Charlotte Brontë
Jane Eyre, die Waise von Lowood.
Charlotte Brontë

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweites Kapitel.

Mr. Rochester hatte mir nur eine Woche Urlaub gegeben, aber trotzdem verfloß ein ganzer Monat, ehe ich Gateshead verließ. Ich wollte unmittelbar nach dem Begräbnis abreisen, aber Georgina flehte mich an zu bleiben, bis es ihr möglich sein würde, nach London abzureisen, wohin ihr Onkel, Mr. Gibson, sie nun endlich, endlich eingeladen hatte. Dieser war hinaus gekommen, um alle Anstalten für das Begräbnis seiner Schwester zu treffen und die Geldangelegenheiten der Familie zu ordnen. Georgina sagte, sie fürchte sich mit Eliza allein zu bleiben; von ihr hatte sie weder Sympathie in ihrer Traurigkeit, noch Hilfe in ihrer Bedrängnis und Unterstützung bei ihren Reisevorbereitungen zu erhoffen. Daher ertrug ich denn ihr kleinmütiges Jammern und ihre selbstsüchtigen Klagen so gut ich konnte und that mein Bestes, indem ich für sie nähte und arbeitete und Wäsche und Kleider für sie einpackte. Es ist wahr, daß sie müßig umherging, während ich arbeitete, und gar oft dachte ich in meinem Sinne: »Nun Cousine, wenn wir beiden verurteilt wären miteinander zu leben, so würden wir die Sache bald anders anfassen. Ich würde mich nicht gutwillig darein finden, der arbeitende Teil zu sein; ich würde auch dir deinen Teil der Arbeit zukommen lassen und dich zwingen ihn zu thun, wenn er nicht ungethan bleiben sollte. Und ich würde auch darauf bestehen, daß du einige dieser nur halb aufrichtig empfundenen, schleppenden Klagelieder in deine eigene Brust verschlössest. Nur, weil unser Verkehr zufällig ein sehr vorübergehender ist und in eine sehr traurige Zeit fällt, finde ich mich darein, so geduldig und gutwillig dir gegenüber zu sein.«

Endlich kam der Augenblick für Georginas Abreise, aber jetzt war die Reihe an Eliza, mich zu bitten, daß ich noch eine Woche dableibe. Wie sie sagte, nahmen ihre Pläne all ihre Zeit und Aufmerksamkeit in Anspruch. Sie war im Begriff, in irgend ein unbekanntes Land abzureisen und während des ganzen Tages hielt sie sich in ihrem Zimmer auf. Die Thür war von innen verschlossen, und sie beschäftigte sich damit Koffer zu packen, Schiebladen zu leeren, Papiere zu verbrennen, ohne daß jemand sie bei dieser Arbeit hätte stören dürfen. Von mir wünschte sie, daß ich mich um den Haushalt kümmere, Besucher empfing und Kondolenzschreiben beantworte.

Eines Morgens sagte sie mir, daß sie meiner jetzt nicht weiter bedürfe, »Und,« fügte sie hinzu, »ich bin Ihnen außerordentlich verbunden für Ihre außerordentlichen Dienste und Ihr diskretes Verhalten. Es ist freilich ein großer Unterschied, ob man mit Ihnen lebt oder mit Georgina. Sie tragen Ihre eigene Last im Leben und quälen und belästigen niemand. Morgen,« fuhr sie fort, »begebe ich mich nach dem Kontinent. Ich werde meinen Aufenthalt in einem frommen Hause bei Lisle nehmen – ein Nonnenkloster, wie man es zu nennen pflegt. Dort werde ich ruhig und ungestört leben. Ich werde mich für einige Zeit der Prüfung des römisch-katholischen Dogmas widmen und sorgfältig die Werke über das System dieser Lehre prüfen. Wenn ich finde – wie ich es halb und halb erwarte – daß es dasjenige ist, welches darauf berechnet ist, alle Dinge des Lebens in guter Ordnung und ruhig ausführen zu können, so werde ich mich zu den Lehren bekennen, welche von Rom ausgegangen sind, und wahrscheinlich den Schleier nehmen,«

