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Die Tankstelle

In den frühen Abendstunden dieses Tages standen ein paar Taxichauffeure zusammen und sprachen über die Schießerei am Arbeitsamt Nordost. Stumm, in langer Reihe warteten ihre Wagen auf den Nachtverkehr. Von der Arbeit heimkehrende Arbeiter und Angestellte strömten durch die drei riesigen Portale in den Stadtbahnhof, der hinter dem Halteplatz der Taxis mit seinen eisernen Schienenarmen nach allen Seiten durch das Häusermeer fuhr und auf zwanzig Gleisanlagen ununterbrochen die Züge hinausschickte und zurückholte. Sie rollten und rollten, und die Taxihaltestelle befand sich gerade an jener Seite, wo die Schienenstränge in der Ostrichtung, in einer tiefen und breiten Mulde liegend, zu sehen waren, überdeckt von Rauch, umrauscht vom Geheul der Dampfsirenen, vom Stoßen und Rattern der Räder erschüttert, und die Chauffeure beobachteten gleichgültig die Züge, das Leben der Passagiere und die Tätigkeit der Streckenarbeiter zwischen den Geleisen.

»Der Erschossene heißt Erwin Bayer«, sagte der größte unter den Chauffeuren, »fünfundzwanzig Jahre alt, steht in der Abendausgabe. Das von dem angestochenen Polizeibeamten, der sein Bruder sein soll, das steht nicht drin ...«

»Ist vielleicht bloß Gequatsche.«

»Nee, nee, der hat ihn ja noch decken wollen! Und vorher, als die Polente ankam, hat er ihm was zugerufen. Haben alle gehört«

»Was hat er denn erwischt?«

»Bauchschuß.«

»Werden sicher bald schreiben, daß der Schuß von den Arbeitslosen abgegeben worden ist.«

»Und die Jungs kommen morgen früh schon vor das Schnellgericht.«

»Können mir leid tun, die armen Kerls.«

Zwei Chauffeure standen dabei, die rauchten ihre Pfeifen und hörten dem Gespräch zu, ein dritter saß in seinem Wagen und las. Max Eyth, »Hinter Pflug und Schraubstock«. Er las immer, wenn er nicht fahren mußte, er las, wenn er auf einen Fahrgast wartete, nachts bei der spärlichen Beleuchtung der Wagenlampe, vor Restaurants und Nachtlokalen in Erwartung später Gäste; wenn ihn einer antippte, klappte er das Buch zu, fuhr los und lebte weiter in der Welt des Buches, fuhr mit traumwandlerischer Sicherheit durch die Straßen, und seine Gedanken waren weit, weit fort, in fernen Ländern, bei den kühnen Helden seiner Geschichten ... bis die Fahrt zu Ende war und er weiterlesen konnte.

Einer ging weg, das Telephon in der Tankstelle klingelte. Der Tankstellenwärter, ein kleiner, dicker Mann in einem grauen, zerrissenen Sweater, winkte. Es sah komisch aus, wie er sich vom Gitter abhob, das die Eisenbahnböschung begrenzte, und dahinter stand die violette Farbe des Himmels gegen Sonnenuntergang zu. Die Wolkenwand kam von der anderen Seite.

Auf der Straße stieg der Lärm. Es war erstaunlich, wie sich die Leute zwischen den Autos hindurchzwängten. Die Bogenlampen gingen schon an, obwohl die Helligkeit noch nicht verschwand, sie wurde nur flüssiger und undurchsichtiger.

»Da kommt Fritz«, sagte der große Chauffeur, »'ne lange Tour war das auch nicht«

»Wie kommt das, der fängt heute so zeitig an.«

»Braucht anscheinend Geld.«

»Tag zusammen«

»Tag, Fritz.«

»Die ersten zwei Mark hätten wir.«

»Na also. Kauf deiner Braut 'n Klavier.«

Sie lachten, aber Fritz Brösicke sagte nichts, er stopfte seine Pfeife und begann zu rauchen. Inzwischen ging wieder einer der Chauffeure zu seinem Wagen, und zwei neue kamen hinzu.

