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Licht hinter Gittern

Grau und unwirsch wich die Stadt vor Ernst Löhner zurück, der auf dem Bahnhofplatz stand und sich umschaute. Das also hatte er verlassen! Hatte er fast ein ganzes Jahr nicht mehr vor Augen gehabt! Die weit gedehnte Flucht der Straßen und Häuser füllte wieder seinen Blick. Er folgte ihr bis zu dem fernen, feinen Strich, der die Stadt vom Himmel schied, von einem grauen, mürrischen, verdrossenen Himmel. Die feuchte, rauchig schmeckende Luft mit vollen Nüstern saugend, fühlte sich Ernst Löhner bis in die letzte Faser getränkt mit altem, vertrautem Duft, der von gewesenen Freuden und Schmerzen jetzt noch feinen Hauch herantrug.

Die Menschen hasteten um ihn, ganz in eigene Absichten versponnen, und achtlos für den großen, liebevoll umfassenden Blick des jungen Menschen im verdrückten Rock. Ernst hätte jedem die Hand reichen und ihn Freund heißen mögen, so übervoll war das Herz von bewegter Freude.

Wohin jetzt? Zu den Eltern? ... Ernst mußte lächeln. Er dachte schnell an seinen Flug über den Ozean, an den millionenreichen Erfinder und an die fünfzigtausend Dollar, die er doch auf den Tisch zählen wollte. Siebzehn Mark und siebenunddreißig Pfennige waren sein Reichtum, der Lohn seiner zehnmonatigen Arbeit in Haus Hohburg. Damit konnte er nicht heim ... Aber ein Glas Bier müßte jetzt munden und einige Zigaretten nebenher ...

Ziemlich benebelt ging Ernst einige Stunden später aus dem Gasthof. Man war doch geschwächt und konnte noch nichts vertragen. Die alten Kneipen würden ihn wohl noch kennen. Über den St. Georgsplatz schwankend, verzog sich Ernst in die abgelegene Kneipe »Zum König von Portugal«. Dort brachte er sich für die nächste Zeit unter.

Zwei oder drei Tage lief Ernst wieder durch die Stadt, bemüht, irgend etwas zu finden, was auf anständige Art zu leben erlaubte. Hinter jeder kleinen Möglichkeit, zu arbeiten, war Ernst her, ohne den geringsten Erfolg.

Für körperliche Arbeit sah er zu schwächlich aus, für bessere Arbeit fehlte es an der Kleidung, die fadenscheinig und zweifelhaft geworden war, und den scharfen Kampfergeruch nicht aufgeben wollte. Die Tage gingen, die Barschaft schmolz trotz aller Rechenkünste und zwei Wochen nach seiner Entlassung stand Ernst vor dem vollkommenen Nichts.

Schon eine ganze Woche fristete er sein Dasein in der öffentlichen Lesehalle. Der angenehme, freundlich durchwärmte Saal hielt ihn von mittags bis abends umschlossen. Zeitungen und Bücher blätternd tat Ernst für Stunden das Bewußtsein ab, und schob Welt und Wirklichkeit aus dem Kreis seiner Gedanken. Ohne zu wissen, was er gerade las, gab sich Ernst dem Gedruckten hin und trank das Knistern und Rauschen umgeschlagener Blätter wie Verheißung schönerer Zeit.

Langsam leerte sich der Saal. Es wurde Zeit zum Aufbruch. Vorsichtig kramte Ernst seine Taschen aus. Ein Loch ... noch ein Loch ... da – ein harter Gegenstand, ein Fünfpfennigstück, das sich in dem Spalt – Gott weiß, wie lang! – schon verkrochen hatte, die Quittungskarte, ein Reclambändchen – Hebbels Leben – ein Wust zerknüllter, bleistiftbeschmierter Blätter und ein Briefumschlag. Sinnend weilte Ernst Löhners Blick auf dem Umschlag. Er zog das Blatt heraus und überlas die steilen, eckigen Schriftzüge. »An den lieben Gott!«

