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Welt und Heim

Mit Hängen und Würgen verging so das erste Ehejahr. Ernst war die wenigste Zeit daheim. Der Beruf nahm ihn allerdings stark in Beschlag, verlangte Aufgeschlossenheit und Regsamkeit und war von ermüdender Abwechslung. Ernst war in den Verband der Zeitung getreten, schrieb, was der Tag brachte, Kleines und Großes, und schwamm im Strom des Eintags, der den Journalisten in seinem kurzen, rasenden Lauf mitreißt. Das Leben des Journalisten hat starkes Gefälle. Besinnen und Grübeln kennt der Tag nicht. Er will gleich und ohne viel Umstand genommen sein. Das war ungewohnt starker und schneller Takt für Ernst Löhner, der zu gern zögernd im eigenen Schritt ging. Den eigenen Schritt hieß es jetzt beschleunigen. Der Tag rennt, und wer nicht mitrennt, bleibt elend am Weg liegen und wird überlebt. Morgens brach die Flut herein, mußte durch den Kopf geschleust und in die Setzmaschine geleitet werden, und kam aus der Rotationsmaschine als öffentliche Meinung, als geballter Auszug des Geschehens eines die ganze Welt umspannenden Tages. Fernsprecher schrillten, die Setzmaschinen klapperten, das dumpfe Stampfen der Rotationspresse schüttert das Haus: Gewalt, Kraft, Leben wirkte überall. Ernst stürzte sich kopfüber in diesen strudelnden Strom.

Der leitende Kollege, ein erfahrener, in dreißigjähriger Übung sattelfest gewordener Zeitungsmann, nahm ihn besonders vor. Bis Ernst sich aufraffte, zehn Zeilen zu schreiben, kostete es Schieben und Stoßen. Mit dem Hebebaum mußte man ihn an den Schreibtisch winden. Aber einmal so weit, schrieb Ernst drauflos, mehr aus Wut über den Zwang, denn aus Trieb zur Arbeit. Gemächlich zuschauen, sich über das lebhafte Rühren und Regen freuen, lag Ernst besser als arbeiten, und zwar gleich und schnell arbeiten. Richtiges Journalistenblut hatte er doch nicht. Kollege Marxer fuchtelte lebhaft mit dem Manuskript, raufte die Löwenmähne und bewies Ernst, die Notiz müßte unbedingt geschrieben werden, und zwar gleich. Streiken wäre erlaubt, aber den Streik zum Lebenszweck erheben, ginge nicht. Damit macht man keine Zeitung. Dann setzte sich Ernst hin und baute eine Notiz über Gemüsepreis, morgen über gefallene Pferde, alles ohne viel Lust, aber doch so gut, als die geringe Sachfreude eben zuließ.

Schrieb Ernst auch ungern, er wollte doch bei der Zeitung bleiben ... Welt war um ihn, Welt im weitesten und freiesten Maß. Früher als Millionen zu wissen, was die letzten Stunden geschah, wie Paris über die neueste Kanzlerrede dachte, wie Petersburg den französischen Präsidenten empfing, daß Richard Strauß mit d'Annunzio einen großen Erfolg hatte, daß in Niederbayern ein Kalb mit zwei Köpfen auf die Welt kam ... es geschah so viel in vierundzwanzig Stunden, so Merkwürdiges und so Gleichgültiges, daß es sich verlohnte, mitzugehen. Man fühlte jeder Stunde den Puls, stellte fest, daß er heut schneller ging als gestern, und war begierig, was morgen kam. Gestern und morgen, unbekannte Begriffe für die Zeitung, nur das Heute hat recht, nur die letzte Stunde. Was vorher war und was nachher sein wird, unnütze Arbeit, daran zu denken. Der Augenblick sagt vor und man schreibt nach.

Wie hatte er doch früher Kraft und Leben verschwendet, hatte Tage und Wochen an einem Gedanken gekaut und seinen Sinn auf leblosen Kram gerichtet, dem kein Bemühen Atem geben kann. Jetzt nützte sich jede Minute. In der Tat gab es nicht zu viel Gedanken. Sie durften nur nicht meilenweit entfernt in der Luft schweben. Im Bedürfnis, im kleinsten Wirken des Augenblicks den Sinn suchen, ihn nehmen, unbesehen nehmen und nicht viel an die Hände denken, durch die sie schon gegangen sind.

