Charlotte Brontë
Jane Eyre, die Waise von Lowood.
Charlotte Brontë

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünfzehntes Kapitel.

Am folgenden Tage reiste er jedoch nicht nach Cambridge ab, trotzdem er es gesagt. Er schob die Abreise noch eine ganze Woche auf, und während dieser Zeit ließ er es mich empfinden, welche schwere Strafe ein guter, jedoch strenger, ein gewissenhafter, jedoch unbeugsamer Mann einem Wesen auferlegen kann, das ihn beleidigt hat. Ohne irgend einen Akt von offener Feindseligkeit, ohne ein Wort des Vorwurfs gelang es ihm, mir fortwährend die Überzeugung beizubringen, daß ich seine Gunst vollständig verloren hatte.

Nicht daß St. John den Geist unchristlicher Rachsucht gehegt hätte – nicht daß er mir auch nur ein Haar auf meinem Haupte gekrümmt hatte, selbst wenn es in seiner Macht gelegen! Sowohl durch Grundsatz wie durch Natur war er erhaben über jede gemeine Befriedigung seines Rachegefühls; er hatte mir verziehen, weil ich gesagt, ich verachte ihn und seine Liebe, aber die Worte hatte er nicht vergessen; und er würde sie auch nicht vergessen, so lange er und ich lebten. Wenn er sich zu mir wandte, sah ich an seinem Blick, daß sie stets zwischen ihm und mir in der Luft geschrieben standen; wenn ich sprach, so schlugen sie in meiner Stimme an sein Ohr, und ihr Echo klang aus jeder Antwort, die er mir gab.

Er stand durchaus nicht von jeder Unterhaltung mit mir ab; er rief mich sogar wie gewöhnlich jeden Morgen an sein Pult, um mit ihm zu arbeiten, aber ich fürchte, daß der böse Mensch in ihm ein Vergnügen darin fand zu zeigen, mit welcher Geschicklichkeit es ihm gelang – während er augenscheinlich ganz so handelte und sprach wie gewöhnlich – aus jedem Wort und jeder That den Geist des Interesses und des Beifalls zu entfernen, welcher früher seiner Sprache und seinem ganzen Wesen einen gewissen herben Reiz verliehen hatte – ein Vergnügen, an welchem der reine Christ in ihm keinem Anteil hatte. Für mich war er in Wirklichkeit nicht mehr Fleisch und Blut, sondern Marmor; sein Auge war ein kalter, klarer, blauer Edelstein; seine Zunge ein sprechendes Instrument – sonst nichts.

Alles dies war Qual für mich – raffinierte, langsame Qual. Ein langsames Feuer der Empörung, ein immerwährend zitternder Kummer, der mich quälte und beugte, ward dadurch unterhalten. Ich fühlte, wie dieser gute Mensch – so rein wie die klarste Quelle – mich binnen kurzem töten würde, wenn ich seine Frau wäre, ohne meinen Adern einen einzigen Tropfen Blutes zu entziehen, ohne auf seinem eigenen krystallhellen Gewissen auch nur den leichtesten Hauch eines Verbrechens zu fühlen. Besonders empfand ich dies, wenn ich einen Versuch machte, ihn zu besänftigen. Mein Mitleid stieß auf kein Mitleid. Ihm verursachte unsere Entfremdung keine Qual; er empfand kein Verlangen nach Versöhnung; und obgleich meine schnellfließenden Thränen mehr als einmal auf das Buch fielen, über welches wir beide zusammen gebeugt waren, so machten sie nicht mehr Eindruck auf ihn, als wäre sein Herz in der That ein Gegenstand aus Metall oder Stein. Seinen Schwestern gegenüber war er indessen herzlicher als gewöhnlich; gerade als fürchtete er, daß bloße Kälte mich noch nicht hinlänglich überzeugen könnte, wie vollständig ich in den Bann gethan, wollte er noch die Macht des Kontrastes hinzufügen. Und dies that er, ich bin fest davon überzeugt, nicht aus Bosheit, sondern aus Grundsatz.

Am Abend vor seiner Abreise sah ich ihn zufällig gegen Sonnenuntergang im Garten auf- und abgehen. Als ich ihn erblickte, dachte ich wieder daran, daß dieser Mann, entfremdet wie er mir jetzt war, einst mein Leben gerettet hatte und daß wir nahe Verwandte seien. Das bewog mich, einen letzten Versuch zur Wiedererlangung seiner Freundschaft zu machen.

