Laurids Bruun
Oanda
Laurids Bruun

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Brüder und Schwestern

I.

Nelly kniete vor dem Ofen; sie wollte Wasser kochen, denn sie konnte Pat jeden Augenblick erwarten.

Heute war Löhnungstag, und dann pflegte er etwas Gutes mit nach Haus zu bringen, und hinterher gab's Kaffee. An solchem Abend pflegten sie und Pat und die Kinder abends allein zu sein; die andern kamen erst spät in der Nacht nach Hause.

Der Ofen zog nicht, das Papier verkohlte nur, anstatt aufzuflammen und die Holzstücke anzuzünden. Sie blies mit der ganzen Kraft ihrer kranken Lungen, bis die Augen ihr vor Anstrengung aus dem Kopf traten; schließlich bekam sie Rauch in den Hals und krümmte sich unter einem Hustenanfall auf der Erde, während der Schweiß ihr auf die Stirn trat. Als der Anfall überstanden war, zog sie ihren zerlumpten Mantel fester um sich und begann von neuem. Sie fror, obgleich es ein milder Septemberabend war. Kein Sonnenstrahl gelangte in ihre Stube; die beiden kleinen Fenster, die hoch in der Wand saßen, gingen zu einem viereckigen Hof hinaus, der eng und dunkel war wie ein Schacht.

Pats Nelly, wie sie in der großen Kaserne genannt wurde, war Mitte der Dreißiger, klein und von Krankheit gebeugt, aber rasch in ihren Bewegungen, voll nervöser Energie. Die großen Augen, die tief unter der breiten gewölbten Stirn lagen, waren bald dunkel und fieberheiß, bald hell und durchsichtig, wie von innen heraus verklärt. Die Backenknochen traten in dem mageren braunen Gesicht unheimlich hervor. Der Mund war schmal, blaß wie eine Narbe und in beständiger Bewegung. Das dünne schwarze Haar hing ihr in Strähnen in Stirn und Schläfe, ungekämmt und wirr.

Aus der Ecke neben dem Fenster klang ein leises, kurzatmiges Wimmern; das Kleinste war erwacht. Das Kind lag in einem alten Champagnerkorb neben ihrem und Pats Bett. Die Decke bewegte sich, und eine winzigkleine graue Hand kam zum Vorschein und fuchtelte durch die Luft.

Nelly sang, und das Kind hörte auf zu schreien; die Hand verschwand; man hörte ein Lutschen und Saugen und ein hilfloses Jammern.

Endlich brannte das Feuer; Nelly machte die Ofentür zu und eilte zum Bett. Es war, als ob ein toter Körper von einem übermächtigen Willen, von dem er besessen war, vorwärts gezwungen wurde, und wie ein lebloses Bündel zusammenfallen würde, wenn der Wille versagte.

Leise singend nahm sie das Kind aus dem Korb, setzte sich auf die Bettkante und legte es an ihre magere Brust. Das Kind strampelte mit Armen und Beinen, bis es sich schließlich beruhigte und trank.

Sie saß über den Säugling gebeugt und gab ihm von ihrem eigenen kärglichen Leben. In ihrer Freude darüber vergaß sie, wie grau und schwach das Kind war, wie düster und jämmerlich ihr eigenes Dasein.

Der halbdunkle Raum mit den kahlen, schmutzigen Wänden umfaßte ihre ganze Welt.

Die Tür führte zu dem engen Gang hinaus, der ein Gemeinschaftsraum für sämtliche Bewohner des Stockwerks war und in den Treppenschacht mündete.

An jedem Ende des Ganges war ein Wasserhahn mit einem Becken; hier füllten die Bewohner ihre Kessel und Töpfe; hier wuschen sie sich; hier warfen sie ihren Abfall hin, so daß der Abfluß verstopft wurde und das Becken überfloß. Die Fußbretter darunter waren von Feuchtigkeit verfault; ein unleidlicher Gestank breitete sich über den ganzen Gang und drang von dort durch die undichten Türen.

In Nellys und Pats Stube sah es nicht besser aus als bei den andern Bewohnern. Am Fußende des breiten niedrigen Ehebettes, das von der Wand ins Zimmer ragte, hatte Pat ein Bett für seine beiden großen Kinder aus erster Ehe, Jim und Eddie, gezimmert; tagsüber diente es als Bank, indem das armselige Bettzeug darunter gestopft wurde.

