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Der Bube ist alt genug, er muß in die Schule,« sagte mein Vater, »so ist er unter Tages beschäftigt und kommt uns vom Halse.« Ich ward also zu unsern Nachbarinnen, den Klosterfrauen, in die Unterweisung geschickt. Die Buchstaben konnte ich bald nennen; denn Vater und Mutter unterrichteten mich auch zu Hause. Aber es litt einigen Anstand, bis ich begriff, daß man im Lesen die Namen der Mitlauter nicht ganz, sondern nur den Anfangs- oder Endlaut davon aussprechen, und also, wenn Baum stand, nicht Be-a-u-em sondern Baum lesen müßte. Als ich dies gefaßt hatte, ging mir das übrige leicht vonstatten. Meine Schulgespielen waren meistens kleine Mädchen oder sehr junge Knaben. Die Mädchen lernten Lesen, Schreiben, Nähen, Stricken oder Spitzen klöppeln usw. Aber die Knaben buchstabierten beinahe alle im Namenbüchlein. Wenn sie größer wurden, schickte man sie zu den Schulmeistern.
Wollten die Nonnen uns belohnen, so gaben sie uns die Erlaubnis, in ihren schönen, großen Garten zu springen, oder das Kripplein zu sehen, oder den heiligen Joseph heimzusuchen. Die groteske Vorstellung der Krippe des Herrn mit beweglichen Figuren, mit holzhackenden oder den Pumpbrunnen ziehenden Männchen, oder einem umlaufenden Mühlrade und Springbrünnchen usw. war das ganze Jahr in einem besonderen Zimmerchen aufgestellt; ebenso der heilige Joseph, sitzend, mit einem veilchenblauen Schlafrock, einer weißen Halsbinde und roter Schärpe bekleidet, in Lebensgröße, mit Gliedern, die durch einen Zug beweglich waren, samt allen erdenklichen Zimmermanns- und Tischlerswerkzeugen, aus Holz geschnitzt und nach der Natur bemalt. O, wie freuten mich alle die schönen Siebensachen! Nie konnte ich mich satt daran sehen. Die Klosterfrauen hüteten sich auch wohl, uns den Anblick ihres Heiligtums so lange wir wollten zu erlauben; und es schien, als wenn sie es absichtlich darauf anlegten, daß uns dasselbe immer neu bleiben sollte.
Wollte man uns aber bestrafen, so mußten wir entweder eine abscheuliche Brille mit Gläsern, wie große, runde Fensterscheiben auf die Nase setzen, und mitten in die Stube herausknien, oder wir wurden in die Waschküche gesperrt, oder mußten gar den Kopf in ein Ofenloch stecken, das sich in einem finstern Holzkämmerchen befand, um die Rute zu empfangen, ohne den Nonnen ein Ärgernis zu geben.
Nun mochte mein Vater die Klosterfrauen nicht wohl leiden, erzählte von ihnen allerhand schnackisches Zeug und nannte sie nur spottweise die Stiefelnonnen. Deswegen achtete ich ihre Strafen und Verweise sehr wenig. Mußte ich mit der Brille in die Mitte hinausknien, so schnitt ich Gesichter und machte Grimassen, daß die ganze Schule laut auflachte. Denn ich konnte nichts weniger dulden als Schande und glaubte sie sehr zu vermindern, wenn ich mich mit einer Art von Verachtung darüber belustigte und mir durch eine gewisse auszeichnende Lebhaftigkeit wenigstens ebensoviel Ehre bei den Schulkindern erwürbe, als mir die Strafe Erniedrigung zuzog. Einst wollte die Lehrerin mir die Rute geben; allein ich riß mich los, sprang zum Fenster in den Garten hinaus und schrie immer »Stiefelnonne, Stiefelnonne,« rettete mich durch die Gartentür und schlüpfte durch eine Regenrinne unter dem großen Tore in unsre Gasse hinaus.
Eine leere, mit Gras bewachsene Kalkgrube war auf dem Hofraume des Klosters, hart an der bretternen Verzäunung, die ihn von unserm Gäßchen schied. Ich fand ein Astloch in einem Brette, der Grube gerade gegenüber. Ehe man in die Schule ging, saßen die Mädchen, welche zu frühe gekommen waren, gewöhnlich ringsherum am Rande der Grube und plauderten miteinander. Lange belauschte ich sie; endlich fiel es mir ein, sie zu erschrecken. Ich nahm also den Mund voll Wasser und spritzte es durch die Öffnung hinüber. Hu! das gab ein Lärmen! Als ich in die Schule kam, hatten mich die benetzten Kinder schon angeklagt, als hätte ich zu ihnen hinübergep.... »Du gottloser Bösewicht!« sagte die Lehrerin, »du bist nicht wert, daß wir unsere Hände mit dir besudeln; wir wollen dich aber gewiß deinem Vater zur Strafe empfehlen. Fort indessen! ins Gefängnis mit dir! Ein so garstiger Bube möchte sonst unsre ganze Schule verpesten!« Ich mochte sagen, was ich wollte; ohne angehört zu werden, mußte ich in die Waschküche wandern, und man schloß die Tür fest hinter mir zu. Das Waschhaus war am Abhange des Hügels erbaut, auf dem das Kloster stand. Die eine Seite des Daches reichte bis auf den Grund des höherliegenden Küchengartens herab; die engen Fensterchen an der andern Seite waren dicht mit Brettern verschlossen. Also alles finster. Die Weile ward mir in meinem Gefängnis erbärmlich lange, obschon es lieblich nach Obst roch. Umsonst versuchte ich alle Ausgänge. Nur oben in der Decke erblickte ich eine Öffnung, durch die etwas Licht hereinfiel. Ein großer Waschzuber stand gerade darunter umgestürzt auf dem Boden; Wäschestangen lagen an der Wand. Ich bemühte mich, ein paar davon aufzurichten und in die Öffnung zu stellen, stieg auf den Zuber, kletterte an den Stangen empor und schwang mich mühsam durch die Öffnung. Sieh, da lagen oben schöne Äpfel in der niedlichsten Ordnung auf Stroh und Brettern umher. Unbekümmert aß ich, so viel mein Magen fassen mochte, füllte in Ermangelung eines Sackes die Beinkleider und das Hemde damit, öffnete den kleinen Laden eines Dachlichtes, und glitt über das Dächlein in den Küchengarten hinab. Um aus dem Garten zu kommen, mußte ich aber bis zur Tür schleichen, die hart unter den Fenstern der Schule angebracht war. Die Lehrerin erblickte mich und rief mich an. Wie im Fluge lief ich den Hügel hinab zum Hoftore und versuchte, wie ehemals durch die Regenrinne zu entschlüpfen. Allein mir erging es diesmal, wie dem dickgewordenen Fuchse im Hühnerstalle: kaum war ich bis an die Beinkleider durchgekrochen, so blieb ich stecken; denn die Äpfel darin hatten mich zu dick gemacht. Ich sah mich gezwungen, zurückzukriechen, erblickte sogleich die Klosterfrau, die mich verfolgte, und wußte in der Eile keinen bessern Rat, als mich an die nahe Mistpfütze zu flüchten. Dort wartete ich, bis sie mich haschen wollte, sprang rechts, wenn sie zur Linken der Pfütze lief, und links, wenn sie sich rechts wandte, und das so lange, bis sie des Laufens müde war und mich drohend verließ. Sie verklagte mich bei meinem Vater. Allein ich mußte ihm, ehe er mich strafte, den Streich erzählen, und er lachte öfters hell dabei auf. Zuletzt gab er mir zwar einen derben Verweis; aber das schlechtverborgene Lächeln hinten im Winkel seines Mundes sagte mir deutlich, daß ihm mein Abenteuer eben nicht sehr mißfiel.
»Für die Stiefelnonnen ist der Bube zu meisterlos,« sagte mein Vater, »ich will ihn zum Kantor schicken.« Meine Mutter führte mich den andern Tag hin. O wehe, da war eine ganz andere Zucht! Ich sah schon in der ersten Stunde allerlei greuliche Exekutionen. Da bekam einer mit der Ochsensehne einen mörderlichen Spanniol auf die gespannten Beinkleider; dort wickelte der Lehrer einem andern einen Mantel um den Kopf, damit er nicht schreien könnte, und führte ihn in das sogenannte Speckkämmerlein, wo ihm entweder mit der Rute oder gar mit der Ochsensehne das nackte Sitzfleisch fürchterlich durchgegerbt ward. Wenn so ein Bube wieder herauskam, wälzte er sich gewöhnlich vor Schmerzen auf dem Boden, und der Kantor stieß ihn wild lachend mit Füßen. Die geringste Strafe war, wenn man mit der Lederfeile auf die zusammengepreßten fünf Fingerspitzen, oder mit einer kurzen Ochsensehne, in der vorne eine bleierne Kugel angebracht war, auf die offene Hand sogenannte Tatzen (Hiebe) bekam. 0, wie machte mich da die Furcht so ruhig! wie lernte ich mein Evangelium so fleißig lesen! Dennoch konnte es nicht fehlen, ich mußte manchmal eine der obigen Exekutionen an mir vollziehen lassen. Wenn die Schule zu Ende ging, war ich wenigstens so froh, wie eine Meise, die dem Käfig entkommt.
Nun fing ich auch an, das Schreiben zu lernen. Mein Vater konnte selbst ganz artige Buchstaben zeichnen, aber, was er geschrieben hatte, nimmer lesen. Da saß er nun an Sonn- und Feiertagen immer neben mir, einen Stecken oder eine Ochsensehne in der Hand, und schlug mich derb auf die Finger, wenn ich einen falschen Zug machte. Bei dieser Arbeit schwitzte ich allzeit große Tropfen. Kaum konnte ich die Buchstaben von freier Hand malen, so wagte ich es, einen Danksagungsbrief an meine Ahnfrau zu schreiben. So wie die Laute der Wörter nach der schwäbischen Mundart aufeinander folgten, so wählte ich auch die gehörigen Buchstaben dafür, wodurch eine ganz besondere Orthographie in meinen Brief gebracht ward. Niemand half mir dazu, und als ich ihn durch meinen Bruder der Ahnfrau schickte, weinte sie vor Freuden, zeigte den Brief herum und lobte mich über die Maßen. Dies war mir mehr Aufmunterung als alle Schläge. Bald mußte ich auch im Lesen geschriebener Briefe mich üben. Da lag ich oft selbst mit mir im Streite, wie dieses oder jenes Wort abgeleitet wäre, wie die Zusammenfügung der Silben geschehen, oder wie es nach meinem Sinne geschrieben werden müßte. Freilich irrte ich meistens; aber dennoch glaub' ich, dies Räsonnieren über Wörter war nicht ganz unnütz.
Der Marder würgte in einer Nacht mehr als 60 Tauben in unserm Schlage ab, und der Vater kaufte weiter keine andern. Da kehrte ich mir das Taubenhaus rein aus, säuberte es, so gut ich konnte, und machte es zu meinem Studierstübchen. Sobald ich nach Hause kam, setzte ich mich hinein und lernte das aufgegebene Pensum, fertigte meine Schrift, schnitzte dann, wenn Regenwetter einfiel, allerlei kindisches Zeug, oder lief, wenn der Himmel heiter war, zu den Buben auf die Gasse. Schläge, noch mehr aber Lob hatten mich an diese Ordnung gewöhnt.
