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Fahrten ins Himmelblaue

Ernst Löhner kam zu den Flickschneidern. Damit keine falsche Meinung aufkommt: Es gab weder etwas zu schneidern, noch etwas zu flicken, sondern siebzig Männer saßen in einer Doppelreihe auf rohen, ungestrichenen Dreibeinen und – strickten Strümpfe. Für fromme Missionsvereine, für knauserige Fabrikanten, die Gefängnisarbeit ausbeuten, für wohltätige Stiftungen, arme Kinder zu kleiden: darum kümmerten sie sich weiter nicht. Die Nadeln klapperten von morgens sechs Uhr bis abends sieben Uhr, und Millionen Maschen wurden in einem Tag aneinandergereiht. Ernst hätte gern andere Arbeit geleistet. Von allen Demütigungen, die er bis jetzt erlitten, schien ihm die ärgste, daß er Strümpfe stricken mußte. Das taten sonst nur Schulmädchen und alte Weiblein; in diesen Kreis geschoben zu sein, fand Ernst schmählich. Doch eine Versetzung zu anderer, mehr männlicher Arbeit war ziemlich aussichtslos.

Zu schwitzen gab es bei der Tätigkeit nichts. Die größte Anstrengung war wohl das Sitzen. Hatte man dazu noch leichte Finger, so war das ganze Handwerk mehr Spiel als Leistung. Einen Vorzug hatte die Beschäftigung: man konnte denken, konnte an anderes als an die Arbeit denken. Davon machte Ernst ausschweifenden Gebrauch. Er setzte sich morgens hin und fabulierte bis zum Mittagessen eine märchenhafte Geschichte aus. Gegenstand: die Zukunft Ernst Löhners!

Wenn du nach Amerika gehst ... Man fährt auf dem Schiff nach Amerika, lieber Ernst, man geht nicht. Also, wenn du im Oktober nach Amerika fährst ... Ernst Löhner ist schon drüben. Er hat Erfindungen gemacht, die in eigenen Fabriken ausgebeutet werden. Zwanzigtausend Arbeiter schaffen in seinen Werken. Der fürstliche Palast liegt wunderbar an der teuersten Straße von Neuyork. Breite, kiesgestampfte Auffahrten leiten durch ein Tor, das ein Meisterwerk von Kunstschmiedearbeit ist. Ernst ruft den Hausmarschall an, die Jacht seefertig zu machen. Er will die alte Heimat besuchen. In der Vaterstadt herrscht große Aufregung. Der berühmte Erfinder und Multimillionär Ernst Löhner ist angekommen. Das herrliche Auto rattert durch die Straßen hinaus in die Stadt der kleinen Leute. Die Leute zeigen sich das Auto und flüstern halblaut den berühmten Namen. Vor dem grauen Haus läßt Ernst halten, steigt aus und befiehlt dem galonierten Diener laut, zu warten. Sein Gesicht ist eisenhart, er schaut mit großartigen Augen um sich. Der Vater reibt sich die Hand am Rockärmel, bevor er sie Ernst gibt. Die Mutter rennt aufgeregt durch die Wohnung und stäubt alle Stühle ab. Jetzt spricht Ernst mit den Eltern, zieht eine große Brieftasche und legt fünfzigtausend Dollar auf den Tisch ...

»Du spinnst wohl schon wieder, Nummer Sechsundzwanzig? Denk' an deine Arbeit oder ...«

Der krummbeinige Aufseher stand, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, vor Ernst und schaute ihn durchdringend an. Der gelbe Säbelkorb glänzte aufdringlich. Ernst war aus allen Himmeln gestürzt. Wie schön hatte er sich doch alles ausgemalt, die Fahrt übers Wasser, seine Fabriken, die Jacht und das Wiedersehen. Jedes örtliche Bewußtsein zerfloß vor diesen Einbildungen. Er hatte frei und fessellos geschwebt und sich ganz der Hohburger Wirklichkeit ledig gefühlt.