Ernst hatte ausgeprägten Widerwillen gegen vorgedachte Gedanken. Sie faßten sich fettig und schmierig an wie Münzen, durch viele Gossen gerollt. Solche Gedanken zu meiden, quälte er sich ehrlich, sann über jeden Satz und schrieb einen sorgsamen und eigenwilligen Stil. Daß er sich damit das Geschäft erschwerte, war ihm bewußt; er fühlte sich aber verpflichtet, auch aus der kleinsten Notiz die Klaue zu recken.

Bewegtes, starkes, im gegenwärtigsten Leben wurzelndes Wirken, wie eine Zeitung, war gute, kräftige Eisenkur für die sehr blasse, blutarme Denkart Ernst Löhners. Denken und Schreiben lernte er als viel schaffende Kraft werten, und sein Haß gegen den Geist beschränkte sich ganz auf jenen Geist, der hochtrabend und eingebildet das Leben verdrängt, um seine kahle Majestät auf den Thron zu heben. Diesen Haß gegen den Blendergeist, der alles Licht von der Wirklichkeit empfängt, um es gegen die Wirklichkeit zu wenden, kräftigte vorzüglich die fortschreitende Erkenntnis Ernst Löhners von der Macht des Stoffes. Weltgestaltende Kräfte offenbarten sich, die er vorher blind übersehen hatte, obgleich sie in seinem Leben hart und erdrückend walteten. Er fand den Sockel seiner sozialistischen Überzeugung und baute darauf seine Anschauung von Gesellschaft und Persönlichkeit. Was er einst für unabwendbares Schicksal hielt, die Vergewaltigung des einzelnen durch die Gesamtheit, zeigte sich jetzt als Ausfluß einer von Menschen gemachten und von bestimmten Bünden gehaltenen Ordnung, die zu überwinden große, heilige Pflicht aller ist, die unter dieser Ordnung leiden. Gott bekam Ruhe vor seinen Angriffen. Ihn zu bekriegen, erschien Ernst jetzt genau so wahnwitzig, wie die Sonne an ihren Strahlen fassen und auf die Erde ziehen. Nicht Gotteskampf, Klassenkampf war die Losung geworden, Kampf für das Recht auf Licht und Luft jener Millionen, die aus dem Schatten kommen, durch Schatten gehen und im Schatten enden, seit Jahrhunderten schon ... ein endloser, unabsehbarer Zug von Geschlechtern, vom Vater zum Sohn geknechtet, ausgestoßen, um Schönheit und Glanz betrogen ...

Ernst riß die Augen auf und zwang sich, das Elend, die Verkommenheit, die Stumpfheit zu sehen. Wo waren seine Gedanken vorher gewesen, wo seine Augen? ... In leerer Luft hatten sie geforscht. Eine Windmaschine war sein Gehirn bisher, eitel bemüht, ihm selbst den stickigen Dunst ringsherum zu zerteilen. Nicht auf ihm allein lag der Druck, Millionen stöhnten unter gleicher Bürde und schauten nach Zeichen aus, die Sturm künden, Sturm und Wetter, die verbrauchte Luft zu reinigen. Er war Luftspiegelungen nachgegangen, hatte in Gedanken Paradiese gebaut und darüber versehen, daß die nächste Welt ein Stück Hölle, ein Ort der Qual und Verdammnis ist ... Zu allen Teufeln mit dem Geist, der nichtsnutzig sein eigenes Gesicht bewundert wie ein Affe im Spiegel! ... Nur ein Geist darf leben, der Geist im Dienst eines neuen Reiches, des Weltreiches der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.

Mächtig blies dieser Geist die Flammen. Ernst schleuderte sein heißes Gefühl gegen die bestehende Ordnung. Ein Brander, angehäuft mit gefährlichen Stoffen, trieb sich Ernst auf den hochgehenden Wogen des Tages. Er schrieb heftig glühende Glossen gegen die faule Gesellschaft, zündete alte Perücken und Akten an, wo er auf solche stieß, und redete sich in helle Wut, wenn er auf den Zustand der bürgerlichen Welt und auf seine Überwindung kam. Alle Grundlagen dieser Welt nannte er morsch und brüchig, nur da, die glänzende Außenseite krampfhaft zu erhalten, um den inneren Bruch zu verhehlen.

Das hohe, prächtige Haus eines sehr reichen Mannes lag an seinem täglichen Weg. Massiv und wuchtig die Maße, reichgeschmückte Flächen, trugen den Palast zwei Karyatiden. Auf den schwer geneigten Schultern ruhten die Pfeiler, die Arme waren wie abwehrend gegen die Last gestemmt; qualvoller Schmerz verzerrte die Steingesichter. Ernst ging in Begleitung eines Bekannten vorbei. Finster schaute er auf den Bau.