»Ich lebe, obwohl es besser für mich wäre, etwas anderes zu tun. Warum lebe ich? Weil du es zugelassen hast aus deiner unerforschlichen Gnade und Barmherzigkeit, ohne mich erst zu fragen, mich, der dich nicht um sein Leben gebeten hat. Ich könnte mich ja umbringen. Dann wäre alles aus, und ich hätte dir das Geschenk vor die Füße geworfen, das du mir einst aufgedrungen hast. Aber ich werde leben bleiben. Denn ich glaube an mich, nur an mich, und mutmaße, daß eben das der Grund deiner Mißgunst ist. Ich fordere dich nun erst recht heraus. Ungleich ist der Kampf, ich weiß es. Dir steht alle Macht und Herrlichkeit zu Gebot, ich habe nichts als meinen Willen, meinen stahlharten Willen. Er steht über uns beiden. An ihm wird einer von uns zerbrechen. Ich weiß, daß du es sein wirst. Wüßte ich das nicht so felsenfest, mein Kampf gegen dich wäre nur Luftfechterei. Heute bin ich ohne Obdach. Du schläfst in deinen siebenmal sieben Himmeln, wohin kein Nordwind eisig bläst. Kahlkopf komm heraus! Hetze wieder die Bären auf mich, und freu' dich, wenn sie den vorwitzigen Buben zerreißen. Du freust dich ja über alles, was vor der Zeit fällt. Wären alle Buben, die deiner gespottet haben, Männer geworden, deines Reiches Ende wäre nahe. Und nun geh ich hinaus in die kalte Nacht, dir zu Tort und Trotz, und befehle mich der Hut des dreieinigen Teufels. Amen! Der Held im Schatten.«

Heiß heizte der Zorn dieser Zeilen die durchfrorene Seele. Die Faust grimmig geballt, ging Ernst aus der Halle, wohin jetzt? ... Geld hatte er keins, Schulden gab es in der Kneipe nicht, Taler würde es wohl diese Nacht auch keine regnen, also, was anfangen? ... Einstweilen schlenderte Ernst langsam dem Bahnhof zu. Dort konnte man sich mit etwas Glück, und wenn die Aufsicht nicht allzu dienstlich gelaunt war, bis Mitternacht halten. Zwei Zigaretten gab es auch noch um das unverhofft gefundene Geldstück. Der Wartesaal dritter Klasse summte wie ein Bienenstock. Die Menschen kamen und gingen. Hastig, zielbewußt, wie aus einer Pistole geschossen. Ein versteckter Winkel nahm Ernst auf. Er saß dort, kämpfte mit Schlaf und Hunger, nahm, sich wachzuhalten, ein Blatt Papier vor und schrieb Verse auf, die ihm tagsüber gelungen waren.

Kurz nach Mitternacht wurde der Saal geräumt. Die Menschen wurden auf die Straße gekehrt. Ernst rieb die Hände warm und schritt geradeaus. Schwarz, sternenlos hing das Tuch der Nacht vom Firmament. Es rauschte kühl auf, wenn der Wind blies. Kleine Schauer spritzten hinein und Ernst wurde naß bis auf die Haut. Er achtete die Nässe nicht. Ganz in sich verkrampft, schritt er stürmisch unter dem wolkenüberjagten Himmel und wälzte seinen Willen vor sich her wie einen ungeheuren Felsblock.

Die Welt ist nur für einen Menschen geschaffen. Für zwei Menschen ist sie schon zu klein. Lächerliches Schauspiel des Tages, wenn die Ameisen kribbeln und geschäftig sind, heimzutragen und aufzuspeichern! Wie klein und eng ist die Welt doch zur Nacht! Da schreitet ein Mensch durch die Straßen, den Kopf tief geneigt, und steigt mit jedem Schritt über Welten von Geschlechtern weg. Wuchtig gegliedert drücken die runden Türme Himmel und Nacht zur Seite, ruhen stolz in eigenem Gewicht, und stoßen den Wind verächtlich ab, der an ihnen heulend zerrt.

Ernst Löhner hemmte den Fuß und blieb gebannt vor dem Turm stehen. Ihm war, als reichte der starke Gesell eine Hand herüber und brummte: »Nur nicht gewankt! Solang' du Grund unter den Beinen fühlst, wird gestanden!« Die ganze Umwallung zwischen innerer Stadt und Vororten hatte Ernst umkreist, ein Weg von zwei Stunden. Wenn er den Gang wieder vollendet hatte, war der Morgen da.