Einst redete mir Herr Kantor sehr eindringend und in vertraulichem Tone zu, ich sollte fleißig lernen, und malte mir alle guten Folgen davon lebhaft vor Augen. Da brach ich in die Worte aus: »Ja, Herr Kantor, das Lernen wäre schon recht, wenn es nur nicht so viele Mühe kostete!« – »Du Tagdieb,« sprach er dann und griff lächelnd nach der Ochsensehne, »meinst du, es sollen dir die gebratenen Vögel in den Mund fliegen? Es ist kein Mensch in der Welt, der nicht arbeiten muß, und du wolltest allein jede ernsthaftere Bemühung scheuen? Dies Werkzeug wird dir den guten Willen schon eingießen, wenn du nicht freiwillig fleißig sein willst!« Diesmal ging es zwar noch ohne Schläge ab: allein meine obige Äußerung wurde mir so oft vorgerückt, als ich in einem Pensum stockte, und dann allzeit sehr derb und auf die handgreiflichste Weise widerlegt. Fleißig lernte ich, was mir der strenge Mann zu lernen befahl, und erschien, von der Furcht gejagt, gewöhnlich einer der ersten vor dem Schulhaus. Manchmal fügte es sich, daß ich zu frühe kam. Um mir dann die Zeit zu kürzen, setzte ich mich auf dem Kirchhofe in eine trockene Regenrinne, legte mein Büchlein offen neben mich hin und tändelte während des Auswendiglernens im Sande. Dies bemerkte Herr Kantor, wie ich nachher erfuhr, mit nicht geringem Wohlgefallen und ward dadurch bewogen, mich vor andern zum künftigen Studenten auszuwählen.
Wenn mein Vater nicht eben bei schlimmer Laune war, betrug er sich herzlich gut und freundlich gegen uns. Er saß oft bis nachts 12 Uhr am Tische und schnitzte für uns Kinder allerlei Maschinen zum Spielen. So verfertigte er z. B. kleine Handmühlen, auf denen wir Sand abmahlen konnten, oder bohrte Löchlein in einen hölzernen Teller und steckte kleine Tannenzweige darein, daß es aussah wie ein Wäldchen, mit Jägern, Hirschen und wilden Schweinen bevölkert. Die Figuren wußte er selbst mit Mennig und Grünspan zu malen. Aber ich erinnere mich Wohl, seine Jäger gefielen mir nicht; alle waren garstig gebückte Karikaturen, die zum Schießen bereit lagen und entsetzlich große Nasen hatten. Darin setzte er seine Hauptstärke, wenn er zeichnete. Dennoch begafften wir die bunte Arbeit mit Herzenslust und beobachteten alle Handgriffe mit der angestrengtesten Aufmerksamkeit, um selbst Maschinen von unserer eigenen Erfindung zu bauen oder allerlei Figuren nachzuklecksen; Versuche, die uns gewiß nicht ganz unnütz waren, und immer geringe Übungen unsrer jugendlichen Kräfte. Einst hatte ich eine Art Schöpfbrunnen gekünstelt, den ich einen Schnadrigengges nannte, ohne wirklich einen deutlichen Begriff mit diesem sinnlosen Worte zu verbinden. Ich brachte ihn in die Stube, als eben der Metzger da war, der uns ein Schweinchen abgestochen hatte. Er bewunderte zum Spaße mein kindisches Machwerk und sagte, ich sollte bei ihm einsprechen, er wollte mir gewiß mit gutem Essen aufwarten. Das Lob tat mir so wohl, daß ich nun immer an neuen Maschinen arbeitete. – Der Metzger war meiner Ahnfrau Bruder. Sie nahm mich bald darauf mit sich, als sie ihn besuchte, und mein Vetter hielt Wort und setzte mir eine ganze Schüssel voll Grüben (Greuben) vor. So nennt man in unsrer Gegend die kleinen dürren Schwartenbröcklein, welche übrig bleiben, wenn man Schweineschmalz aussiedet. Ich aß mit dem größten Appetit, bis ich einen Ekel empfand. Bald darauf ward mir überaus wehe, und meine Großmutter hatte viel auszustehen, bis sie mich heimbrachte. Wie tot lag ich eine Weile zu Hause, schlief endlich ein und erwachte den andern Tag frisch und gesund; aber noch heute ekelt mir vor Schweinefett. Der Metzger kam ein andermal wieder zum Schlachten in unser Haus. Er brachte zum Spaße Greuben mit, aber ich lief davon, sobald ich sie roch. Wir hatten eine einzige Kuh, die so fromm war wie ein Lamm. Wenn die Mutter abends noch nicht vom Felde gekommen war, ließ sie sich willig von mir an die Kette legen und hütete sich wohl, mich zu treten, auch sogar als ich einmal aus übergroßer Geschicklichkeit unter sie hineinfiel. Solange sie lebte, konnte jeder von uns Knaben zur Sommerszeit alle Morgen ein Geschirrchen voll saurer, gestockter Milch essen, damals eine meiner liebsten Speisen. Dieser Kuh schien einst etwas zu fehlen. Meine Mutter ließ einen Hirten (den sogenannten Schweizer) kommen und fragte ihn um Rat. Ich weiß es noch, wie er sagte: »Die Kuh hat die Erbsen (eine Krankheit), wenn ihr mir folgen wollt, so schlachtet sie ab, ehe sie zugrunde geht.« Das war uns allen ein Donnerschlag. Der Vater konnte keine andere kaufen; denn er hatte nicht soviel Geld, weil er das meiste einem Manne von Donauwörth gegeben hatte, damit er im Darmsaitenmachen bessern Unterricht erhalten und der schweren Zieglerarbeit los werden möchte, die er nun schon mehrere Jahre bei seinem Bruder, dem Ziegler zu Höchstädt, verrichtete. Allein was konnte man tun? Wenn man nicht den Wert des Fleisches verlieren wollte, so mußte die Kuh geschlachtet werden. Der Metzger ward also gerufen. Man brachte das Schlachtopfer aus dem Stalle, band es an einen Balken des Hauses und führte den tödlichen Streich. Ach, ich schrie und schluchzte vor innigster Wehmut und konnte den mörderlichen Anblick nicht ertragen, als das gute Tier erschlagen da lag, und noch die letzten Zuckungen seine Füße bewegten. Laut weinend lief ich weg. Nun hatte es mit dem Milchessen für immer ein Ende!
Desto hungriger strebten wir nach Obst. Aber in unserm Gärtchen wuchs keines, und Geld hatten wir nicht, um eines zu kaufen. Selten bekamen wir ein paar Birnen geschenkt. Mein Bruder Hans Michel und ich machten also gemeine Sache miteinander und schlüpften durch die Hecke, die unser Gärtchen von dem großen Garten der Klosterfrauen trennte. Immer lag da herabgefallenes Obst unter den Bäumen. Wir füllten geschwind unser Beinkleidermagazin und krochen wieder durch die Hecke. Das trieben wir ziemlich lange, ehe man es bemerkte. Wir wurden immer verwegener. Schon warfen wir mit kleinen Prügeln das Obst herunter. Zuletzt stiegen wir gar hinauf und rissen ab, was uns gefiel; denn im Umgang mit andern Knaben hatten wir bereits auf Bäume klettern und kühner rauben gelernt. Wir gruben in unsern Heustock ein Loch, so tief wir es graben konnten; in diesem Loche, das wir, nach anderer Buben Weise, ein Mautenhohl nannten, verbargen wir alle gesammelten Früchte und besuchten es, so oft wir Hunger hatten.
Nach und nach bemerkten die Klosterfrauen unsern Unfug und lauerten auf die Diebe. Einst war ich auf einen Baum gestiegen und warf Birnen herab, mein Bruder las sie unten auf. Da sprang eine Klosterfrau auf uns zu. Mein Bruder rief: »Xaverl, lauf!« und schlüpfte geschwind durch die Hecke. Bis ich vom Baume herabkam, war die Klosterfrau sehr nahe. Dennoch entlief ich ihr. Aber im Durchkriechen durch die Hecke stießen mir die Dornen den Strohhut vom Kopfe, und bis ich mich umwenden konnte, um ihn herauszulangen, hatte ihn die Klosterfrau weg und drohte, ihn meinem Vater zu geben, der mich gewiß wegen der Gartendieberei tüchtig abprügeln sollte. Es würde auch richtig geschehen sein, wenn sie geklagt hätte. Denn so wenig er sich erkundigte, woher wir unser Obst nähmen, so strenge verbot er uns das Steigen in fremde Gärten, weil er fürchtete, man möchte uns ertappen und in das Narrenhäuschen führen lassen, welches mit Hineinsperren und Herauslassen 21 Kreuzer gekostet hätte; und das war für ihn keine geringe Summe. Jämmerlich schrie ich also und bat um meinen Strohhut. Die Klosterfrau ließ sich endlich, vielleicht weil sie die Strenge meines Vaters kannte, bewegen und reichte mir den Hut wieder; aber ich mußte versprechen, nicht mehr durch die Hecke zu schlüpfen. Meiner Mutter jedoch erzählte sie den Vorfall. Diese hielt mir eine lange Strafpredigt darüber, stellte mir die Schuldigkeit, das gegebene Wort zu halten, recht lebhaft vor Augen, und wußte die Unredlichkeit derer, die ihr Versprechen nicht halten, mit den lebendigsten Farben zu malen. Da entfuhr mir zuletzt die Rede: »Ei Mutter, denkst du noch an den versprochenen Kreuzer wegen des Schlosses des Lumpenmichels?« Sie war betroffen darüber, und das Predigen nahm ein Ende.