»Also, man könnte den dußligen Hunden doch wirklich manchmal in den Balg treten«, sagte Fritz. »Frage ich den Mann: Wohin? Sagt er: Wintergartenstraße. Frage ich: Welche? Die im Norden oder die am Zoo? Was denkt ihr, was der sagt? Sagt der: Bin ich Chauffeur oder sind Sie Chauffeur?«

»Ausgezeichnet!«

»Bist du denn richtig hingekommen?«

»Der hat Schwein gehabt. Mir wäre es egal gewesen. Ums Bezahlen wäre er nicht rumgekommen.«

»Dem Emil ist heute mittag noch was viel Komischeres passiert.«

»Das muß er euch selber erzählen.«

Die Chauffeure stampften langsam und bedächtig zu der Tankstelle, die gleichzeitig als Empfangsstation für telephonische Taxibestellungen diente. Sie gehörte nicht zu jenen schönen, bunt ausstaffierten Steinbauten, die schon von weitem dem Chauffeur mit roten und gelben Farben zuwinkten. Hier kannst du gut tanken! Hier wird dein toter Motor mit jedem Brennstoff versorgt, den die Öl-, Petroleum- und Benzin-Konzerne in allen fünf Erdteilen herstellen! Hier stehen die Behälter mit der flüssigen Kraft, die aus der Erde quillt, aber keinesfalls dem Menschen auf der Erde gehört, sondern anonymen Gesellschaften, die sich Schlachten liefern, verhältnismäßig unblutige an der Börse und andere ...

Nein, eine solche Tankstelle war das nicht. Sie hatte solche marktschreierische Reklame nicht nötig, sie lag an einem Knotenpunkt, vor dem Bahnhof, an einer wichtigen Straßenkreuzung und dazu noch neben der Haltestelle der Taxis. Sie begnügte sich seit einigen Jahren, das heißt, solange sie am Bahndamm stand, mit einer schäbigen Holzverschalung, an der einige ziemlich windschiefe Blechreklamen hingen. Nachts verzichtete sie auf feenhafte Beleuchtung und war mit zwei Stalllampen zufrieden.

Aus einer dürftigen Blechröhre, dem Requisit einer Laubenkolonie, schlängelte sich eine ebenso dürftige Rauchfahne. Sie besagte: Hier wird Kaffee gekocht!

Dieses Getränk, dessen koffeinhaltige Grundsubstanz von den Chauffeuren gemeinsam eingekauft und aus einer besonderen Überschußkasse bezahlt wurde, verstand keiner so gut und schmackhaft zusammenzubrauen wie Emil, eben jener Tankstellenwächter mit dem zerschlissenen grauen Sweater, ein früherer Chauffeur, dem aber leider infolge einer etwas angetrunkenen Nachtfuhre mit nachfolgender Karambolage der Führerschein entzogen worden war. Der Berufswechsel brach ihm nicht das Herz, auch mit Benzin und an kleinen Reparaturen konnte man verdienen, zumal die Herrenfahrer wußten wenig Bescheid und glaubten jeden Unsinn. Allerdings, die Zeiten wurden schlecht und das Bargeld rar, in einer Ecke seines engen Häuschens stapelten sich Polster, Notsitze, Autodecken, neue Automäntel, Reservereifen und Kühlerhauben, die im Spätherbst wieder eingelöst wurden, und in einem Küchenschrank, der gleichzeitig Brot, Butter, Wurst, Teller, Tassen und Töpfe enthielt, warteten Uhren, Feuerzeuge, Ringe, silberne Zigarettenetuis, Armbänder, Broschen und andere Wertgegenstände auf ihre Besitzer, die in ›momentaner Verlegenheit‹ Gold – oder Altsilber – für Benzin gegeben hatten. »Mehr Lachkabinett als Pfandkammer«, meinte Emil.

Ein angenehmer Duft erfüllte die kleine Bude, die sonst nur nach Benzin stank, und die Chauffeure hoben schnuppernd ihre Nasen, als sie hereinkamen.

»Kaffee? Zweimal verkehrt, Herr Ober!«

»Bitte auch ein Stückchen Himbeertorte«, mautzte Stefan Kohler.

