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Gar fröhlich gingen die Tage in Thornfield-Hall hin, und geschäftige Tage waren es auch. Wie verschieden waren sie von den ersten drei Monaten, die ich dort in Stille und Monotonie und Einsamkeit zugebracht hatte! Alle traurigen Empfindungen schienen aus dem Hause geschwunden, alle traurigen Erinnerungen vergessen; überall war Leben, während des ganzen Tages alles in Bewegung. Durch die einst so stille Galerie, in die Vorderzimmer, die sonst keine Seele bewohnt, konnte niemand gehen, ohne einer zierlichen Kammerjungfer, einem eleganten Kammerdiener zu begegnen.
In der Küche, in der Vorratskammer des Kellermeisters, in der Halle der Dienstboten, in der großen Eintrittshalle, – überall dasselbe Leben; in den Salons war nur Ruhe und Frieden, wenn der blaue Himmel und der halcyonische Sonnenschein des herrlichen Frühlingswetters die Gäste in den Park hinausriefen. Selbst als das schöne Wetter zu Ende war und fortwährender Regen für einige Tage das Regiment hatte, schien das Vergnügen keine Einbuße erlitten zu haben. Die Zerstreuungen im Hause wurden nur noch zahlreicher und lustiger und mannigfaltiger, nachdem den Belustigungen draußen ein Ende gemacht worden war.
Ich hörte mit Erstaunen, wie zum erstenmal eine Abwechselung in den abendlichen Vergnügungen vorgeschlagen wurde; sie sprachen davon »Charaden aufführen« zu wollen, aber in meiner Unwissenheit verstand ich den Ausdruck nicht. Die Diener wurden hereingerufen, die Speisetische beiseite gerollt, die Kerzen und Girandoles anders plaziert, die Stühle dem Thürbogen gegenüber in einem Halbkreise aufgestellt. Während Mr. Rochester und die anderen Herren diese Veränderungen anordneten, liefen die Damen treppauf, treppab, und riefen nach ihren Kammerjungfern, Mrs. Fairfax wurde herbeigerufen, um Auskunft zu geben über die Hilfsquellen, welche das Haus an Shawls, Kleidern und Draperien aller Art zu bieten vermochte; im dritten Stockwerk wurden gewisse Garderoben durchsucht, und die Abigails brachten ganze Arme voll Brokatschleppen, Atlasröcke, seidene Casaques, Spitzenüberwürfe und schwarze Umhüllen herunter; dann wurde eine Auswahl getroffen, und die ausgesuchten Sachen, die dem gewünschten Zweck entsprechen konnten, wurden in das Boudoir hinter den Salon gebracht.
Inzwischen hatte Mr. Rochester die Damen wieder um sich versammelt und suchte eine Anzahl von ihnen heraus, die zu seiner Abteilung gehören sollten. »Miß Ingram ist natürlich die meine,« sagte er; später ernannte er dann noch die beiden Miß Eshton und Mrs. Dent. Dann sah er mich an. Zufällig stand ich in seiner Nähe, da ich gerade damit beschäftigt war, das Schloß von Mrs. Dents Armband, das geöffnet war, wieder zu schließen.
»Wollen Sie mitspielen?« fragte er. Verneinend schüttelte ich den Kopf. Er drang nicht weiter in mich, wie ich gefürchtet hatte, daß er es thun würde, sondern gestattete mir, ruhig auf meinen gewöhnlichen Sitz zurückzukehren.
Nun zogen er und seine Helfershelferinnen sich hinter den Vorhang zurück. Die andere Abteilung, welche von Oberst Dent angeführt wurde, nahm auf den im Halbkreise aufgestellten Stühlen Platz. Als einer der Herren, Mr. Eshton, meiner ansichtig wurde, schien er vorzuschlagen, daß man mich auffordern solle mit von der Partie zu sein; aber Lady Ingram wies diesen Vorschlag sofort zurück.
»Nein,« hörte ich sie sagen, »sie sieht zu dumm aus für irgend ein Spiel dieser Art.«
Es währte nicht lange, so erklang eine Glocke und der Vorhang wurde aufgezogen.
Innerhalb des Thürbogens gewahrte man die große Gestalt Sir George Lynns, welchen Mr. Rochester ebenfalls gewählt hatte, in ein weißes Betttuch gehüllt. Vor ihm auf dem Tische lag ein großes, aufgeschlagenes Buch, und ihm zur Seite stand Amy Eshton, die sich in Mr. Rochesters Rock drapiert hatte und ein Buch in der Hand hielt. Eine unsichtbare Gestalt läutete eine lustig klingende Glocke; dann kam Adele (welche darauf bestanden hatte, zur Gesellschaft ihres Vormundes gezogen zu werden) nach vorn und streute den Inhalt eines Blumenkorbes aus, den sie am Arm getragen hatte. Und jetzt erschien die prächtige Figur Miß Ingrams, ganz in weiß gekleidet; ein langer, weißer Schleier wallte von ihrem Haupte, eine Guirlande von Rosen umkränzte ihre Stirn; ihr zur Seite schritt Mr. Rochester und beide näherten sich dem Tische. Sie knieten nieder, während Louisa Eshton und Mrs. Dent, die ebenfalls in weiß gekleidet waren, hinter ihnen Aufstellung nahmen. Hierauf folgte eine stumme Ceremonie, aus welcher man leicht erriet, daß es die pantomimische Darstellung einer Trauung sei. Gegen den Schluß hin berieten Oberst Dent und seine Gesellschaft während einiger Minuten im Flüsterton; dann rief der Oberst:
»Bride!« (Braut) Mr. Rochester verneigte sich und der Vorhang fiel nieder.
Eine geraume Zeit verfloß, bevor er aufs neue in die Höhe ging. Die Scene, welche sich jetzt dem Auge darbot, war ungleich sorgsamer vorbereitet als die vorhergehende. Wie ich bereits erwähnt habe, schritt man über zwei Stufen von dem Speisesaal in das Gesellschaftszimmer hinauf. Auf der oberen dieser beiden Stufen stand jetzt eine große, prächtige Marmorschale, in welcher ich einen Schmuck des Gewächshauses wieder erkannte. Dort stand sie gewöhnlich von Goldfischen belebt und von seltenen exotischen Pflanzen umgeben. Sie war von enormer Größe und schwerem Gewicht und ihr Transport in die Gesellschaftsräume mußte viel Mühe und Zeit gekostet haben.