Nachtschwärmer kreuzten den Weg, in warme Mäntel gewickelt, den Kragen aufgeschlagen, und vergnügt vor sich hin pfeifend.

»Holla, Nachbar, langsam! Sie haben ja Ihren Überzieher vergessen!«

Verächtlich ausspuckend, murmelte Ernst nur: »Blöde Gesellschaft! Viehzeug!« und setzte seinen Gang fort. Die Kerle hockten sich jetzt wahrscheinlich noch in eine warme Kneipe, schwatzten dumm und quälten sich Witze ab über den Mann ohne Überzieher. Tiere sind es, die zufällig aufrecht laufen! Zieht man ihnen den Schneider aus, so bleibt nur eine mit Dummheit und Gemeinheit ausgestopfte Haut. Hatten diese Kerle seit Stunden etwas gedacht? Sein kleiner Finger enthielt mehr Gehirn, als die Bande im Kopf trug. Sie rumorten in der Nacht herum, die ihm die besten und tiefsten Gedanken schenkt, und bringen nichts davon als einigen Lärm, der bald wieder verpufft ist.

Sein Beruf ist, die Welt zu fühlen. Ein schmerzlicher Beruf und doch überschwänglich schön! Millionen Menschen schlafen jetzt im weichen Bett. Sie denken nichts und fühlen nichts, treiben ganz auf dem Grund der Welt, der sie wie ein Strom überspült, und ziehen morgens nur elende Trümmer an den Strand des Bewußtseins. Er war für alle Zeit zum Wächter bestellt, zum Wächter der schlafenden Welt, er, Ernst Löhner, ein Auserwählter in Geist und Gnade. Den Schritt an das Maß der Verse bindend, sprach Ernst erschüttert und wunderbar gestärkt:

Du hast mich, o gewaltiger Gott,
zu deinem Rüstzeug auserwählt,
hast mit Begeisterung, Zorn und Spott
mich durch und durch für dich gestählt.
Ich bin ein irrer Funke blos
aus deinem ew'gen Feuermeer,
doch vor der Menschheit schreit ich groß
noch durch Jahrhunderte einher.
Soll denn mein ganzer Lebenslauf
ein einziger Wonneschauer sein?
Ein heißes Dankgebet hinauf?
Ein weicher Freudetränenschein?
Nein, Herr, ich raffe mich empor,
mich rüttelnd, daß mein Harnisch dröhnt!
Erst an des Todes dunklem Tor
sei Schlachtgesang zum Psalm verschönt.

Die beiden Schlußzeilen wiederholte Ernst mit starker, geraffter Stimme langsam Wort für Wort. Sein Gesicht, hager, scharf gebuchtet und ganz Ausdruck des inneren Gelübdes, war nach Osten gewendet. Dort stießen sich graue, dickbäuchige Wolken in wirre Haufen geballt und jedes Licht mit breiten Rücken verdeckend ...

Vom Turm der Georgskirche schwangen sich fünf dumpfe Glockenschläge. Sie flatterten wie große, schwarze Vögel und schwebten langsamen Fluges über die Stadt. Die Volksküche wurde geöffnet. Nach dem vierstündigen Marsch in kühler, feuchter Novembernacht spürte Ernst Verlangen, sich hinzusetzen, auszuruhen, vielleicht auch zu döseln, wenn niemand dagegen war. Zwanzig Menschen warteten schon auf Einlaß. Alte und junge Streuner, dazwischen einige Gesichter von gutem, frischgeschlafenem Aussehen, Arbeiter, die ihr Frühstück hier einnahmen, einige Frauen und ein wohlhabend riechender Herr mittleren Alters.

Ernst taumelte die wenigen Steinstufen hinauf. Der kahle, von trüben Gasflammen erhellte Raum schwang im Kreis, erst langsam, dann schneller. Dunkle Ringe mit blauzitterndem Rand zerflossen vor Ernst. Er hatte das Gefühl, Steine fielen in seine Augen und zogen Ringe wie in einem Teich. Gierig blickte er den anderen nach, die ein Frühstück kaufen gingen. Er hatte keinen Pfennig mehr.

»Sie schaun aber bös aus, Nachber! Fehlt Ihnen was?«

Ein sauber gekleideter Mann stieß Ernst über den Tisch an. Er hatte eine Schaufel neben sich lehnen. Ernst lächelte schwach, gab aber keine Antwort. Dem freundlichen Menschen zu sagen, daß er die ganze Nacht auf den Beinen gewesen, hemmte ein dummes Gefühl.