Nach zehn Minuten begann Ernst sachte wieder zu schwärmen. Diesmal blieb er im Land und nährte sich redlich. Er war ein berühmter Schriftsteller geworden, dessen Bücher in allen Schaufenstern lagen. Sein Name leuchtete sternenhaft, soweit deutsch geschrieben und gelesen wurde. Letzthin hatte er einen Roman abgeschlossen, der bald erscheinen sollte. Darin war sein ganzes Leben ausgebreitet, und alle Menschen kamen vor, die ihm lieb waren. »Gertrud« hieß der Roman. Gertrud??? ... Wo weilte sie jetzt? Sie war sicher ein großes, schönes Fräulein, ging ins Theater, und die Studenten nahmen ihr den Mantel ab.

Gellend läutete die Glocke Mittag. Die Dreibeine scharrten und rückten, weißgraue Arme fuhren durch die Luft, und laute Gespräche wirrten ineinander. Die Essenträger kamen, und Ernst holte sich auch seinen Blechnapf aus dem Ständer. Es gab dicke Bohnen, die er gern mochte. Eigentlich hatte er nichts zu klagen. Draußen war Februar; klirrende Kälte knirschte unter den groben Schuhen, wenn man über den Gefängnishof ging. In der Schanze war es mollig warm. Zwar der Gedanke, frei zu sein, weckte auch wohlige Wärme, aber es war doch sehr fraglich, ob diese Wärme lang vorhalten würde, wenn man jetzt frei wäre ... Dummheit! Unsinn! Es war schon alles richtig und in Ordnung.

Der Frühling kam. Schreiend und geckernd flogen die ersten Schwalben um das Haus und jagten sich mutwillig immer höher ins Blaue. Die Gefangenen sahen versonnen dem Spiel zu, mancher strich sich das Haar aus der Stirn und atmete schwerer. Ernst Löhner schwang sich beim täglichen Spazierlauf im Gefängnishof über alle Mauern und Dächer beherzt auf einen Vogelrücken und flog selig durch lauter rieselnde, zart erwärmte Luft. Auf jedem Baumast hockte er nieder und zählte die Blätter und Knospen. Bald mußte blühende Zeit kommen.

Auch der Sommer erschien. Sonne nahm die Welt in die glühenden Hände, preßte Mauern und Dächer, daß sie sich zitternd und flimmernd krümmten, und kannte kein Erbarmen in ihrem feurigen Reifewerk. Ernst war tief benommen von der Glut, taumelte heiß durch Höfe und Gänge und hing jeder Stunde Flügel an, die Zeit zu beschwingen. Sieben Monate seiner Haft waren vergangen; wie ihm vorkam, schnell und ohne Verweilen. Nun schrie Unrast in ihm auf, murrend, drängend und ungestüm. Die Sonne ist ein schlechter Freund des Gefangenen. Jeden Morgen predigte sie mit feurigen Himmelszungen von Freiheit und offenen Straßen, von endlos wogenden Wäldern und von Gebreiten, die ohne Ziel und Schranke sind. Ernst vernahm die Aufrufe täglich und wünschte, Wolken möchten die Sonne verstummen machen. Regnen müßte es, regnen, bis seine Stunde geschlagen hatte, die ersehnte, goldene Stunde der Freiheit und Heimkehr.