Zur Seite dieses Marmorbassins saß auf dem Teppich Mr. Rochester, in Shawls gehüllt, einen Turban auf dem Kopfe. Seine dunklen Augen, die bräunliche Hautfarbe, seine heidnischen Gesichtszüge paßten ausgezeichnet zu diesem Kostüm. Er war das gelungenste Bild eines orientalischen Emirs; der Absender oder das auserkorene Opfer eines Pfeils. Und jetzt erschien auch Miß Ingram auf der Scene. Sie hatte ebenfalls eine orientalische Tracht angelegt; eine purpurrote Schärpe war um die Taille geschlungen; ein reich gesticktes Tuch um den Kopf geknüpft; ihre herrlich geformten Arme waren bloß, der eine stützte einen Krug, den sie mit der vollkommensten Anmut auf dem Haupte trug. Sowohl ihre Gestalt wie ihre Züge, ihre Gesichtsfarbe und ihr ganzes Aussehen weckten den Gedanken an eine israelitische Prinzessin aus den Tagen der Patriarchen. Und eine solche sollte sie zweifelsohne auch darstellen.
Sie näherte sich dem Marmorbassin und beugte sich über dasselbe, wie um ihren Krug zu füllen. Dann hob sie ihn wieder auf das Haupt empor. Die Gestalt am Brunnen schien jetzt zu ihr zu reden, ihr eine Bitte vorzutragen:
Und sie sprach: »Trinke mein Herr;« und eilend ließ sie den Krug hernieder auf ihre Hand, und gab ihm zu trinken.
Dann zog er aus den Falten seines Gewandes ein Juwelenkästchen, öffnete es und ließ kostbare Armspangen und Ringe vor ihren Augen funkeln. Sie spielte Erstaunen und Bewunderung; er kniete nieder und legte ihr die Schätze zu Füßen; ihre Blicke und Geberden drückten Ungläubigkeit, Entzücken und Zögern aus. Der Fremde legte die Spangen um ihre Arme und befestigte die Ringe in ihren Ohren. Es waren Eleazar, der Knecht Abrahams, und Rebekka; nur die Kamele fehlten.
Die ratende Gesellschaft steckte wieder die Köpfe zusammen; augenscheinlich konnten sie sich nicht über das genaue Wort oder die Silbe einigen, welche dieses Bild illustrieren sollte. Oberst Dent, der Sprecher, verlangte »das tableau des Ganzen;« und hierauf fiel der Vorhang wiederum.
Als er zum drittenmal in die Höhe ging, war nur ein Teil des Gesellschaftszimmers sichtbar. Der übrige Raum war durch einen Wandschirm verdeckt, der mit einer groben, düsteren Draperie verhängt war. Das Marmorbassin, welches im letzten Bilde den Brunnen vorgestellt hatte, war entfernt worden, an seiner Stelle stand ein roh gezimmerter Holztisch und ein Küchenstuhl. Diese Dinge erblickte man bei dem Lichte, welches eine alte Stalllaterne gab; sämtliche Wachskerzen waren ausgelöscht.
Inmitten dieser elenden Umgebung saß ein Mann, seine geballten Fäuste ruhten auf den Knieen; seine Blicke waren auf den Boden geheftet. Ich erkannte Mr. Rochester trotz seines besudelten Gesichts, seiner unordentlichen Kleidung (der Rock hing lose vom Rücken herab, gleichsam als wäre er ihm in einer Rauferei beinahe vom Leibe gerissen), ich erkannte ihn trotz des verzweifelten, düsteren Gesichtsausdrucks, des wild und verworren um die Stirn hängenden Haars. Als er sich bewegte, klirrte eine Kette; auch an den Händen trug er Fesseln.
»Bridewell!«Bridewell, ein Gefängnis in London. Die Charade war aus den Worten: bride – Braut und well – Brunnen zusammengesetzt. rief Oberst Dent aus, und die Charade war gelöst.
Eine geraume Zeit verstrich, während welcher die Darsteller des lebenden Bildes ihre Gesellschaftskleider wieder anlegten. Endlich traten sie wieder in den Speisesaal. Mr. Rochester führte Miß Ingram am Arm; sie machte ihm große Komplimente über seine Darstellungskunst.
»Wissen Sie, daß mir von Ihren drei Figuren die letzte bei weitem am besten gefiel? Ah! Wenn Sie doch um einige Jahre früher gelebt hätten! Welch ein prächtiger, stattlicher, tapferer Wegelagerer wären Sie gewesen!«
»Habe ich allen Ruß aus meinem Gesicht gewaschen?« fragte er und wandte ihr sein Antlitz zu.
»Ach, ja! Aber es ist jammerschade drum! Sie können nichts finden, was Sie besser kleidete, als die Schminke jenes Raufbolds.«
»Sie könnten also einen Held von der Landstraße, einen Wegelagerer, lieben?«
»Ein englischer Wegelagerer käme gleich nach einem italienischen Banditen; und dieser könnte wiederum nur von einem levantinischen Piraten übertroffen werden.«
»Nun, was ich auch sein mag, vergessen Sie nicht, daß Sie mein Weib sind; in Gegenwart all dieser Zeugen ist vor einer Stunde unsere Trauung vollzogen worden.«
Sie kicherte und ein tiefes Rot bedeckte ihre Wangen.
»Jetzt ist die Reihe an Ihnen, Dent,« fuhr Mr. Rochester fort.
Als der andere Teil der Gesellschaft sich nun zurückzog, nahm er mit seiner Truppe die leeren Sitze ein. Miß Ingram setzte sich zur Rechten ihres Anführers und Direktors; die andern »Errater« nahmen die Stühle zu beiden Seiten des schönen Paars. Jetzt hatte ich kein Interesse mehr für die Darsteller auf der improvisierten Bühne; ich wartete nicht mehr gespannt auf das Aufgehen des Vorhangs; meine ganze Aufmerksamkeit wurde von den Zuschauern absorbiert; meine Augen, die vorhin unverwandt auf den großen, gewölbten Bogen gerichtet gewesen, ruhten jetzt wie gebannt auf dem Halbkreis von Stühlen. Ich weiß nicht mehr, welche Charade Oberst Dent und seine Gesellschaft aufführten, welches Wort sie wählten, wie sie sich mit der Sache abfanden, – aber ich sehe noch heute die Beratung vor mir, welche nach jeder Scene folgte; ich sehe, wie Mr. Rochester sich zu Miß Ingram wandte und Miß Ingram sich zu ihm; ich sehe, wie sie ihm ihr Haupt zuwandte, bis ihre rabenschwarzen Locken fast auf seiner Schulter ruhten und seine Wangen streiften; ich höre ihr gegenseitiges Geflüster; ich rufe mir die Blicke ins Gedächtnis zurück, welche sie miteinander wechselten; und sogar die Empfindungen, welche mich in jenem Augenblick beherrschten, steigen in der Erinnerung von neuem in meiner Seele auf.
