retten, Bruder! sollten wir für unsere Mitmenschen weniger thun? O, laß' uns menschenfreundlich das Licht unseres Verstandes auslöschen, wenn die Dunkelheit unser Erbarmen mehr begünstigt.«
Ehe die Lichter wieder angezündet waren, hatte mein Onkel das Zimmer verlassen. Sein Bruder folgte ihm; wir aber, meine Mutter und ich, rückten näher zusammen und sprachen mit einander in Flüstertönen.