»Ich werde dir gleich die Himbeertorte woanders hinklitschen!«

»Sachte, sachte, du schelmischer Benzinschiffer!« Kohler konnte, wenn er wollte, in den höchsten Fisteltönen sprechen, und das fand er komisch. Die anderen lachten. Fritz Brösicke setzte sich auf die Fensterbank und sah hinaus.

»Wie kommst du gerade auf Himbeertorte?« sagte er zu Stefan Kohler.

Kohler machte ein verwundertes Gesicht.

»Die schmeckt mir am besten.«

»So.«

Fritz sah aus dem Fenster und in den abendlichen Himmel über der Bahnstrecke, der sich mit einem himbeervioletten Schimmer überzogen hatte, und er mußte an Frieda denken, die war heute abend allein, und was hatte sie eigentlich von ihm? Ich muß ihr mal was mitbringen, was möchte sie gern haben? Eine neue Handtasche? Ihre alte ist so altmodisch, mit Perlen bestickt und mit einem schlecht schließenden Metallverschluß ...

»... also, ich sage euch, ein Wagen mit allen Schikanen, so gelblichweiß ...«

»Bäsch meinst du wohl«, sagte der große Chauffeur.

»Ach, Quatsch, Bäsch! Kein Geld hat er gehabt! Und ein schniekes Püppchen im Wagen, Gott, war das Kindchen süß, und wie er sagte, also ihr müßt wissen, zwanzig Liter hatte ich schon drin, sagte er doch: Hier ist meine Adresse, Generaldirektor soundso, schicken Sie mir bitte die Rechnung zu, von oben runter, und das Püppchen guckte mich überhaupt nicht an ...«

»Wie schaaade!«

»... na, weißt du, so 'ne olle Unke wie du hat gar keinen Grund zu meckern, und wenn sie mir schon die Ehre angetan hätte, mich zu begucken, hätte ich die zwanzig Liter doch nicht sausen lassen, und ich also rauf aufs Trittbrett, getrillert, und der Karl kam gleich rüber, der war erster, und ich sage: ›Mein Herr!‹ sage ich, und er guckt mich an und jetzt, siehste! jetzt hat mich das Püppchen auch angeguckt, aber wie, und dann hat sie ihn angeguckt, aber auch wie! Und da bleiben so ein paar Jungs stehen, und der Herr Generaldirektor steigt aus, und der Herr Generaldirektor sagt: ›Ich verstehe Sie nicht!‹, aber er verstand mich schön ganz gut, und dann hat er mir die Ehre erwiesen ...« Emil ging an den Küchenschrank und angelte mit behaglichem Grinsen eine goldene Herrenuhr heraus. »... und wollte auch noch 'ne Quittung haben. Können Sie haben, sagte ich als höflicher Mann, und sie hupt draußen, das konnte sie ganz schön, es stand nämlich schon 'ne ziemliche Bande um den Wagen rum und lachte sich schief, und Karl paßt auf, aber das Schönste kommt noch, wie er nun wieder rauskommt ...« Die Tür ging auf, und Paul Zimmermann kam herein, mit demselben mißmutigen Gesicht wie am Morgen. Er klopfte zum Gruß mit der Faust auf den Tisch, die Chauffeure sagten »'n Abend, Paul!«, dann zog er die Jacke aus und setzte sich neben Fritz.

»Kein Kaffee da?«

»Doch. Ich warte auch darauf. Laß die nur quasseln.« Fritz holte zwei Tassen und goß sich und seinem Freund ein.

»Was Neues gehört?«

Paul schüttelte den Kopf und sah auf den Boden.

»Mußte nicht so tragisch nehmen.«

»Ach, das versteht ihr nicht. Das muß euch erst mal passieren, dann könnt ihr mitreden ...«

»Was heißt hier mitreden? Ich bin doch auch verheiratet«, sagte der große Chauffeur, den Emils Geschichte nicht mehr interessierte. Sie rückten eng zusammen und tranken ihren heißen Kaffee.