Es rang und raufte in Ernst Löhner. Der er war, würgte sich stöhnend ab mit jenem anderen, der er sein wollte. Sie zerrten sich hin und her, schrien und stritten um die arme Seele, die ratlos dazwischen stand, und konnten zu keinem Ende kommen. Auf braunes Packpapier hatte Ernst eine Abrechnung seines Lebens geschrieben. »Die Metamorphose meiner Weltanschauung unter dem Einfluß des Christentums.« Das war eine Frucht der Gefängniskirche und des sehr lebhaften, eifervollen Geistlichen, der immer krachend auf die Kanzel schlug, wenn er predigte, und mit deutlichen Worten der weißgrauen Gemeinde das Gesicht in den Spiegel stieß. Der Mann meinte es gewiß zum besten, und daß er nicht in Filzsocken durch das Heiligtum seines Herrn schlich, sondern mit derben, genagelten Bauernschuhen darin umherpolterte, fand Ernst Löhner neu und anregend. Obwohl das Schreiben streng verboten und mit Arrest belegt war, zeichnete Ernst mit einem Stumpf von Zimmermannsblei eine Reihe Gedanken auf braunes Packpapier und überlegte tagelang, wie er diesen Aufsatz dem Geistlichen in die Hände spielen sollte. Dazu reimte er ernst und ausdauernd lehrhafte Fabeln, die irgendeine sittliche Erkenntnis oder Folgerung aussprachen. Diese geistigen Spaziergänge mußten unter strengstem Ausschluß der Öffentlichkeit geschehen, denn sie verstießen gegen die Hausordnung und hätten Ernst nur ins Loch gebracht, wenn jemand dahinter gekommen wäre.

Morgen schlug Ernst Löhners Stunde. Zum letztenmal ging es im Zug der anderen in die gemeinschaftliche Schlafzelle. Die Kameraden kamen zu Ernst ans Bett, auf die Gefahr hin, eingelocht zu werden, und banden ihm Grüße und kleine Aufträge ins Gewissen.

»Du wirst doch hoffentlich nicht unterwegs wieder verschütt gehen! ... Steck' die Hand wenigstens so lange in die eigene Tasche, bis du daheim bist und ausgerichtet hast, was du ausrichten sollst. Dann kannst du von mir aus wieder kommen, wenn die Sehnsucht so groß ist.«

Ernst mußte lächeln.

Sie sollten ganz beruhigt sein, er denke nicht so rasch an ein Wiedersehen.

»Das hat noch jeder gesagt, Junge, und übermorgen war er schon wieder im Kittchen. Wenn die Schwalben heimwärts ziehen ... Was?«

Es fiele ihm gar nicht ein, diesen Saustall nochmals von innen anzuschauen, er hätte vollständig genug.

»Nichts verreden, Junge, bloß nichts verreden! Vielleicht kommst du das nächstemal als Aufseher, was willst du dagegen machen?«

Die wildspöttischen Scherz- und Neckreden dauerten noch eine ganze Weile. Die Glocke schnitt sie kurz und lärmend ab.

Fünf Sträflinge kamen mit Ernst Löhner zur Entlassung. Die Abgangszelle ist der einzige helle Raum im ganzen Gefängnis. Äußerlich gleicht sie jeder anderen Zelle. Sie ist nicht weniger dumpf und dunkel, und die Eisengitter zerbrechen den Blick hier wie überall im Haus. Doch alle Gedanken kreisen um diesen Raum, schmücken ihn aus mit besten und schönsten Gefühlen, und noch keiner hat seine letzte Strafnacht hier verlebt ohne festesten Vorsatz, nie wieder hinter Mauern zu kommen. Solange diese Zelle schon steht und soviel Tausende sie beherbergt hat, geschlafen wurde in ihr noch nicht viel, weil keiner schlafen will, dem morgen die Welt wieder geschenkt wird, die tolle, wirre und so heißgeliebte Welt.

Ernst strich über seine Kleider. Zehn Monate hatten sie in einem Sack gelegen, rochen durchdringend nach Kämpfer und waren ihm wunderlich fremd geworden. Immer wieder zog er die Weste stramm, schnellte die Hosenträger vor, die ihm ein Wunder schienen, und stapfte, die Brust vorgestreckt, in der Zelle hin und her. Die anderen taten desgleichen. Die Gesichter leuchteten, die Worte flogen leicht und spielerisch wie Bälle, und die Stimmen blühten förmlich auf. Die Erwartung hatte alles Rauhe und Graue der Haft von den Blicken gestreift. Sonst versenkt, trübe und wie mit Spinnweben bezogen, blitzten die Augen nun wieder frisch und klar. Es war heimlicher Jubel über den Leuten, ein kinderfroher Geist, bereit, die Welt zu nehmen wie Kinder ihre Gaben vom Weihnachtstisch.


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