Ich ging hinaus und näherte mich ihm, als er an die kleine Pforte gelehnt dastand. Sofort begann ich, von dem zu reden, was mir am Herzen lag.

»St. John, ich bin unglücklich, weil Sie mir noch immer zürnen. Lassen Sie uns wieder Freunde sein.«

»Ich hoffe, daß wir Freunde sind,« lautete die gelassene Antwort, während er den Blick auf den aufgehenden Mond gerichtet hatte, den er schon betrachtete, als ich mich ihm näherte.

»Nein, St. John, wir sind nicht mehr Freunde wie früher. Sie wissen das gar wohl.«

»Sind wir es nicht? Das wäre Unrecht. Ich meinerseits wünsche Ihnen nichts Böses, sondern nur Gutes.«

»Ich glaube Ihnen, St, John, denn ich bin fest überzeugt, daß Sie nicht fähig wären, irgend jemand Böses zu wünschen. Da ich aber Ihre Verwandte bin, möchte ich ein wenig mehr Liebe wünschen, als jene Art allgemeiner Philanthropie, die Sie auch auf ganz fremde Menschen ausdehnen.«

»Natürlich,« sagte er. »Der Wunsch ist durchaus billig, und ich bin weit entfernt davon, Sie als eine Fremde zu betrachten.«

Dies sprach er in sehr kühlem, ruhigem Ton, und das war kränkend und demütigend genug. Hätte ich den Ratschlägen meines Stolzes und meiner Wut Gehör gegeben, so würde ich ihn augenblicklich verlassen haben. Aber es war etwas in mir, das stärker war als diese Gefühle. Ich hatte eine tiefe Verehrung für die Grundsätze und die Begabung meines Vetters. Seine Freundschaft war von großem Werte für mich; sie zu verlieren wäre eine harte Prüfung gewesen. Deshalb gab ich den Versuch, sie wieder zu erobern nicht so schnell auf. »Wollen wir uns denn in solcher Stimmung trennen, St. John? Und wenn Sie nach Indien gehen – wollen Sie mich dann verlassen, ohne ein freundlicheres Wort zu sprechen, als bisher?«

Jetzt wandte er sich ganz von dem Mond ab und blickte mir gerade ins Gesicht.

»Jane, werde ich dich denn verlassen, wenn ich nach Indien gehe? Was! Gehst du nicht mit mir nach Indien?«

»Sie sagten, das könne ich nicht, wenn ich Sie nicht vorher heiratete.«

»Und du willst mich nicht heiraten? Du beharrst fest bei jenem Entschluß?«

Lieber Leser, hast du jemals erfahren, welchen Schrecken jene herzenskalten Menschen mit dem Eise ihrer Fragen verursachen können? Wieviel von einem Lawinensturz in ihrem Zorn liegt? Wie sehr ihr Mißvergnügen dem Eisgange eines wilden Stromes gleicht?

»Nein, St, John, ich werde Sie nicht heiraten. Ich beharre fest bei meinem Entschluß.«

Die Lawine kam in Bewegung, aber sie stürzte noch nicht thalwärts.

»Noch einmal – weshalb diese Weigerung?«

»Früher, weil Sie mich nicht liebten,« entgegnete ich, »jetzt, weil Sie mich beinahe hassen. Wenn ich Sie heiratete, würden Sie mich töten. Sie sind jetzt schon im Begriff, es zu thun.«

Seine Wangen und Lippen wurden bleich – totenbleich.

»Ich würde dich töten? – ich töte dich jetzt schon? Deine Worte sind solche, wie sie nie gesprochen werden sollten: heftig, unweiblich, unwahr. Sie verraten einen unglückseligen Geistes- und Gemütszustand; sie verdienen strenge Zurechtweisung, sie würden unverzeihlich sein, wenn es nicht die Pflicht des Menschen wäre, seinem Bruder zu verzeihen, und wenn es auch siebenmalsiebzigmal wäre.« Jetzt hatte ich die Sache zu Ende gebracht. Während ich den ernstlichen Wunsch hegte, die Spur meiner ersten Kränkung aus seiner Seele zu löschen, hatte ich auf jener zähen Oberfläche einen weit tieferen Eindruck zurückgelassen, ich hatte ihn für alle Zeiten eingebrannt.