Weil wir nun fürchteten, man würde uns wieder ertappen, und doch die schönen Früchte nicht gern ganz entbehren mochten, so holten wir ein paar andere Knaben in unser Gärtchen und ließen sie durch die Hecke kriechen: »Euch kennt man nicht, aber uns,« sagten wir. Die Knaben brachten uns Äpfel und Birnen, soviel wir wollten. Endlich wurden die Klosterfrauen gewahr, daß wieder Diebe durch unsere Gartenhecke passierten. Um jedermann die Luft zu vertreiben, hindurchzuschlüpfen, beschmierten sie den Grasboden, zunächst an der Hecke, eine ziemliche Strecke weit, mit dem abscheulichsten Unflat. Unsere Buben ließen sich aber dadurch nicht irre machen: »Man kann's wieder abwaschen«, sagten sie und krochen wie vorher hindurch. Selbst mein Bruder Hans Michel wagte es, ihnen Gesellschaft zu leisten. Leise schlichen sie sich an einen Baum; mein Bruder stieg hinauf und schüttelte, seine beiden Gefährten klaubten unten und ich lauschte durch die Hecke, um ihnen sogleich ein Zeichen zu geben, wenn die Klosterpforte sich öffnen würde. Aber an's Gartenhäuschen hatten wir gar nicht gedacht, aus dem plötzlich eine Klosterfrau hervorsprang und meine Gespielen verfolgte. Die Klauber liefen fort, sie ihnen nach bis an die bestrichene Stelle. Beide Knaben konnten nicht auf einmal durch die Lücke schlüpfen; da blieb der eine mitten auf dem unreinen Platze stehen, schnitt Grimassen, tauchte die Hände in Unrat und hielt sie ihr lachend entgegen. Was Rats? Wollte sie nicht beschmutzt werden, so mußte sie gehen. Also lief sie zum Baum, auf dem sich mein Bruder im dichtesten Laube versteckt hielt. »Ich sehe dich schon,« rief sie hinauf, »du mußt mir in's Narrenhäuschen. Steige nur herunter, oder ich stoße dich mit dieser Stange herab.« Wirklich ergriff sie auch die im Grase liegende Stange; aber der Bube stieg bis zum höchsten Wipfel hinauf, wohin die Stange nicht reichte. »Ich will dich da droben schon zeitig werden lassen,« sagte sie, warf ihre lange Stange weg und ging unter dem Baume umher. Uns wurde um den Belagerten bange. Wir warfen also ungesehen mit Steinen und morschen Birnen nach der Klosterfrau. Allein sie stellte sich so, daß sie der Stamm des Baumes vor unsern Würfen beschützte. Endlich ergriff der Gefangene auf dem Baume ein sehr einfaches Rettungsmittel, an das wir alle nicht gedacht hatten; denn die Angst ist erfinderisch. Er machte es beinahe wie der Fuchs, wenn ihn ein Hund zu lange verfolgt, und p...te auf die Nonne herab. Da lief sie, wie gejagt, von ihrem Wachtposten ins Freie, zankend und sich abtrocknend; und ehe sie es vermutete, war der Knabe den Baum herabgeklettert und entlaufen. Vergebens drohte sie uns. Der Vater vernahm nachher die Posse, aber sie dünkte ihn zu lächerlich, als daß er uns hätte bestrafen sollen. Vielmehr liebte er den Hans Michel seines schnellen Witzes wegen, der sich auch in andern Fällen äußerte, nur desto mehr.
So gut, wie bei den Klosterfrauen, gerieten dergleichen Streiche im Schloßgarten nicht. Der Schloßjäger war zugleich Gartenhüter. Wir fürchteten nichts so sehr als sein Geschoß. Dennoch wurde manchmal ein Haufen Knaben einig, die schönen Kirschen zu besuchen, die ihnen über den Bretterzaun herüber so einladend zulachten. Einst hatten wir Rat gehalten, wie wir mit der geringsten Gefahr das Wagestück unternehmen könnten. Die meisten Stimmen fielen dahin aus, wir wollten unten am Zaune ein Brett losmachen, damit einer nach dem andern hineinkriechen könnte, zwei sollten Wache halten und die Beute am Ende mit uns teilen, aber sobald sie etwas Verdächtiges bemerkten, uns sogleich ein lautes Zeichen geben. Der Entschluß ward ausgeführt. Dort, wo zunächst am Boden ein Brett des Zaunes an einen eingerammten Pfahl befestigt war, rissen wir es mit vieler Mühe von den Nägeln los, spreizten es mit einem kurzen Stecken so weit auf, daß wir einzeln unter der Spreize hindurchkriechen konnten, und bestiegen die Bäumchen umher, die voll schöner Kirschen hingen. Weil wir kein anderes Kleid als Beinkleider und Hemden am Leibe hatten, mußten uns dieselben für Taschen gelten. Plötzlich erschallte das Pfeifchen unsrer Wächter. Alle sprangen von den Bäumen. Es ward ein großes Gedränge am engen Ausgange, den wir uns bereitet hatten. Einige der Größern schwangen sich in der Angst über den Zaun; ich versuchte es auch, aber ich war zu klein, als daß es mir gelingen konnte, und mußte also durch die schon besetzte Öffnung zu entkommen eilen. Allein ich ward der letzte, und meine Vorgänger hatten im Durchkriechen die Spreize losgerissen, so daß mich das Brett durch seine Federkraft klemmte, meine Kirschen größtenteils zerdrückte und die Flucht verzögerte. Der Jäger kam indessen gelaufen und wollte mich bei den Beinen zurückziehen. Allein ich stemmte mich, weil ich einmal die Arme los hatte, so fest dagegen, daß er sein Vorhaben aufgab, mir die Beinkleider abstreifte, die nahestehenden Brennesseln abriß und derb damit auf mich loshieb, bis ich seiner müden Hand entschlüpfte. O, das brannte! Froh, entkommen zu sein, und doch heulend lief ich ins Felbergärtchen, stach mit meinem Messerchen geschwinde ein Stück Rasen los und setzte mich in die frische Erde, so wie wir Knaben ein Glied mit Erde zuzudecken pflegten, welches der Stich einer Biene verletzt hatte. Der ganze Trupp unsrer kleinen Korsaren sammelte sich um mich her, um seinen Spott mit mir zu treiben; das schmerzte beinahe so sehr, als das Peitschen mit Nesseln. Und als ich abends nach Hause kam, meine Beinkleider ausziehen sollte und nicht wollte, und der Vater die Makeln von den zerdrückten Kirschen im Hemde sah, da bekam ich erst noch obendrein einen neuen Lohn. »Wo bist du wieder in den Garten gestiegen?« fragte er zornig; ich mußte gestehen und erhielt, als er vom Schloßgarten hörte, eine doppelte Tracht Schläge und damit gute Nacht.
Nachdem unsere Kuh geschlachtet war, hatten wir einen guten Teil weniger Nahrung; man mußte Schmalz, Butter und Milch kaufen. Der Großvater hatte mich immer noch sehr lieb; er erbot sich, mich zu nähren. Ich war herzlich froh, von der geringen Kost der Eltern in eine etwas bessere zu kommen. Es hatte immer geheißen: Sauerkraut und Brot, Erdäpfel und Brot, und wieder Sauerkraut und Brot usw. Jetzt hieß es doch: Suppe und Nudeln (Gebackenes), allerlei Gemüse, und an großen Festtagen wohl gar Fleisch. Noch mehr aber freute es mich, die Verweise meines Vaters nun nicht mehr so oft wie vormals anhören zu müssen. Zwar durfte ich nicht beim Großvater schlafen, sondern mußte jeden Abend in des Vaters Wohnung zurückkommen, um da zu übernachten; aber ich war doch unter Tags glücklicher, als ich bisher gewesen war. Wenn ich morgens zur Schule ging, führte mich der Weg am Hause, wo die Großeltern wohnten, vorüber; dort blieb ich allzeit, unten an der Fensterwand, stehen, rief so lange hinauf, bis mich die Ahnfrau hörte, und bat um ein Stück Schulbrot, das sie mir niemals verweigerte. Einst trieb man eben die Viehherde aus, als ich unten auf der Gasse stand und mit aufmerksamen Blicken das Fenster hütete, woher ich mit Proviant versehen werden sollte. Plötzlich packte mich etwas rückwärts bei dem kleinen Wams und warf mich ziemlich hoch in die Luft, daß ich sehr unsanft auf das Steinpflaster zu sitzen kam. Als ich mich umsah, war's der Herdenstier gewesen, der sich das Vergnügen gemacht hatte, mich kleinen Schreier auf die Hörner zu laden und spielend ein wenig empor zu schleudern. Doch tat mir der Fall nicht den geringsten Schaden. Aber mehr als zwanzigmal kam mir nachher diese Geschichte, wunderlich verstaltet, im Traume vor, und gar oft mußte ich mit Stieren kämpfen.
Der Großvater und ich machten ordentlich Partei gegen die Ahnfrau, wenn sie uns nicht kochen wollte, was wir gern aßen. Noch erinnere ich mich z. B. wie wir einst bei Tische saßen und Sauerkraut aufgetragen wurde. Das war nun eben unsre liebste Speise nicht. »Schon wieder Kraut!« sagte der Großvater mit verzogenem Munde und stieß mich lächelnd an den Ellbogen. Ich hatte eine Dohle neben mir auf der Bank sitzen, mit der ich zu spielen pflegte. Diese nahm ich auf die Hand und hielt sie so an die Schüssel, daß ihr Schweif in das Essen sah, und sagte einen boshaft kindischen Schwabenreim. Mein Großvater wollte sich darüber beinahe außer Atem lachen; aber die Ahnfrau nahm zornig den Kochlöffel und hieb tapfer auf mich zu: »Was? du Kröte, willst mir das Essen verachten? Wirst noch einmal froh sein, wenn du genug Kraut hast!« – Auch wollte sie der Dohle den Hals umdrehen; aber lieber hätte ich mich selbst erdrosseln lassen, als meinen Vogel. Indessen eilte mir der Großvater zu Hilfe, zog sein ledernes Käppchen und schlug zum Spaße damit auf die Ahnfrau los, bis sich der Krieg mit Lachen endigte. Dergleichen Szenen waren nicht selten.
Vor dem untern Stadttor erhebt sich das Zimmerhaus am Ufer des Altwassers, eines langgestreckten Teiches, wo ehemals die Donau floß. Mein liebes Felbergärtchen, Wiesen, allerlei Obstgärten und eine Brücke waren nicht fern. Dorthin nahm mich oft mein Großvater mit. 0, wie freute ich mich da, über die hoch aufgehäuften Baumstämme klettern, oder mich hinter den ordentlich übereinandergelegten Brettern verbergen und in der Gegend umherhüpfen zu können.
Zuweilen nahm mich auch die Ahnfrau zum Kümmellesen mit. Ich sammelte fleißig meine kleine Bürde und ward nicht müde, nach Schmetterlingen zu laufen. O, wie wohl tat es mir, im hohen, lieblich duftenden Grase zu waten, wenn ich eben vorher den halben Tag in der dumpfigen Schule gesessen und schüchtern geseufzt hatte! Nur der Durst quälte mich zuweilen. Da gab mir die Ahnfrau Sauerampferblättchen zu kauen, oder die süßen Honigbehälter des Wiesenklees, ein angenehmes Linderungsmittel des brennenden Durstes! Manchmal, wenn der Großvater im Walde Holz fällen half, durfte ich sie begleiten, um ihm Speise und Trank zu bringen; da lehrte sie mich jedes Kraut, das uns aufstieß, jeden Baum, dessen Gestalt mich sonderbar dünkte, jeden Vogel, dessen Laut wir vernahmen, kurz, alle neuen Gegenstände, die uns begegneten, kennen. Dies hatte unendliche Reize für mich.
Auch mein Vater nahm mich zuweilen, wenn ich eine hübsche Schrift geschrieben hatte, in das sogen. Fischerhölzlein mit, wo es Hasen und Vogelnestchen gab. Er machte mich auf alles aufmerksam, zeigte mir verschiedene Gewächse und Tierchen und erzählte mir von manchen Dingen, wozu sie brauchbar wären. Am Dreifaltigkeitssonntage gingen meine Eltern, einer alten Gewohnheit zufolge, in das Feld hinaus zu einer Bildsäule, auf der die drei Personen der Gottheit in Wolken abgemalt waren, und pflegten da ihre Wallfahrtsandacht. Wir Kinder durften sie begleiten. O, wie schön dünkte uns da immer das weite unabsehbare Kornmeer voll bunter Blumen und Kräuter, voll Lerchengesang und Wachtelschlag! Dann besahen wir unser kleines Ackerfeld und empfanden große Freude darob, sagen zu können: das blüht und wächst für uns.