Pat hatte versucht, seinen eigenen Wohnraum von dem der Einlogierer zu trennen, indem er zwei Drittel von der Breite des Zimmers durch Bretter abgeteilt, an die er mit Nägel altes Sackleinen geschlagen hatte. Hinter dieser Wand war es noch dunkler als in Pats Abteilung, denn dort kam nur das Licht hin, das durch die beiden kleinen Fenster über die Bretterwand gelangte, die einen Meter von der Decke entfernt war. Dort stand ein Bett, das Dick sich gemietet hatte und längs der Wand zum Gang hatte Tonny eine Chaiselongue stehen, von dem der Bezug abgerissen war; darunter war eine Schublade, die die Quelle zu ewigem Zank war, denn Nelly wollte, daß das Bettzeug dort verwahrt wurde, Tonny aber meinte, daß das Federbett, das ihm gehörte, ebenso gut oben drauf liegen könnte; es machte nur Mühe, das Federbett in die Schublade zu stopfen und außerdem wurde es nicht besser davon. Jeden Morgen, wenn Tonny zur Arbeit gegangen war und Nelly reinmachte, wie sie es mit einem Ausdruck aus besseren Tagen nannte, stopfte sie das Bettzeug in die Schublade, ebenso wie sie es mit dem der Kinder tat. Und jeden Abend, wenn Tonny nach Hause kam, fluchte er, wenn er die Chaiselongue leer fand und riß das Bettzeug aus der Schublade, bevor er sich zum Essen setzte.

Längs der spanischen Wand hatte die Heilsarmee-Annie ihre Schlafstelle. Es war eine alte Tangmatratze, die tagsüber an der Wand hochgestellt wurde, damit sie keinen Platz wegnahm.

In dem Teil des Zimmers, wo die Bretterwand nicht hinreichte, stand in der Nähe des Ofens und der Tür ein langer viereckiger Tisch mit Küchengeschirr und Tellern am einen Ende; von den geräumigen Tischschubladen diente die eine als Speisekammer, die andere als Abfalleimer, und sie war meistens so voll, daß sie nicht zugeschoben werden konnte. Auch das war eine Quelle zum Unfrieden; denn Nelly wollte, daß Jim und Eddie sie leeren und reinigen sollten, wenn sie müde und hungrig nach Hause kamen.

In der Ecke beim Fenster wurde alles gesammelt, was zur Heizung verwendet werden konnte, alte Zeitungen, Bretterreste und die Koksstücke, die Jim auf den Stapelplätzen klauben konnte.

Zwischen den Fenstern stand eine altmodische Kommode mit Messingbeschlägen; das war das einzige Stück aus Pats besseren Tagen, als seine erste Frau noch lebte. Auf der Kommode lag eine gestickte Decke – ein Stück, das Nelly wie ein Heiligtum hochhielt. Es wurde regelmäßig gewaschen, mochte sie auch noch so krank sein: Es war ja ein kleiner reiner Fleck, das einzig Weiße in all dem Grauen und Schmutzigen um sie herum. Wenn alle gegangen waren, die Stube gesäubert war und das Kind schlief, lag sie mit ihren Schmerzen in der Brust und hörte auf das Geschwätz und den Lärm draußen auf dem Gang, bis ihre Augen auf das weiße Viereck fielen, das über den Rand der Kommode hing, und Ruhe fanden; stundenlang konnte sie darauf starren, denn durch dieses Weiß kam das Licht und die grünen Wiesen ihrer Kindheit und alles, was gut und heiter in der Welt war, zu ihr.

Auf der Decke lag ein Psalmbuch, das Pats Mutter gehört hatte; dort stand ein Nähkasten mit einem kolorierten Madonnenbild im Deckel, den Nelly einst von Pat bekommen hatte, ein alter Leuchter, und eine Photographie von Pats erster Frau in einem Muschelrahmen. Jedes Ding hatte seinen bestimmten Platz in symmetrischer Ordnung um den Leuchter. Es war ein Altar, und weder Pat noch Nelly duldeten, daß ein anderer als sie daran rührten.

Zwischen der Kommode und dem Ehebett war kaum so viel Platz, daß Nelly durchschlüpfen konnte, wenn sie nach dem Säugling am Fenster sehen wollte.