»Jetzt werden Sie mich in der That hassen,« sagte ich. »Es ist ganz nutzlos, den Versuch zu machen, Sie zu versöhnen; ich sehe, jetzt habe ich Sie mir zum ewigen Feinde gemacht.«

Ein neues Unrecht thaten ihm diese Worte, ein schlimmeres noch, weil sie der Wahrheit nahe kamen. Seine blutlosen Lippen erzitterten wie in einem Krampf. Ich wußte, welch scharfen Stahl ich gewetzt hatte. Das Herz zersprang mir fast.

»Sie mißverstehen meine Worte ganz und gar,« sagte ich, indem ich plötzlich seine Hand erfaßte: »Ich hatte nicht die Absicht, Sie zu verletzen oder zu reizen – in der That, das hatte ich nicht.«

Er lächelte unendlich bitter – mit großer Entschiedenheit entzog er seine Hand der meinen.

»Und jetzt nimmst du dein Versprechen zurück, vermute ich, und gehst überhaupt nicht nach Indien?« sagte er nach langem Schweigen.

»Nein, ich gehe, als Ihre Mitarbeiterin.«

Jetzt folgte eine lange Pause. Ich kann nicht sagen, wie hart der Kampf war, den in der Zwischenzeit Natur und Barmherzigkeit in ihm auskämpften. Aber in seinen Augen funkelten seltsame Strahlen und fremde Schatten flogen über sein Gesicht. Endlich sprach er wieder.

»Ich habe dir schon einmal die Absurdität des Vorschlags bewiesen, daß ein Mädchen deines Alters einen unverheirateten Mann in meinen Jahren begleiten könne. Ich bewies sie dir in solchen Ausdrücken, von denen ich vermuten durfte, daß sie dich verhindern würden, jemals wieder auf den Plan zurückzukommen. Daß du es dennoch gethan, bedaure ich – deinetwegen.«

Ich unterbrach ihn. Irgend etwas, das einem faßbaren Vorwurf ähnlich war, gab mir sofort wieder Mut.

»Bleiben Sie doch bei der gesunden Vernunft, St. John, jetzt streifen Sie wirklich an Unsinn, Sie behaupten entsetzt zu sein über das, was ich gesagt. Sie sind nicht in Wahrheit empört darüber, denn mit Ihrem außergewöhnlichen Verstande können Sie weder so abgeschmackt noch so eingebildet sein, meine Meinung mißzuverstehen. Noch einmal wiederhole ich es, ich will Ihre Mitarbeiterin sein, aber niemals Ihre Gattin.«

Wiederum ward er leichenfahl. Aber wie zuvor beherrschte er seine Leidenschaft vollständig. Er antwortete nachdenklich aber ruhig:

»Eine weibliche Mitarbeiterin, die nicht meine Gattin ist, würde mir niemals genügen. Es scheint also, daß du mit mir nicht gehen kannst; wenn du es mit deinem Anerbieten aber ehrlich meinst, so will ich während meines Aufenthalts in der Stadt mit einem Missionär sprechen, dessen Frau eine Mitarbeiterin braucht. Dein eigenes Vermögen wird dich unabhängig von der Hilfe der Missionsgesellschaft machen; auf diese Weise wird dir die Schande erspart, dein Versprechen zu brechen und der Verbindung untreu zu werden, welcher anzugehören du gelobt hast.«

Wie nun mein Leser weiß, hatte ich niemals irgend ein förmliches Versprechen gegeben oder war eine Verpflichtung eingegangen; und seine Worte waren viel zu hart und viel zu despotisch für diesen Fall.

Daher entgegnete ich: »Da giebt es keine Schande, kein gebrochenes Versprechen, kein Untreuwerden in diesem Falle. Ich habe nicht die geringste Verpflichtung nach Indien zu gehen, besonders nicht mit Fremden. Mit Ihnen zusammen würde ich viel gewagt haben, weil ich Sie bewundere, Ihnen vertraue und Sie liebe wie eine Schwester. Aber ich bin auch zugleich fest überzeugt, daß, wann und mit wem ich auch ginge, ich in jenem Klima nicht lange leben würde.«

»Ah! du fürchtest für deine Person,« sagte er mit spöttisch verzogenen Lippen.