An andern Feiertagen führte mich der Vater in den Wald an der Donau, wo wir im Sommer Erdbeeren pflückten, oder im Herbste Haselnüsse lasen, oder die besten Plätze suchten, um Eicheln, dürres Holz und Laub zu sammeln. Da zeigte er mir wilde Tauben, Hasen und allerlei Raubvögel und einen Biberbau; und erzählte mir, wie er einst mit bloßer Hand einen Biber, den er für eine Fischotter hielt, fangen wollte, und wie ihm der Biber mit seinen Hauzähnen beinahe die Hand abgeschlagen hätte.
Nachdem ich einmal in der Gegend vor dem Tore bekannt war, lief ich ins Freie hinaus, so oft es anging, und traf da meistenteils Gesellschaft von andern Knaben an. Im Sommer, nachmittags an Feiertagen, nahmen sie mich oft zum Baden mit. Es war zwar scharf verboten, allein wir hatten des wenig acht; trockneten, ehe wir zur Vesper gingen, unsere Haare fleißig, damit man uns nicht ansehen möchte, was wir getan hatten; oder blieben gar vom Gottesdienste weg, wenn es uns nicht gelingen wollte, trocken zu werden. Einst badeten wir uns in einem seichten Arme der alten Donau, über welchen ein Brückchen geschlagen war. Wir liefen nach der Reihe mitten auf das Brückchen und stürzten uns in die Kühlung hinab. So trieben wir's, bis zwei Ratsherren mit einem kleinen Hunde des Weges kamen, der über das Brückchen führte. »Flieht, Buben, flieht,« rief unser Anführer, ein größerer Knabe, »sonst bekommen wir alle einen Stadtschilling« (öffentlich auf dem Markte die Rute). Jeder nahm also seine Kleider an den Arm, und lief, was er konnte, nackt eine lange Wiese hinab, bis wo unser kleines Badwasser in die Donau floh. Dort stand eine große Salzzille (ein Schiff). Wir sprangen, vom Hunde der Herren verfolgt, in das Schiff und warfen uns in die Kleider; die Herren kamen immer näher. Ein panischer Schrecken ergriff uns. Ein Knabe schrie: »Wir müssen das Schiff losmachen; Messer her, Messer her!« Da schnitten einige die Bänder entzwei, an denen das Schiff befestigt war, und es schwamm die Donau hinab. Eine gefährliche Unvorsichtigkeit! Wir hätten alle ertrinken können, denn es war kein Ruder im ganzen Fahrzeug, und unten, beim Dorfe Sondernheim, ragten Felsen aus dem Wasser. Wir fingen auch die Gefahr zu fühlen an. Zu gutem Glücke aber legte das Schiff sich selbst an's Gestade, und wir konnten aussteigen. Ich zweifle sehr, ob es gut getan ist, das Baden den Kindern ganz zu verbieten. Denn die Erfahrung lehrt allenthalben, daß ungeachtet der strengsten Verbote die Knaben im Sommer doch zum Baden an versteckte Uferplätze gehen. Wäre es nicht am besten, wenn die Obrigkeit gewisse gefahrlose Stellen in Flüssen und Bächen zu diesem Gebrauche bestimmte, und nur das Baden an andern Stellen bei Strafe untersagte?
Manchmal saßen wir, ohne die Kleider abzulegen, mitten in das Bächlein hinein, das durch die Stadt fließt, und machten Teiche mit einem starken Ausfluß, bei dem wir ein Mühlrädchen mit einer Welle und Klöppeln anbrachten, die wir selbst geschnitzt hatten; oder wir machten aus hohlem Schilfrohr Wasserleitungen und Rohrbrunnen; zwei meiner liebsten Beschäftigungen. Wenn uns die Leute sagten: »Ei, Buben, eure Kleider werden ja tropfnaß,« antworteten wir unbekümmert: »O, sie trocknen schon wieder!«
Ich war immer sehr gierig nach Fischen und kaufte mir deshalb eine Angel; der Vater drehte mir aus Roßhaaren eine Schnur daran; ich ging auf die Brücke über das Altwasser, das von Barschen wimmelte, und versuchte einige zu fangen. Manchen zog ich auf die Brücke und verletzte mich an seiner stachligen Rückenfeder, wenn ich verhindern wollte, daß er mir nicht mehr ins Wasser tanzte. Aber die Fischer verjagten mich bald von der vorteilhaften Stelle und nahmen mir Angel und Rute. Deswegen tat ich jedoch nicht auf allen Fischfang Verzicht. Wir haschten Steinkrebse und Gründlinge in kleinen Bächen und stellten den zurückgebliebenen Fischen in jeder Kiesgrube am Ufer nach. So gingen wir Kinder einst, nach einem großen Gewässer, mit der Mutter auf die Viehweide zum Heuen. In einer Grube sahen wir etwas wurmen und haschten lange darnach im Schlamme herum, ohne es fangen zu können. Die Mutter war indessen an ihre Arbeit gegangen. Da spazierte ein Soldat vorüber und bemerkte uns in der Grube, sah auch, wie das Ding, dem wir nachjagten, bald da bald dort im Schlamme wühlte. Er nahm unsern Rechen, der im Grase lag, ersah seinen Vorteil und riß – den schönsten Hecht ans Land heraus. Wir glaubten, er würde ihn uns geben. Aber er lachte unser und lief davon. O, wie verdroß uns das! Weithin verfolgten wir ihn mit Bitten, Vorwürfen, Schimpf und Tätlichkeiten. Hätten wir damals etwas von Prozessen gewußt, wir hätten ihm gewiß einen an den Hals geworfen. Traurig liefen wir zu der Mutter und erzählten ihr unser Schicksal. Allein da war keine Hilfe zu finden. Bald vergaßen wir den Hecht. Möchte doch dies bei jedem Unrechte, das einem widerfährt, die Geschichte der Rache, und bei jedem Anlasse zu einem Rechtsstreite, noch ehe er beginnt, der Ausgang sein. Abends setzte man uns auf ein Fuder Heu und fuhr nach der Heimat. Man mußte über einen Graben. Dort schlug der Wagen um, und ich fiel in den dicken Schlamm bis über die Ohren und das Heu über mich her. Man zog mich aber bald hervor und wusch mich ab. Es hätte nicht länger dauern dürfen, so wäre ich erstickt.
Oft erzählte uns der Vater vor dem Schlafengehen allerlei Geschichten von wilden Tieren, Gaunern im Walde, der wilden Jagd und dergl. Da waren wir ganz Ohr. Wir Kinder lagen in einer Kammer beisammen. Jeder hatte sein besonderes Bettstättchen. Ich lag an einer dünnen Wand, die nur aus Reifen geflochten und mit Lehm bekleidet war. Wenn es regnete, hörte ich alle Tropfen vom Dache plätschern; das war mir eine überaus angenehme Musik, und ich schlief dann noch einmal so süß. Wir hatten unter uns das Gesetz gemacht, daß jede Nacht ein andrer, wenn wir zu Bette gegangen wären, so lange erzählen sollte, bis er merken würde, daß die übrigen beiden schliefen. Eifrig studierte also jeder auf eine lange Geschichte, und wenn sie nicht lang genug war, so suchte er sie mit allen Umständen auszumalen, daß sie lang würde. Wenn einer wenig oder nichts Gefallendes zu erzählen wußte, so hatte es nichts zu bedeuten; er machte uns bald lange Weile, und wir schliefen auch bald ein. Aber die Kunst bestand darin, so zu erzählen, daß die andern keine Lust bekamen, einzuschlafen und die Phantasie recht lange in lebhaftem Spiel zu erhalten. Wir setzten ordentlich eine Ehre darein, dieses Ziel am besten zu erreichen. Unsre Wißbegierde ward dadurch unvermerkt zu einem hohen Grade aufgeregt, und wir baten jedermann, er möchte uns doch etwas erzählen. Mein jüngster Bruder, Franz Joseph, hatte gewöhnlich die lustigsten Einfälle. Lange wußten wir nicht, wie das zuging. Endlich erfuhren wir's. Er hatte sich an einen Soldaten gemacht, der bei einem unsrer Nachbarn im Quartier lag und ihm eine Menge drolliges Zeug erzählte. Ich malte meine Geschichten zu sehr aus und wollte sie zu genau darstellen. Darüber verloren sie ihren Reiz und wurden langweilig. – Gar oft phantasierten wir von nichts als von Kriegen unter den Tieren, oder unter den Vögeln, oder von Räuberbanden und einöden Wirtshäusern im Walde. Überhaupt glaube ich, ward damals unsre Phantasie auf eine gewisse Art sehr geübt, und vielleicht schreibt sich mein Hang zu Dichtungen daher: Denn wir blieben unserm Gesetze ein paar Jahre lang getreu, weil wir unser eigenes Vergnügen dabei fanden. Oft äußerten wir auch unsere kindischen Wünsche und malten die Lage mit allen Farben aus, in der wir uns gerne befunden hätten. Noch weiß ich's, daß ich wünschte, tief in einem Walde, wo viel wildes Obst wüchse, auf einem hohen Baum ein geflochtenes Zimmerchen zu haben, in welchem ein Bett stünde und ein Kasten mit Schneidewerkzeugen, um allerlei schnitzen zu können. Ich wollte mir eine Art Leiter an dem Baume befestigen, die zum Hinaufziehen zubereitet wäre, so daß niemand mich überraschen oder in meiner Klause beunruhigen könnte. Immer glaube ich, dieser Wunsch hat etwas Charakteristisches an sich. Eine Zurückgezogenheit und gänzliche Anhänglichkeit an das, was ich eben liebe, die noch nicht aus meiner Seele verschwunden sind, leuchten daraus hervor.
Unser Hang zu abenteuerlichen Erzählungen erhielt eine vorzügliche Nahrung im Winter. Da versammelten sich nachts die Nachbarsleute mit den Spinnrocken in unserer Stube und plauderten gar zu gern von Gespenstern, Hexen, Zauberern, Truten, Poltergeistern, weißen Frauen, versunkenen Schlössern, gefundenen Schätzen, Alraunen, vom Unsichtbar- und Festmachen und dergl. Aufmerksam saß ich hinter dem Ofen in meinem Winkelchen und wollte durchaus nicht zu Bette, obschon ich gar oft auf der Bank einschlief, wenn das Gespräch für mich nicht interessant genug war; oft getraute ich mir auch nicht mehr allein hinauszugehen, weil mich die Erzählungen von Gespenstern usw. sehr furchtsam gemacht hatten.
Meine Mutter geriet öfters, wenn sie nachts, an einem Fenster ohne Läden, in unsrer Stube sah, in einen panischen Schrecken und glaubte, der Böse schaue herein. Einst hatte sich wirklich eine Katze auf das Fenstergesimse gesetzt; da fiel sie ohnmächtig von der Bank herab.