»Die Weiber sind eben alle hundsgemeine Luder!«

»Nicht alle.« Fritz wehrte mit der Hand ab. »Ihr müßt sie euch richtig erziehen, das ist meine Meinung. Ich kenne euch doch, wenn eine gut schmusen kann, dann kippt ihr aus den Latschen, päng, sitzt ihr drin ...«

»Du Grünkopf, denkst du etwa, dir passiert das nicht?«

»Allerdings, das denke ich. Also seht mal, die Frieda, ich kenne sie nicht lange, aber die ist so das Richtige, sie hält zu mir, und sie stopft mir die Strümpfe, und wenn mir mal mies ist, dann meckert sie mich nicht an ...«

»Na, warte nur erst mal, biste geheiratet hast! Zuerst sind die Weiber alle so.«

»Vielleicht sollte man gar nicht heiraten«, sagte der lange Chauffeur nachdenklich, »aber dann sind die Kinder da, und du brauchst die Frau zum Mittagessen kochen, und so und nach und nach wird alles anders, du gewöhnst dich daran ...« Er redete immer weiter und weiter und erzählte von seiner ganzen Misere, denn bei ihm war auch nicht alles in Ordnung zu Hause, sechs Kinder und nie genügend Geld, und es war dasselbe Gerede, das sie jedesmal wiederholten, wenn das Gespräch auf dieses Thema kam, aber Fritz dachte, die verstehen mich nicht, ich meine es ganz anders, die sind zu alt dazu, und er sah wieder aus dem Fenster, im Tankstellencafé waren längst die Lichter aufgeflammt, Rauch von den Zügen stieg über die Böschung, es dunkelte.

Dieses Tankstellencafé nebenan, dessen Besitzer sehr eigenmächtig seine Wirtschaft nach der Tankstelle benannt hatte, hing mit Emils kleiner Bretterbude nur durch das Gitter an der Eisenbahnböschung zusammen und schaute im übrigen mit der trotzenden Überheblichkeit eines Parvenüs auf die mickrige, hölzerne Benzinstation herab, denn das Café befand sich in einem richtigen steinernen Haus und wurde, weil die Lage günstig war, von vielen Leuten besucht. Die Chauffeure gingen übrigens nie hinein. Ihren Schnaps konnten sie auch bei Emil bekommen, obwohl er keine Konzession hatte.

Das Telephon läutete schon wieder, Hochbetrieb, die feinen Leute wollten ins Theater, und die Frau Gemahlin war natürlich nicht zur rechten Zeit mit Anziehen fertig geworden. Stefan Kohler ging hinaus, an der Tür stieß er mit einem anderen Chauffeur zusammen, der nur den Kopf in die Bude steckte.

»Hallo, ist Fritz hier?«

»Hier hängt er.«

»Geh mal raus. Ne Puppe will dich sprechen. Pikfeine Sache!« Er zwinkerte mit den Augen.

Fritz sprang auf, er war rot geworden vor Freude. Frieda! dachte er. Wer konnte es anders sein! Sie war gekommen, um eine Weile bei ihm zu bleiben, mit ihm zu sprechen, kleine Geschichten aus dem Geschäft zu erzählen, Erlebnisse ihres bescheidenen Tages, wie sie es gern tat. Ohne seine Mütze aufzusetzen, lief er hinaus, vorbei an dem Chauffeur, der ihn gerufen hatte, hinaus auf die Straße – und blieb erstaunt und enttäuscht stehen.

Dieses Tanzmädchen, in das Emanuel verknallt war, hatte er nicht erwartet. Was wollte die denn hier?

Susie war es, tatsächlich! Sie trug noch dasselbe Sportkleid wie am Morgen, aber dazu ein blaues westenartiges Jäckchen, ärmellos und straff über die Brust gespannt. Keck auf dem dunklen Haar saß ein orangefarbenes Baskenmützchen.

»Kann ich Sie bitte einmal einen Augenblick sprechen?« sagte sie.

»Natürlich, warum denn nicht?« Er nickte. Sie sah sich um, als suche sie eine Sitzgelegenheit. Er zeigte nach der Bude, aber sie schüttelte den Kopf.