»Das thue ich, Gott hat mir mein Leben nicht gegeben, daß ich es fortwerfe; und jetzt beginne ich zu glauben, daß es einen Selbstmord begehen hieße, wenn ich thäte, was Sie von mir verlangen. Überdies will ich, bevor ich mich entschließe England zu verlassen, gewiß wissen, ob ich nicht von größerem Nutzen sein kann, wenn ich in meinem Vaterlande bliebe, als wenn ich es verlasse.«

»Was soll das heißen?«

»Es würde nutzlos sein, wenn ich versuchen wollte, das zu erklären; aber es giebt einen Punkt, über den ich schon lange in qualvollem Zweifel bin; und ich kann mich nirgend hin begeben, bevor dieser Zweifel nicht gehoben ist.«

»Ich weiß, wohin dein Herz dich zieht, und an wem es hängt. Das Interesse, welches du hegst, ist unheilig und gegen das Gesetz. Schon lange hättest du es ersticken sollen, und jetzt müßtest du erröten, dessen nur zu erwähnen. Du denkst an Mr. Rochester!«

Es war wahr. Durch mein Schweigen bestätigte ich es.

»Willst du Mr. Rochester aufsuchen?«

»Ich muß erfahren, was aus ihm geworden ist.«

»So bleibt mir denn nichts anderes mehr zu thun übrig, als deiner in meinem Gebet zu gedenken,« sagte er, »und Gott von ganzem Herzen zu bitten, daß er dich nicht in der That zu einer Verworfenen werden läßt. Ich habe geglaubt, in dir eine der Auserwählten zu sehen. Aber Gott sieht nicht, wie Menschen sehen: Sein Wille geschehe!«

Er öffnete das Heckenthor, ging hinaus und streifte durch die Wiesen der Schlucht zu. Bald war er meinem traurigen Blick ganz entschwunden. Als ich wieder in das Wohnzimmer trat, fand ich Diana am Fenster stehend; sie schien in trübes Sinnen versunken. Diana war sehr viel größer als ich, sie legte ihre Hand auf meine Schulter und indem sie sich zu mir herabbeugte, sah sie mir prüfend ins Gesicht.

»Jane,« sagte sie, »du bist jetzt stets so blaß und aufgeregt. Ich bin fest überzeugt, daß irgend etwas geschehen ist. Sag mir, was zwischen dir und St. John vorgeht; seit einer halben Stunde habe ich euch hier vom Fenster aus beobachtet. Du mußt verzeihen, daß ich eine solche Spionin bin, aber seit langer Zeit schon habe ich mir allerhand Dinge eingebildet. St. John ist ein so seltsamer, ein ganz eigentümlicher Mensch.«

Sie hielt inne – ich sprach nicht; bald begann sie von neuem: »Ich bin fest überzeugt, daß mein sonderbarer Herr Bruder ganz besondere Ansichten in Bezug auf dich hegt; schon seit langer Zeit hat er dich durch eine Beachtung und ein Interesse ausgezeichnet, das er noch niemals einem anderen Menschen bewiesen – und zu welchem Zweck? Ich wollte, daß er dich liebte, Jane – ist das der Fall, Kind?«

Ich legte ihre kühle Hand auf meine heiße Stirn: »Nein, Diana, nein, nicht im geringsten.«

»Weshalb verfolgt er dich denn so mit den Augen – und macht, daß er so häufig allein mit dir ist und hält dich fortwährend an seiner Seite fest? Mary und ich waren beide zu dem Schlusse gekommen, daß er den Wunsch hege, dich zu heiraten,«

»Das thut er auch – er hat von mir verlangt, daß ich sein Weib werde.«

Diana schlug die Hände vor Freude zusammen.

»Das ist's ja gerade, was wir hofften und dachten! Und du wirst ihn heiraten, Jane, nicht wahr? Dann müßte er ja auch in England bleiben.«

»Weit entfernt davon, Diana; die einzige Absicht, welche er bei seinem Heiratsantrag hegt, ist, sich in mir eine passende Gehilfin für seine indischen Arbeiten und Mühseligkeiten zu sichern.«

»Was? Er verlangt von dir, daß du nach Indien gehst?«

»Ja!«

»Wahnsinn!« rief sie aus, »Ich bin überzeugt, daß du dort kaum drei Monate leben würdest. Du darfst unter keinen Umständen gehen. Du hast nicht eingewilligt, nicht wahr, liebe Jane?«

»Ich habe mich geweigert, ihn zu heiraten.«

»Und folglich hast du ihn tief gekränkt?« vermutete sie dann weiter fragend.

