Laurids Bruun
Oanda
Laurids Bruun

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VI.

Schultz und Tillny kamen aus dem Wintergarten, sie waren im Frack.

Die Arbeiter warteten noch auf eine Antwort, Ralph aber schien sie vergessen zu haben. Er ging den Herren entgegen und stellte Goodwill vor, der gleich von seiner Reise und seiner wunderbaren Rettung zu erzählen begann. Als er die Prinzessin nannte, wurde er von Ralph unterbrochen.

»Fräulein Oanda,« rief er.

Oanda drehte sich um, machte aber keine Miene, näherzukommen.

»Ich möchte Sie einigen Freunden vorstellen.«

Schultz und Tillny folgten Ralph und wurden vorgestellt. Oanda betrachtete ihre schwarzen Fracks und weißen Westen erstaunt. Sie fand, daß Schultz Aehnlichkeit mit dem einen Arbeiter hatte – er war sauberer und gepflegter, sah aber ebenso schwach und müde aus wie Dick.

Tillny fragte, und Goodwill erzählte ausführlich von der herrlichen Insel.

»Ein Holländer hat ihr seinen Namen gegeben. Er fand sie vor vielen Jahren und wurde dort König.«

»Was für ein Glückspilz!«

Goodwill drehte sich um. Wahrhaftig der lange Lümmel von einem Quartalstrinker hatte sich diese Bemerkung erlaubt.

Dick war es einerlei; er war fertig mit der Fabrik und die Fabrik mit ihm. Er hatte Lust, seinen Senf dazu zu geben und darum tat er es. Er hatte stets getan, was ihm einfiel, und dafür bezahlt, was es kostete.

Als Schultz sich umdrehte und ihn ansah, lüftete er galant seinen runden Hut.

»Dick Darling, Herr – verabschiedeter Arbeiter bei Herrn Cunnings Fabrik! – Ich sagte: Was für'n Glückspilz, sagte ich. Auf einer Insel zu wohnen, und eine ganze Bevölkerung zur Verfügung zu haben, die einem das Beste verschafft, was die Natur vermag, ohne einen Finger zu rühren. Nicht?«

Schultz amüsierte sich nicht weniger über die Frechheit des Burschen, als über Goodwills Entrüstung.

»Das würde Ihnen gefallen?« sagte er.

»Ihnen nicht?«

Schultz betrachtete die schlappe Gestalt mit den hängenden Schultern, das bleiche Gesicht mit den stechenden Augen und dem kränklichen Lächeln. Dick erwiderte seinen Blick und sagte höflich:

»Entschuldigen Sie – sind Sie nicht der Sohn von dem großen Cornelius Schultz?«

Schultz nickte.

»Dann wissen Sie ja, wie es ist.«

Dick genoß das Aufsehen, das er machte. Jetzt galt es so viel wie möglich zu sagen, bevor er hinausgeworfen wurde. Er fühlte instinktiv, daß er es nur der Prinzessin zu verdanken hatte, daß es nicht bereits geschehen war.

Oanda blickte von Schultz zu Dick.

»Ihr seht Euch so ähnlich! – Seid Ihr verwandt?«

Nomura lachte kurz auf, es klang wie ein Husten. Goodwill starrte Ralph entsetzt an, der Oanda mit großen Augen betrachtete. Schultz verzog keine Miene.

»Ich glaube nicht, daß ich die Ehre habe,« sagte er trocken.

Dick legte den Kopf auf die Seite und sagte nachdenklich:

»Das ist schwer zu sagen, Fräulein. Wenn man wie ich seinen Vater nicht kennt, weiß man nie, wessen Stiefbruder man sein kann.«

Goodwill sah aus, als ob er die Sprache verloren habe. Der Werkführer blickte Ralph von der Seite an, ob er wünschte, daß er Dick zu Boden schlagen sollte, und Pat rückte einen Schritt zur Seite, um nicht im Wege zu stehen.

Schultz aber amüsierte sich. So etwas hatte er noch nicht erlebt.