Ich drückte durchaus kein Erstaunen über diesen Entschluß aus und versuchte ebensowenig, sie von demselben abzubringen. »Dieser Beruf wird aufs Haar für dich passen,« dachte ich, »mag dir die Sache gut bekommen!«

Als wir uns trennten, sagte sie: »Leben Sie wohl, Cousine Jane Eyre; möge es Ihnen gut gehen, Sie besitzen ziemlich viel Einsicht und Verstand.«

Und ich entgegnete: »Auch Sie sind nicht ohne Einsicht und Verstand, Cousine Eliza; aber was Sie davon besitzen wird wahrscheinlich binnen Jahresfrist in einem französischen Kloster eingemauert sein. Indessen geht das mich nicht an, und wenn Sie sich wohl dabei fühlen, ist es mir gleichgiltig.«

»Sie haben recht,« entgegnete sie. Und mit diesen Worten trennten wir uns und gingen jede unseres Weges.

Da ich nicht Gelegenheit haben werde, wieder auf sie oder ihre Schwester zurückzukommen, kann ich hier ebensogut noch erwähnen, daß Georgina eine vorteilhafte Heirat mit einem sehr reichen aber verlebten Manne von Welt schloß, und daß Eliza in der That den Schleier nahm und heute Oberin des Klosters ist, in welchem sie die Zeit ihres Noviziats zubrachte. Ihr Vermögen hat sie demselben ebenfalls vermacht.

Wie es Leuten ums Herz sein muß, die nach einer längeren oder kürzeren Abwesenheit wieder in ihr Heim zurückkehren – das wußte ich nicht. Ich hatte diese Erfahrung ja niemals machen können. Wohl wußte ich, was es für mich als Kind bedeutete, wenn ich in Gateshead nach einem langen Spaziergang heimkehrte –: ich wurde gescholten, weil ich traurig und verfroren aussah; und später hatte ich erfahren, was es in Lowood hieß, nach langem Marsche aus der Kirche nach Hause zu kommen –: ich sehnte mich nach einer guten, reichlichen Mahlzeit und einem warmen Kaminfeuer und bekam keins von beiden. Keins von diesen beiden »Nachhausekommen« war sehr angenehm oder wünschenswert; kein Magnet zog mich zu einem gewissen Punkt und vermehrte und verstärkte die Kraft und Attraktion je näher ich kam. Was die Heimkehr nach Thornfield für mich bedeutete, mußte ich noch erst erfahren.

Meine Reise war langweilig – sehr langweilig. Fünfzig Meilen am ersten Tage, Nachtruhe in einem Landwirtshause, fünfzig Meilen am zweiten Tage. Wahrend der ersten zwölf Stunden dachte ich an Mrs. Reed und ihre letzten Stunden; ich sah ihr fahles, entstelltes Antlitz und hörte die seltsam veränderte Stimme. Ich dachte über den Begräbnistag nach, über den Sarg, den Leichenwagen, den langen, schwarzen Zug von Pächtern und Dienern – der Verwandten waren nur wenige gewesen – das gähnende Gruftgewölbe, die stille Kirche, den feierlichen Gottesdienst. Dann fielen mir Eliza und Georgina ein. Ich sah die eine als den Anziehungspunkt eines Ballsaales, die andere als die Bewohnerin einer Klosterzelle, und ich verweilte dabei, ihre verschiedenen Eigentümlichkeiten des Charakters und der Person zu analysieren.

Die späte Ankunft in dem Landstädtchen X... verjagte diese Gedanken; die Nacht leitete sie in eine andere Bahn. Als ich mein Lager aufgesucht hatte verließ mich das Erinnern und ich gab mich der Erwartung hin.