»Tief gekränkt. Er wird mir niemals verzeihen, fürchte ich. Und doch erbot ich mich, ihn als seine Schwester zu begleiten.«

»Es war eine unglaubliche Thorheit, das zu thun, Jane. Denk nur an die Aufgabe, welche du damit unternehmen würdest – es wären endlose Ermüdung und Anstrengung; und Anstrengung und Ermüdung töten in jenen Ländern selbst die Stärksten. Du aber bist zart und schwach. Du kennst St. John und weißt, daß er dich selbst zu Unmöglichkeiten anspornen würde; in seiner Nähe würdest du nicht die Erlaubnis bekommen, während der heißen Stunden zu rasten, und unglücklicherweise zwingst du dich, wie ich bemerkt habe, alles zu vollbringen, was er von dir verlangt. Ich bin nur erstaunt, daß du den Mut gefunden hast, seine Hand zurückzuweisen. Du liebst ihn also auch nicht, Jane?«

»Nicht, wie ich einen Gatten lieben müßte.«

»Und doch ist er ein so schöner Mann.«

»Und ich bin so häßlich, nicht wahr, Dia? Wir würden ja gar nicht zueinander passen.«

»Häßlich? Du? Durchaus nicht! Du bist viel zu hübsch und viel zu jung, um in Calcutta lebendig gebraten zu werden.« Und wiederum beschwor sie mich im Ernst, jeden Gedanken daran aufzugeben, daß ich mit ihrem Bruder nach Indien gehen könne.

»Das muß ich in der That,« sagte ich, »denn als ich ihm jetzt kurz zuvor mein Anerbieten wiederholte, ihm als Mithelferin zur Seite stehen zu wollen, zeigte er sich empört über meinen Mangel an Anstandsgefühl. Er schien der Ansicht zu sein, daß ich eine Unschicklichkeit begangen habe, indem ich ihm anbot, ihn zu begleiten, ohne mit ihm verheiratet zu sein. Als wenn ich nicht von allem Anfang an gehofft hätte, in ihm einen Bruder zu finden, und ihn stets als solchen betrachtet hätte!«

»Wie kannst du aber sagen, daß er dich nicht liebt, Jane?«

»Du solltest ihn nur selbst über den Gegenstand reden hören. Er hat mir wieder und immer wieder erklärt, daß er nicht für sich selbst, sondern für sein Amt eine Gefährtin wünscht. Er sagt mir, daß ich zur Arbeit geboren sei – nicht zur Liebe! Und das ist ohne Zweifel wahr. Aber meiner Meinung nach bin ich auch nicht für die Ehe geboren, wenn ich nicht für die Liebe geschaffen bin. Wäre es denn nicht seltsam, Dia, fürs ganze Leben an einen Menschen gekettet zu sein, der in mir nichts weiter sieht als ein nützliches Werkzeug?«

»Unerträglich – unnatürlich – vollständig unmöglich!«

»Und dann,« fuhr ich fort, »obgleich ich jetzt nur eine schwesterliche Neigung für ihn hege, so kann ich mir doch sehr gut die Möglichkeit vorstellen, daß ich, wenn ich gezwungen würde, seine Gattin zu werden, mit der Zeit eine unvermeidliche, seltsame, qualvolle Art von Liebe für ihn empfinden würde. Denn er ist so hoch begabt, und in seinem Blick, seiner Art, seiner Unterhaltung, seiner Sprechweise liegt oft ein Zug von heldenmütiger Größe. In solchem Falle würde mein Los doch ein unsäglich elendes werden. Er würde nicht wollen, daß ich ihn liebte, und wenn ich ihm das Gefühl zeigte, würde er mir begreiflich machen, daß dies eine Überflüssigkeit sei, welche er nicht verlange, und die mich nur schlecht kleide. Ich weiß, daß er so handeln würde.«

»Und doch ist St. John ein guter Mensch,« sagte Diana.

»Er ist ein guter und ein großer Mann, aber ohne Erbarmen vergißt er die Empfindungen und Ansprüche kleinerer Menschen, indem er seine eigenen großen Pläne verfolgt. Es ist daher für die Unbedeutenden besser, ihm aus dem Wege zu gehen, damit er sie in seinem rastlosen Vorwärtsstreben nicht zu Boden trete. Doch da kommt er. Ich verlasse dich, Diana.«

Und damit eilte ich die Treppe hinauf, als ich ihn in den Garten treten sah.

Beim Abendessen war ich jedoch gezwungen, ihm wieder zu begegnen. Während dieser Mahlzeit schien er gerade so ruhig wie gewöhnlich. Ich hatte geglaubt, daß er kaum mit mir sprechen würde, und ich war fest überzeugt, daß er es aufgegeben, seinen Heiratsplan noch weiter zu verfolgen; aber die Folge sollte mich lehren, daß ich mich in beiden Punkten geirrt hatte. Er sprach zu mir ganz in der gewohnten Weise; oder doch wenigstens so, wie er es in der ganzen letzten Zeit gethan: er war peinlich höflich. Ohne Zweifel hatte er die Hilfe des heiligen Geistes angefleht, um den Ärger zu bekämpfen, den ich in ihm erregt hatte, und jetzt glaubte ich, daß er mir noch einmal vergeben habe.