Mein Leser, ich habe dir gesagt, daß ich gelernt hatte, Mr. Rochester zu lieben! Und ich konnte dies Gefühl jetzt doch nicht in mir ersticken, nur weil ich fand, daß er gänzlich aufgehört hatte, meine Gegenwart zu bemerken – weil ich stundenlang in seiner Nähe weilen konnte, ohne daß er auch nur ein einzigesmal einen Blick zu mir herübersandte – weil ich sah, wie seine ganze Aufmerksamkeit sich auf eine schöne und vornehme Dame concentrierte, die mich nicht einmal für würdig hielt, den Saum ihres Gewandes zu berühren, wenn sie stolz an mir vorüberrauschte; die ihr dunkles, herrschsüchtig gebieterisches Auge sofort von mir abwandte, wenn ein Blick aus demselben mich zufällig traf, als ob ich ein Gegenstand sei, der zu gering, zu unbedeutend für die Betrachtung eines so hochstehenden Wesens. Ich konnte nicht aufhören, ihn zu lieben, nur weil ich sicher war, daß er diese Dame binnen kurzem heiraten werde – weil ich täglich aus der stolzen Sicherheit ihrer Haltung sah, daß sie über seine Pläne und Absichten in Bezug auf sie vollständig im Reinen war – weil ich stündlich Zeugin seiner Huldigungen war, die, wenn auch nachlässig, gerade durch diese Nachlässigkeit berückend und durch ihren Stolz unwiderstehlich waren.
Diese Umstände brachten nichts mit sich, das meine Liebe hätte abkühlen oder ersticken können; nein, sie brachten nur tiefinnerste Verzweiflung. Und, mein Leser, vielleicht meinst du auch, sie hätten mir Eifersucht bringen können, wenn ein Mädchen in meiner Stellung überhaupt auf ein Weib wie Miß Ingram eifersüchtig zu sein hatte wagen können. Aber ich war nicht eifersüchtig, – oder doch nur sehr selten, – die Art des Schmerzes, welchen ich empfand, würde durch dieses Wort schlecht bezeichnet gewesen sein. Miß Ingram stand sozusagen um eine Linie unter dem Niveau der Eifersucht; sie war zu untergeordnet in geistiger Beziehung, um dies Gefühl erwecken zu können. Verzeih mir die anscheinende Paradoxe, lieber Leser – aber ich meine, was ich sage. Sie war sehr glänzend, aber sie war nicht natürlich; sie war eine herrliche Erscheinung, sie hatte mehrere ausgezeichnet ausgebildete Talente; aber ihre Seele, ihr Gemüt waren armselig, ihr Herz war trocken und empfindungslos von Natur, nichts blühte und grünte auf diesem Boden, er brachte keine erfrischenden, natürlichen Früchte hervor. Sie war nicht gut, sie war nicht ursprünglich; sie pflegte volltönende Phrasen aus Büchern zu wiederholen; sie sprach niemals eine eigene Meinung aus; sie hatte keine eigene Meinung. Sie schlug einen hohen Gefühlston an, aber sie kannte nicht das Gefühl der Sympathie und des Mitleids; Wahrheit und Zärtlichkeit waren nicht in ihr. Nur zu oft verriet sie dies, indem sie der trotzigen Antipathie, welche sie ungerechterweise gegen die kleine Adele gefaßt hatte, freien Lauf ließ; mit verächtlichen Schimpfworten stieß sie das Kind von sich, wenn es sich ihr zufällig näherte; oft schickte sie sie aus dem Zimmer und immer behandelte sie sie mit unveränderlicher Kälte, mit Bitterkeit und beißendem Spott. Andere Augen außer den meinen beobachteten diese Kundgebungen ihres Charakters noch – beobachteten sie genau, scharfsichtig und fein. Ja, der künftige Gatte, Mr. Rochester selbst, übte eine strenge und unaufhörliche Wachsamkeit über seine Braut aus; und aus dieser klugen Überlegung – dieser seiner Vorsichtigkeit – dieser vollkommen klaren Erkenntnis der Mängel und Fehler seiner Angebeteten – dieser in die Augen fallenden Leidenschaftslosigkeit seiner Gefühle für sie – aus diesem allem entsprang mein grenzenloser Schmerz, meine nicht enden wollende Pein.
Ich sah ein, daß er sie heiraten würde, aus Rücksichten auf die Familie, vielleicht auch aus politischen Gründen; ihr Rang und ihre Verbindungen sagten ihm zu. Ich fühlte, daß er ihr seine Liebe nicht geschenkt hatte, und daß ihre Eigenschaften auch nicht geeignet waren, ihm dies Gefühl abzuringen. Diesen Schatz würde er ihr niemals zu eigen geben! Und dies war der Punkt – dies war es, wo der Nerv berührt wurde und schmerzte – dies war es, was das Fieber nährte und steigerte: er konnte sie nicht lieben!
Wenn sie den Sieg mit einem Schlage errungen hätte, wenn er sich ergeben und sein Herz ihr zu Füßen gelegt hätte, so würde ich mein Antlitz bedeckt und der Wand zugewendet haben, um zu sterben, für sie zu sterben (figürlich, mein verehrter Leser). Wenn Miß Ingram ein gutes und edles Weib gewesen wäre, mit Kraft und Mut und Innigkeit und Zärtlichkeit und Verstand begabt, so würde ich nur einen entscheidenden Kampf mit zwei Ungeheuern – mit der Eifersucht und der Verzweiflung zu bestehen gehabt haben. Ich hätte mir das Herz aus der Brust gerissen, um es zu zertreten – und dann hätte ich sie bewundert, angebetet, ich hätte ihre Überlegenheit anerkannt und wäre für den Rest meiner Tage in Frieden gewesen – und je absoluter ihre Überlegenheit, desto tiefer wäre meine Bewunderung gewesen – desto ruhiger meine Ergebenheit. Aber wie die Dinge jetzt lagen – Zeuge der Anstrengungen sein zu müssen, welche Miß Ingram machte, um Mr. Rochester zu fesseln, und das öftere Mißlingen derselben zu gewahren – zu sehen, wie sie in der Einbildung lebte, daß jeder Pfeil traf, ins Schwarze traf, und wie sie sich mit ihren eingebildeten Erfolgen brüstete, während ihr Hochmut und ihre Selbstgefälligkeit das weiter und weiter von ihr entfernten, was sie anzulocken wünschte – Zeuge von all diesem zu sein, hieß in einer fortwährenden Erregung, unter einem erbarmungslosen Zwange leben.