Am Fensterkreuz hing ein viereckiger Spiegel, vor dem sich Pat Sonntags barbierte, und Dick, wenn er zufällig zu Hause war. Vor diesem Spiegel lockte Tonny sein schwarzes Haar, wenn er jemanden hatte, für den es sich verlohnte. In diesem Spiegel suchte die Heilsarmee-Annie, wenn sie nüchtern war und Selbstpeinigung das einzige war, was sie befriedigte, die Spuren ehemaliger Schönheit und Reinheit. Jim musterte seinen spärlich sprießenden Schnurrbart und Eddie frisierte unter Jims beißender Kritik ihr spärliches Haar, beobachtete ihre Pickel, die ihr Kummer waren, und versuchte ihrem armseligen Hut einen Schwung nach der neuesten Mode zu geben. Nur Nelly sah sich nie in dem Spiegel; sie wagte es nicht; das Leben war auch ohnedem schwer genug. Krankheit hatte sie in Not gebracht, die Not hatte sie in Schulden geführt, die Schulden hatten abermals die Not vergrößert, und jetzt saßen sie im größten Elend. Nein, Nelly empfand keine Lust sich zu spiegeln.

Die Tür ging auf, und die Heilsarmee-Annie kam herein.

Sie trug einen langen Ulster, eine ehemalige Heilsarmeeuniform von unbestimmbarer Farbe; auf dem Kopf trug sie eine Kapuze, wovon das Uniformband abgetrennt war.

Die Heilsarmee-Annie war erst siebenundzwanzig Jahre alt. Sie war einst frisch und rundlich, klein und rotbackig gewesen; jetzt war sie verludert, hochbusig und schlapp. Ihr Gesicht war rot und geschwollen, ihre Hände aber, die niemals grobe Arbeit getan hatten, waren klein und fein. Die großen blauen, ehemals so treu blickenden Augen waren jetzt leer und verschwommen. Der Mund hatte seinen gutmütigen Ausdruck noch bewahrt. Die gesprungenen Lippen sahen aus, als ob sie nicht wüßten, ob sie lachen oder weinen sollten.

Ein allzu weiches Herz, ein allzu williges Gemüt hatten das kleine üppige Mädchen aus Kalifornien zu dem gemacht, was sie jetzt war.

Bei einer Versammlung der Heilsarmee im Golden Gate Park in St. Francisco hatte sie sich in ein Mitglied der Heilsarmee, der sein Herz auf der Zunge trug und einen Tenor wie ein Held hatte, verliebt. Sie wollte dort sein, wo er war, und da ihr die, die im Schatten lebten, leid taten und sie eine schöne und kräftige Stimme hatte, war es ihr ein leichtes gewesen, in die Heilsarmee aufgenommen zu werden.

Der Mann fühlte sich geschmeichelt und nahm willig, was sie ihm bot; da sie ihre Gefühle aber nicht zu verbergen verstand, wurde man bald auf das Paar aufmerksam. Seiner Stellung wegen versuchte er sie zu meiden und da es ihm nicht gelang, ließ er sich versetzen. Sie aber folgte ihm, und er nahm sie wieder zu Gnaden an. Ein halbes Jahr lang war sie der glücklichste Mensch auf Erden. Da wurde das Verhältnis entdeckt, bei einer Versammlung kam es zu einem Skandal. Der Mann ließ sie im Stich, indem er behauptete, daß er sein möglichstes getan habe, um ihr aus dem Wege zu gehen und nur ein Opfer ihrer Nachstellungen geworden wäre, weil er für ihre Seele fürchtete. Sie wurde aus dem Heer ausgestoßen und bekam ihren Freund nie wieder zu sehen.

Ohne Beschäftigung, ohne Heim, ohne Freunde, mit einem tiefverwundeten Herzen streifte sie umher, gleichgültig gegen alles, bis sie sich eines Abends von einigen Burschen verlocken ließ, die sie einst, als sie noch in der Heilsarmee war, bekehrt hatte. In ihrer Stammkneipe machten sie sie total betrunken; und das Trinken rettete sie insofern, als es ihr half, ihr gekränktes Mädchenherz zu betäuben.