»Haben's wohl ka Geld zum Kaffee? ... Mir soll's auf an Kaffee net ankommen ...«

Unter dem Tisch spürte Ernst ein Geldstück in seine Hand gleiten. Er wußte nicht, sollte er nehmen, sollte er zurückweisen, sollte er dem Mann danken ... Schwankend ging er zum Ausschank, holte sich Kaffee und Semmel und kehrte an den Platz zurück. Der Geber guckte ihm mit gefalteter Stirn zu, während er genoß, und unter der Wirkung des warmen Getränkes sichtlich auflebte.

»Wolln's arbeiten? Ich brauch' an Mann, der mir ausladen hilft. Leicht is dös G'schäft ja nöt, aber Sie sind doch jung.«

Das war ein glückhafter Morgen. Er hatte gegessen und getrunken, und nun bot man ihm auch Arbeit an, die er so nötig brauchte. Es wallte hoch auf in Ernst, als er dem Mann die Hand über den Tisch reichte und einschlug.

Ernst lud auf dem Güterbahnhof Kohlen. Morgens um sechs Uhr ging es los, abends um sechs Uhr war es aus. Ernst tat die Arbeit nur notgedrungen, denn er konnte seinen innersten Widerwillen gegen körperliche Tätigkeit nicht überwinden. Arbeit adelt, sagt der Volksmund! Dann ist jeder Droschkengaul zum mindesten Reichsfreiherr, was ihm gegönnt sei ... Ernst verstand nicht, wie ein Mensch Tag für Tag und Jahr um Jahr den gleichen Handgriff machen konnte. Ihn erschreckte der Gedanke, das auch zu müssen.

Im Grund war diese Abneigung verkapptes Unvermögen. Ernst ermüdete körperlich rasch, war überhaupt nicht sehr leistungsfähig und hielt nur durch, wenn er seinen zähen Willen vorspannte. Raffte er sich aus irgendeinem Grund nicht auf, so blieb die Arbeit eben liegen, was oft geschah. Ernst spannte seinen Willen gewaltig an, er überspannte ihn öfter unbewußt, Kurzschluß trat ein, und alle mühsam eingebauten Sicherungen brannten im Nu aus. Ernst klappte völlig zusammen, trieb tagelang ziellos herum und wurde von der Flut in Ecken und Winkel gespült.

Er führte sein Leben ohne Richtung und Schwerpunkt, lebte eigentlich gar nicht, sondern wurde von jeder Stunde gelebt und verlor jeden Halt und Anhalt. Sein Herz war an diesem Leben unbeteiligt, sann nichts Gutes und nichts Böses und erstarrte immer mehr. Ernst wurde ein harter, unempfindlicher Mensch. Sein Gesicht gab keine Auskunft über sein Alter. Es verlor die Fähigkeit, Leben zu spiegeln, glich einer Steinmaske und erschreckte andere Menschen durch den kalten, abweisenden Ausdruck. Das Leben hatte sich in diese Züge gestampft wie in Beton. Ernst Löhner liebte nur einen Menschen in der Welt: den Ernst Löhner von übermorgen, verachtete, was sonst noch war, und riegelte alle Türen zu, die in die Welt und zu Menschen führten. Einsamkeit war sein frei erwähltes Los, tiefe Einsamkeit inmitten der großen, zudringlichen Stadt, die er trotzdem nicht verlassen wollte, weil ihm eine Ahnung sagte, die Stätte seiner Kämpfe müsse auch die Walstatt seines Sieges werden. Die Vaterstadt verlassen, schien ihm ein Geständnis seiner Niederlage. Er wollte aber und mußte siegen und schmiedete in aller Heimlichkeit Waffen zum entscheidenden Kampf.