Im Winter wurde uns einmal eine Henne krank und legte ein Ei ohne die gewöhnliche harte Schale. Sorgfältig machte meine Mutter derselben ein Bette unter dem Kruzifix zurecht, besprengte sie mit Weihwasser und holte einen Kapuziner, um die Kranke zu benedizieren. Der Kapuziner saß eben beim Abendessen und wollte – vielleicht auch der Unwichtigkeit des Vorfalls wegen – nicht sogleich gehen; allein meine Mutter machte die Sache so dringend, daß der Pater endlich, obschon etwas verdrossen, mit ihr ging. Noch glaube ich ihn zu sehen, wie er die Henne samt der ganzen Stube segnete, kreuzte, besprengte und beräucherte. Zuletzt stellte er das kleine Becken, worin der Hexenrauch auf der Glut lag, zur Erde, hieß jedes von uns nach der Reihe, mit auseinandergespreizten Beinen, eine Weile darüberstehen und murmelte aus einem schmutzigen Büchlein einige uns unverständliche Formeln her. Dann befahl er die Hühnersteige, die unter der Eltern Bettstelle war, fleißig zu säubern und reinen Sand hineinzustreuen und verließ uns mit der Anweisung, wir sollten mit geweihten Kräutern die Räucherung öfters wiederholen. Wirklich ward die Henne des anderen Tages wieder gesund. Damals dünkte mich, was Sand und Reinlichkeit bewirkte, ein großes, unwidersprechliches Wunder.
Bald darauf lag die Mutter meines Vaters auf dem Totenbette. Er ging, um Ehschwing (Abfall vom Flachse, noch geringer als Werg) für den Winter zum Spinnen zu sammeln auf die Dörfer hinaus und blieb bis spät in die Nacht weg. Schon manchmal hatte er gedroht, seine Geige zu nehmen und auf und davon zu laufen, weil er öfters mißvergnügt war. Nun glaubten wir wirklich, er habe endlich seine Drohung wahrgemacht; denn die Geige war auch nicht zu finden. O, wie trauerte und jammerte da meine gute Mutter! Es schlug zwölf Uhr, eins, zwei. Noch war er nicht da. Alles lag draußen mit Schnee bedeckt. Entweder war er entflohen, oder er irrte ängstlich in der Finsternis umher. – Wir Kinder meinten, es hätte nichts zu bedeuten, wenn der Vater fortginge; dann würde doch niemand mehr mit uns und der Mutter zanken und dergl. Aber die Mutter war nicht so gesinnt. Denn sie dachte: woher das Essen nehmen, wenn kein Verdienst da ist? Morgens endlich, als der Tag anbrach, langte der Vater, zur großen Freude der Mutter mit einer schweren Bürde Ehschwing an und erzählte sein Abenteuer. Er hatte sich abends erst spät auf den Weg gemacht, der über ein weites Ried (das Donautal) führte. Der Schnee und aufsteigende Nebel machten, daß er sich verirrte und die halbe Nacht zwischen breiten Gräben und Teichen umherlief. Er glaubte, ein Gespenst habe ihn verführt, und sah immer ein kleines, bläuliches Lichtchen vor sich herwandeln, um welches eine durchsichtige Nebelfigur, das Bild seiner Mutter, schwebend, erschien. Lange folgte er, große Tropfen schwitzend, dieser Erscheinung. Endlich ermüdete er sich zu sehr, suchte ein trockenes Plätzchen, warf seine Bürde nieder, breitete die Ehschwing aus und legte sich mitten darein, um unbekümmert bis an den Morgen zu schlafen. Wirklich war in dieser Nacht seine Mutter gestorben. Aber ich glaube, auch ohne dies würde er ebendieselbe Erscheinung gesehen haben; denn er hatte sie, ehe er ausging, auf ihrem Sterbelager besucht und mußte sich ihrer auf einsamen Wegen notwendig erinnern. Nun war es wohl kein Wunder, wenn die starke Anstrengung, um den rechten Weg aufzufinden, ihm eine Erscheinung vor die Augen zauberte, und wenn seine Furcht diesem Lichtspektrum Gestalt und Bildung seiner todkranken Mutter lieh. Aber meine Mutter und wir zweifelten damals gar nicht an der Richtigkeit dieser Geistererscheinung. Daß durch dergleichen Erzählungen und Ereignisse mein Kopf mit allen gewöhnlichen Vorurteilen des Pöbels reichlich gefüllt werden mußte, wird jedem begreiflich sein.
Einst kam mein Vater, sichtbar vergnügter als sonst, von der Arbeit nach Hause. Ich stand im Winkel hinterm Ofen. Da erzählte er meiner Mutter voll Freude: »Denke doch, Babet! Heute ging der Herr Kantor am Ziegelstadel vorüber spazieren und grüßte mich bei meiner Arbeit sehr freundlich. ›Hans,‹ sagte er, ›überlaß mir deinen ältesten Buben, ich will ihn unentgeltlich im Singen unterrichten; ich hab' ihn beobachtet, er gefällt mir!‹ Mein Bruder, der Ziegler, stand dabei und meinte, seine Knaben seien größer, der Herr Kantor sollte einen von ihnen wählen. Aber er wollte nicht und sagte: ›Georg! von seinen Buben taugt keiner so, wie das kleine Zimmermännchen (so nannte er mich oft wegen meines Großvaters); der ist still und lustig und lernt leicht.‹ Dann mußte ich mein Wort geben, daß ich meinen Xaver, des Unterrichts halber, seinem Gutdünken ganz überlassen wollte, und ich hab' es auch sogleich getan; denn es ist wohl ein großes Glück und eine besondere Schickung Gottes, daß der Herr Kantor eben unser Kind gewählt hat.« Meine Mutter weinte vor Freuden. Denn es ward wirklich für ein großes Glück gehalten, wenn der Herr Kantor, Joseph Wild, einem Knaben Unterricht in der Musik erteilte. Er war hierin sehr geschickt und hatte schon mehr als 40 Lehrlinge erzogen, und alle entweder in Klöster oder in Studentenseminarien kostfrei gebracht. Aber er behandelte seine Schüler überaus strenge. Meine Mutter wurde von der Hoffnung, einen geistlichen Sohn zu bekommen, so entzückt, daß sie gar nicht an diese Strenge dachte, sondern sich schon mit Plänen abgab, wie sie mir die Reisekosten zur Weihe herbeischaffen wollte. Wenn ihr dann in ihren Gedanken etwas Bedenkliches aufstieß, so wußte sie sich immer mit dem Spruche zu helfen: »Unser Herrgott wird weiter für ihn sorgen: schon viele Kinder armer Leute sind Geistliche geworden, ohne von Haus die geringste Hilfe zu haben.« Was indessen ihr so viele Freude machte, war mir eine schreckliche, niederschlagende Nachricht. Mir schwebten des Kantors Exekutionen mit der Ochsensehne und mit dem Baßfuße, den er seinen Singknaben gar zu gern in die Rippen stieß, lebhaft vor Augen. Ich fing herzinniglich darüber zu weinen an. Allein Vater und Mutter erschöpften alle ihre Überredungskünste und malten mir so viele Herrlichkeiten, die meiner warten würden, vor Augen, daß ich endlich, des Weinens müde, einige Beruhigung zeigte. Der ganze Abend und die halbe Nacht, ward mit Herzählung schöner Aussichten und großer Hoffnungen hingebracht; sogar die Nachbarinnen wurden herbeigerufen, um Anteil an dem neuen Glücke zu nehmen. Es wurden Geschichten auf die Bahn gebracht, von großen Herren, die von sehr armen Eltern herstammten, und unter andern von einem Papste, Sixt V., der eine sehr arme Mutter hatte. Sie wollte ihn besuchen und zog prächtige Kleider an, damit er sich ihrer nicht schämen dürfte; aber der Papst tat, wie wenn er sie nicht kannte. Nun zog sie ihre ärmlichen Kleider wieder an und ging zu ihm; da hieß er sie zu seiner Rechten an die Tafel sitzen und ehrte sie auf alle Weise. »Xaver!« sagte meine Mutter zu mir, »wenn du ein großer Herr werden solltest und ich käme zu dir, würdest du mich wohl auch noch kennen?« – Ich besann mich und wollte sagen: »Nicht nur kennen, sondern noch mehr verehren wollte ich dich, als jener Papst seine Mutter.« Allein meine Pause kam ihr ganz ungelegen; sie hatte das schleunigste Ja vermutet. Ohne meine Antwort abzuwarten, rief sie mit Bitterkeit aus: »Da seht mir nur den elenden Buben an. Er besinnt sich noch, ob er mich einst kennen will. Du hoffärtige Kröte!« Ich mochte beteuern und sagen, was ich konnte, es half nichts, sie ließ sich nicht mehr beruhigen. Verdrießlich jagte sie mich zu Bette.
Am folgenden Morgen führte mich die Mutter in die Schule, nahm ein Stück geräuchertes Fleisch mit sich und machte dem Herrn Kantor, unter einem Strome von Ausdrücken der Dankbarkeit, ein Geschenk damit. Ich ward also, als angehender Singknabe, zum erstenmal an eine Schultafel gezogen, an welcher der Herr Kantor und einige junge Herrchen, Beamtensöhne, saßen. Mit schwerem Herzen nahm ich mein Plätzchen ein. Es war so nahe an dem fürchterlichen Manne, und ich konnte keine einzige meiner kleinen Tändeleien mehr treiben, die mir sonst die Schulzeit so angenehm kürzten. Kaum getraute ich mir zu atmen. Wenn ich mich aber von ungefähr vergaß und in Gedanken vertieft wie staunend dasaß, so schreckte mich plötzlich sein rauher Zuruf: »Wurmmännchen, wo sind deine Gedanken? Was grübelst du wieder?«
Sogleich ward mir ein kleines Notenbuch, Anfangsgründe der Singkunst, vorgelegt, und ich mußte mit meiner Diskantstimme die ersten Töne versuchen. Die Taktausteilung begriff ich leicht; denn mein Vater hatte mich zu Haus schon lange einige Tänze auf der Geige spielen gelehrt; ich konnte zwar die Griffe kaum erspannen, aber das machte ihn nicht irre; noch glaube ich es zu fühlen, wie er mir ungeduldig die Fingerchen auseinanderzerrte und den ermüdeten Arm streckte, oder mit dem Fidelbogen darauf zupeitschte. Nebenbei unterrichtete mich Herr Kantor im Notenschreiben. Er hatte sich mit mir den Plan gemacht, ich sollte ihm als Notenschreiber dienen; denn es wurden ihm aus allen umliegenden Klöstern Musikalien zugeschickt.