»Das ist wahr,« sagte er und lachte. »Trinken Sie eins auf die Verwandtschaft.« Er griff in die Tasche und warf Dick ein Goldstück zu, der es in der Luft auffing und zum Dank galant grüßte.

Braddon wandte sich wieder zu Ralph um. Pat und Tonny würden nicht gehen, bevor eine Entscheidung getroffen war, das sah er wohl ein – jedenfalls nicht solange er, Braddon, da war; und ohne Befehl von Ralph wagte er nicht, sie an die Luft zu setzen.

Diese Prinzessin, wie die andern sie nannten, war an dem ganzen Skandal schuld. Warum blieb sie neben den Arbeitern stehen, anstatt zu den ihren zu gehen?

Braddon räusperte sich und versuchte Ralphs Blick aufzufangen, als im selben Augenblick muntere Stimmen aus dem Wintergarten erklangen. Es waren Frau Schultz, Frau Tillny und einige andere Damen, die sich zum Diner umgekleidet hatten.

Oanda blickte sie erstaunt an. So sahen sie also in Wirklichkeit aus, die vornehmen, festlich gekleideten Damen, von denen sie gelesen und in »Illustrated London News«-Abbildungen gesehen hatte.

Die kleine Dame, die voranging, hatte ihr Haar in einem Helm über der Stirn aufgesteckt; jedesmal, wenn sie den Kopf bewegte, blitzte und funkelte ein Kamm, der wie eine Krone aussah. Ihr fetter Hals schwoll über dem Kleiderrand; die Haut war blendend weiß, und auf der Rundung der Brust lag eine Doppelkette von großen schweren Perlen.

Die Dame, die an ihrer Seite ging, war nicht annähernd so entblößt, und es funkelte auch nicht in ihrem Haar oder auf ihrem Hals; aber sie trug ein paar Glasaugen an einer Goldschnur um den Hals, mit einem Perlmutterschaft, den sie immerwährend an die Augen führte. Es waren noch einige andere Damen da, keine aber strahlte so, wie die kleine dicke, die voranging.

Während Oanda noch in ihren Anblick versunken war, ging jemand mit langen Schritten an ihr vorbei, den sie zu kennen meinte.

Es war Fielding.

Auf der Terrasse blieb er stehen und zog grüßend seinen Hut. Ralph ging ihm mit einer fragenden Miene entgegen.

»Tom Fielding!« stellte Fielding sich vor, »entschuldigen Sie, daß ich unangemeldet zu Ihnen komme; aber es war niemand da, der mich melden konnte und die Gittertür stand offen.«

»Ralph Cunning.«

Tillny hatte sich umgedreht, Fielding nickte, »Guten Tag, Herr Advokat,« und fuhr zu Ralph gewendet fort:

»Ich hatte Besuch« – im selben Augenblick wurde er Goodwills gewahr – »da ist er ja! – Guten Tag, Goodwill, besten Dank für Ihren Besuch!«

»Wie freue ich mich. Sie wieder zu sehen!« rief Goodwill und drückte ihm herzlich die Hand.

Fielding erblickte jetzt auch Oanda und eilte auf sie zu, um ihr die Hand zu geben.

»Hocherfreut, Sie wiederzusehen, Prinzessin! – Guten Tag, Doktor Nomura.«

In diesem Augenblick erschien Eleanor in der Tür zum Wintergarten, strahlend, blendend. In ihrem bronzefarbenen Haar trug sie ein Smaragd-Diadem, und auf ihrem schlanken, elfenbeinweißen Hals hing an einer feinen Goldkette ein orientalischer Smaragd, so groß wie ein Taubenei und vom reinsten Grün. Die Farbe des Kleides war in einer wunderbaren Nuance mit dem Bronzeton des Haares zusammengestimmt, und der Besatz, eine Kante aus einfachen, golddurchwebten Spitzenrosetten, stimmte wundervoll mit dem Elfenbeinton der Haut überein.