»Ist das nicht großartig? ... Der reinste Anschauungsunterricht, wie in der Welt heute alles verteilt ist ... An dem Protzenbau sollte man alle Proleten der Stadt versammeln, und an Hand dieser wahrhaft prächtigen Vorlage erklären, was notwendig ist ...«

»Sie meinen, den Leuten zeigen, wie gut und schön die reichen Leute wohnen, und wieviel Platz es in ihren Zimmern gibt? ...«

»Das auch so nebenher ... Aber das wissen sie ja längst, während ihnen immer noch nicht eingeht, was dagegen zu tun ist ... Ich würde ihnen etwa sagen: Seht euch das Haus genau an, ganz genau. Es ist ein schönes, reiches Haus, in dem sich gut leben läßt. Seht euch die zwei Kerle an, die den Portal tragen ... Merkt ihr was? ... Jawohl, das seid ihr, niemand anders als ihr. Die Reichen trauen sich, klar und deutlich auszusprechen, wozu ihr auf der Welt seid ... Ihr habt die Häuser der Reichen zu tragen ... Nehmen wir an: Den zwei Steinriesen wird es zu dumm, immer dazustehen und die Fassade zu stützen. Sie gehen eines Tages einfach aus dem Rahmen und schäum mit verschränkten Armen zu, was werden will ... Was geschieht? ... Die ganze Herrlichkeit fällt zusammen; ein wüster Schutthaufen ist alles, was bleibt ... Versteht ihr nun? ... Ihr seid die Karyatiden, ihr tragt das Haus, in dem andere schön und behaglich wohnen. Habt es endlich satt! Laßt die Bude halten, wer sie halten will. Ihr habt doch nichts davon, daß sie steht ... Glauben Sie wohl, daß die Leute diese Rede besser verstehen als hundert Leitartikel und zweihundert Versammlungsreden dazu? ...«

So waren es viele Bilder, die Ernst aufreizten und in seiner Gesinnung steiften. »Die Karyatiden« schrieb er auf die Handschrift eines großen sozialen Dramas, das mühsam erwogen, nie über den Eingang hinauswuchs. Das Gleichnis erschütterte Ernst und eiferte ihn zugleich an. Er lebte und dachte ganz in der armen, kleinen, bedrängten Welt des Proletariats, schloß die Frauen und Männer, die blassen, lustlos spielenden Hinterhauskinder in sein Gefühl, und suchte für die Gestalt des werteschaffenden Proleten großen, typischen Ausdruck, Wunsch und Wille der Unterwelt zu verkünden. Drohend schritt der Proletarier durch seine Verse.

Er schreitet zwischen goldnen Garben
von Werten, die er rüstig schafft,

und muß im Angesichte darben
der vollen Speicher seiner Kraft.
Nichts nennt er aus der frohen Fülle
des Daseins, die er stündlich weckt,
sein eigen, als die karge Hülle,
die seiner Notdurft Blöße deckt.

Wohl ringt auch er nach hohen Zielen
und streckt die Hand nach einem Glück;
doch nur mit Schrunden und mit Schwielen
gefüllt, holt er sie stets zurück.
Des Lebens ungemessene Spenden
sind ihm wie Wasser fortgerollt
und haften blieb an seinen Händen
kein andres, als der Sonne Gold.

So rollen seine trüben Tage,
von Arbeit schwer und toller Hast.
Er bleibt am frohen Festgelage
des Lebens der vergessne Gast.
Am Ende geht er aus den Schranken
an nichts, als nur an Hoffnung satt,
und weiß, wie wenig er zu danken
und wie viel er zu fordern hat.