Nun fing für mich ein wahres Sklavenleben an. Ich bekam Befehl, den ganzen Sommer morgens um 6 Uhr in der Schule zu erscheinen. O wie ungern verließ ich da mein liebes Bettchen! Die Zeit bis acht Uhr brachte ich mit Notenschreiben hin, dann ging's in die Messe, dann zur Schule zurück. Da mußte ich teils wieder Noten schreiben, teils still summend mein Singpensum lernen, um es in der Singstunde dem Lehrer vorsingen zu können, wo es denn sehr oft derbe Püffe setzte. Am meisten schmerzte es mich, wenn der Herr Kantor, der hinter mir auf einer Tafel saß, mit der Spitze seiner Schuhe mich an den Schenkel stieß. Das ganze Jahr hatte ich daran blaue und schwarze Flecken. Meine Mutter sah sie einst und empfand ein so großes Mitleid, daß sie mich durchaus nicht mehr in die Schule lassen wollte. Ha, wie jubelte und frohlockte ich da! – Allein, da die Flecken aus dem Schwarzen ins Gelbe zu schielen anfingen und also schleunige Heilung versprachen, und der Kantor sich wegen meiner erkundigen ließ, führte sie mich doch wieder hin und sprach mit dem Kantor im geheimen. Oft gab es auch kräftige Spanniole (Schläge mit der Ochsensehne auf die gespannten Beinkleider) oder gar Nasse. So nannten wir die Schläge mit der Sehne auf das bloße Sitzfleisch; die schmerzlichste Strafe von allen. Wer einen Nassen bekam, konnte in einigen Tagen noch die Streiche an den zurückgelassenen Malzeichen zählen. Um zehn Uhr war die Schule zu Ende und die Singstunde fing an. Jeder von den Singschülern durfte da einen kurzen Abtritt nehmen. Das Schulhaus stand zunächst an dem obern Tore, vor welchem sich allerlei Gärten mit dazwischenlaufenden Heckengäßchen und Gräben hinziehen. In diesen Gäßchen holten wir gewöhnlich frische Luft, zählten manchmal zum Spaße einander die Striemen auf dem Gesäße und stritten uns, als wär' es eine große Ehre, die meisten zu haben. Um 11 Uhr durfte ich zum Essen nach Hause laufen. Mit dem Schlage ein Uhr mußte ich wieder in der Schule sein und Noten schreiben. Um zwei Uhr kamen die Schulkinder und gingen um vier Uhr wieder weg: dann begann die zweite Singstunde. Um fünf Uhr ward ich gewöhnlich entlassen, außer, wenn recht viele Noten abzuschreiben waren, dann dauerte es bis sechs Uhr, und das geschah sehr oft. Die Frau Kantorin erbarmte sich zuweilen meiner und reichte mir etwas Gebackenes. Dafür mußte ich ihr auch Branntwein holen, wenn ich vom Herrn Kantor entlassen war. Getreu brachte ich ihn lange Zeit vom Wirte gerade zu ihr. Aber einst trafen mich andre Knaben an und sagten: »Narr, saufe der Alten das Glas halb aus und schütte Wasser darein!« Sie redeten mir so lange zu, bis ich einen Zug tat. Aber o wehe! Das brannte am Gaumen und im Halse hinab! Ich mochte nimmer trinken. Wein Geschmack, der an kein andres Getränke als an Wasser gewöhnt war, fand sich abgestumpft, wie von flüssigem Feuer. Ein Bube riß mir das Glas aus den Händen und soff es größtenteils aus. Dann lief er zum Bache und füllte es mit Wasser auf. Voll Furcht brachte ich das Glas der Lehrerin. »Wie kommt's, daß er so mattweiß ist,« sagte sie. Ich bebte am ganzen Leibe, stotterte furchtsam: »Ich weiß nicht,« und lief davon. Den andern Tag nahm sie mich auf die Seite: »Du böser Bube,« sprach sie, »ist das der Dank für die guten Bissen, die ich dir gab? – Mir meinen Branntwein zu verderben! – Von nun an sollst du nichts mehr haben.« Sie hielt auch treulich Wort.
Rieninger, ein fremder Knabe aus dem Öttingischen, war in meiner Nachbarschaft beim Bader Schmitzer in der Kost. Man hatte ihn nach Höchstädt geschickt, um da singen zu lernen. Der gute freundliche Junge und ich gewannen uns herzlich lieb und suchten einander überall auf. Wenn die Schule geendigt war, nahmen wir ein Körbchen; jeder hielt einen Henkel davon in der Hand, und so schlenderten wir, zwischen uns das Körbchen schwingend, zum Tor hinaus auf die Wiesen und sammelten für den Bader, seinen Kostherrn, Kamillen und andere Kräuter, die er uns kennen gelernt hatte; oder wir suchten einen schönen Busch und spielten die Einsiedler, oder setzten uns in den Schatten und schnitzten geringelte Stäbe, an denen sich die grüne Haut zwischen den weißen, entblößten Teilen wie eine Schlange emporwand. So oft wir ins Grüne kamen, war es uns, wie wenn wir aus einem Kerker in ein Paradies traten; so lieblich und heiter schien uns Erde und Himmel anzulächeln.
Am Abend liefen wir mit andern Buben und nahmen teil an ihren Spielen. Bei aller meiner Anstrengung konnte ich es aber nie so weit bringen, daß ich mich in Gewandtheit und körperlicher Geschicklichkeit ausgezeichnet hätte. Meinem Bruder Hans Michel gelang dies besser. Ich blieb immer ein schmächtiger, kleiner Knabe, den die Buben deswegen nur des Zieglers Hering nannten. Wenn wir heimkamen und ein zerrissenes Kleidungsstück von unsern Kämpfen zeugte, fragte der Vater sogleich: »habt ihr wieder gerauft, ihr bösen Buben?« »Ja,« hieß es dann, »der und der hat mich angegriffen und geschlagen, und ich habe mich doch wehren müssen.« Dann sagte mein Vater: »Wenn ihr euch nicht wehrt, Buben, und euch als Feige von andern schlagen lasset, und ich werde es inne, so will ich euch noch einmal schlagen, damit ihr euch wehren lernt.« Wir waren also beim Raufen wie die Dachse. Dennoch mußte ich oft unterliegen; denn ich war zu schwach.
Weine Eltern waren beide andächtig, lehrten mich bald allerlei Formeln und taten sich manchmal etwas darauf zugute, daß ich sie so ganz, ohne anzustoßen, hersagen könnte. Freilich verstand ich nichts davon. Allein wie vielen Eltern liegt wohl daran, daß ihre Kinder verstehen, was sie plappern? Genug! wer die Formeln herspricht, von dem sagt man beinahe noch allgemein: »Er betet«. So mußte ich die Morgen-, Abend- und Tischgebete laut sprechen. Doch erinnere ich mich, daß ich schon in der frühesten Jugend ein kleines Liedchen mit einiger Andacht und mit wirklich empfundenem Zutrauen, so oft ich zu Bette ging, wiederholte. Es hieß:
Heiliger Schutzengel mein,
Laß mich dir befohlen sein usw.
Da stellte ich mir den heiligen Schutzengel als einen schönen freundlichen Jüngling vor, der mich beim rechten Arme führte. Den Teufel aber hatte man mir als ein abscheulich häßliches Ungeheuer beschrieben, das sich immer von der linken Seite mir zu nähern suche und Krallen und Zähne gegen mich hervorstrecke. Oft, wenn meine Phantasie ihn recht lebhaft mir darstellte, spie ich eifrig zur Linken aus, wie wenn ich sein häßliches Gesicht treffen wollte.
Das Kruzifix in unsrer Stube achteten wir sehr hoch. Wenn der Vater von einer Hochzeit kam, wo seine Geige mit einem bunten Krönchen von Flittern geziert worden war, gab er uns das Krönchen, und wir setzten es dem Herrn Jesus über den Dornenkranz. Manchmal bespickten wir das Kreuz um und um mit Ringelblumen, die uns die Klosterfrauen geschenkt hatten.
Meine Mutter schickte mich, wenn wir Vakanz (Schulferien) hatten, täglich zu den Kapuzinern in die Messe. Gewöhnlich stellte ich mich mit andern Kindern an die leere Kommunikantenbank und bemühte mich an das mittelste Plätzchen zu kommen. Denn dort ragte die Spitze eines Schloßriegels hervor, mit dem ich mich gar gern unterhielt. Man konnte ihn niederdrücken und, wenn man ihn losschnappen ließ, machte er ein ziemliches Geräusche. Diese Tändelei und das Besehen der mannigfaltigen Blumenbüsche auf dem Altare nebst dem Schwatzen mit den Kindern, die neben mir standen, war meine gewöhnliche Beschäftigung unter der Messe. Oft zerbrach ich mir den Kopf über die innere Einrichtung des Schlosses und konnte lange nicht begreifen, wie es komme, daß der niedergedrückte Riegel immer mit erneuter Kraft wieder hervorspringe.
Wir besaßen ein Büchlein voll Kupferstichen, welche das Leiden Christi vorstellten. Die Mutter erklärte uns, was wir nicht verstanden. Da kratzten wir aus christlicher Rache den Juden die Augen aus und schlugen sie mit Fäusten, daß der Tisch erzitterte.
In einem andern Büchlein waren für allerlei Sünden besondere Peinen des Fegefeuers in Holzschnitten abgebildet. Z. B. die Strafe für Fraß und Völlerei war, daß die Teufel den nackten armen Seelen Kröten und Schlangen vorsetzten und feurige Flüssigkeiten in den Hals gossen; für Wollüstlinge, daß sie auf Räder mit hervorstehenden Spitzen gebunden, von Teufeln mit Hacken zerfleischt und über ein Ährenfeld von Hellebarden dahingewälzt wurden; für Lustigmacher und Tänzer, daß sie über einen gekrümmten, langen und fürchterlich schmalen Steg ohne Geländer, unter welchem feuerspeiende Satane mit ausgestreckten Krallen und Hacken standen, und Spieße statt des Schilfs angebracht waren, zur Himmelspforte hinüberwandern mußten. Einst hörte ich überdies den Prediger sagen, in die Hölle schneie es die Seelen hinab, indes etwa eine einzige zum Himmel auffliege, »Hm,« dachte ich, »mir wird es schwerlich gelingen, der Auserwählte zu sein; ich komme gewiß in die Hölle. Wenn ich nur wüßte, wie man ein Teufel werden kann! Die haben es doch besser als die armen Seelen.« – Denn das begriff ich wohl, daß die Henker besser daran sind, als die armen Sünder, die von ihnen gerädert werden. Ich trug mein Bedenken den Knaben vor, mit denen ich gewöhnlich herumlief; allein sie wußten mir nicht zu raten, obschon sie bald meines Sinnes waren. Ich wandte mich also mit Vorsicht an meinen Vater und holte weit aus, bis ich auf den Hauptpunkt kam. Aber wehe, ich hatte kaum die Frage vorgelegt, wie man denn ein Teufel werden könne, so peitschte er schon unbarmherzig auf mich los, indem er schrie: »Du gottloser Bube, ein Teufel willst du werden, ein Teufel? Ich will dir die Lust dazu und den Teufel schon austreiben!« Nachdem endlich der Tanz vorüber war, erklärte er mir erst, daß die bösen Geister weit schlimmer daran wären, als die armen Seelen, denn sie müßten von der Gerechtigkeit Gottes die herbesten Peinen ausstehen. Ich schwieg zwar, aber ich konnte mir doch von diesen unausstehlich sein sollenden Peinen gar keine Vorstellung machen.
Wir mußten freilich an Sonn- und Feiertagen, wenn wir aus der Predigt kamen, etwas vom Inhalte derselben wissen oder man tischte uns hinter der Tür auf, das heißt, man setzte einen Fußschemel vor uns hin, ein Schüsselchen voll Wasser mit einem darinliegenden Stein darauf, und reichte uns nur zur Gnade ein wenig Brot. Unsre Bank war der Boden. Öfters widerfuhr mir dies. Denn meine Hauptbeschäftigung unter der Predigt war, auf eine besonders künstliche Art den Rosenkranz um die Hand zu schlingen und ihn davon herabzuziehen, obschon mir ein andrer den Daumen hielt; oder den Spinnen in den Winkeln der Kirchenstühle zuzusehen, oder andre kleine Insekten, die auf dem steinernen Pflaster krochen, zu beobachten. So verstand ich nur das Auffallendste, was etwa der Prediger sagte, und vergaß es meistens wieder, bis ich nach Hause kam.