Ich sollte also nach Thornfield zurückkehren; wie lange würde dort aber meines Bleibens sein? Nicht lange; dessen war ich gewiß. Während der Zeit meiner Abwesenheit hatte ich von Mrs. Fairfax gehört: die lustige, vornehme Gesellschaft, welche bei meiner Abreise noch im Herrenhause versammelt gewesen, hatte sich nach allen Seiten zerstreut. Mr. Rochester war vor drei Wochen nach London gereist, wurde aber während der nächsten vierzehn Tage von dort zurückerwartet. Mrs. Fairfax sprach die Vermutung aus, daß er hingereist sei, um Vorbereitungen für seine Hochzeit zu treffen, da er davon gesprochen habe, einen neuen Wagen kaufen zu wollen. Sie sagte, der Gedanke, daß er Miß Ingram heiraten wolle, erscheine ihr noch immer so seltsam; aber nach allem, was »alle Welt« sagte und nach dem, was sie mit eigenen Augen gesehen, könne wohl kein Zweifel mehr daran sein, daß die Sache nahebevorstehend sei.

»Du wärst aber auch ungewöhnlich ungläubig, wenn du daran zweifeltest,« sagte ich im Geiste zu mir selbst, »ich meinesteils zweifle nicht einen Augenblick daran.«

Und nun folgte die Frage: »Wohin sollte ich dann gehen?« Während der ganzen Nacht träumte mir von Miß Ingram; ein lebhafter Morgentraum zeigte sie mir, wie sie alle Thore von Thornfield vor mir schloß und mich auf einem anderen Wege hinauswies; Mr. Rochester stand ruhig mit verschränkten Armen daneben und ließ sie gewähren; wie es schien, lächelte er sarkastisch sowohl über sie wie über mich.

Ich hatte Mrs. Fairfax den bestimmten Tag meiner Ankunft nicht bekannt gegeben, denn ich wünschte nicht, daß man mir irgend ein Fuhrwerk nach Millcote entgegenschickte. Ich hatte mir vorgenommen, die Strecke Weges ruhig allein zu gehen; und nachdem ich meinen Koffer dem Hausknechte anvertraut hatte, machte ich mich unbemerkt aus dem »Hotel zum heiligen Georg« davon und schlug an einem schönen Juniabende gegen sechs Uhr die alte Straße nach Thornfield ein – ein Weg, der hauptsächlich durch Felder führte und wenig benutzt wurde.

Es war ein warmer, linder, aber kein strahlender, heißer Sommerabend; die Wiesenarbeiter waren am ganzen Wege entlang beschäftigt; der Himmel, wenn auch nicht wolkenlos, versprach gutes Wetter für die kommenden Tage; seine Bläue – wo sie überhaupt sichtbar – war milde, und die Wolken zogen hoch und durchsichtig dahin. Auch der Westen war warm; keine wässerigen Strahlen störten das Bild, es war, als sei ein Feuer angezündet, als brenne ein Altar hinter jenem dunstigen Vorhange, und wo dieser hie und da zerrissen war, schien eine goldige Röte hervor. Fröhlichkeit kam über mich, als ich den vor mir liegenden Weg immer kürzer werden sah; ich wurde so froh, daß ich einmal im Gehen innehielt, um mich erstaunt zu fragen, was jene Empfindung des Glücks bedeute, und meine Vernunft daran zu erinnern, daß ich nicht in mein eigenes Heim oder an einen dauernden Ruheplatz, oder an einen Ort zurückkehre, wo treue, zärtliche Freunde meiner harrten und meine Ankunft herbeisehnten.

»Aber Mrs. Fairfax wird ein freundliches Lächeln des Willkommens für dich haben,« sagte ich mir, »und die kleine Adele wird in die Hände klatschen und vor Freude springen, wenn sie dich sieht, – aber du weißt sehr wohl, daß sie es nicht sind, an die du denkst – und daß dieser Eine nicht an dich denkt.«

Aber was ist so eigensinnig wie die Jugend? Was so blind wie Unerfahrenheit? Diese behaupteten, daß es schon Glück genug sei, Mr. Rochester nur anzublicken, ob er mich ansähe oder nicht, und sie fügten hinzu: »Eile, eile! Bleib bei ihm so lange du darfst; nur noch wenige Tage oder höchstens Wochen, und du bist für immer von ihm getrennt!«

Und dann erstickte mich eine neue Seelenqual – ein entsetzliches, ungeheuerliches Etwas, das ich nicht anerkennen, nicht Macht über mich gewinnen lassen durfte – und ich lief weiter.