Denn ich sah, wie es ihr möglich gewesen sein würde, den Sieg zu erringen, während sie nur eine Niederlage erlitt. Pfeile, welche fortwährend von Mr. Rochesters Brust abprallten und wirkungslos zu seinen Füßen niederfielen, würden sein stolzes Herz getroffen und schwer verwundet haben, wenn eine sichere Hand sie abgeschossen hätte, das wußte ich; sie würden Liebe aus seinen kalten Augen haben leuchten lassen und seinem sarkastischen Antlitz den Stempel der Innigkeit aufgedrückt haben. Oder noch besser, – ein stiller Sieg wäre ohne Waffen errungen worden.
»Weshalb kann sie nicht mehr Einfluß über ihn gewinnen, wenn sie doch bestimmt ist, ihm einmal so nahe zu stehen?« fragte ich mich. »Gewiß, sie kann ihn nicht wahrhaft lieben, wenigstens ihn nicht mit der echten, rechten Liebe lieben! Denn wenn dies der Fall wäre, so brauchte sie nicht so künstlich zu lächeln; ihm nicht unaufhörlich solche Blitzesblicke zuzuwerfen, ihre Mienen, ihre Attitüden, ihre Bewegungen ohne Unterlaß zu studieren. Mir ist, als würde sie seinem Herzen näher rücken, wenn sie ruhig an seiner Seite weilte und weniger spräche und weniger kühn blickte. Ich habe in seinem Antlitz einen Ausdruck gesehen, der sehr verschieden war von der harten, versteinerten Miene, die er jetzt gar oft annimmt, wenn sie so eindringlich und lebhaft zu ihm spricht – aber jener Ausdruck kam von innen heraus, er war nicht künstlich hervorgezaubert durch verführerische Lockungen und berechnete Manöver; und man brauchte ihn nur hinzunehmen – ihm ohne Prätension zu antworten, wenn er fragte, ihn ohne Grimassen anzureden, wenn es nötig war – und jener Ausdruck wurde freundlicher und liebevoller und erwärmte einen wie ein nährender Sonnenstrahl. Wie wird es ihr denn gelingen, ihm zu gefallen, wenn sie erst verheiratet sind? O nein, es wird ihr nicht gelingen, dessen bin ich sicher – aber es könnte gelingen, und wahrhaftig, ich glaube, seine Gattin könnte das glücklichste Weib sein, dessen Fuß auf unserer Erde wandelt.« Bis jetzt habe ich noch kein verdammendes Urteil über Mr. Rochesters Plan gefällt, um der Familienverbindungen und anderer materieller Interessen willen eine Heirat zu schließen. Ich war aufs höchste erstaunt, als ich zuerst seine Absicht entdeckte. Ihn hatte ich für einen Mann gehalten, bei dem es nicht wahrscheinlich war, daß er sich bei der Wahl einer Gattin von so gewöhnlichen Motiven würde leiten lassen; aber je länger ich die Stellung, die Erziehung u. s. w. der beiden Parteien in Betracht zog, desto weniger fühlte ich mich berechtigt, ihn oder Miß Ingram zu beurteilen oder zu verdammen, weil sie in Übereinstimmung mit den Grundsätzen und Ideen handelten, welche ihnen ohne Zweifel seit ihrer Kindheit eingeimpft waren. Die ganze Gesellschaftsklasse, zu welcher sie gehörten, huldigte diesen Grundsätzen; folglich mußten sie doch auch eine Begründung für dieselben haben, wenn ich sie auch allerdings nicht ergründen konnte. Mir schien es, daß ich nur ein Weib an mein Herz ziehen würde, das ich lieben könnte, wenn ich ein Mann wäre wie er; aber die Augenscheinlichkeit der Vorteile für das Glück des Mannes, welche in diesem Heiratsplane lagen, überzeugten mich, daß es Argumente gegen die allgemeine Annahme solcher Ansichten geben müsse, Argumente, von denen ich keine Ahnung hatte – denn sonst hätte doch die ganze Welt so handeln müssen, wie ich gewünscht, daß sie handeln möchte.
Aber in Bezug auf diesen Punkt sowohl wie auf manchen anderen wurde ich meinem Brotherrn gegenüber sehr nachsichtig. Ich vergaß und übersah all seine Fehler, für die ich doch einst ein so scharfes Auge gehabt hatte. Früher hatte ich mich bemüht, alle Seiten seines Charakters zu studieren, die schlechten mit den guten in den Kauf zu nehmen, und aus dem genauen Abwägen der einen gegen die anderen ein gleichmäßiges und gerechtes Urteil zu fällen. Jetzt sah ich keine schlechten Eigenschaften mehr. Der Sarkasmus, der mich einst zurückgestoßen, die Härte, die mich erschreckt und eingeschüchtert, erschienen mir jetzt nur wie die notwendige Würze eines köstlichen, seltenen Gerichts: ihr Vorhandensein machte es scharf, ihr Fehlen würde es aber geschmacklos und fade gemacht haben. Und jenes vage Etwas, das ein sorgsamer Beobachter dann und wann in seinem Blicke entdeckte, um es schnell wieder verschwinden zu sehen, ehe er noch jene seltsame, geheimnisvolle Tiefe ergründen konnte, – jenes Etwas, das mich mit Furcht und Schrecken erfüllt hatte, wie wenn ich auf vulkanischem Boden gewandelt und plötzlich die Erde unter meinen Füßen hätte erbeben und einen Abgrund sich vor mir hätte öffnen sehen, – jenes Etwas, ich sah es zuweilen noch jetzt, aber mein Herz klopfte vor Jammer und Mitgefühl, – es lähmte meine Nerven nicht mehr. Ich wußte nicht, ob es ein finsterer oder ein trauriger Ausdruck, ein hinterlistiger, verschmitzter, oder ein verzweifelter sei; aber ich scheute mich jetzt nicht mehr davor, ich sehnte mich nur grenzenlos danach, ihn ergründen zu können; ich pries Miß Ingram überglücklich, weil es ihr eines Tages vergönnt sein würde, in jenen Abgrund zu blicken, sein Geheimnis ergründen und seinen Jammer heilen zu dürfen.