Ihre Augen suchten Ralph. Er kehrte ihr den Rücken zu. Sie stutzte über die fremden Gesichter, die ihn umgaben. Sie sah, daß auch eine Frau dazwischen war, und machte ein Paar Schritte, bis sie Oandas Gesicht frei vor sich hatte.

Jetzt ertönte der Gong. Frau Schultz erhob sich aus dem Korbstuhl neben der Tür mit einem feierlichen »Gottseidank«. Ralph sah erstaunt auf seine Uhr; war es schon so spät? Er wollte seine neuen Gäste einladen mit zu essen und wandte sich zu Fielding, als dieser im selben Augenblick sagte:

»Na, Prinzessin, sind Sie schon beim Präsidenten gewesen?«

Er hatte den Gong überhört, und als Ralph sich jetzt an ihn wandte, zog er ihn ins Gespräch:

»Wissen Sie schon, daß Goodwill Ihrer Cousine versprochen hat, sie zum Präsidenten zu führen? – Fräulein will einen armen Chinesen aus den Klauen des Gesetzes befreien.«

Goodwill erblaßte. Er versuchte Fielding einen Wink zu geben, aber es war zu spät.

»Cousine?« sagte Ralph erstaunt.

»Ist nicht der Ingenieur Ralph Cunning Ihr Onkel? Ich las heute morgen in der Zeitung eine Notiz über die Statue – und als ich zu Hause Goodwills Karte fand, worauf er geschrieben hatte, daß ich ihn und die Prinzessin hier aufsuchen sollte, war es mir gleich klar, daß Fräulein Oanda hierhergekommen sei, um die Statue ihres Vaters zu sehen.«

Fielding blickte von der einen Büste zur andern, bis er die verhüllte Statue sah.

»Ah, die dort!«

Ralphs Augen suchten Oandas.

»War Ralph Cunning Ihr Vater?«

»Ja,« sagte sie und erwiderte seinen Blick.

Jetzt trat Goodwill vor und legte seine Hand auf ihren Arm; als sie seine hilflose Verwirrung bemerkte, mußte sie lächeln.

Advokat Tillny war der erste von den Gästen, der die Situation erfaßte. Er trat näher an die Gruppe heran, damit ihm kein Wort entginge. Schultz folgte ihm, während alle gespannt darauf warteten, was weiter erfolgen würde.

Ralph starrte Oanda an, als ob er die Verwandtschaft aus ihren Augen herauslesen wollte.

»Und er ist drüben auf Ihrer Insel gestorben?«

»Ja, bevor ich geboren wurde.«

Jetzt sah Fielding ein, welche Dummheit er begangen hatte. Verflucht, daß er gerade über die Statue gelesen hatte, als er Goodwills Karte bekam – wie konnte er ahnen –? Na, das Unglück war ja geschehen und Cunning würde bald erfahren, wie wenig er von dieser Verwandtschaft zu fürchten hatte.

Ralph wandte sich an Goodwill.

»Ein Holländer, sagten Sie?«

Goodwill holte tief Atem.

»Van Zanten, ja. Er ist ihr Pflegevater.«

»Und Ihre Mutter?« Ralph bedachte nicht das Peinliche der Situation. Er wollte Klarheit haben.

»Nach Gottes Gesetz waren sie getraut,« antwortete Oanda.

Ihre Gedanken waren bei ihrer Mutter; sie erinnerte sich des Tages, als die Fremden kamen und in ihr Leben eingriffen; an jedes Wort, an jede Einzelheit erinnerte sie sich. Ihre Augen füllten sich mit Tränen als sie daran dachte, wie bewegt ihre Mutter gewesen war, und sie wiederholte unwillkürlich ihre Worte:

»Alles was Menschen sich geben können, gaben sie einander.«

Die feuchte Dunkelheit in den blauen Augen, der plötzliche Schmerz um den weichen Mund, der im Takt mit dem Atemzug zitterte, drangen so heftig auf ihn ein, daß er das unklare Verlangen hatte, sich von ihr fern zu halten.