Sie konnte das Alleinsein nicht ertragen; sie trank, um Gesellschaft zu suchen und suchte Gesellschaft, um zu trinken. Ihre hübsche Stimme diente ihr zum Lebensunterhalt; sie zog von Salon zu Salon und sang, wofür man ihr zu essen und trinken gab. Wenn sie betrunken war, sang sie die alten Heilsarmee-Psalme, die sie mit ihm zusammen gesungen hatte; sie sang bis ihr die Tränen über die Backen rollten, dann jubelten die Zuhörer und nannten sie die Heilsarmee-Annie.

So streifte sie umher, bis sie eines Nachts in einer verkommenen Kneipe Dick-Darling traf, der von besserer Herkunft war. Ihm glückte es, ihren Heilsarmeehelden in den Schatten zu stellen. Da sie noch immer nicht gelernt hatte, ihre Gefühle zu verbergen, ließ sie ihn gleich bis auf den Grund ihres Herzens blicken, und er ließ sich nicht lange bitten, sondern nahm, was er dort fand. Sie betete ihn an und er nutzte ihre Stimme aus, trank mit ihr, prügelte sie, verließ sie, wenn er eine Weile etwas Besseres gefunden hatte und suchte sie wieder auf. Sie war ihrem armen Herzen hilflos preisgegeben, das nun einmal so eingerichtet war, alles was es besaß an den zu verschenken, der es beherrschte – ohne Rücksicht darauf, ob sie etwas dafür bekam.

Diese entsetzliche Bereitwilligkeit, die niemals etwas für sich verlangte, machte sie Dick unerträglich. Wenn sie ihm untreu gewesen, ihn verhöhnt, ihn mit derselben Münze bezahlt hätte, würde er sie nicht von sich gelassen haben, solange er Vorteil davon hatte. So aber verlor er die Geduld und ging mit einer Varietésängerin, die sich etwas Geld verdient hatte, auf und davon, nur um sie los zu werden.

Wieder war sie am Rande des Selbstmordes, und wieder rettete sie der Alkohol, aber er tat es nicht umsonst.

Lange sah und hörte sie nichts von Dick; bis sie zufällig erfuhr, daß er wieder arbeitete und eine Beschäftigung in seinem alten Fach in Cunnings Fabrik gefunden hatte. Da reiste sie für ihr letztes Geld in die Stadt, wo er wohnte und suchte ihn bei Pats auf. Es kam eine Art Versöhnung zustande, das heißt, Dick war jetzt, wo er etwas zu tun hatte, der Frauen überhaupt überdrüssig; er nahm sie auf, wie man einen herrenlosen Hund zu sich nimmt, nachdem man vergeblich versucht hat, ihn mit Fußtritten fortzujagen.

Sie bekam eine Unterkunft bei Pats; Nelly erbarmte sich ihrer und gab ihr einen Platz auf dem Fußboden, dicht neben Dick, so daß sie seinem Leben folgen und seinem Schnarchen lauschen konnte.

Da bekam Dick einen seiner Anfälle. Annie wußte nicht, daß es eine Krankheit sei, sie glaubte, daß er ebenso wie sie durch Verzweiflung zum Trinken getrieben wurde, nur daß sie gleichmäßiger und darum weniger heftig trank. Drei Tage lang war er verschwunden, sie wurde nüchtern vor Angst und Herzenskummer und rührte keinen Alkohol an, bevor sie ihn gefunden – im entgegengesetzten Ende der Stadt – und ihn mit nach Hause geschleppt hatte. Sie verdoppelte ihre Zärtlichkeit, damit er nicht wieder in Verzweiflung geraten sollte, erntete aber nur Undank. Er mißhandelte sie mehr als je, Nelly mußte sich häufig dazwischen legen. Nun war Dick abermals vier Tage nicht zu Hause gewesen. Annie war verzweifelt. Von morgens bis abends rannte sie von Kneipe zu Kneipe, um ihn zu suchen. Seine Kameraden, die besser Bescheid wußten, machten sich einen Spaß daraus, sie auf falsche Spur zu bringen. Todmüde schleppte sie sich nach Hause voll Sorge über ihn, den sie in Verzweiflung wähnte, von dem Verdacht gequält, daß diesmal ein Frauenzimmer mit im Spiel sei.

Annie warf einen Blick auf Dicks Bett und ließ sich auf einen Stuhl fallen.