»Das ist mein Auto«, sagte er. Sie ging voran, und er bewunderte wieder ihren federnden, energischen Schritt. An der beißt sich Emanuel seine Zähne aus, dachte er. Er wollte sie fragen, ob sie sich vielleicht hineinsetzen wollte, aber sie lehnte sich nur gegen den Schlag und sah ihn an.

»Herr Roßhaupt ist ihr Freund«, sagte sie.

»Ja.«

Sie sah ihn unsicher an.

»Haben Sie ihn gern?«

Er mußte lachen, aber dann sagte er: »Sehr gern.«

»Hat er sich das Geld heute mittag abgeholt?«

»Ja. Er ist auch bei Ihnen in der Wohnung gewesen, aber Sie waren schon fort, und da wollte er Sie dann suchen ... ich glaube wenigstens«, fügte er noch hinzu, denn er hatte keine Ahnung, was das Mädchen von ihm wollte. Er wunderte sich auch, daß sie hier war, obwohl sie doch eigentlich im Stadthotel tanzen mußte.

»Treffen Sie Ihren Freund heute noch?«

»Heute noch? Nein, das glaube ich nicht. Ich habe heute Nachtdienst. Aber morgen früh ...«

Sie schüttelte den Kopf. »Morgen früh ist er vielleicht schon fort.«

Das verstand Fritz nicht, wo sollte denn Emanuel morgen früh hin sein?

»Wenn Sie großes Interesse daran haben, kann ich schließlich heute abend jemand hinschicken. Vielleicht muß ich auch selbst in die Gegend fahren.«

»Ach, das wäre aber nett von Ihnen. Wollen Sie das wirklich?«

Er nickte und sah in ihre hellen grauen Augen. Verdammt nett, dachte er.

»Ich möchte Ihnen nämlich einen Brief für Ihren Freund mitgeben.«

»Schön.«

»Ich muß ihn aber erst noch schreiben.« Sie sah sich um. Fritz folgte ihrem Blick.

»Vielleicht im Tankstellencafé?« schlug er vor und zeigte auf das erleuchtete Haus.

»Ja«, sagte sie. »Schön. Werden Sie in fünf Minuten noch da sein?«

»Oh, ich komme höchstens erst in einer halben Stunde dran, Sie können sich ruhig Zeit nehmen. Ich bin da drüben in der Tankstelle. Klopfen Sie nur einfach an die Tür.« Der Gedanke daran, daß seine Kollegen dieses schöne Mädchen sehen würden, die zu ihm, Fritz Brösicke, wollte, machte ihn auf einmal ganz glücklich. Sie nickte freundlich mit dem Kopf und ging in der Richtung des Cafés. Er sah ihr nach, bis sie in der Drehtür verschwunden war, und er überlegte, was sie wohl für einen Brief an den Rotkopf schreiben würde, einen bösartigen oder – unvorstellbar – einen sympathischen, und er dachte an ihre komischen Fragen. Was mag sie damit gemeint haben, ob ich Emanuel gern habe? Er lachte noch einmal. Aber dann erschien ihm die Sache auf einmal bedenklich. Was wollte dieses Mädchen eigentlich? Man mußte sich vor diesen Weibern in acht nehmen. Tanzmädchen, na wenn schon! Aber Emanuel ist nichts für ein Tanzmädchen, der ist viel zu gutmütig dazu, der käme unter den Schlitten, dem muß ich das ausreden, wäre doch gelacht, ist doch nicht ...

Auf einmal schien sein Gedankengang durchschnitten wie ein Blatt Papier von einem scharfen Rasiermesser. Er starrte die Straße hinauf. Nein, das war doch nicht möglich. Da kam aus der Richtung, in der das Tankstellencafé lag, Emanuel Roßhaupt. Er schwenkte seine Arme in der Luft. Ob Emanuel mit dem Mädchen schon gesprochen hatte? Was war denn mit dem Jungen los?

Als Emanuel vielleicht noch zehn Schritte von seinem Freund entfernt war, rief er laut: »Ich habe Arbeit!«

Wohl als Tanzstundenlehrer, dachte Fritz.