Er sah Goodwill an und fragte:

»Nach Gottes Gesetz?«

»Sie waren von einem indischen Priester getraut worden und litten auf der Reise nach Amerika Schiffbruch.«

»Sie waren also nicht nach dem Gesetz verheiratet,« sagte Fielding bedeutungsvoll.

Schultz stand jetzt dicht neben ihnen. Er hatte den Kopf auf die Seite gelegt und folgte den Worten und dem Mienenspiel genau. Seine großen, matten Augen blitzten vor Schadenfreude, als er sich vorbeugte und mit seiner trocknen, knarrenden Stimme so laut, daß alle es hören konnten, sagte:

»Dann gehört die ganze Herrlichkeit ja eigentlich Ihnen, Fräulein Oanda.«

Dick war Schultz mit den Augen gefolgt und hatte die große Aehnlichkeit zwischen sich und Schultz festgestellt. Natürlich waren sie Brüder, und es wunderte ihn gar nicht, denn Dick hatte immer geglaubt, daß sein unbekannter Vater ein vornehmer Mann gewesen sei; das fühlte er an sich selbst. Er sah mit instinktivem Verständnis, als ob sie wirklich Brüder gewesen wären, was sich in Schultz rührte, wie er dort stand und vom einen zum andern sah. Indem er Schultz unbewußt in Haltung und Stimme kopierte, sagte er:

»Und vielleicht gehört die Hälfte von Herrn Schultz Trust eigentlich mir.«

»Allmächtiger Gott – was sagt dieser Mensch?«

Es war Frau Schultz. Während der letzten Minuten hatte sie Dinge gehört, eines immer verblüffender als das andere – und inzwischen wartete das Essen, und sie war hungrig wie ein Wolf. Jetzt verlor sie die Geduld. Sie blickte zu der Gruppe hinüber, die Ralph umgab – die einzelnen konnte sie nicht unterscheiden, weil sie zu kurzsichtig war, und rief:

»Cunning, kommen Sie her und erklären Sie mir, was all die fremden Menschen hier zu tun haben, in dem Augenblick, wo wir zu Tisch gehen wollen?«

Ralph hörte sie nicht, sein Gemüt war zu sehr in Anspruch genommen.

Schultz drohte Dick mit dem Stock wegen seines frechen Scherzes.

Goodwill wußte nicht aus noch ein. Es war, als ob die ganze Gesellschaft aus den Fugen geraten sei; die, die beschämt schweigen sollten, redeten, und die, die dazu da waren, um zu führen und zu strafen, schwiegen und ließen sich beleidigen. Es schwebte ihm so etwas vor, als ob das alles in der verkehrten Lebensanschauung, die Oanda mit sich brachte, seinen Grund hatte. Sie war ja eine Wilde in zivilisierten Kleidern; vielleicht steckte sie an, sie war ja so schön und gut. Ihm ahnte, daß er eine schwere Aufgabe übernommen hatte und seufzte tief.

Braddon, der von einfacher Herkunft war, konnte nicht begreifen, daß Cunning nicht schon lange die ganze Bande hinausgeworfen hatte, sowohl die Arbeiter als auch das fremde Frauenzimmer mit ihrem Japaner und dem Pfarrer und diesem Fielding, der gerade in dem Augenblick angelaufen kam, als gegessen werden sollte. Das sah dem Fabrikherrn gar nicht ähnlich. Er fand, daß die halbnackte Vogelscheuche, die alte Schultz, die einzige Vernünftige sei. Advokat Tillny, der nie eine Chance unbenutzt vorübergehen ließ, näherte sich Oanda:

»Mein Freund Fielding,« sagte er mit seiner sanftesten Stimme und verbeugte sich ehrerbietig, »sprach davon, daß Sie hergekommen seien, um einen Chinesen aus den Klauen des Gesetzes zu befreien. Es sollte mich freuen, wenn ich Ihnen als Advokat nützlich sein könnte.«

Oanda sah in sein mageres Gesicht mit den würdigen Backenfalten und sagte:

»Ich will für Tsing-Kai bitten, den man ins Gefängnis geworfen hat, obgleich er nichts Böses getan hat.«

Fielding flüsterte dem Advokaten zu:

»Frauenzimmergeschwätz! – Ich kenne die Sache – eine ganz gewöhnliche Kuliaffäre, bei der nichts zu machen ist.«

Eleanor hatte sich genähert, um besser zu hören, doch hielt sie sich von einem weiblichen Instinkt geleitet, hinter den andern, so daß weder Oanda noch Ralph sie sehen konnten. Fieldings Enthüllung hatte solch starken Eindruck auf sie gemacht, daß sie gar nicht auf Dicks Bemerkung geachtet oder Zeit gefunden hatte, sich darüber zu wundern, daß Ralph diese Leute nicht schon längst entfernt hatte. Beim ersten Blick hatte sie Widerwillen gegen die fremde Frau empfunden, sie wußte selbst nicht warum. Alles – ihre unmoderne Kleidung, ihre Haltung, so frei und unbewußt, ihre klare weiße Stirn, ihr Haar, ihre Augen, selbst das Gute, Frische, Reine, das – das fühlte sie wohl – sie wie eine Atmosphäre umgab, ja, das, vielleicht mehr als alles andere, war ihr zuwider. Sie nahm den Eindruck mit Intensität in sich auf; als sie sah, wie Tillny sich Oanda näherte und sich trotz ihrer unglaublichen Anmaßung lächelnd und ehrerbietig vor ihr verneigte, kam sie zur Besinnung. Sie trat rasch auf Ralph zu, der ihr den Rücken zugekehrt hatte, berührte seinen Arm und sagte:

»Machen Sie mich bitte bekannt.«

Ralph fuhr auf, er begegnete ihrem Blick und wunderte sich über den Ausdruck in den schwarzen Augen. Er schob Tillny beiseite und stellte vor:

»Fräulein Oanda, Fräulein Eleanor d'Acosta.«

Eleanor warf den Kopf zurück und musterte Oanda von Kopf bis Fuß. Oanda faltete die Hände über der Brust und blickte mit großen Augen in das schöne, weiße Gesicht mit den dunkel flammenden Augen und den stolz geschürzten, blutroten Lippen.

»Wie sind Sie schön,« sagte sie und atmete tief vor Bewunderung.

Eleanor tat, als hörte sie es nicht.

»Können Sie beweisen, daß Ralph Cunning ihr Vater war?« fragte sie.

Dick aber ließ sich nicht so ohne weiteres verdrängen. Er hatte sich die allgemeine Aufmerksamkeit erzwungen und wollte sie auch behalten, bis man ihn hinauswarf. Er streckte den Kopf vor, betrachtete Eleanor von oben bis unten, ganz so wie sie Oanda gemustert hatte und sagte in einem freundlich belehrenden Ton:

»Den Vater kann man nie beweisen, hochverehrte Dame.«

Das Blut schoß Eleanor in die Wangen, und sie wandte sich an Ralph.

»Bitte, befreien Sie mich von dieser Gesellschaft.«

Das wirkte auf Ralph wie ein Schlag. Es war, als ob es ihm erst jetzt zum Bewußtsein kam, daß der Werkführer und die Arbeiter noch immer zugegen waren – was hatte Dick alles gewagt und wie unfaßbar, daß er es erlaubt hatte. Er kannte sich selbst nicht mehr; mit dunkelrotem Kopf wandte er sich an Braddon:

»Worauf warten Sie noch – schaffen Sie die Leute hinaus.«

Er sagte es so heftig, daß nicht nur Braddon, sondern auch die Arbeiter die Köpfe zurückzogen, als ob sie eine Ohrfeige bekommen hätten.

Auch Oanda war erschrocken zusammengefahren.