Ein Klausner des Geistes sann Ernst Löhner stündlich über den Sinn der Welt. Dieser Sinn war für ihn vorhanden. Was hatte er zu suchen, was zu finden? Diese Fragen seines persönlichen Ziels schlossen alle anderen Fragen ohne weiteres ein. Wußte er Antwort, dann wußte er auch, welchen Sinn die Welt hat. Ernst verneinte diesen Sinn nicht, weil er erst sich hätte verneinen müssen. Dazu war er aber viel zu hochmütig. Er war so hochmütig, daß er allen Ernstes Wohl und Wehe der Welt von seinem eigenen Ergehen abhängig glaubte. Freute er sich, dann hatte auch die Welt ein Recht auf Freude. Schmerzte ihm etwas, dann war es Pflicht der ganzen Welt, mit ihm zu trauern. Stündlich wurde dieser Hochmut widerlegt. Die Welt raste an Ernst vorüber, ohne nach ihm zu fragen. Er beharrte eigensinnig auf sich selbst, stemmte sich gegen Notwendigkeiten, die er bestritt, weil sie nicht von ihm geschaffen waren, und härtete ständig ab gegen Fußtritte des Schicksals. Wenn er Hebbel oder Kleist, Shakespeare oder Otto Ludwig las, lächerte ihn die Frage nach Brot und Arbeit, nach geregeltem Dasein und bürgerlicher Sicherheit. Ist der Geist nicht selbstherrlich? Zwei Zeilen eines schönen Gedichtes sind mehr Reichtum, als ein gutes Essen, warme Betten und saubere Kleider.

Ernst haderte mit seinem Magen. Dieser grobe, verfressene Geselle war doch ein rechter Bürger, war der Bürger im Menschen überhaupt. Wie voll und satt sich Ernst Löhner auch bei seinen geistigen Festmahlen fühlte, der Magen stand hungrig auf und begehrte gemeine Speise, die zu beschaffen Arbeit kostete. Ernst ging wieder einige Tage in den Strang, den Magen zu sänftigen. Ruhte dieser, so wandelte er wieder die Wege abseits aller Alltäglichkeit.

Noch führte der Winter die Herrschaft. Klingende Kälte harfte nächtlich am klaren Himmel. Ernst zog von Kneipe zu Kneipe, solange Geld in seinem Beutel war, schlief in Spelunken um wenig Geld und sehnte die Sonne herbei. Manchmal war er ohne jeden Pfennig, dann rannte er um die Stadt, bis der Morgen kam, stand sich über den Luftschächten der Hotels den Leib warm, und schlüpfte gelegentlich in den Sandkasten. Das Lager war nicht weich, aber es zog wenigstens nicht und die grimmigste Kälte konnte auch nicht bei.

Wieder saß Ernst in der Lesehalle. Der Tag war gläsern kalt. Vor der kommenden Nacht bangte Ernst zum erstenmal. Wohin? Plattmachen war bei dieser Kälte ausgeschlossen; schon der Gedanke daran biß frierend in die Knochen. Den Abend über saß ein älterer, schnapsduftender Mann neben Ernst. Er rückte, Ernst forschend im Auge, näher und flüsterte: »Auch blank, Kamerad? – Geh doch mit Knackemachen. wenigstens erfriert man im Asyl nicht.«

Richtig! Das Asyl für Obdachlose hatte er ganz vergessen. Ernst nickte einverstanden. Sie gingen miteinander los. Eiskalter Wind empfing sie, der im Augenblick die angesammelte Wärme aus den Kleidern jagte.

»Wollen erst einen heben gehn, Kamerad! ... Hast du Draht?«

Elf Pfennige waren die Barschaft Ernst Löhners, siebzehn Pfennig das Besitztum Schallhofs.

»Immer her damit, Freundchen! Zweimal können wir doch die Glocke ziehn ... Du magst keinen Schnaps? ... Ja, ja, ihr jungen Leut'! ... Ich hab' auch mal Milch lieber getrunken. Das ist aber schon fünfzig Jahr her ... Was willst du sagen, Mensch? Neunzehn Jahr sollt ich noch mal alt sein und wissen, was ich jetzt weiß ... Ich bin halt vierundfünfzig gewesen, könnt' dein Großvater sein ... Wenn ich Schnaps trink, kannst du's auch. Also los!«

Ekelhaft säuerlicher Dunst schlug Ernst aus dem niedrigen Laden entgegen. Die zweifelhaft sauberen Regale rasch überfliegend, las er die Aufschriften: Mehl, Gries, Kaffee, Zucker; ein Petroleumautomat grinste aus der Ecke, braune Düten hingen auf dem Ladentisch, der mit grünen, gelben, roten Gläsern bestellt war, darin die verschiedenen Flüssigkeiten leuchten. Drei Männer und ein schwammiges Frauenzimmer gröhlten ausgelassen.