Während ich nur an meinen Herrn und seine künftige Gemahlin dachte, nur sie sah, nichts hörte als ihre Zwiegespräche und nur ihrem Thun und Lassen eine Wichtigkeit und Bedeutung beilegte, war der übrige Teil der Gesellschaft mit ihrem eigenen Vergnügen und ihren Sonderinteressen beschäftigt. Die Ladies Lynn und Ingram fuhren fort, die feierlichsten Konferenzen miteinander abzuhalten; sie wiegten ihre Turbane hin und her und erhoben ihre vier Hände in Erstaunen oder Entrüstung, oder Geheimthuerei oder Entsetzen und Schrecken – je nach dem Gegenstande, um welchen ihre wichtige Unterhaltung sich drehte. Die beiden Damen bewegten sich wie zwei durch ein Vergrößerungsglas betrachtete Marionetten.
Die milde Mrs. Dent unterhielt sich mit der gutmütigen Mrs. Eshton; und von diesen beiden erhielt ich zuweilen einen gütigen Blick, ein freundliches Wort.
Sir George Lynn, Oberst Dent und Mr. Eshton diskutierten über Politik oder Angelegenheiten ihrer Grafschaft oder Rechtssachen. Lord Ingram kokettierte mit Amy Eshton. Louisa sang und spielte mit einem der jungen Herren Lynn, und Mary Ingram horchte gelangweilt auf die zierlichen, wohlgesetzten Redensarten des andern. Und zuweilen gaben diese alle, wie auf Verabredung, ihr Zwischenspiel auf, um den Hauptträgern der Handlung zuzuhören und sie zu beobachten; denn trotz allem waren Mr. Rochester und Miß Ingram – diese nur, weil sie ihm so nahe stand – die Seele und das Leben der Gesellschaft. Wenn er sich auch nur für eine Stunde aus dem Gesellschaftszimmer entfernte, so schien eine sehr bemerkbare Verstimmung und Gelangweiltheit sich seiner Gäste zu bemächtigen; und sein Wiedereintritt gab der Unterhaltung augenblicklich einen lebhaften Impuls wieder.
Das Fehlen seines belebenden Einflusses schien sich ganz besonders eines Tages bemerkbar zu machen, als er sich in dringenden Geschäftsangelegenheiten hatte nach Millcote begeben müssen und erst spät am Abend zurückerwartet wurde.
Der Nachmittag war regnerisch gewesen; ein Spaziergang, welchen die Gesellschaft nach einem Zigeunerlager, das auf einer Wiese jenseits Hay aufgeschlagen war, geplant hatte, mußte infolge des Regens aufgegeben werden. Einige der Herren hatten sich in die Ställe begeben; die Jüngeren spielten mit den jungen Damen im Billardzimmer Billard. Die verwitweten Damen Lynn und Ingram suchten Trost in einem ruhigen Spielchen. Nachdem Blanche Ingram durch ihre mürrische Schweigsamkeit einige Versuche zurückgeschlagen hatte, welche Mrs. Dent und Mrs. Eshton gemacht, um sie in die Konversation zu ziehen, hatte sie anfangs einige sentimentale Lieder und Melodien zur Klavierbegleitung gesummt; dann war sie plötzlich aufgesprungen, hatte einen Roman aus ihrem Zimmer geholt, und jetzt lag sie in hochmütiger Gleichgültigleit auf einem Sofa hingestreckt und versuchte sich die langsam hinschleichenden Stunden seiner Abwesenheit mit jenem Romane zu vertreiben. Im Zimmer und im ganzen Hause herrschte Ruhe. Nur zuweilen drang ein fröhliches Lachen aus dem Billardzimmer bis zu uns herunter.
Es begann schon zu dämmern, die Glocke hatte bereits das Zeichen zum Ankleiden für die Dinerstunde gegeben, als die kleine Adele, welche neben mir auf einem Sitze in der Fenstervertiefung kniete, plötzlich fröhlich ausrief:
»Voilà, Monsieur Rochester qui revient!«
Ich wandte mich um und sah, wie Miß Ingram mit der größten Eilfertigkeit von ihrem Sofa aufsprang. Auch die Übrigen blickten von ihren verschiedenen Beschäftigungen auf, denn im selben Augenblick wurde ein Knirschen von Rädern und platschende Huftritte draußen auf dem durchweichten Kieswege vor dem Hause hörbar. Eine Postchaise fuhr vor.
»Was mag ihm nur eingefallen sein, auf diese Weise nach Hause zu kommen!« sagte Miß Ingram. »Er ritt Mesrour, den Rappen, nicht wahr? Und Pilot war doch bei ihm, als er fortritt? Was kann er mit den Tieren angefangen haben?«
Indem sie dies sagte, kam sie mit ihrer hohen Gestalt und ihrer ungeheuren Kleiderfülle dem Fenster so nahe, daß ich mich weit zurücklehnen mußte, und fast das Rückgrat gebrochen hätte. In ihrer Aufgeregtheit bemerkte sie mich im ersten Augenblick fast gar nicht, und als ihr Blick denn doch auf mich fiel, verzog sie die Lippen höhnisch und wandte sich einem andern Fenster zu.
Die Postchaise hielt an. Der Kutscher zog die Glocke zur großen Eingangsthür und ein Herr in Reisekleidern entstieg dem Gefährt. Aber es war nicht Mr. Rochester, sondern ein großer, schlanker, elegant aussehender Mann, ein Fremder.
»Wie ärgerlich!« rief Blanche Ingram aus, »du langweiliger, kleiner Affe!« (dies galt der armen, kleinen Adele) »wer hat dich dort in das Fenster gesetzt, damit du falschen Allarm bläst?« und bei diesen Worten warf sie mir einen zornsprühenden Blick zu, als wäre ich die Schuldige gewesen.
Jetzt wurde draußen in der Halle ein kurzes Gespräch hörbar, und gleich darauf trat der Fremde ein. Er verbeugte sich tief vor Lady Ingram, die er wahrscheinlich für die älteste der anwesenden Damen hielt.
»Es scheint, Madame, daß ich zu sehr ungelegener Zeit komme,« sagte er, »denn mein Freund Rochester ist nicht zu Hause. Aber ich komme von einer sehr langen und ermüdenden Reise, und daher darf ich wohl die Rechte einer sehr alten und intimen Freundschaft geltend machen und mich hier bis zu der Rückkehr meines Freundes installieren.«
Er war von ausgesuchter Höflichkeit; sein Accent schien mir indessen etwas fremdartig – nicht gerade ausländisch aber auch nicht entschieden englisch. Er mochte ungefähr so alt sein wie Mr. Rochester, zwischen dreißig und vierzig; seine Gesichtsfarbe war seltsam fahl; sonst war er ein schöner Mann, besonders auf den ersten Blick. Bei näherer Prüfung entdeckte man in seinem Gesicht allerdings etwas, das abstieß, oder vielmehr etwas, das nicht gerade gefiel. Seine Züge waren regelmäßig, aber zu schlaff; sein Auge war groß und schön geschnitten, aber man las darin, daß er ein nutzloses, leeres, unbedeutendes Leben geführt, – wenigstens erschien es mir so.