Auch auf den Wiesen von Thornfield waren die Leute mit dem Heuen beschäftigt, oder eigentlich waren die Mäher gerade mit ihrem Tagewerk zu Ende und gingen mit den Sensen und Rechen und Heugabeln über die Schulter gehängt ihren Häusern und Hütten zu. Dies war die Stunde meiner Ankunft. Ich habe nur noch über zwei Felder zu gehen und dann die Landstraße zu kreuzen – und ich bin am Thor. Wie üppig die Rosen an den Hecken blühen! Aber ich habe keine Zeit, sie zu pflücken; ich will nur nach Hause! Ich kam an einem hohen Dornenstrauch vorüber, dessen dicht belaubte, blühende Zweige über den Weg wucherten. Ich sehe die enge Stiege mit den steinernen Stufen, und ich erblicke – Mr. Rochester, welcher dort sitzt; in der Hand hält er ein Buch und einen Bleistift. Er schreibt.

Nun, er ist kein Geist; und doch bebt jede meiner Nerven; für einen Augenblick habe ich alle Herrschaft über mich selbst verloren. Was bedeutet dies? Ich hatte nicht geahnt, daß ich bei seinem Anblick so zittern würde – oder meine Stimme oder alle Bewegungskraft in seiner Gegenwart verlieren. Sobald ich mich rühren kann, werde ich umkehren; ich brauche doch nicht zur absoluten Närrin zu werden. Es giebt ja noch einen anderen Weg nach dem Herrenhause. Aber es ist gleichgiltig, wenn ich auch zwanzig Wege kenne; denn er hat mich bereits gesehen.

»Hallo!« ruft er und hält Buch und Stift in die Höhe. »Da sind Sie also! Nur näher kommen, wenn's gefällig ist!«

Vermutlich gehe ich weiter, obgleich ich nicht weiß, wie dies geschieht, da ich kein Bewußtsein habe von dem, was ich thue und nur das Bestreben empfinde, ruhig zu erscheinen; und vor allen Dingen die erregten Muskeln meines Gesichts zu beherrschen, die energisch gegen meinen Willen rebellieren und gern das zum Ausdruck bringen möchten, was ich selbst mit Aufwand all meiner Kräfte verbergen möchte. Aber ich habe ja einen Schleier – nun ist er herabgezogen. Vielleicht gelingt es mir doch noch mit anständiger Fassung zu erscheinen.

»Und dies ist Jane Eyre? Kommen Sie von Millcote, und zu Fuß? Ja – wieder einer Ihrer Streiche! Nicht um den Wagen zu ersuchen und über Stock und Stein dahergeklettert zu kommen, wie eine gewöhnliche Sterbliche! Sich in der Dämmerstunde in die Nähe Ihres Hauses zu schleichen, gerade als ob Sie ein Traumgebilde oder ein Schatten wären! Was zum Teufel haben Sie während des letzten Monats mit sich gemacht?«

»Ich war bei meiner Tante, Sir, die gestorben ist.«

»Das ist wieder eine Antwort à la Jane Eyre! Alle guten Geister mögen mich schützen! Sie kommt aus dem Jenseits – aus der Wohnung der Leute, die gestorben sind! Und das erzählt sie mir noch, wenn sie mich hier allein in der Dunkelheit trifft! Wenn ich den Mut hätte, würde ich Sie anrühren, um zu sehen, ob Sie Schatten oder Wirklichkeit sind – Sie Elfe! – aber gerade so gut könnte es mir einfallen, ein blaues ignis fatuus auf dem Moor greifen zu wollen. Tagediebin! Tagediebin!« fügte er hinzu und schwieg dann einen Augenblick. »Einen ganzen Monat fern von mir gewesen! Und ich möchte schwören, daß sie mich ganz vergessen hat!«