Schallhof tippte auf die grüne Flüssigkeit, zwinkerte mit den Augen, als er das Gläschen ansetzte und goß den Fusel glucksend hinunter. Den struppigen Bart wischend, stieß er Ernst in die Seite.

»Na also, Kamerad! Die Augen zu und das Maul auf! Er beißt nicht ... Wollte Gott, ich könnte alle Tage so ein feines Schnäpschen heben ... Die feinsten Leut' machen das ... Besonders, wenn sie fett gegessen haben. Jetzt einen Schweinebraten, recht saftig mit brauner Kruste ... Das gibt's, mein Lieber, wirklich und wahrhaftig, das gibt's ... Nur haben wir kein Geld dazu ... Die Geld haben, wissen schon, wo es zu kriegen ist ... Hätten wir das Geld, könnten wir's auch essen. So essen es andere ... Das ist nun mal so in der Welt: die einen fressen sich voll, die anderen wischen das Maul ab ... Ja, ja!«

Schallhof wackelte tiefsinnig mit dem Kopf, als bewundere er die weise Weltordnung, hockte auf ein umgestülptes Faß hin und zog Ernst neben sich auf einen Stapel Kleinholz.

»Du mußt nämlich wissen, ich bin Buchbinder ... O, ich hab' dir die Apostel fein geklopft, und die vier großen und sechzehn kleinen Propheten in Schweinsleder gebunden, daß es ein Staat war ... Ich hab' schöne Stellen gehabt und Geld verdient ... Daß der Mensch nicht jünger wird ... Das ist dumm eingerichtet ... Die Knochen geben nach und dann wollen sie nichts mehr von dir wissen ... Sechs Jahr lauf ich nach Arbeit. Hört aber so ein Krauter, daß ich über Fünfzig bin, dann ist es auch schon aus. Was bleibt einem Menschen da übrig? Man putzt die Klingeln, scharrt sich die paar Kröten für Schnaps zusammen und wartet ab, wie lang' das Gefrett noch dauert ... Wär' ich bloß noch mal Zwanzig alt ...«

Das einfache Schicksal dieses alt und schwach gewordenen Arbeiters rührte Ernst nicht sonderlich. Was ging ihn das an? Er würde nicht so unter die Räder kommen. Dafür sollte schon gesorgt werden.

»Du hast auch keinen Draht mehr, Kamerad? ... Dann ist ausgeläutet, wir müssen auch losgehen, wenn wir noch einen Platz erwischen wollen ...«

Der weinerliche Ton Schallhofs erregte Ernst die Galle, was gab es denn zu winseln? Man schlief heut Nacht im Asyl. Schön! Morgen schlief man vielleicht wieder im Bett. Als wäre das nicht ganz gleichgültig. Die Schultern aufgezogen und die Hände in den löcherigen Taschen vergraben, trabten Schallhof und Ernst aus der Stadt. Das Asyl lag in der westlichen Vorstadt, im Flußgrund. Die spärlichen Laternen wiesen einen Weg nach dem versteckten Winkel, wo das frostig aussehende Gebäude rückwärts der Straße lag.

»Aha, der Herr Schallhof! Sie geben uns auch wieder die Ehre?« Kaum durch die Tür gegangen, wurde der Begleiter vom Hausvater also spöttisch begrüßt, einem riesigen Polizeimenschen, der übellaunig sein Buch zuschlug.

»Wen haben Sie denn da mitgebracht? ... Hast du Papiere, mein Sohn? ... Gib mal her ... Neunzehn Jahre alt und schon arbeitsscheu! ... Scheinst ein nettes Früchtchen ...«

Ernst trat einen Schritt näher. Sein Gesicht war ganz unbewegt, nur die Augen flammten.

»Was kümmert das Sie? Ich bin obdachlos, sonst wär' ich wahrscheinlich nicht da. Haben wir übrigens schon Säue getrieben, weil Sie mich duzen?«

Die um den Hausvater versammelten Asylbrüder glotzten groß. Einige nickten, andere tuschelten, alle sahen dem Verwalter schadenfroh ins feiste Antlitz, das sich vor Wut verfärbte. Der Mann stand in seiner vollen Länge auf und pflanzte sich breitbeinig vor der vergnügten Gesellschaft auf.