Der Ton der Ankleideglocke zerstreute die Gesellschaft. Erst nach dem Diner sah ich den Fremden wieder. Um diese Zeit schien er sich bereits ganz heimisch zu fühlen. Aber jetzt gefiel mir seine Physiognomie noch weniger als zuvor; sie war zugleich unruhig und doch leblos. Seine Blicke wanderten umher, aber man fühlte, daß sie nichts suchten; das gab ihm einen seltsamen Ausdruck, wie ich noch niemals einen in dem Gesicht eines Menschen beobachtet. Für einen schönen und nicht unliebenswürdigen Mann war er außergewöhnlich abstoßend. Dies glatte, oval geformte Antlitz übte keine Macht aus; in jener schmalen, gebogenen Nase, in dem kleinen Kirschenmund lag keine Kraft, Die niedrige, ungefurchte Stirn verriet keine Gedanken; das glänzende, braune Auge verstand nicht zu herrschen.
Als ich in meinem gewohnten Winkel saß und ihn im Schein der Girandolen, die vom Kaminsims hell auf ihn herabschienen, betrachtete – er saß in einem Lehnstuhl, den er dicht an das wärmende Feuer gezogen hatte, und schien trotzdem noch vor Kälte zu beben – begann ich, ihn mit Mr. Rochester zu vergleichen. Ich glaube – horribile dictu – der Unterschied zwischen einem sanften Gänserich und einem stolzen Falken könnte nicht viel größer sein; nicht schärfer der Kontrast zwischen einem sanftmütigen Schaf und dem zotteligen, klaräugigen Hunde, seinem Hüter.
Er hatte von Mr. Rochester wie von einem alten Freunde gesprochen. Eine seltsame Freundschaft mußte die ihre gewesen sein; eine scharfe Illustration des alten Sprichwortes in der That, daß die Extreme sich berühren.
Zwei oder drei der Herren saßen neben ihm, und von Zeit zu Zeit drangen abgerissene Sätze ihrer Unterhaltung bis in meine abgelegene Ecke. Lange blieb mir der Sinn des Gehörten unklar; denn die Unterhaltung zwischen Mary Ingram und Louisa Eshton, die in meiner nächsten Nähe saßen, übertönte das Gespräch der Herren am Kamin. Die Damen sprachen über den Fremden; beide nannten ihn einen »schönen Mann«, Louisa sagte, er sei »ein reizender Mensch« und sie »bete ihn an«; und Mary machte Bemerkungen über seinen »süßen, kleinen Mund und seine entzückende Nase«; beides schien ihre Ideale von Schönheit zu verkörpern.
»Und welch eine freundliche Stirn er hat!« rief Louisa aus, – »so glatt, keine von diesen gerunzelten Unregelmäßigkeiten, die ich so sehr verabscheue; und welch ein ruhiges Auge! Welch ein berückendes Lächeln!«
Und dann rief Mr. Henry Lynn sie zu meiner größten Erleichterung an das andere Ende des Zimmers, um noch irgend welche Punkte über die aufgeschobene Excursion nach Hay zu besprechen.
Jetzt war es mir wieder möglich geworden, meine Aufmerksamkeit auf die Gruppe am Kamin zu konzentrieren, und nun erfuhr ich auch bald, daß der Name des Ankömmlings Mr. Mason sei. Dann hörte ich, daß er soeben in England angelangt sei und aus irgend einem heißen Lande komme. Letzteres war wahrscheinlich der Grund für die fahle Blässe seines Gesichts, für sein fortwährendes Näherrücken an das Feuer und für den Überrock, den er auch im Salon nicht abgelegt hatte. Die Namen Jamaika, Spanish Town, Kingston, welche an mein Ohr schlugen, belehrten mich, daß Westindien sein Aufenthalt gewesen sein mußte, und nicht gering war mein Erstaunen, als ich weiter erfuhr, daß er in jenem Lande Mr. Rochesters Bekanntschaft gemacht habe. Er sprach von der Abneigung seines Freundes gegen die sengenden Gluten, die furchtbaren Orkane und die Regenzeiten jener Regionen.
Ich wußte wohl, daß Mr. Rochester viel gereist sei; Mrs. Fairfax hatte es nur ja erzählt, aber ich hatte geglaubt, daß der europäische Kontinent bis jetzt seine Wanderungen begrenzt habe. Niemals hatte er auch nur die leiseste Andeutung darüber gemacht, daß er selbst jene entlegenen Küsten besucht habe.
Über diese Dinge dachte ich nach, als ein Zwischenfall, und noch dazu ein sehr unerwarteter, den Faden meiner Grübeleien unterbrach. Mr. Mason, der jedesmal von einem kalten Schauer gerüttelt wurde, wenn jemand die Thür aufmachte, hatte gebeten, daß man noch mehr Holz und Kohlen auf das Feuer lege, dessen Flammen nicht mehr emporloderten, obgleich die Asche noch rot und heiß erglühte. Als der Diener, welcher die Feuerung hereingebracht hatte, das Zimmer wieder zu verlassen im Begriff war, trat er an Mr. Eshtons Stuhl und flüsterte diesem Herrn etwas ins Ohr, wovon ich nur die Worte »altes Weib« und, »ganz lästig« verstehen konnte.
»Sagen Sie ihr, daß wir sie einsperren lassen werden, wenn sie sich nicht gleich packt,« entgegnete die Magistratsperson.
»Nein – halt!« unterbrach ihn Oberst Dent, »Schicken Sie sie nicht fort, Eshton; wir könnten die Gelegenheit doch benützen. Fragen wir lieber die Damen.« Und laut fuhr er fort: »Meine Damen, Sie haben davon gesprochen, nach der Wiese von Hay gehen zu wollen, um das Zigeunerlager zu besuchen; aber Sam hier bringt die Botschaft, daß eine der alten Zigeunerinnen sich in diesem Augenblick in der Halle der Dienstboten befindet und darauf besteht, bei den Herrschaften vorgelassen zu werden, um ihnen wahrsagen zu dürfen. Haben Sie Lust, die Alte zu sehen?«
»Wahrhaftig, Oberst,« rief Lady Ingram aus, »Sie hätten am Ende wohl Lust, solche gemeine Betrügerin zu ermutigen. Schicken Sie sie um jeden Preis augenblicklich fort!«
»Es ist mir nicht möglich, sie zum Fortgehen zu bewegen, Mylady,« sagte der Diener, »und die anderen Dienstleute haben es auch umsonst versucht. Jetzt ist Mrs. Fairfax bei ihr und bittet und fleht, daß sie fortgehen möge; sie hat aber einen Stuhl in der Ofenecke genommen und schwört, daß sie um keinen Preis von dort aufsteht, wenn man ihr nicht die Erlaubnis giebt, hierher zu kommen.«
»Was will sie denn hier?« fragte Mrs. Eshton.
