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L'é sprit de l' homme est plus pé né trant que consé quent, et embrasse plus qu' il ne peut lier. Des Menschen Geist besitzt mehr Schärfe als Konsequenz und umfasst mehr, als er zu verknüpfen vermag. Anm.d.Hrsg.
Vauvenargues.
Jetzt war Maltravers ein häufiger Gast in der Familie Merton; seinerseits wurde keine Entschuldigung für Vertraulichkeit erheischt. Herr Merton, entzückt, daß sein zuvorkommendes Wesen nicht zurückgewiesen wurde, zwang ihm vertraute Bekanntschaft auf.
Eines Tages brachte die Familie den Nachmittag in Burleigh zu; Eveline und Caroline beendigten ihre Durchsicht des Hauses, der Tapeten, der Waffen, der Gemälde, kurz, aller Gegenstände. Dieß führte zu einem Besuch der arabischen Pferde. Caroline bemerkte, daß sie sehr gerne ausritt und gerieth in Entzücken über eines der Thiere. Am nächsten Tage befand sich das Pferd in den Ställen der Pfarrei und ein galanter Brief enthielt Entschuldigungen über die kostbare Gabe. Herr Merton hatte seine Bedenklichkeiten, indeß Caroline stets ihr besonderes Verfahren »ihren eigenen Kopf«. Anm.d.Hrsg.; somit blieb das edle Roß (ohne Zweifel mit viel Erstaunen und Verachtung) bei des Pfarrers Pony und den braunen Wagenpferden.
Das Geschenk veranlaßte natürlich Spazierritte; es war grausam, den Araber gänzlich von seinen früheren Bekannten zu trennen. Wie konnte aber Eveline fortgelassen werden? Eveline, die niemals auf einem muthigeren Thiere geritten war, als auf einem alten Pony. Ein schönes kleines Pferd, welches einer älteren Dame gehörte, welche jetzt für das Reiten zu beleibt wurde, sollte in der Nähe verkauft werden. Maltravers entdeckte den Schatz und benachrichtigte Herrn Merton davon; er hegte zu viel Zartgefühl, um Freigebigkeit gegen die reiche Erbin zu affektiren. Das Pferd ward gekauft; kein Thier konnte einen ruhigeren Gang haben. Eveline fürchtete sich durchaus nicht. Man machte zwei oder drei kleine Spazierritte, bisweilen begleiteten Herr Merton und Maltravers allein die jungen Damen; bisweilen war die Gesellschaft zahlreicher; Maltravers schien gleiche Aufmerksamkeit Carolinen und ihrer Freundin zu bezeigen. Evelinens Unerfahrenheit im Reiten bot jedoch eine Entschuldigung, sich mehr an ihrer Seite zu halten.
Maltravers und Eveline hatten tausend Gelegenheiten mit einander zu verkehren; Eveline fühlte jetzt bei ihm keinen weiteren Zwang; ihre muntere Heiterkeit, ihr phantasiereicher, edler Geist fand eine Stimme. Maltravers merkte bald, daß Verstand, Urtheil und Einbildungskraft hinter ihrer Einfachheit lauerte. Unmerklich nahm sein Gespräch einen höheren Schwung. Mit der Freiheit, welche ihm sein reiferes Alter und sein Ruhm ertheilte, mischte er beredte Belehrung unter leichtere und unbedeutendere Gesprächsgegenstände; er leitete Evelinens ernsten und gelehrigen Sinn nicht auf neue Felder der Wissenschaft, sondern auf eben so viel zarte oder erhabene Geheimnisse der Natur. Er hatte umfangreiche wissenschaftliche und literarische Kenntnisse; die Sterne, Blumen, die Erscheinungen der physischen Welt boten Stoff, über den er mit der glühenden Liebe eines Dichters und der Sicherheit eines Weisen redete.
Herr Merton fühlte sich durchaus behaglich, als er beobachtete, daß wenig oder gar keine Empfindsamkeit in das vertrauliche Gespräch sich mischte; da er wußte, daß Maltravers mit Lumley genau bekannt gewesen war, schloß er auch, daß er dessen Verlöbniß mit Eveline kannte. Mittlerweile schien Maltravers nicht zu wissen, daß solch ein Wesen wie Lord Vargrave vorhanden sei. Man muß nicht erstaunen, daß die tägliche Gegenwart, die schmeichelnde Aufmerksamkeit eines Mannes wie Maltravers in der Einbildungskraft, wo nicht im Herzen eines so empfänglichen Mädchens einen starken Eindruck zurücklassen mußte. Eveline, schon zuvor zu seinen Gunsten eingenommen und an eine Gesellschaft, die so viele Reize vereinigte, gänzlich ungewöhnt, betrachtete ihn mit unaussprechlicher Verehrung; sie war blind gegen die dunkleren Schatten seines Charakters; diese allerdings zeigten sich auch nie bei ihm in ihrer Gegenwart.