Ich wußte, daß es eine Freude für mich sein würde, meinen Herrn wieder zu finden, wenn sie auch durch die Furcht getrübt wurde, daß er bald aufhören würde, mein Herr zu sein, und das Bewußtsein, daß ich selbst ihm nichts sei. Aber Mr. Rochester besaß in so reichem Maße die Macht, glücklich zu machen – so glaubte ich wenigstens – daß es schon ein köstliches Mahl war, von den Brosamen zu kosten, welche er armen, fremden, verirrten Vögeln wie mir hinwarf. Seine letzten Worte waren Balsam: sie schienen anzudeuten, daß es ihm nicht gleichgiltig war, ob ich ihn vergaß oder nicht. Und er hatte von Thornfield wie von meinem Heim gesprochen – ach! wenn es doch mein Heim wäre!

Er verließ die Stiege nicht, und ich hatte nicht den Mut, ihn zu bitten, daß er mich vorüber lasse. Ich fragte dann, ob er nicht in London gewesen sei.

»Ja, vermutlich hat Ihr »zweites Gesicht« Ihnen das gesagt.«

»Mrs. Fairfax teilte es mir in einem Briefe mit,«

»Und hat sie Sie auch von dem Zweck meiner Reise gründlich unterrichtet?«

»O ja, Sir! Jedermann kannte diesen Zweck.«

»Sie müssen den Wagen ansehen, Jane, und mir sagen, ob Sie nicht der Ansicht sind, daß er Mrs. Rochester durchaus gefallen wird, und ob sie nicht aussehen wird wie eine Königin, wenn sie sich in die dunkelroten Polster zurücklehnt. Ich wollte nur, Jane, daß ich äußerlich ein wenig passender für sie wäre. Sagen Sie mir nun, da Sie doch eine Fee sind, können Sie mir nicht ein Zaubermittel oder einen Trunk oder irgend etwas Ähnliches geben, das einen schönen Mann aus mir machte?«

»Dazu reicht keine Zauberkraft aus, Sir;« und innerlich setzte ich hinzu: »Ein liebendes Auge ist aller Zauber, dessen es hier bedarf; einem solchen wären Sie schön genug; vielmehr hat Ihr ernster Blick eine Macht, die größer ist als alle Macht der Schönheit.« Mr. Rochester hatte meine unausgesprochenen Gedanken oft mit einer Scharfsinnigleit gelesen, die mir völlig unbegreiflich war; in diesem Falle indessen nahm er von meiner so schnell gesprochenen Entgegnung keine Notiz; aber er lächelte mich mit jenem seltsamen Lächeln an, das nur ihm allein eigen war und das er nur bei den seltensten Gelegenheiten anwandte. Für gewöhnliche Gelegenheiten schien er es für zu gut zu halten; es war ein förmlicher Sonnenschein des Gefühls – jetzt ließ er ihn über mich ausstrahlen.

»Gehen Sie, Jane,« sagte er, indem er mir Platz machte, um über den Zauntritt steigen zu können, »gehen Sie nach Hause und lassen Sie Ihren kleinen, müden, wandernden Fuß auf der Schwelle eines Freundes ruhen.«

Jetzt blieb mir nichts übrig, als ihm schweigend zu gehorchen; es war keine Veranlassung zu weiterem Zwiegespräch. Ohne ein Wort zu reden, stieg ich über den Zauntritt und gedachte, ihn dort ruhig zu verlassen. Ein Impuls hielt mich zurück – eine unsichtbare Macht hieß mich umwenden. Ich sagte – oder irgend etwas in mir sagte ohne mein Wollen:

»Ich danke Ihnen für Ihre große Güte, Mr. Rochester. Es macht mich so seltsam froh, wieder hier und bei Ihnen zu sein; und wo Sie sind, ist mein Heim – mein einziges Heim.«

Und dann ging ich so schnell weiter, daß er, selbst wenn er gewollt hätte, nicht imstande gewesen wäre, mich einzuholen. Die kleine Adele war halb närrisch vor Wonne, als sie meiner ansichtig wurde. Mrs. Fairfax empfing mich mit ihrer gewöhnlichen einfachen Herzlichkeit. Leah lächelte, und sogar Sophie sagte mir freundlich »bon soir«. Dies alles war so angenehm. Es giebt kein größeres Glück als das, von seinen Nebenmenschen geliebt zu werden und zu fühlen, daß deine Nähe ihre Freude und ihr Wohlbehagen nur erhöht.