Da zeigte Hopkins sich in seiner ganzen Würde. Ohne daß jemand ihn kommen gehört hatte, stand er plötzlich vor Ralph, verbeugte sich feierlich und sagte, indem sein langes Gesicht mit den hochgezogenen Brauen eine unverkennbare Miene von Gram zur Schau trug:

»Ich gestatte mir zu melden, daß der Gong schon lange zum zweitenmal geläutet wurde.«

»Danke, Hopkins!« Es war Frau Jennimore, die es sagte und sich mit ihren kleinen energischen Schritten Ralph näherte. »Was fehlt Ihnen denn, Cunning, ich bin hungrig wie ein Wolf.«

Frau Tillny folgte ihr auf den Fersen, hoch aufgerichtet und gekränkt:

»Ja, es ist wirklich sehr spät geworden.«

Der Werkführer hatte sich sofort zum Gehen gewandt, die Arbeiter aber zögerten noch, und er wußte nicht, wie er sie hinausbringen sollte, ohne Krach zu machen.

Der schwarze Pat stand noch einen Augenblick und suchte Ralphs Blick, als ob er einen letzten, verzweifelten Versuch überlegte. Schließlich gab er es auf, atmete schwer und begegnete Oandas Augen, die mit dem Ausdruck innigsten Mitleids auf ihm ruhten.

»Hilf uns!« bat er, indem er seinen Blick in den ihren senkte und wunderte sich, daß er es wirklich gesagt hatte.

Oanda streckte ihre Hand aus, als ob sie Ralph etwas sagen wollte. Er aber sah es nicht, er hatte sich mit Hopkins beraten und wandte sich jetzt an sie, Goodwill, Nomura und Fielding.

»Sie essen doch mit uns? – Also vier Gedecke.«

»Vier Gedecke,« wiederholte Hopkins und eilte ins Haus.

Tillny bot Frau Jennimore den Arm, Schultz Fräulein Eleanor und Fielding eilte auf Frau Tillny zu.

Ralph wandte sich zu Oanda. Der tiefe Kummer in ihren Augen ergriff ihn so stark, daß er wieder das unbewußte Verlangen fühlte, sich von ihr fernzuhalten.

Er bot ihr den Arm, um sie zu Tisch zu führen, sie aber verstand nicht, was es bedeutete.

»Wir sollen essen,« sagte er.

Sie wandte den Kopf zu den Arbeitern um, legte ihre Hand auf seinen Arm und sagte:

»Sollen die Leute nicht mit essen – sie sind doch gewiß hungrig.«

Dick hatte sich in den Weg gestellt, als Braddon sie aus der Allee hinausdrängen wollte. Er fand, daß er die Situation beherrschte und hatte sich nun einmal in den Kopf gesetzt, daß er nicht freiwillig gehen wollte. Bei Oandas Worten trat er vor, als ob Ralph ihn eingeladen hätte und sagte mit Gefühl:

»Besten Dank! Ja, wir sind sehr hungrig.«

Schultz drehte sich um, blickte vom einen zum andern und löste die allgemeine Verlegenheit, indem er kurz auflachte.

Eleanor riß ihren Arm an sich, ihr Blick flammte und sie biß sich vor Zorn in die Lippe.

Tillny begriff sofort den Grund zu Schultzs guter Laune; er erfaßte die Lage und sagte pathetisch, indem er den Geistlichen ansah, auf dessen rundem Gesicht die unseligste Verwirrung stand:

»Ja, warum nicht – einer, der größer war als wir, hat mit Zöllnern und Sündern zu Tisch gesessen.«

»Um Gottes Willen!«

Frau Jennimore rief es, jetzt wurde ihr die Sache zu bunt; sie zog ihren Arm aus Tillnys und begab sich entschlossen auf den Weg, ohne Kavalier von Frau Tillny gefolgt, die ihrem Mann im Vorübergehen einen strengen Blick zuwarf.

Eleanor konnte sich kaum beherrschen. Dick sah, wie der Zorn in ihr arbeitete. Sie hatte ihm gleich mißfallen wegen ihrer stolzen Haltung und ihrem hochmütigen Blick; jetzt lüftete er seinen runden Hut und sagte:

»Entschuldigen Sie, meine Dame, daß wir nicht unsern Hochzeitsanzug anhaben.«

Sie drehte sich zu Ralph um, der mit Oandas Hand auf seinem Arm dastand, unbeweglich, als sei er an sie gefesselt.