»Sie will den Herrschaften wahrsagen, sagt sie, Mylady, und sie schwört, daß sie es thun will und muß.«
»Wie sieht sie denn eigentlich aus?« fragten die beiden Miß Eshton, wie aus einem Munde.
»Ein gräßlich häßliches, altes Geschöpf, Miß; beinahe so schwarz wie ein Rabe.«
»Am Ende ist sie gar eine wirkliche Hexe!« rief Frederick Lynn dazwischen. »Auf jeden Fall müssen wir sie hereinlassen! Zu interessant!«
»Allerdings,« fiel ihm sein Bruder in die Rede, »es wäre zu thöricht, wenn man solch eine Gelegenheit, sich zu amüsieren, ungenützt vorübergehen lassen wollte.«
»Was fällt euch denn eigentlich ein, meine lieben Söhne!« rief Lady Lynn entsetzt aus.
»In meiner Gegenwart dürfen solche ungehörige Dinge nicht vor sich gehen,« stimmte die verwitwete Lady Ingram ihr bei.
»O ja, Mama, sie dürfen es und sie werden es,« ertönte Blanche Ingrams hochmütige Stimme, wahrend die junge Dame sich vom Piano her der Gesellschaft zuwandte; bis zu diesem Augenblick hatte sie schweigsam dort gesessen und scheinbar ohne der Unterhaltung ihre Aufmerksamkeit zu schenken zwischen verschiedenen Notenblättern und Heften geblättert. »Ich bin neugierig und möchte mir wahrsagen lassen, Sam, schicken Sie die Zigeunerschönheit also herauf.«
»Aber Blanche, mein Liebling, bedenke doch –«
»Das thue ich. Ich bedenke alles, was zu bedenken ist. Und ich muß meinen Willen haben! Also beeilen Sie sich, Sam! Schnell! schnell!
»Ja – ja – ja!« rief die ganze junge Welt, sowohl die Damen wie die Herren. »Sie muß heraufkommen! Das wird ein köstliches Vergnügen werden!«
Der Diener zögerte noch immer. »Sie sieht so fürchterlich aus,« sagte er endlich.
»Gehen Sie!« rief Miß Ingram gebieterisch. Und der Mann ging.
Augenblicklich bemächtigte sich die größte Aufregung der ganzen Gesellschaft. Es entstand ein wahres Kreuzfeuer von Witz, Spott und Scherz. Da kehrte der Diener zögernd und ängstlich zurück.
»Sie will jetzt nicht mehr hereinkommen,« sagte er, »Sie sagt, sie braucht nicht vor dem rohen Haufen – ja, ja, diese Worte hat sie gebraucht – zu erscheinen! Ich habe ihr ein Zimmer anweisen müssen, und wenn die Herrschaften sie um die Zukunft befragen wollen, sollen Sie einzeln zu ihr kommen.«
»Du siehst also, meine königliche Blanche, wie anmaßend das Weib wird,« begann Lady Ingram von neuem. »Laß dir raten, mein Engelskind und – und – –«
»Bringen Sie sie ins Bibliothekzimmer,« unterbrach das »Engelskind« sie scharf. »Ich brauche sie ebenfalls nicht vor dem ›rohen Haufen‹ anzuhören; die Person hat ganz recht. Ich will sie für mich allein haben. Brennt ein Feuer im Bibliothekzimmer, Sam?«
»Ja, Ew. Gnaden, ja – aber – sie sieht gerade aus wie ein Kesselflicker.«
»Lassen Sie Ihr Geschwätz, Dummkopf, und thun Sie nur, was ich Ihnen befehle.«
Wiederum verschwand Sam; und hoch gingen die Wogen der Erregung und der Erwartung.
»Jetzt ist sie bereit,« sagte der Diener, als er zurückkam. »Sie möchte wissen, wer sie zuerst befragen wird.«
»Ich glaube, es wird besser sein, wenn ich sie mir ansehe, bevor eine der Damen zu ihr geht,« sagte Oberst Dent.
»Sagen Sie ihr also, Sam, daß ein Herr kommen wird.«
Sam ging und kehrte gleich zurück.
»Sir, sie sagt, daß sie mit den Herren nichts zu thun haben will; sie brauchen sich gar nicht erst zu bemühen, zu ihr zu kommen – und,« fügte er zögernd hinzu, mit Mühe ein Kichern unterdrückend, – »die Damen sollen auch nur kommen, wenn sie jung und schön und unverheiratet sind.«
»Beim Jupiter! sie hat Geschmack!« rief Henry Lynn laut lachend aus.
Mit großer Feierlichkeit erhob sich Miß Ingram. »Ich gehe zuerst,« sagte sie in einem Ton, welcher für den Anführer eines verlorenen Postens gepaßt haben würde, wenn er in der Vorhut des Regiments eine Bresche in der feindlichen Festung erklimmt.
»O, meine Beste, mein teuerstes, liebstes Kind, halt ein! Denk nach! Bedenke, was du thust!« rief ihre zärtliche Mutter aus. Aber in stolzem Schweigen rauschte sie an ihr vorbei und ging durch die Thür, welche Oberst Dent für sie geöffnet hielt. Gleich darauf hörten wir, wie sie ins Bibliothekzimmer trat.
Jetzt trat eine verhältnismäßige Ruhe ein, Lady Ingram hielt es für passend und angebracht, die Hände zu ringen und that es daher in ausgiebigstem Maße. Miß Mary erklärte, daß sie ihrerseits niemals den Mut gehabt haben würde. Amy und Louisa Eshton kicherten leise und verstohlen, sahen aber ängstlich und sehr befangen aus.
Außerordentlich langsam schlichen die Minuten dahin. Wir zählten deren fünfzehn, bevor das Geräusch der sich öffnenden Bibliotheksthür wiederum an unser Ohr schlug. Gleich darauf trat Miß Ingram wieder ein.
Lachte sie? Hatte sie die ganze Sache als Scherz aufgefaßt? Aller Augen waren mit dem Ausdruck der intensivsten Neugierde auf sie geheftet. Kalt und vorwurfsvoll begegneten ihre Blicke den unseren; sie sah weder belustigt noch erregt aus. Stolz aufgerichtet und hochmütig schritt sie wieder auf ihren Sitz zu und setzte sich ohne ein Wort zu sprechen.