Fabriken und Maschinen enthüllten ihm ihre Kraft und Schönheit, den Adel ihrer Leistung und ihre abwehrende Haltung gegen die Menschen. Höhere Einheit überwand Gegensätze. Verwandtes sprach zu Verwandtem. Das Weltbild Ernst Löhners rundete sich, und stand im Rahmen einer unerbittlich geschlossenen Anschauung. Arbeit heißt der wahre Herr der Welt. Schaffen ist tiefster Sinn des Daseins. Genießen ist ein Mißbrauch der Kraft, wenn du nicht aus eigenem Schaffen genießt. Nimm deine Zeit, deine Welt, und laß fahren, was vorher war und was nachher sein wird! Was soll das Mittelalter mit herrlichen Kirchen und Brunnen, mit Häusern, die ein Jubelruf in Stein sind, und Bildern, darin farbige Psalmen auf Gott klingen? ... Das lebt alles nur aus deiner Kraft, entzieht diese Kraft der Gegenwart, der sie Rechtens gehört, und hemmt das Leben ... Entschlossen wendete Ernst der schönen Vergangenheit den Rücken. Die Vaterstadt ist ein Schmuckkasten alter, köstlicher Kultur. Zierliche, lustige Erker und Höfe fesseln den Blick, die Mauern und Türme schmiegen sich um die Altstadt, die von der Kaiserpfalz gekrönt wird ... Willst du Gespenster an deinem Blut wärmen? Hinaus in die Vorstädte, wo die Schlote rauchen, die Riemen surren und Eisen auf Eisen schleift. Da ist dein Platz. Dort schafft und schwitzt Gegenwart, und blutet aus allen Poren, Zukunft reckt sich wie ein erwachender Riese, Leben ist dort und Tat, Wille und Sinn ... Das Märchen alter Schönheit träumte nicht mehr für ihn. Achtlos ging Ernst vorüber. Nicht in einem Museum leben, unterm Glassturz der Vergangenheit ... seine Zeit fühlen, ihr dienen, ihren Weg in die Höhe bereiten ...

Dem Leben tausendfältig versponnen, hatte Ernst langsam verlernt, den Knäuel der eigenen Seele abzuwickeln und wieder aufzuwickeln. Er fühlte über sich hinaus, fühlte weiter und freier. Das Flügelmaß seines Gefühls war gewachsen; die Seele klafterte breiter und hob die Schwingen in höhere Luft. An die Landschaft verlor sich Ernst zuweilen in ruhiger, sinnender Stunde, und lauschte den Stimmen, die aus Nähe und Ferne, aus rieselndem Wasser, rauschendem Wind, aus den Linien der Hügel und aus den weiten Flächen redeten.

Luise stand abseits. Still und versunken lebte sie in sich und in dem Kind. Ernst griff selten in diese Stille, denn er war ganz aufgegangen in die Welt. Ruhig und rein rann das Leben Luisens hin, klar und ungetrübt, nur manchmal fielen leichte Schatten auf den lauteren Strom. Das waren die schlimmen Stunden des Mannes. Ernst kroch langsam aus der eigenen Haut, und strebte ehrlich, auch das Leben anderer Menschen schonend zu erfassen. Unsicher und tastend nach der jahrelangen Einsamkeit, stieß er noch oft mit seinen Kanten hart an. Luise litt am meisten darunter. Immer noch saß verworrene Wut tief in Ernst, wie ein blitzend scharfes Messer in der Scheide steckte sie in mancher Hemmung und in errungener Beherrschtheit. Fuhr sein wahres Wesen heraus, dann stach es blind und gefühllos um sich. Ernst hatte keine Empfindung dafür, daß er verletzte, und sah nur den Glanz seiner messerscharfen Rede, nicht die Schärfe, die anderen wehe tat.

Das Kind entwickelte sich zum zarten, hübschen Knaben. Es sah hell in die Welt, forderte zu allem, was es sah, von den Eltern ein Warum, forderte und plauderte reizend. Er beschäftigte sich viel mit »Fröschle«, bedichtete und beschrieb seine kleinen Freuden und Schmerzen, und wurde selbst gegen Luise sehr weich, wenn sich ihre Hände über dem Kind begegneten. Ein Funke gemeinsamer Glut sprang da über. Im Kind kreuzte sich ihr Leben. Das Kind war bindender Ton im verwirrten Lied. Das Kind stimmte alle Mißtöne auf reinen Klang.

Unzufrieden, reizbar, schlecht beherrscht, schwankte Ernst zwischen Tagwerk und Neigung. Dem Tag sollte sein Recht werden, und daheim sollten Weib und Kind einen frohen, gut gelaunten Menschen um sich haben ... Es gelang nicht. Der Tag störte den Abend, und der Ausgleich war schwer, so schwer ... Angefüllt mit den Erregungen der Arbeit, das Sausen der Welt im Gehirn, war Ernst mürrisch und vergrämt, wenn er die Wohnung betrat und die bescheidene Freundlichkeit Luisens spürte. Sie lebte doch ganz außer der Welt, im Kreis kleiner, elender Pflichten, ohne Schwung und Glanz. Daß sie diesen Kreis treu und geräuschlos erfüllte, Heim und Kind sorglich pflegte, erkannte Ernst bei sich an, schien ihm aber geringe Tat, wenn er an Plänen der Zukunft spann. Hinderten ihn Weib und Kind nicht auf seinem Gang? War er überhaupt häuslich begabt?


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