»Ralph Cunning.«

Er fuhr zusammen und sah, wie sehr er sich vergessen hatte. Er ließ Oandas Arm los, stellte sich vor Pat auf und rief:

»Heraus aus dem Garten.«

Fielding hatte gleich begriffen, daß Dick hinausgeworfen werden sollte; er kannte diesen Typ aus seiner Praxis und näherte sich mit langen Schritten. Dick sah seine Armbewegungen und zog sich eiligst hinter Braddon zurück.

Oanda sah ein, daß die Aermsten weder Arbeit in der Fabrik noch etwas zu essen bekommen würden, obgleich sie sicher viel hungriger waren als die andern. Es schnitt ihr ins Herz, daß Ralph so hart sein konnte. Sie faßte Pats schwere, grobe Hand und sagte:

»Ich gehe mit Euch!«

Sie blickte sich nach Nomura um, der der Szene aufmerksam gefolgt war, als ob sie ein Film wäre.

»Kommen Sie, Doktor, wir wollen zu seiner kranken Frau gehen.«

»Gut!« Nomura war bereit.

Endlich fand Goodwill die Sprache wieder.

»Fräulein Oanda,« sagte er feierlich mahnend, »Sie wissen nicht, was Sie tun.«

Eleanor lachte laut und höhnisch, drehte sich um und folgte hocherhobenen Hauptes den anderen Damen, die den Wintergarten bereits erreicht hatten.

Oanda ging mit Pat zur Allee, von Dick und Tonny gefolgt. Ralph stand wie versteinert und blickte ihr nach, während Goodwill sich verlegen die Hände rieb und auf seinen kurzen Beinen hin und her trippelte, als ob er nicht wüßte, ob er ihr folgen oder bleiben sollte.

Als Dick die Allee erreicht hatte, drehte er sich um und winkte vertraulich; er fühlte sich bis zum letzten Augenblick als Herrn der Situation.

Fielding wandte sich an Goodwill:

»Ich habe es ja gleich gesagt, Goodwill, daß sie sich in den Staaten blamieren würde.«

Goodwill schüttelte seinen runden Kopf und seufzte tief.

Schultz' matte Augen hatten Glanz bekommen. In einem Anfall von Offenherzigkeit flüsterte er dem Advokaten zu:

»Das verzeiht Eleanor ihm nie.«

»Ein hübscher, kleiner Skandal!«

»Nutzen Sie ihn richtig aus, Herr Advokat – und ich werde Sie vergolden.«

Darauf wandte er sich an Ralph:

»Komm, Ralph – die Damen warten!«

Ralph blickte geistesabwesend auf und folgte.

Goodwill war der Letzte; er drehte sich mehrmals zur Allee um, wo indessen nichts mehr zu sehen war. Als er Ralph erreicht hatte, legte er seine Hand auf dessen Arm und sagte:

»Mein Lieber, was können wir machen?«

Ralph blieb stehen; er hatte an nichts anderes gedacht.

»Folgen Sie ihr und helfen Sie ihr!« sagte er nach kurzem Bedenken.

»Ich?«

»Sagen Sie, daß Sie als Pfarrer sich um die Frau kümmern wollen – oder was Ihnen sonst einfällt.«

Goodwill rieb verlegen seine Hände. Was vermochte seine schwache Stimme in solcher Gesellschaft – zwingen konnte er sie doch nicht.

»Nomura ist ja bei ihr,« sagte er bedenklich, »geschehen kann ihr sicher nichts.«

»Tun Sie, wie ich Ihnen gesagt habe,« sagte Ralph heftig, kehrte ihm den Rücken und ging ins Haus.

Goodwill eilte hinter den andern her. Er seufzte tief über die schwere Bürde, die er auf sich genommen hatte, und außerdem war er so hungrig.


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