Uebrigens war seine verachtende und herrschsüchtige Stimmung ein oder zweimal in gemischter Gesellschaft hastig und hart hervorgebrochen. Gegen Thorheit, Ansprüche und Anmaßung zeigte er nur geringe Nachsicht. Das ungeduldige Lächeln, der beißende Sarkasmus, die kalte Zurückweisung, welche kränken konnten, ohne daß man dabei Aerger zeigen durfte, Alles dieß verrieth in ihm den Mann, welcher sich von der geglätteten Zurückhaltung socialen Verkehrs befreien wollte. Einst war er viel zu bedenklich gewesen, die Eitelkeit Anderer zu verwunden; jetzt war er in dieser Hinsicht zu gleichgültig.
Wenn dieser unliebenswürdige Charakterzug, gegen Andere gezeigt, Eveline erstarrte oder erschreckte; so war der Gegensatz seines Benehmens gegen sie selbst eine zu köstliche Schmeichelei, um nicht jede andere Erinnerung auszulöschen. Für ihr Ohr milderte seine Stimme stets den Ton; seine Seele beugte sich vor ihrer Fassungsgabe stets wie in Sympathie, nicht in Herablassung; ihr allein, der Jungen, Blöden, nur halb Unterrichteten, zeigte er alle Vorräthe seines Wissens; die schönsten und glänzendsten Farben seiner Seele. Sie wunderte sich bescheiden über einen so auffallenden Vorzug.
Vielleicht konnte ihr ein plötzliches und etwas plumpes Compliment, das Maltravers einst an sie richtete, ihr dieß erklären; eines Tages, als sie freier und mehr wie gewöhnlich sich mit ihm unterhalten hatte, brach er plötzlich in den Ausruf aus: »Miß Cameron, Sie müssen von Ihrer Kindheit an zu schönen Seelen gesellt gewesen sein; ich sehe schon, daß Sie von der Welt; so elend sie ist, keine Ansteckung zu besorgen haben. Ich hörte sie von den verschiedenartigsten Dingen reden; über manche ist Ihre Kenntniß unvollkommen; Sie haben aber niemals eine niedrige Idee oder eine falsche Empfindung geäußert; Ihnen scheint Wahrheit durch innere Anschauung ertheilt zu werden.«
Es war wirklich diese eigenthümliche Reinheit des Herzens, worin der hauptsächlichste Reiz in Eveline Cameron für den der Welt überdrüssigen Mann bestand. Aus dieser Reinheit entsprangen, wie aus dem Herzen eines Dichters, tausend neue und vom Himmel eingegebene Gedanken, welche eigene Weisheit in sich enthielten – Gedanken; welche den finsteren Zuhörer oft zur Jugend zurückführten und ihn mit dem Leben wieder, aussöhnten. Der weise Maltravers lernte von Eveline mehr wie Eveline von ihm.