Im achten Jahre erhielt ich in der Schule, besonders aber zu Hause von meiner Mutter, Anleitung zur Beicht zu gehen. Am Tage, an dem ich zum erstenmal beichten sollte, weckte mich meine Mutter etwas früher auf, kleidete mich in's Festgewand und setzte sich an die offene Küchenkastentür, in der, wie in den Beichtstühlen, eine mit durchlöchertem Bleche bedeckte Öffnung angebracht war; ich mußte auf der andern Seite der Tür alles genau so machen, wie ich es im Beichtstuhle zu machen vorhatte. Wirklich beichtete ich ihr alle meine Sünden, so wie dem Priester in der Kirche. Nachdem ich diesem mein Bekenntnis abgelegt hatte, gab er mir zur Buße auf, einige Vaterunser zu beten, und entließ mich mit einem geistlichen Zuspruche. Das Nachdenken über seinen Zuspruch machte, daß ich vergaß, was für ein Gebet er mir zur Buße aufgegeben hatte, und daß ich nach langem ängstlichen Besinnen noch einmal in den Beichtstuhl treten mußte, um mir das Vergessene zum zweitenmale sagen zu lassen. Das verdroß meine Mutter, die es gewahr wurde, recht sehr; denn sie hatte gehofft, ich würde, durch ihren deutlichen Unterricht belehrt, ganz gewiß der geschickteste Knabe sein.
Im neunten Jahre sollte ich auch zum Abendmahl gehen. Mein Vater prüfte mich immer selbst, ehe ich zur Unterweisung ging, und wenn er fand, daß ich nichts gelernt hatte, so nahm er den hölzernen Präzeptor, wie er ihn nannte, einen Besenstiel, zu Hilfe. Dies zwang mir natürlicherweise die unbegreiflichsten Dogmen ohne weiteres in den Kopf. Meine Mutter nahm sich zugleich die Mühe, mich praktisch zu unterrichten, wie ich mich der Kommunionbank nähern, das geweihte Brot in den Mund fassen und mich nach dem Weggehen vom heiligen Tische verhalten sollte.
Es gelang mir diesmal auch wirklich besser, ihrem Unterrichte nachzukommen, als bei der ersten Beicht. Nur eins wollte ihr nicht gefallen, nämlich als der Mesner mir den Weinbecher darbot, der sogleich nach der Kommunion herumgegeben wird, um die Hostie hinabzuspülen, schüttelte ich den Kopf vor dem Weine, wie einer, der etwas Ekelhaftes in den Mund gebracht hat. Wirklich hatte ich geglaubt, der Wein sei ein süßes, angenehmes Getränk; aber nun entdeckte ich mit Ekel, daß er nicht viel besser als Essig schmeckte. Einst empfand ich auf einmal Übelkeiten in der Kirche. Man trug mich hinaus und setzte mich auf einen Stein vor der Pforte des Kapuzinerklosters. Ich erholte mich und wankte nach Haus. Da brachte mich die Mutter zu Bette, und ich bekam starken Fieberfrost. Nicht lange, so zeigten sich die Blattern. Um mich immer in den Augen zu haben, ward mir das Bett in die Stube gemacht. Ich bekam so viele Blattern, daß man glaubte, ich würde sterben, oder wenigstens blind werden. Schon sprach man mir vom Beichten und von einem glückseligen Sterbestündlein. Wirklich phantasierte ich sehr heftig, und jede Fensterscheibe schien sich in meinen Augen wie ein großes Feuerrad umzuwälzen; eine höchst widerliche Empfindung! Meine Mutter bedeckte also alle Fenster mit dicken Tüchern; und da ward ich ruhig. Als die Blattern abzudorren anfingen, verursachten sie mir ein heftiges Jucken und Beißen. Ich konnte mich nicht mehr enthalten, sie loszukratzen. Mein Vater besorgte, ich möchte allzusehr blatternarbig werden, und setzte sich, so oft er zu Hause war, mit einer Rute vor mich hin, um mich davon abzuschrecken. Allein ich steckte den Kopf unbemerkt unter das Bett und riß ab, was ich konnte. Er ward böse und gab mir etliche tüchtige Streiche auf die Hände, so sehr er mich auch seither geschont hatte. Aber mir tat nun die Kühlung der mich anwehenden Luft so wohl, daß ich es für eine herrliche Erfrischung hielt und des Vaters Rute wenig achtete. Freilich ward ich darauf ziemlich blatternarbig. Sobald es mit mir keine Gefahr mehr hatte, gingen meine Eltern ihrer Arbeit nach. Da war ich einst an einem schönen Nachmittage allein zu Hause. Ein Fenster stand offen. Der lieblichste Rosengeruch duftete herein. Denn am Zaune unseres Gärtchens blühte ein alter Rosenstrauch, groß wie ein Baum, und über und über mit weißen Rosen behangen. Die Begierde, Rosen zu haben, trieb mich aus dem Bett. Ich konnte zwar vor Schwachheit noch nicht gehen, aber ich kroch auf allen vieren und mühte mich sehr ab, bis ich etliche Rosen hatte. Ich nahm sie in den Mund und kroch wieder ins Haus. Der Sonnenschein hatte mir sehr geschmeichelt. Nicht ohne Schwierigkeit stieg ich wieder ins Bett und tändelte mit meinen Blumen, bis die Mutter kam. O, wie begierig schlürfte ich ihren süßen Wohlgeruch in mich! Sie erschrak herzlich, als ich ihr mein Wagestück erzählte, und fürchtete, ich möchte mich zu frühe verkältet haben und Schaden nehmen. Allein ich ward bald ganz gesund und konnte wieder die Schule besuchen. Aber anstatt des Diskants, den ich vorher gesungen hatte, mußte ich nun den Alt singen; denn der Herr Kantor behauptete, meine Stimme habe sich in eine tiefere verändert.
Der Herr Kantor hatte mir ein großes Singbuch gegeben. Wenn mich nun lustige Leute damit laufen sahen, so blieben sie gar oft stehen, und sprachen: Buch, wo willst du mit dem Büblein hin? oder andere dergleichen Späße. Da bildete ich mir schon große Dinge darauf ein und lernte noch einmal so gern. Durch mein Singen bei Leichen, Kreuzgängen, Hochzeitämtern usw. verdiente ich manche kleine Summe, die mir der Herr Kantor zuweilen überließ. Dies machte meinem Vater großes Vergnügen. Mein Großvater aber freute sich am meisten, daß er mich nun mit den Geistlichen die Vesper psallieren und auf dem Musikchor singen hörte. Mich freute am meisten, daß ich nun von Eltern, mit deren Kindern ich abends das Singpensum repetierte, manches brauchbare, obschon abgetragene Kleidungsstück geschenkt bekam. Denn an Kleidern litten wir großen Mangel, und fast alles, was wir anzuziehen hatten, wußte die Mutter von gutherzigen Leuten zu erbitten. Nur im Winter trugen wir zur Not Schuhe und Strümpfe, und zwar sehr elende; im Sommer liefen wir barfuß.
Als ich nun im Singen fertig und geübt genug war, mußte ich dem Herrn Kantor beim Abhören der Singschüler helfen. Er saß oben an der Tafel, ich unten. Jeder von uns beiden hatte ein Pult vor sich stehen, worauf die Kinder ihre Bücher und Noten legten. Mein Pult war aus drei Brettchen zusammengenagelt, zwischen denen ein hohler Raum blieb. Ein Singschüler, namens Weiher, hatte gemeiniglich sein Pensum gar schlecht gelernt und bekam deswegen viele Schläge. Einst traf mich die Reihe, ihn abzuhören. Er trat ans Pult und fing an zu singen, stockte aber bald. Ich half ihm in den Ton. Da sprach er leise zu mir: »Sage doch dem Herrn Kantor, ich habe mein Pensum gut gesungen und nimm den Apfel, den ich jetzt unter das Pult lege, samt den zwei Kreuzern, die darin stecken.« Nun ließ ich ihn ziehen; denn zwei Kreuzer waren ein großer Reichtum und also eine starke Lockung für mich. Nach der Schule fing die eigentliche Singstunde an. Da mußte ich dem Herrn Kantor über die von mir abgehörten Schüler referieren. Immer hatte ich es treu und redlich getan. Aber diesmal sagte ich, vom Geschenk verführt: »Der Weiher hat gut gesungen.« Allein der Herr Kantor hatte das Flüstern bemerkt und unser Betragen wohl belauscht; er rief den Weiher zum Singen herbei und hörte sogleich, daß ich ihm die Unwahrheit hinterbracht hatte. Nun brach ein schreckliches Gewitter über uns beide los. Ich mußte gestehen, daß ich bestochen ward, und Herr Kantor ergriff im Zorn den Weiher zuerst und schüttelte ihn so heftig bei den Ohren, daß ihm die Haut hinter denselben zerriß und das Blut herabströmte; überdies bekam er noch obendrein einen Nassen. Mir war unaussprechlich angst bei der Sache. Das Herz, davon zu laufen, hatte ich nicht, und da zu bleiben war gefährlich. Geduldig wartete ich ab, was über mich verfügt werden würde. Als die Exekution an Weihern vorüber war, kam die Reihe an mich; man nahm mir den Apfel und die zwei Kreuzer, ich ward mit Füßen gestoßen und bekam einen entsetzlich heftigen Nassen mit des Lehrers Mantel um den Kopf. Dennoch hörte die Frau Kantorin mein mörderliches Geschrei und kam mit dem Spinnrocken mir zu Hilfe. Sie stieß damit den Kantor solange auf seinen dicken Bauch, bis er mich endlich losließ. Aber wehe, ich konnte kaum gehen, viel weniger sitzen. Wie unsinnig lief ich nach Haus. Meine Mutter und sogar mein Vater zürnten über die unmenschliche Behandlung, und beide wollten mich nicht mehr in die Schule gehen lassen. »Er kann ein Bader (Chirurg) werden,« sagte mein Vetter, ein Bader seiner Kunst, »ich nehme ihn umsonst in die Lehre.« O, wie freute mich dies Anerbieten! Es ward auch wirklich beschlossen, ich sollte ein Bader werden. Aber der Herr Kantor schickte wieder zu uns, als die Hitze bereits auf seiner und meiner Eltern Seite verraucht war, und ich mußte zu meinem großen Leidwesen wie vorher zur Schule wandern.