»Nun, Blanche?« sagte Lord Ingram. «Was sagte sie, Schwester?« fragte Mary.
»Wie denkst du über sie? Wie war dir ums Herz? Ist sie eine wirkliche Wahrsagerin?« fragten die Schwestern Eshton.
»Nun, nun, Ihr guten Leute, erdrückt mich nicht mit euren Fragen. Wahrlich, das Organ der Leichtgläubigkeit und der Verwunderung ist bei euch schnell angeregt. Nach der Wichtigkeit und Bedeutsamkeit, welche ihr alle – meine teure Mutter inbegriffen – dieser Angelegenheit beilegt, scheint ihr wahrhaftig zu glauben, daß wir für den Augenblick eine wirkliche Hexe im Hause haben, die mit dem alten, schwarzen Herrn, der nach Pech und Schwefel riecht ein festes Bündnis geschlossen hat. Ich habe eine Zigeuner-Vagabundin gesehen; sie hat in gewohnter Weise die Kunst geübt, aus der Hand wahrzusagen, und sie hat auch mir gesagt, was solche Leute gewöhnlich prophezeien. Ich habe meine Laune befriedigt, und jetzt würde ich es für das Beste halten, wenn Mr. Eshton, wie er anfangs gedroht hat, das alte Scheusal morgen früh in den Gemeindekotter werfen ließe! Das ist alles, was ich über diese Angelegenheit zu sagen habe!«
Miß Ingram nahm ein Buch, lehnte sich in den Sessel zurück und wies auf diese stumme aber deutliche Weise jede weitere Konversation zurück. Ich beobachtete sie dann wohl eine halbe Stunde hindurch; während dieser ganzen Zeit wandte sie nicht ein einzigesmal das Blatt um, und jeden Augenblick wurde ihr Gesicht düsterer, unzufriedener, und nahm immermehr den Ausdruck der Enttäuschung und Bestürzung an. Augenscheinlich hatte sie nichts angenehmes gehört, nichts, was mit ihren hochfliegenden Plänen übereinstimmte, und trotz ihrer angeblichen Gleichgültigkeit schien es mir, als lege sie den ihr gemachten Enthüllungen eine ganz unberechtigte Wichtigkeit bei. Wenigstens erklärte ich mir auf diese Weise ihre düstere Schweigsamkeit und Verstimmung. Inzwischen erklärten Mary Ingram, Amy und Louisa Eshton, daß sie nicht den Mut hätten, allein zu gehen – und doch hegte jede von ihnen das brennende Verlangen zu gehen. Durch die Vermittelung, des Gesandten Sam wurden Unterhandlungen eröffnet, und nach vielem Hin- und Herlaufen wurde der strengen Sybille endlich die Erlaubnis abgerungen, daß die drei jungen Damen ihr in corpore ihre Aufwartung machen durften.
Dieser Besuch verlief nicht so still, wie jener Miß Ingrams. Aus dem Bibliothekszimmer drangen hysterisches Kichern und kleine halb unterdrückte Schreie zu uns herüber. Nach zwanzig Minuten wurde endlich die Thür aufgerissen, und die jungen Mädchen kamen zu Tode erschrocken durch die Halle hereingestürzt.
»Gewiß, gewiß, mit ihr geht es nicht mit rechten Dingen zu!« schrien sie wie aus einem Munde. »Sie hat uns solche Sachen gesagt! Sie kennt unsere ganzen Angelegenheiten!« und atemlos sanken sie in die verschiedenen Sessel und Stühle zurück, welche die Herren sich beeilten, ihnen zu bringen.
Als man um weitere Erklärung in sie drang, erzählten sie, daß sie ihnen von Dingen gesprochen, die sie gesagt und gethan, als sie noch kleine Kinder gewesen; sie hatte ihnen von Nippsachen und Büchern gesprochen, welche sich zu Hause in ihren Boudoirs befanden, von Andenken, welche verschiedene Verwandte ihnen geschenkt hatten. Sie bestätigten, daß sie sogar ihre Gedanken erraten hatte; und daß sie jeder von ihnen den Namen jener Person ins Ohr geflüstert hatte, welche ihnen die liebste auf der Welt. Auch ihre Lieblingswünsche hatte die Alte erraten.
Hier sprachen die Herren die ernstliche Bitte aus, daß man sie ebenfalls über die beiden letztgenannten Punkte aufkläre. Aber als Lohn für ihre Zudringlichkeit wurde ihnen nichts als schüchternes Erröten, Zittern, Ausrufe, Gekicher u. s. w. Inzwischen fächelten die Matronen ihnen mit ihren Riesenfächern Luft zu, holten ihre Riechfläschchen hervor, und sprachen ihr lebhaftes Bedauern aus, daß man ihre Warnung nicht rechtzeitig beachtet habe. Die älteren Herren lachten aus Leibeskräften, und die jüngeren boten der aufgeregten Mädchenschar ihre Dienste an.
Inmitten dieses Tumults, und während meine Augen und Ohren vollauf mit der Scene beschäftigt waren, welche sich vor mir abspielte, hörte ich plötzlich ein leises, wiederholtes »hm, hm!« dicht neben mir. Ich drehte mich schnell um und erblickte Sam.
»Ich bitte Sie, Miß, die Zigeunerin behauptet, daß noch eine junge, unverheiratete Dame hier im Zimmer sein muß, welche nicht bei ihr gewesen ist, und sie bleibt dabei und schwört hoch und teuer, daß sie nicht eher fortgeht, als bis sie alle gesehen hat. Ich dachte, daß es keine andere sein könne, als Sie. Sonst ist niemand mehr da. Was soll ich ihr sagen?«
»Ah, ich werde natürlich gehen,« entgegnete ich. Und ich freute mich der unerwarteten Gelegenheit, meine heftig erregte Neugierde befriedigen zu können. Ich schlich zum Zimmer hinaus, ohne daß auch nur ein einziger Blick mir folgte. Die ganze Gesellschaft war noch um das bebende Trio beschäftigt, das soeben von der Sibylle zurückgekehrt war. Leise schloß ich die Thür hinter mir.
»Wenn Sie wollen, Miß,« sagte Sam, »so warte ich in der Halle auf Sie; und wenn sie Ihnen Angst macht, so rufen Sie nur, und ich komme Ihnen zu Hilfe,«
»Nein, Sam, gehen Sie nur wieder hinunter in die Küche, ich fürchte mich durchaus nicht,« – Und ich fürchtete mich in der That nicht. Aber die Sache interessierte und erregte mich im höchsten Grade.