»Lachen könnt ihr also noch? Das soll euch ausgetrieben werden. Dem Grünschnabel da besonders ... Und jetzt marsch, hinein!«

Ein hoher, viereckiger Raum schluckte die Leute. Die geweißte Decke lastete auf kahlen Wänden; an der Seite lief ein meterhoher Holzbau bis etwa in die Mitte des Raumes. Die schräg erhöhte Kopfleiste stellte das Bett vor. Darauf stürzte alles hin. Schallhof zog Ernst am Rockschoß mit.

»Weißt, Kamerad, in der Mitte ist es am besten. Da ist man von der Wand genügend weit weg. Die Wände sind verflucht kalt hier ... Nur keine Bescheidenheit hier, Kamerad, sonst bist du verkauft!«

Ernst stieß die Nächsten zur Seite, ohne sich um das Murren zu scheren und legte sich neben Schallhof nieder. Der hatte den Rock ausgezogen, sorgfältig gefaltet, und schob dieses Bündel eben unter den Kopf. Dann probte er diesen Kopfkeil sachverständig aus und grunzte wohlwollend, als Ernst alles getreulich nachahmte.

Im Raum flackerte spärliches Zwielicht. Es kam von einer in Drahtglas verwahrten Gaslaterne, die auf dem Gang hing. Das grelle Licht grenzte sich scharf auf der Decke ab und ließ die Ecken im Halbschatten.

Die Gesichter steckten in Dunkelheit wie in einer schwarzen Larve. Keiner sah des anderen Züge, nur an den Stimmen kannte sich Freund und Feind. Ein grauenvoller Geruch dünstete durch den Raum, ein Duft, wie ihn nur Blüten des Elends hauchen. Die heiseren, zuchtlosen Stimmen schwirrten aufgeregt von Winkel zu Winkel. Eine raufende Sperlingsrotte tschilpte und lärmte durcheinander. Abgerissene Fetzen der Unterhaltungen klatschten um Ernst Löhners Ohren. Von Bettelgängen war meist die Rede, von Arbeitsaufträgen und Polizeihetzen, vom wilden, erbarmungslosen Kampf um die geringste Notdurft eines unmenschlichen Lebens. In einer Ecke klangen abgepaßte Stimmen auf, leise und pröbelnd erst, dann sicher und klar. Ein lächerlich tränenseliges Lied von Alpenschönheit und Bergluft, von Mädchenliebe und Burschentreu ... Die Gespräche erstarben. Alle lauschten, die hängenden Häupter in die Hand gestützt. Durch die Seelen der Elenden wehte ein Traum ferner Schönheit. Hohe Berggipfel, märchenhaft funkelnd in reinem Firnenlicht, schauten über die kahlen Wände des Asyls. »Dort, wo die Glocken klingen hell, liegst du im Tal, mein Bayrischzell!«

Die großen, wachen Augen Ernst Löhners irrten über Decke und Wand, haschten nach jedem aufzuckenden Lichtschein und blieben auf der Spiegelung an der Decke haften. Scharf zeichneten sich die vergitterten Fenster dort oben ab. Zwischen den eisernen Schatten huschten Lichter hin und her, als suchten sie ängstlich nach einem Ausweg.

Licht hinter Gittern!

Dein Leben, Ernst Löhner! So bist auch du gefangen im Gefängnis der Schatten. Rastlos mißt die Seele den Kerker aus, rüttelt an den Stahlstäben und erkennt nun, daß sie unzerbrechlich sind. Gefangener des Schattens sein, ist dein Los. Licht, das hinter Gittern erlischt!

Drängende Unruhe brauste in Ernst Löhner auf. Er wollte aufspringen, mit den Fäusten die Türe trommeln und schreien: Macht auf! Laßt mich hinaus! Ich muß ersticken!