»Was für ein Leben!« seufzte sie.

Nelly fuhr zusammen, sie war mit dem Kind im Arm eingeschlafen.

»Was fällt dir ein, wie ein Gespenst angeschlichen zu kommen!«

»Ich sag nur, was für'n Leben, sag ich.«

»Kannst ja von ihm bleiben.«

Annie erhob sich, schwankte zur Schlafbank der Kinder und sank darauf nieder.

»Wie kannst du so was sagen,« brachte sie mit Tränen in der Stimme heraus.

»In der Schublade liegt Brot und Käse,« sagte Nelly.

»Ich kann weder essen noch trinken, bevor ich ihn wieder habe.«

Nelly legte das schlafende Kind aufs Bett und ging zu Annie, die längelang dalag, den Kopf in ihren Händen vergraben.

»Hör' mal,«. Nelly faßte sie an den Schultern und rüttelte sie bis sie aufsah, »geh' hin und melde dich bei der Heilsarmee, sag, daß du heimatlos bist und laß dich nach Hause schicken.«

»Wollt ihr mich hinauswerfen?« Annie sah sie an mit Augen, die vor Trunkenheit und Rührung überflossen.

Nelly schüttelte sie, bis sie sich aufrichtete.

»Du sollst dich von dem Halunken nicht tottreten lassen. Mach, daß du fortkommst, bevor er mit seinem Quartalsrausch hier angetorkelt kommt. Das wär das beste für dich.«

Annie klammerte sich an sie.

»Hast du ihn gesehen?« Sie richtete sich ganz auf und blickte sich in der Stube um. »Ist er zurückgekommen?«

Nelly war durch ihre gebückte Stellung ins Husten gekommen; sie krümmte sich auf der Bank, und Annie hielt sie um die Schultern gefaßt, bis der Anfall überstanden war.

Nelly umfaßte Annies Arm mit beiden Händen und versuchte sie mit ihrem fieberglänzenden Blick zu zwingen.

»Sieh zu, daß du aus dem Schmutz herauskommst, Annie.«

Annie fing plötzlich an zu weinen und brach über Nelly zusammen, die sie zu halten versuchte.

»Wenn du mich von dir stößt, gehe ich in den Fluß.«

»Was kann man da machen,« sagte Nelly vor sich hin. Sie schob Annie von sich, erhob sich und sagte:

»Iß das bißchen Brot, das da ist. – Ich lege mich hin, bis Pat kommt.«

Nelly legte sich aufs Bett; Annie ging an den Tisch, nahm Brot und Käse aus der Schublade und begann zu essen. Ihre Gemütsstimmung schlug plötzlich um – Nelly kannte es aus Erfahrung – und sie schwatzte drauf los:

»Ich traf das Nashorn im ›Stern‹; er sagte, daß die Nigger-Cate sich über Dick hergemacht habe und mit ihm in Greenwood hause. Er glaubte, daß er mir das aufbinden könnte. Ich aber kenne Dick besser, er kümmert sich nicht um Frauenzimmer, wenn er trinkt. – Nicht wahr, Nelly – Und ein Negermädchen, pfui Teufel! – Ich sag also zu ihm: John Nashorn, sag ich, ich weiß wohl, daß ihr mich zum besten habt, und mich vom einen Ende der Stadt zum andern schickt, während Dick in einer von euern Spelunken sitzt und säuft. Aber du kannst Dick von mir grüßen – sag ich – denn du weißt ja ganz genau, wo er is – kannst ihn von mir grüßen – sag ich – wenn er nich so besoffen is, daß er nichts mehr versteht. Sag ihm von mir, daß ich nach Hause geh' und mich nicht vom Fleck rühre, bevor er wieder kommt. Wenn ich auch verhungern und verdursten sollte. Und wenn er auch ganz verludert nach Haus kommt, meinetwegen ohne 'nen Faden am Leibe, die Heilsarmee-Annie wird ihn immer mit offnen Armen empfangen« – sie schluchzte vor Rührung – »und wird ihn mit zärtlichen Händen pflegen wie'n neugeborenes Kind – sagte ich –.«

Die Rührung übermannte sie. Sie legte den Kopf auf den Tisch und weinte.

Nelly antwortete nicht. Sie war eingeschlafen. Einen Augenblick später schlief auch die Heilsarmee-Annie.


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