Zum Lesen vor dem Abendgebet hatte er das einundzwanzigste Kapitel der Offenbarung gewählt. Zu allen Zeiten war es wohlthuend ihm zuzuhören, wenn die Worte der Bibel von seinen Lippen kamen, niemals klang seine Stimme so süß und voll – niemals machte seine Art und Weise in ihrer edlen Einfachheit einen so tiefen Eindruck, als wenn er die Prophezeiungen Gottes verkündete; und heute abend nahm diese Stimme einen noch feierlicheren Ton an – seine Bewegungen und Gebärden nahmen eine tiefere Bedeutung an, als er so inmitten seines Haushaltes dasaß, wahrend der Maimond durch die unverhängten Fenster schien und das Kerzenlicht fast überflüssig machte; als er dasaß über die große alte Bibel gebeugt und aus ihren Blättern die Vision des neuen Himmels und der neuen Erde beschrieb – sagte, wie Gott kommen würde, unter den Menschen zu wohnen, wie er alle Thränen von ihren Augen trocknen würde und versprach, daß der Tod nicht mehr sein würde, noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerzen sein würden, weil alles Frühere vergangen sei.

Die folgenden Worte durchzitterten mich seltsam, als er sie sprach, besonders da ich an der leisen, unbeschreiblichen Veränderung im Ton merkte, daß er sich zu mir gewandt hatte, als er sie aussprach.

»Wer überwindet, der wird es alles ererben, und ich werde sein Gott sein und er mein Sohn. Aber,« las er ganz langsam und deutlich weiter, »den Verzagten und Ungläubigen und Greulichen und Totschlägern und Zauberern und Abgöttischen und allen Lügnern, deren Teil wird sein in dem Pfuhl, der mit Feuer und Schwefel brennt, welches ist der andere Tod.«

Von diesem Augenblick an wußte ich, welches Schicksal St. John für mich fürchtete.

Ein stiller, unterdrückter Triumph, vermischt mit einem sehnsüchtigen Ernst bezeichnete seine Erklärung der letzten glorreichen Verse dieses Kapitels. Der Leser war überzeugt, daß sein Name bereits in dem Lebensbuche des Lammes geschrieben stehe, und er sehnte sich nach der Stunde, wo er Einlaß finden würde in die Thore der Stadt, in welche die Könige auf Erden ihre Heiligkeit bringen, die keiner Sonne noch des Mondes bedarf, daß sie in ihr scheinen, denn die Herrlichkeit Gottes erleuchtet sie und ihre Leuchte ist das Lamm.

In dem Gebet, welches dem Kapitel der Bibel folgte, faßte er all seine Energie zusammen – all sein herber, starrer Eifer erwachte; er war in heiligem Ernst, er kämpfte und rang mit Gott und war entschlossen zu siegen. Er flehte um Kraft für die Schwachen, um Führung für die Lämmer, welche von der Herde abirrten, eine Rückkehr, selbst noch in der elften Stunde, für jene, welche durch die Versuchungen der Welt und des Fleisches von dem engen aber rechten Pfade abgelockt würden. Er erbat, er erflehte, er forderte die Gabe eines Feuerbrandes, eines Donnerkeils, um ihn in die Herzen der Hörer zu schleudern. Der Ernst ist stets tief feierlich: als ich im Anfang auf das Gebet lauschte, erfüllte mich der seine mit Verwunderung; dann, als er fortfuhr und sich steigerte, rührte er mich, und zuletzt erfüllte er mich mit Furcht. Er empfand die Größe und den Wert seines Vorhabens so aufrichtig; jeder, der sein Flehen mit anhörte, konnte nicht umhin, mit ihm zu fühlen.

Als das Gebet zu Ende war, nahmen wir Abschied von ihm, er beabsichtigte sehr früh am nächsten Morgen abzureisen. Nachdem Diana und Mary ihn geküßt hatten, verließen sie das Zimmer; damit befolgten sie, wie ich glaube, einen Wink, welchen er ihnen im Flüsterton gegeben hatte. Dann reichte auch ich ihm die Hand und wünschte ihm glückliche Reise.