»Was sagst du denn, ich habe Arbeit gefunden!«

Emanuel strahlte über das ganze Gesicht, seit langem hatte er nicht so vergnügt ausgesehen. Ob da nicht doch das Mädchen dahintersteckte?

»Mensch, Fritz! Bei Fritsche & Blumberg als Chauffeur! Lastwagen. Da ist so ein armer Kerl mit seiner Karre verunglückt, und ich bin gleich hin und habe mich nach der Stelle erkundigt, ist das nicht knorke?«

»Wenn man den Teufel an die Wand malt«, sagte Fritz bedächtig, »dann kommt er auch.«

»Was soll denn das heißen? Freust du dich nicht?«

»Warte mal, eine Frage: Was ist mit dem Mädchen?«

»Mit welchem Mädchen?«

Fritz starrte den Rotkopf eine Weile an, dann faßte er an dessen Stirn und zog die Hand schnell wieder zurück.

»Au, verbrannt«, sagte er ruhig.

Emanuel schüttelte ziemlich erstaunt den Kopf.

»Die Susie Schmitz meinst du?« sagte er dann. »Das ist aus.«

»He?« bellte Fritz, als habe er nicht richtig gehört. Die Seltsamkeiten häuften sich etwas. Nun schien er seinem Freund auch die gute Laune verdorben zu haben Emanuel machte ein verbissenes Gesicht, setzte sich auf den Kotschützer und starrte auf den Boden.

»Ja, gucke nicht so blöd, die Sache ist für mich erledigt.«

»Wieso erledigt?«

»Was geht das dich an? Heute mittag warst du ja gar nicht so interessiert an der Sache. Hast wohl Feuer gefangen?«

»Vielleicht.« Fritz nahm seine Pfeife aus der Tasche und begann sie umständlich zu stopfen. So einen guten Trumpf hat man selten in der Hand, dachte er.

»Ich will dir mal was sagen, Emanuel, ich weiß was von Susie ...«

Er erreichte nicht ganz die beabsichtigte Wirkung.

»Ich weiß, wo sie ist ...«

»Interessiert mich nicht.«

»Sie ist ganz in der Nähe ...«

Emanuel hob den Kopf.

»Sie sitzt im Tankstellencafé und schreibt einen Brief an dich.«

»Wenn ich lachen soll, mußte mir schon bessere Witze erzählen.«

»Na, wirst vielleicht bald nicht mehr lachen. Deine Holde war nämlich vorher bei mir, und da hat sie mir erzählt, sie wolle einen Brief an dich schreiben, den ich dir noch heute überbringen soll, verstehst du? Und wenn du es nicht glaubst, kann ich auch nichts dafür. Dann mußt du schon mal versuchsweise rübergehen und selber nachgucken.«

Emanuel ging fort, ohne etwas zu sagen. Fritz sah ihn in der Drehtür des Cafés verschwinden und sofort wieder herauskommen. Anscheinend hatte der Junge schon genug gesehen.

»Fritz, kannst du mir fünfzig Pfennige pumpen? Sobald ich zu arbeiten anfange, bekommst du alles zurück ...«

»Willst du zu ihr ins Café gehen?«

Emanuel nickte.

»Dann kann sie sich den Brief ersparen ...«

»Nee, eben nicht. Sie wird herauskommen und dir den Brief geben, verstehst du, und du wirst den Mund halten ...«

Fritz Brösicke starrte seinen Freund ziemlich doof an, bis er verstanden hatte.

»Bist du aber ein merkwürdiger Hund«, sagte er, und in dieser Feststellung lag ein Stück Bewunderung. Was konnte nur dieses hübsche Mädchen an der sommersprossigen Visage finden? Nun, vielleicht wollte sie doch einen hundsgemeinen Brief schreiben ... Auch ein Trost, dachte er und holte ein Markstück aus seinem Geldbeutel.