Jedoch befand sich in Maltravers noch ein Zug, tiefer wie ein Zug des Temperaments, welcher mit letzterem nicht übereinstimmte und ihr wie Anderen mehr auffiel: seine Verachtung für Alles, welches ihr junger und frischer Enthusiasmus zu schätzen gelernt hatte, für den Ruhm, welcher ihn in ihren Blicken theuer machte und weihte, für die Aufregung des Ehrgeizes und dessen Belohnungen. Er sprach mit bitterer Verachtung von großen Namen und großen Thaten. –
»Es waren große Kinder,« sagte er eines Tages als Antwort auf ihre Vertheidigung der Berühmteren unseres Geschlechts; »sie wurden von Spielzeug angelockt, welches so ärmlich wie die Kinderklapper und eine Puppenstube ist. Wie viele wurden, bei dem Zustande der Welt, durch ihre Laster groß. Elende List erwarb dem Themistokles das Commando; der liederliche Cäsar stellte sich an die Spitze einer Armee und erwarb seine Lorbeeren, um seinen Gläubigern zu entgehen. Brutus, der Aristokrat, stieß seinen Wohlthäter nieder, damit Patrizier wieder auf die Plebejer mit Füßen traten, und damit die Nachwelt von ihm reden möge. Die Liebe des Ruhms ist die kindische Leidenschaft bemerkt zu werden, wie ich von jenem Franzosen einst erfuhr, daß er 2000 Pfd. in Zuckererbsen angelegt habe, damit man von ihm rede – ein ärmlicher Wunsch! Ist es nicht einerlei; ob dieß von den Klatschbasen der Gegenwart oder der Zukunft geschieht? Einige Männer sind zum Ruhm durch Armuth getrieben – das ist allerdings eine Entschuldigung für die Mühe, die sie sich gegeben haben; der Beweggrund ist aber nicht edler als derjenige; welcher den armen Pflüger dahin bringt, in der Mittagshitze zu schwitzen. In der That hat der größere Theil ausgezeichneter Männer, anstatt durch den hohen und wohlthätigen Wunsch, dem Menschengeschlechte Wohlthaten zu erweisen oder die menschliche Seele zu bereichern, begeistert zu werden, ohne anderen bestimmten Zweck gehandelt oder geschrieben, als um einem rastlosen Streben nach Erregung zu genügen oder den Träumen eines selbstsüchtigen Ruhmes sich hinzugeben. Wurden sie durch edlere Bestrebungen befeuert, so hat dieß nur zu wildem Fanatismus oder blutigem Verbrechen geführt. Welche Narren des Ruhms wurden je von tieferem Glauben und höherem Ehrgeiz beseelt wie die verrückten Anhänger Mahomeds? Sie hatten den Glauben gelernt, es sei eine Tugend, die Erde zu verheeren, und sie würden mit einem Sprunge vom Schlachtfelde in's Paradies gelangen. Religion und Freiheit, Vaterlandsliebe, welche glänzende Beweggründe zum Handeln! Sehen Sie die Ergebnisse, sobald die Handlung einmal bei so scharfen Beweggründen begonnen ist; schauen Sie die Inquisition; die Schreckensherrschaft, den Rath der Zehn und die Gefängnisse von Venedig.«
Eveline konnte gegen diese düsteren Trugschlüsse nicht ankämpfen; allein ihr Instinkt der Wahrheit gab ihr eine Antwort ein.
»Was wäre die Gesellschaft, wenn alle Menschen wie Sie dächten und nach Ihrer Theorie handelten? Keine Literatur, keine Kunst, kein Ruhm, kein Patriotismus, keine Tugend, keine Civilisation! Sie zerlegen die Beweggründe der Menschen, wie können Sie gewiß wissen, ob Sie richtig urtheilen? Sehen Sie auf das Resultat, auf unsere Wohlthaten, unsere Erleuchtung! Sind die Resultate groß, so ist Ehrgeiz eine Tugend und nichts daran gelegen, welch ein Beweggrund ihn erweckt hat. Ist dieß nicht der Fall?«
Eveline sprach erröthend und furchtsam. Maltravers, ungeachtet seiner Behauptungen, war über ihre Antwort entzückt.
»Sie schließen nicht übel,« sagte er mit einem Lächeln; »sind Sie aber auch dessen gewiß; daß die Resultate sich so ergeben; wie Sie dieselben malen? Civilisation, Aufklärung, sind unbestimmte Ausdrücke, hohle Worte. Sein Sie unbesorgt, die Welt wird niemals so schließen, wie ich. Der Handel wird niemals still stehen, so lang es Gold und Macht gibt. Das Schiff wird weiter fahren, mögen die Galeerensklaven auch darauf schalten. Was ich vom Leben sah, erweckt mir die Ueberzeugung, daß der Fortschritt nicht stets eine Verbesserung ist. Die Civilisation bringt Uebel mit sich, welche dem wilden Zustande unbekannt sind, und umgekehrt. Menschen aller Staaten haben dasselbe Verhältniß des Glückes. Wir beurtheilen Andere nur mit Blicken, die an unsere eigenen Umstände gewöhnt sind. Ich