An diesem Abend war ich entschlossen, meine Augen vor der Zukunft zu schließen. Ich wollte nicht auf die mahnende Stimme hören, die mich vor der nahenden Trennung und künftigem Kummer warnte.

Als die Theestunde vorüber, und Mrs. Fairfax ihr Strickzeug genommen, ich mich auf einen niedrigen Sessel ihr zur Seite gesetzt hatte, und Adele, welche auf dem Teppich kniete, sich dicht an mich schmiegte, schien ein Bewußtsein gegenseitiger Liebe uns wie mit einem goldenen Ringe zu umschließen, und ich sandte ein stilles Gebet zum Himmel, daß unsere Trennung nicht zu nahe bevorstehend sein möge. Als wir noch so saßen, trat Mr. Rochester unangemeldet ein. Er blickte uns an und schien Freude an dieser glücklichen Gruppe zu finden. Dann sagte er, die alte Dame fühle sich jetzt, wo sie ihre Adoptivtochter wieder habe, hoffentlich ganz glücklich und fügte hinzu, daß er sähe wie Adele »prête à croquer sa petite maman anglaise« sei (bereit sei ihre kleine, englische Mama aufzuessen). – Da bemächtigte sich meiner der Wunsch, daß er uns auch noch nach seiner Heirat irgendwo unter seinem Schutze möchte beisammen sein lassen und uns nicht ganz aus dem Sonnenschein seiner Gegenwart verbannen.

Vierzehn Tage zweifelhafter Ruhe verflossen nach meiner Rückkehr von Gateshead. Von der Heirat unseres Herrn wurde nicht gesprochen und ich gewahrte auch keine Vorbereitungen, die auf ein so nahe bevorstehendes Ereignis hätten schließen lassen können. Fast täglich fragte ich Mrs. Fairfax, ob sie irgend etwas Bestimmtes gehört habe, und immer lautete ihre Antwort verneinend. Einmal sagte sie, daß sie Mr. Rochester geradezu gefragt habe, wann er seine junge Frau nach Hause zu bringen gedenke; er hatte ihr aber nur mit einem Schlagworte und einem seiner seltsamen Blicke geantwortet, und jetzt sei sie ebenso klug wie zuvor.

Was mich aber ganz besonders in Erstaunen setzte, war, daß es kein Hin- und Herreisen gab, keine Besuche in Ingram-Park. Allerdings lag diese Besitzung zwanzig Meilen entfernt, auf der Grenze einer andern Grafschaft, aber was bedeutete diese Entfernung für einen begeisterten Liebhaber? Für einen so geübten und unermüdlichen Reiter wie Mr. Rochester, war dieser Weg doch nur ein Morgenritt. Ich begann Hoffnungen zu hegen, zu denen nichts mich berechtigte, ich hoffte, daß die Verbindung abgebrochen, daß das ganze Gerücht ein falsches gewesen, daß einer oder gar beide anderen Sinnes geworden. Ich pflegte das Gesicht meines Herrn zu prüfen, ob es trotzig ober traurig sei; aber ich konnte mich der Zeit nicht entsinnen, wo es so ungetrübt klar und ruhig gewesen wie gerade jetzt. Wenn ich in den Momenten, wo ich und meine Schülerin mit ihm zusammen waren, verstummte und in eine nicht zu bekämpfende Traurigkeit versank, konnte er sogar laut und fröhlich werden. Niemals hatte er so oft und andauernd meine Gesellschaft verlangt: niemals war er gütiger und liebevoller gewesen – ach! und niemals hatte ich ihn inniger geliebt!


 << zurück weiter >>