Die Gedanken schossen wie Blitze durch das Gehirn, leuchteten fahl in die nächtlich gestimmte Seele, um sich wie Soldaten auf Anruf in Reih und Glied zu ordnen. Mitten in tiefster Nacht trat forderndes Gefühl vor ihn hin, schwermütig und herb, und heischte Gestalt. Stoßweise rang es sich von der Seele:

Rings umschattet mich die Dunkelheit.
Nacht auf allen Wegen, weit und breit!
Fiebernd sucht mein Aug den kleinsten Riß
in der Zelle dieser Finsternis.

Nirgends aber eine Fuge klafft
in den Mauern meiner dunklen Haft,
und der suchend irre Blick zerschellt,
wo er auf die schwarzen Wände fällt.

Wie in Stein gemauert rings umstarrt
mich der Raum, erdrückend schwer und hart,
daß mir der gepreßte Schrei entquoll:
Licht! ... O Lichtes nur ein Auge voll!

Die Schläfer hörten nichts. Sie stöhnten und schnarchten, warfen sich herum und schliefen weiter. Ernst hatte sich aufgerichtet. Immer wieder flossen ihm die Verse von den Lippen. Der Schrei nach Licht zischte einer unterdrückten Flamme gleich durch die finstere Zelle. Zwanzigmal sagte Ernst das Gedicht auf, sog jedes Wort wie ein köstliches Getränk und berauschte sich am dunklen Duft seiner lichthungrigen Schwermut ...

Gegen Morgen schlief Ernst im Sitzen ein. Seine Lippen waren halb geöffnet und blühten in höherem Glanz. Das oft gesagte Wort »Licht« hatte Abglanz auf seinem Gesicht gelassen.

Es hatte in der Nacht stark geschneit. Die Asylleute wurden gegen vier Uhr geweckt und es wurde ihnen eröffnet, daß sie beim Schneeräumen Geld verdienen sollten. Zwanzig Mann gingen sofort hinaus in den kalten, düsteren Morgen. Ernst hatte sich angeschlossen. Nur nicht mehr hier zur Nacht bleiben! Lieber erfrieren!

Die Schaufel geschultert, zog Ernst mit einem Trupp zum Schneeräumen aus. Eben war Tag geworden. Die Arbeiter gingen ihren Fabriken zu, die herrischen Sirenen kreischten noch immer gellend nach ihnen, Wagen rollten vorbei und schnitten tiefe Furchen in den reinen, blendenden Schnee, der Weg und Steg verhüllte.

Taktmäßig schob Ernst den Schnee über den Straßenrand, wie er es von den anderen sah. Nach einer halben Stunde stellte Ernst überrascht fest, daß der Schnee auch naß ist, sogar arg naß, denn er ging nun schon bis auf die Haut und brannte die bloßen Füße, daß sie glühten. Dieses Gefühl war ganz und gar unromantisch und verdarb jeden Genuß an der weißen Schönheit, die langsam angraute und sich schon in glitschige Brühe verwandelte. Ganze Stiefel sind doch keine unwesentliche Sache. In ihnen empfand sich die Welt entschieden nicht so unangenehm naß. Die Menschen mit ganzen Stiefeln am Fuß, womöglich gar noch Gummischuhen darüber, können gar nicht wissen, wie einem zumut ist, der mit blanken Füßen auf die beschneite Erde tritt. Den halben Vormittag sinnierte Ernst Löhner über die auffällige Tatsache, daß nicht alle Menschen auf der Welt heile Stiefel haben. Er baute sich eine vollständige Philosophie der zerrissenen Schuhe aus und kam zu dem Schluß, den lieben Gott könnte wohl nur ein Pfarrer erfunden haben, der noch nie mit zerrissenen Schuhen im Schnee gegangen war. Ernst neigte überhaupt, dem lieben Gott für alle Unbilden die Verantwortung aufzuhalsen. Warum mußte gerade er Schnee räumen? Das eiskalte Wasser stand ihm über die Knöchel heraus. Dort drüben ging eben ein Herr im Pelz vorbei. Dem wäre vielleicht Schneeschippen eine Wonne. Gummiüberschuhe müßten innen schön warm und trocken sein.

Als die drei Mark in seiner Hand klimperten, hatte Ernst seine Weisheiten längst wieder vergessen. Für zehn Stunden Schneeräumen sind drei Mark nicht eben viel, aber wenn man gar nichts hat, so ist das noch weniger, wenigstens konnte sich Ernst für diesen und den nächsten Tag wieder einen warmen Löffel genehmigen.


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