Bald darauf gab mir der Herr Kantor einen Zettel, um ihn auf das Rathaus, und einen andern, um ihn in das Spital zu tragen. Ich las sie und fand, daß es Konti oder Verzeichnisse der armen Kinder waren, für die ihm der Rat und das Spital das Schulgeld bezahlten. Immer hatten meine Eltern und ich geglaubt, der Herr Kantor tue allein aus Großmut, was er an mir als Lehrer tat; aber nun las ich auch meinen Namen im Verzeichnisse und hinterbrachte es meinen Eltern, die es zwar noch immer für eine dankenswerte Güte hielten, daß er mich zum Singknaben erwählet hatte, aber dennoch viel von ihrer Hochschätzung und Erkenntlichkeit herabstimmten, sobald sie mein beständiges Notenschreiben und nun auch das Schulgeld aus der Stadtkasse in Anschlag brachten. –
Wir durften zur Erntezeit etwa vierzehn Tage lang nicht in die Schule gehen, weil man die Kinder zum Aushelfen im Felde brauchte. Meine Eltern hatten sich genötigt gesehen, ihr schönes Äckerlein zu verkaufen und konnten nun auf keinem eigenen Felde ernten. Die Mutter weckte also uns Kinder morgens beim Aufgang der Sonne, nahm einen Schubkarren mit, kaufte uns um einen Kreuzer Birnen beim Torwächter und führte uns über tauichte Wiesen ins Feld. Lieblich war es im Tau zu laufen; aber wenn wir im Stoppelfelde gingen, stachen uns die scharfen Spitzen die Füße wund. Bald konnten wir nimmer auftreten. Aber die Mutter schaffte bald Rat, denn Mutterliebe ist erfinderisch; sie schnitt einen Sack aus ihrem Rocke und machte uns auf dem Felde kleine Socken daraus. Hier gingen wir hinter den Garbenbindern her und lasen die sparsam umherliegenden Ähren auf. Manchmal aber trafen wir einen guten Mann an, der ließ uns absichtlich mehrere liegen, oder reichte uns gar eine volle Garbe zum Geschenk. Wenn ich den Schnittern bei der Quelle Wasser holte, gaben sie mir etwas zu essen, und wenn wir mit lüsternen Blicken an einer Gesellschaft, die eben speiste, vorbeigingen, reichten sie uns immer ein gutes Stück dar. Einst saßen wir nachmittags, etwa zwischen drei und vier Uhr, am Straßengraben und verzehrten ein Geschenk von Gebackenem. Da vernahmen wir ein Rasseln tief im Bauche der Erde, wie Sturmwind. Wir wußten eigentlich nicht, was es war; endlich hörten wir das Geschrei: ein Erdbeben, ein Erdbeben! Dann erzählte man die Geschichte von Lissabon, bei der ich sehr aufmerksam zuhörte, und ging mit stiller Furcht zur Arbeit.
Abends zog ein gewaltiges Donnerwetter heran und hielt sich lange über der Stadt. Der Wirbelwind hob an manchen Orten einen Teil des geschnittenen Getreides auf und führte es durch die Lüfte davon. In der Pfarrkirche ward eben eine feierliche Oktave mit einer Abendlitanei gehalten. Alles war in der Kirche versammelt, die Musik hatte bereits eine kleine Weile gewährt. Fürchterlich krachte der Donner. Plötzlich fuhr der Strahl über der Sakristei in die Kirche und stürzte an den Wänden herunter. Ein schreckliches Schreien und Jammern folgte darauf. Alles wollte in einem Augenblicke zur Tür hinaus. Die Musik auf dem Chore verstummte. Ich stand zunächst an der einzigen, sehr engen Stiege, die hinabführte und wollte unter den ersten flüchtig werden. Allein man warf mich zu Boden, sprang über mich hinüber und trat mir die Knöpfe aus den Beinkleidern heraus. Unmöglich konnte ich aufstehen, ehe die erschrockenen Leute insgesamt über mich weggelaufen waren. Als aber der Chor leer war, eilte ich mit halbgeräderten Gliedmaßen, doch ohne sehr beschädigt zu sein, aus der Kirche. Der Rauch wirbelte schon vom Sakristeidache empor. Aber glücklich ward der Brand, und zwar mit neugemolkener Milch gelöscht. –
Der Herr Pfarrer und Dechant Egender von Wörnitzstein hatte einen armen Knaben, namens Stengel, zum Herrn Kantor in die Kost gegeben, damit er im Singen unterrichtet würde. Der Knabe hatte eine schöne Altstimme und konnte, nach einem etwa anderthalbjährigen Unterricht, die meisten ihm vorgelegten Arien ohne Anstand singen. Ich aber war schon im dritten Jahre Singschüler. Nun hoffte der Herr Pfarrer Egender, der junge Stengel sollte in das Kosthaus oder Studentenseminar zu Dillingen als Singknabe kostfrei aufgenommen werden, und also seine Studien ohne großen Aufwand anfangen können. Deswegen führte der Herr Kantor an einem schönen Sommertage 1769 Stengeln Zur Probe nach Dillingen und nahm mich mit, damit ich, wie er sagte, ein wenig verkecken möchte. Als wir in das Seminar kamen, bewillkommte uns der Präfekt, Herr Kuhn, und gab uns tapfer zu trinken. Die Studenten trugen Pulte auf den Gang vor dem Museum und stimmten ihre musikalischen Instrumente. Alles schien mir zwar fremd, aber ich fühlte dennoch keine Furcht, hielt mich stille, und erwartete, was man mir befehlen würde. Stengel sang seine mitgebrachte Arie trefflich und erhielt viel Lob. Der Inspektor, Pater Vitus Keller, ein Jesuite, befahl dann, der Herr Präfekt sollte Stengeln nun auch ein Probesolo vorlegen, damit man sähe, ob er auch fremde, nie gesehene Stücke, vom Blatte weg singen könne. Hier wandelte Stengeln eine kleine Furcht an und machte, daß er mitten im Stücke fehlte. Man wiederholte das Stück; nun traf er zwar alles genau, aber seine Stimme war dumpf und von der Furcht gehemmt. Dennoch bezeigte ihm der Pater Inspektor seine Zufriedenheit. Der Herr Präfekt Kuhn sagte darauf: »Nun wollen wir doch sehen, ob der Kleine dort auch etwas kann!« »Nicht viel,« sagte der Herr Kantor. Man legte mir ein Solo aus einer Litanei von Brixi vor. Glücklicherweise geriet es mir ohne Fehler. Man prüfte mich noch durch ein anderes Stück, und es gelang wieder. Die Studenten rückten mir nachher oft vor, ich hätte mein Stöckchen so fest gehalten und so kühn den Takt geschlagen. Ein wenig stolz, den Herrn Kantor widerlegt zu haben, ging ich in das Refektorium zurück; mein Lehrer aber und der P. Inspektor traten miteinander in ein Nebenzimmer. Nach einiger Zeit kamen beide zu uns, und ich hörte den P. Inspektor sagen: »Den Kleinen da (denn ich war kleiner als Stengel) will ich behalten, er soll kostfrei sein. Aber den größern kann ich nicht nehmen.« Der Herr Kantor antwortete ganz eifrig: »Mit der Kost allein ist dem Kleinen nicht, aber wohl dem Größern gedient. Der Kleine hat nichts von Hause; wer ihn haben will, muß ihn auch kleiden. Aber der Größere hat einen Herrn Vetter, der ihm die Kleider gern schafft.« »Nun,« sagte der Pater Inspektor, »so soll der Kleine auch die Kleidung unentgeltlich haben. Ich denke, es ist ein Almosen, und seine Stimme wird, weil er so klein ist, länger dauern, als des Größern, der mir stark zu wachsen scheint.« Dann wandte er sich zu mir: »Büblein! willst du ein Student werden?« Ein flinkes, nachdrückliches Ja war meine Antwort. »Und möchtest du sogleich dableiben?« fuhr er fort. »Recht gern,« antwortete ich. »Aber was kannst du schon im Lateinischen?« »Die Prinzipia«, sagte ich kühn. Ich wußte aber wenig mehr als das Musa und Dominus usw. und etwa das Amo auswendig; aber sie standen in den sogenannten Prinzipiis, also konnte ich die Prinzipia; so schloß ich damals. »Hast du schon Argumente gemacht?« – »Nein, aber Nomina genug.« Der Herr Kantor versprach, mich noch besser im Latein zu unterrichten. Der Pater Inspektor ließ also den Schneider kommen und mir das Maß zu Mantel und Kleid nehmen. Abends spät führte uns Herr Kantor nach Hause. Auf dem Wege zankte er bald mit Stengeln, bald sprach er ihm Trost ein. Mit mir schien er nicht so recht zufrieden zu sein. Als ich mit meiner gewöhnlichen Treuherzigkeit vor seinem Hause von ihm Abschied nahm, sagte er zu mir: »Zimmermännlein! es reut mich, daß ich dich mitgenommen habe! Ohne dich hätte ich meinen Stengel angebracht! Aber nun ist's vorüber; du hast mehr Glück als Verstand; lebe wohl und laß mir morgen deine Mutter kommen.«
Ich brachte eine große Freude nach Hause. Aber man wollte mir doch nicht sogleich vollen Glauben beimessen. Den andern Tag endlich erfuhr die Mutter alles aus des Herrn Kantors Munde. Ich mußte nun mit allem Eifer lateinische Worte deklinieren und konjugieren, und dann kleine sogenannte Exempel machen lernen. Mit den letztern wollte es gar nicht fort. Denn der Herr Kantor wußte selbst sehr wenig vom Lateinischen, diktierte mir nur aus einer alten Studententhek etwas an und unterstrich die Fehler nur insofern, als sie mit dem lateinischen Text in seiner Thek nicht übereinstimmten. Warum dies und jenes ein Fehler wäre, konnte er selbst nicht angeben.
Am Ende des Schuljahres 1769 führten die Jesuiten auf dem sogenannten kleinen Saale im Gymnasium zu Dillingen eine lateinische Oper, St. Ulrich und die Hunnen, zu Ehren des neuen Fürstbischofs von Augsburg, Kurfürsten von Trier auf. Herr Kantor schickte mich bei dieser Gelegenheit nach Dillingen, um mein neues Kleidchen abzuholen. Die Oper sah ich zwar und staunte den prächtigen Baldachin, unter dem der Kurfürst saß, und die Schlacht der Hunnen und Christen, die einander wirklich aus Ungeschicklichkeit die Finger weghieben, bewundernd an, ohne eben das Ganze zu verstehen. Noch glaube ich es zu sehen, wie vier Männer den Kaiser Otto, auf Tragbändern sitzend, auf ihren Schultern hervortrugen, und wie der Feldherr der Hunnen verwundet auf der Erde lag und Flüche sang. Aber den Pater Inspektor konnte ich im Gewimmel dieses beschäftigten Tages nicht antreffen, fand auch keinen Bekannten, der mich zu ihm geführt hätte, und mußte unverrichteter Dinge wieder nach Hause gehen. Ein Student von Höchstädt bekam Befehl (den 10. Okt.), am Feste des heil. Franziskus Borgias, das allzeit in der Vakanz (während der Schulferien) gefeiert ward, mich nach Dillingen mitzubringen. Denn weil da keine Studenten in Dillingen anwesend waren, berief man die an den nächsten Orten sich aufhaltenden zusammen. Ich sang zum erstenmale auf dem Jesuitenchore und ward nach dem Gottesdienste in das Seminarium geführt. Da rief mich der Pater Inspektor beiseite, gab mir die neuen Kleider in ein Päckchen gebunden und sagte: »Büblein! am Festtag St. Ursula mußt du hier erscheinen, und deine Sachen mitbringen. Halte dich wohl, bete und lerne fleißig, sonst ziehe ich dir die Kleider wieder aus und jage dich fort.« Ich meinte, er würde es nicht nötig finden, mich fortzujagen, dankte ihm und ging, mit meinem Päckchen auf dem Rücken, getrost nach Hause.