sah den Sklaven, den wir bemitleiden, wie er seinen Feiertag mit einem Entzücken genoß, welches dem ernsten Freien unbekannt ist; ich sah denselben Sklaven in Freiheit und durch das Wohlwollen seines Herrn bereichert; da aber war er nicht mehr heiter. Die Massen der Menschen in allen Ländern sind so ziemlich dieselben. Gibt es im harten Norden größere Behaglichkeit, so ertheilte die Vorsehung der wollüstigen Schlaffheit des Italieners oder der zufriedenen Apathie des Hindu eine fruchtbare Erde, einen herrlichen Himmel und eine Seele, welche für den Genuß so empfänglich ist, wie Blumen es für das Licht sind. Was können wir eitle Individuen in der gewaltigen Organisation des Guten und Bösen bewirken? Wie zweifelhaft ist der Ruhm derer, welche am meisten für dessen Erwerbung arbeiten? Wer kann sagen, ob Voltaire oder Napoleon, Cromwell oder Cäsar, Walpole oder Pitt, mehr Gutes oder Böses gethan hat? Es ist eine Frage, worüber Casuisten disputiren können. Einige glauben, daß Dichter das Entzücken und die Lichter der Menschen waren. Eine andere Philosophenschule hat sie als Verderber des Menschengeschlechts, als Kuppler für falschen Kriegsruhm, für weibischen Geschmack, für die Pflege der Leidenschaften statt der Vernunft behandelt; sogar diejenigen, welche Erfindungen bewirkten, wodurch die Oberfläche der Erde verändert wurde, der Erfinder der Buchdruckerkunst, des Schießpulvers, der Dampfmaschinen – Männer als Wohlthäter von dem nicht nachdenkenden großen Hau fen, oder den angeblichen Weisen begrüßt – sogar auch diese haben früher unbekannte Uebel eingeführt. Jede neue Verbesserung der Maschinen beraubte Hunderte ihrer Nahrung. Die Civilisation ist das immerwährende Opfer einer Generation für die nächste. Ein furchtbares Gefühl von der Machtlosigkeit menschlicher Kräfte hat die erhabenen Bestrebungen für das Wohl der Menschheit, denen ich einst mich hingab, niedergedrückt. Was mich selbst betrifft, so schwebe ich auf dem Meere ohne Pilot und Steuerruder umher und überlasse mich leitend den Winden, welche die Hauche Gottes sind.«
Dieß Gespräch hinterließ einen tiefen Eindruck bei Eveline und hauchte ihr ein neues Interesse für einen Mann ein, in welchem so viele edle Eigenschaften dadurch betäubt und erstarrt waren, daß er sich hinsichtlich seiner selbst einer Sophistik überließ; obgleich noch ein Mädchen, empfand sie doch, daß letztere seiner Gaben durchaus unwürdig war. Dieser Irrthum in Maltravers brachte ihn ihrem Herzen näher, indem er seine sonstige Ueberlegenheit mit ihr in's Niveau setzte. Ach, könnte sie ihn seinem Geschlechte zurückgeben! Der Wunsch war gefährlich, allein für sie berauschend und erfüllte sie gänzlich.
Wie süß waren jene schönen Abende im holden Juni! Wie entfalteten sich die sanften und geselligen Färbungen von Maltravers' Charakter, wenn er den Kindern erlaubte, daß sie ihn so lange plagten, bis er von den Wundern erzählte, die er in fernen Landen gesehen hatte! In dem wahren Genius liegt so viel Neigung zur Jugend verborgen, daß es beinah scheint, er könne nie altern. Die Inschrift, welche die Jugend auf die Tafeln einer phantasiereichen Seele schreibt, wird niemals gänzlich verwischt; sie gleicht einer unsichtbaren Schrift, welche durch Licht und Wärme allmählig sichtbar wird. Bringt einen Mann höheren Geistes mit der Jugend in Verkehr, so wird ihm seine eigene Jugend erneut. Eveline bemerkte deßhalb nicht die Ungleichheit der Jahre zwischen sich und Maltravers; allein die Ungleichheit des Wissens und der geistigen Kraft wirkte für den Augenblick, darauf hin, die Gleichheit zu hindern, ohne welche die Liebe bei Weibern nur selten zum starken Gefühle wird. Nicht so ist es bei Männern der Fall.
Allmählig ward sie mit ihrem finsteren Freunde immer vertrauter; in jener Vertraulichkeit lag für Maltravers ein gefährlicher Zauber. Sie konnte ihm in jedem Augenblick durch Lachen seine finsteren Träumereien verscheuchen, mit reizender Hartnäckigkeit seinen Lieblingssätzen widersprechen, sogar mit bezauberndem Ernste schmälen, wenn er nicht immer ihren Wünschen und ihrem Eigensinn zu Befehl stand. Damals schien es gewiß, daß Maltravers sich in Eveline verlieben würde; es blieb jedoch sehr zweifelhaft, ob Eveline sich in ihn verlieben könne.