»Ich danke dir, Jane, wie ich schon sagte, werde ich in vierzehn Tagen von Cambridge zurückkehren; dieser Zeitraum ist dir also noch zur Überlegung gegönnt. Wenn ich dem gewöhnlichen, menschlichen Stolz Gehör schenkte, so würde ich dir nicht mehr von einer Verbindung mit mir reden; aber ich gehorche meiner Pflicht und behalte mein erstes, mein vornehmstes Ziel unentwegt im Auge: alle Dinge zur Ehre Gottes zu thun. Mein Herr hat lange und schwer gelitten; das werde auch ich thun. Ich kann dich nicht im Zorn der ewigen Verdammnis überlassen. Bereue – entschließe dich, so lange noch Zeit ist. Vergiß nicht – wir sollen arbeiten solange es Tag ist – Wir wissen, daß die Nacht kommen wird, in welcher kein Mensch arbeiten soll. Denk an das Schicksal des reichen Mannes im Evangelium, welcher die Güter dieses Lebens besaß, Gott gebe dir Kraft, jenes bessere Teil zu erwählen, das dir nicht geraubt werden kann!«

Als er diese letzten Worte sprach, legte er die Hand auf meinen Kopf. Er hatte ernst und milde gesprochen; sein Blick war in der That nicht der eines Liebenden, der seine Geliebte anblickt; aber es war der eines Hirten, der seine zerstreute Herde zusammenruft, oder besser der eines Schutzengels, welcher über der Seele wacht, für welche er verantwortlich ist. Alle Männer von Begabung, ob sie Gefühlsmenschen sind oder nicht, ob sie Zeloten oder Streber oder Despoten sind – vorausgesetzt, daß sie es ehrlich meinen – haben ihre erhabenen Augenblicke: wenn sie besiegen und herrschen. Ich fühlte Verehrung für St. John – eine Verehrung, die so stark war, daß ihre Triebkraft mich plötzlich auf jenen Punkt brachte, den ich solange geflohen hatte. Die Versuchung überkam mich, den Kampf mit ihm aufzugeben – auf dem Strom seines Willens dahinzutreiben hinein in den Golf seines Daseins und dort mein eigenes aufzugeben. Ich war jetzt von ihm fast ebensosehr in die Enge getrieben, wie einst von einem anderen. In beiden Fällen war ich eine Thörin. Wenn ich damals nachgegeben hätte, so wäre es ein Vergehen gegen die Moral gewesen; wenn ich jetzt nachgeben würde, so wäre es ein Vergehen gegen die gesunde Vernunft. So denke ich noch in dieser Stunde, selbst wenn ich durch das Medium der Zeit auf jene Krisis zurückblicke. In jenem Augenblicke war ich mir meiner Thorheit nicht bewußt.

Bewegungslos stand ich da unter der Berührung meines Hierophanten. All meine Weigerungen waren vergessen – meine Furcht besiegt – mein Ringen gelähmt. Das Unmögliche – meine Verbindung mit St. John – ward schnell zur Möglichkeit. Mit einem Schlage veränderte sich alles. Die Religion rief – Engel winkten – Gott befahl – das Leben schrumpfte zusammen wie eine Schnecke – die Thore des Todes öffneten sich und zeigten mir die Ewigkeit, welche jenseits lag; mir war, als könne ich für die Sicherheit und Glückseligkeit im Jenseits in einer Sekunde alles opfern, was hienieden lag. Das dunkle Zimmer war voll Visionen.

»Könntest du dich jetzt entschließen?« fragte der Missionär, Er stellte die Frage in sanftem Ton, und ebenso sanft zog er mich an sich. O, jene Milde! Wieviel mächtiger ist sie doch als Gewalt! St. Johns Zorn vermochte ich zu widerstehen; seiner Güte gegenüber wurde ich schwach wie ein Rohr. Und doch wußte ich bestimmt, daß er mich, wenn ich jetzt auch nachgab, eines Tages für meinen früheren Widerstand würde büßen lassen. Durch eine Stunde des inbrünstigen, heiligen Gebets war seine ganze Natur noch nicht verändert; sie war nur erhabener geworden.

»Ich könnte mich entschließen,« antwortete ich, »wenn ich nur gewiß wäre, wenn ich nur die feste Überzeugung hätte, es sei Gottes Wille, daß ich Sie heiraten soll! Dann würde ich hier und jetzt schwören – möge später kommen was da wolle!«

»Mein Gebet ist erhört!« rief St. John aus. Er preßte seine Hand fester auf meinen Kopf, als nähme er Besitz von mir. Er legte seinen Arm um mich, beinahe als wenn er mich liebte (ich sage beinahe, – ich kannte den Unterschied ja – denn ich hatte empfunden, was es heißt, geliebt zu sein; aber gleich ihm hatte ich die Liebe jetzt beiseite gelassen und nur an die Pflicht gedacht); ich kämpfte noch mit meiner unklaren inneren Sehkraft, welche durch Nebel und Wolken getrübt war. Heiß und innig und tief sehnte ich mich danach, das zu thun, was recht war – und sonst nichts.

»Zeige mir, o, zeige mir den rechten Pfad, gütiger Himmel!« flehte ich. Ich war erregt, wie ich es noch niemals gewesen. Und ob das, was folgte, die Wirkung meiner Aufregung war, mag der Himmel selbst beurteilen.

Das ganze Haus lag in tiefer Ruhe; denn ich glaube, daß außer St. John und mir alle sich bereits zur Ruhe begeben hatten. Die einzige Kerze war dem Verlöschen nahe. Das Mondlicht fiel hell ins Zimmer, Mein Herz schlug laut und heftig, ich hörte jeden Pulsschlag. Plötzlich stand es still unter einer unbeschreiblichen Empfindung, die es durchzitterte und mich an Kopf und Händen und Füßen lähmte. Die Empfindung war nicht wie ein elektrischer Schlag, aber ebenso scharf und seltsam und beängstigend; sie wirkte auf meine Sinne, als sei ihre äußerste Thätigleit und Rastlosigkeit bis jetzt nur eine Art Erstarrung gewesen, aus welcher sie nun aufgerüttelt und geweckt wurden. Sie harrten voll Erwartung, Auge und Ohr waren gespannt, wahrend jeder Nerv in mir erzitterte.

»Was hast du gehört? Was siehst du?« fragte St. John. Ich sah nichts. Aber ich hörte irgendwo eine Stimme, die rief:

»Jane! Jane! Jane!«

Sonst nichts.

»O Gott, was ist das?« stieß ich hervor.

Ich könnte ebensogut ausgerufen haben: »Wo ist es?« denn es schien nicht im Zimmer zu sein – nicht im Hause – nicht im Garten. Es kam nicht aus der Luft – nicht aus dem Erdboden – nicht von oben. Ich hatte es nur vernommen – wie oder wo, wäre unmöglich zu sagen! Und es war die Stimme eines menschlichen Wesens – eine bekannte, geliebte, nie vergessene Stimme – die Stimme Edward Fairfax Rochesters; und sie schrie stehend und jammernd, in wildem Schmerz.

»Ich komme!« rief ich. »Warte auf mich! O! ich will kommen!« Ich flog an die Thür und sah in den Korridor hinaus, er war dunkel. Ich lief in den Galten; er war leer.

»Wo bist du?« rief ich aus.

Die Hügel hinter der Schlucht sandten die Antwort gedämpft zurück: »Wo bist du?« Ich lauschte. Der Wind seufzte leise in den Föhren, Nichts als einsames, ödes Moorland und mitternächtliche Stille.

»Fort mit dir, Aberglaube!« befahl ich, als sich dies düstere Gespenst unheimlich neben dem schwarzen Eibenbaum an der Pforte erhob, »Dies ist nicht dein Trug, nicht deine Zauberei – dies ist das Werk der Natur. Sie war geweckt und that – kein Wunder – wohl aber ihr äußerstes.«

Ich riß mich los von St. John, der mir gefolgt war und mich zurückhalten wollte. Jetzt war meine Zeit gekommen, Gewalt zu üben. Jetzt mußte ich meine Macht zeigen. Ich sagte ihm, er solle weder Fragen stellen noch Bemerkungen machen; ich bat ihn, mich zu verlassen; ich mußte und wollte allein sein. Er gehorchte sofort. Wo genug Energie vorhanden ist um zu befehlen, bleibt der Gehorsam niemals aus. Dann ging ich in mein Zimmer, schloß mich ein, fiel auf die Kniee und betete auf meine Weise – anders als auf St. Johns Weise, aber wirkungsvoll nach ihrer Art. Mir war, als dränge ich hinauf zu dem Geist der Allmacht, und meine Seele ergoß sich in Dankbarkeit zu seinen Füßen. Ich erhob mich vom Gebet – faßte einen Entschluß – und legte mich dann zur Ruhe, ohne Furcht, voll Hoffnung – mit Sehnsucht den Anbruch des Tages erwartend.


 << zurück weiter >>