»Damit wirst du aber keine großen Sprünge machen können!«

»Will ich auch nicht. Habe bloß verdammten Hunger. Was kriegt man eigentlich in dem Café?«

»Zu essen? Zu essen kriegst du nichts.«

»Bouillon?«

»Sicher, Bouillon kostet höchstens fünfzig Pfennig. Nehme dir eine Bouillon mit Ei und laß dir ein Brötchen dazu geben ... übrigens, was wirst du tun, wenn dich deine holde Schönheit sieht?«

Auf diese Frage gab Emanuel keine Antwort. Er drehte sich um und ging an der langen Taxireihe entlang, vorüber an der Holzbude, auf der in großen Buchstaben Tankstelle zu lesen war, und hinein in das dunkelrot erleuchtete Café.

Obwohl räumlich keineswegs groß, erweckte das Tankstellencafé durch reichliche Verwendung von imitierten Marmorsäulen, Wandspiegeln und Nischen den Eindruck eines in viele Einzelsalons geteilten, imposanten Wirtschaftsbetriebes. Die Wände waren – dem Zeitgeschmack entsprechend – mit unverständlich stilisierten Fresken bedeckt, und eine buntfarbige Beleuchtung machte jede Lektüre oder schriftliche Arbeit in diesen Räumen zu einer Qual für die Augen. Deshalb besuchten hauptsächlich Liebespaare das Café, Flaneure beiderlei Geschlechts, die in diesem ungewissen, schummrigen Licht ausgezeichnet flirten konnten. Flüchtige Bekanntschaften schlössen sich hier leichter als anderswo, und schließlich lockte viele Besucher das wirklich reichhaltige Schallplattenlager. Die Gäste durften sich ihre Lieblingsplatten selbst aussuchen, ein ebenholzschwarzer Schrank besorgte die tadellose Wiedergabe.

Dieser Apparat stand in der Mitte des vordersten Raumes an einer der Säulen, und dahinter saß Susie und schrieb. Emanuel hatte sie sofort gesehen, schon beim ersten Blick durch die Drehtür. Auf eine verblüffende und erschreckende, zugleich aber auch wunderbare Art reagierten seine Gefühle, wenn er ihre Nähe verspürte. Die Sache ist erledigt, hatte er sich am Nachmittag gesagt, aus, vorbei, du mußt darüber hinwegkommen. Und nun stand er in der Drehtür und erkannte sie schon von weitem an ihrem Haar, obwohl sie mit dem Rücken zur Tür saß.

Sie schreibt mir, dachte er, und er wählte zwischen den Möglichkeiten die günstigste, an eine schlechte Mitteilung dachte er überhaupt nicht. Vor einigen Stunden hatte sie ihn noch als Mörder beschimpft und nun schrieb sie einen Brief an den »Mörder«. Er machte sich keine Gedanken über die Ursachen dieses Stimmungsumschwungs, sie wären auch müßig gewesen. Susie war da. Genügte ihm das nicht?

Er war nur darauf bedacht, von ihr nicht bemerkt zu werden, keine schwierige Aufgabe übrigens, denn selbst wenn sich das Mädchen umgedreht hätte, wären noch viele Säulen zwischen ihr und Emanuel Roßhaupt gewesen.

Er ging vorsichtig durch das Café, den Blick auf die Säule neben dem Grammophonapparat gerichtet. Gaffer an vielen Tischen, die ihn unverschämt anstarrten, zwei kichernde Fräuleins, er erhaschte gerade den Blick der einen, ein dummdreister Blick, der wohl zu besagen schien: Du gehörst doch gar nicht hierher. Das Blut schoß ihm ins Gesicht, er drehte sich weg und suchte nach einem freien Platz. Viele Monate der Arbeitslosigkeit hatten nicht vermocht, seinen Stolz und seine Empfindsamkeit zu töten. Im Gegenteil. Frieda behauptete immer, er sei zu gefühlvoll und ließe sich zu leicht von Stimmungen beeinflussen, sie hatte nicht unrecht.

Hinter jener Säule, an der Susies Tisch und das Grammophon standen, befand sich noch ein kleiner Tisch mit einem freien Stuhl. Eine dicke Säule schied aber beide Tische so, daß sie nicht nur in andere Räume, sondern auch zu anderen Kellnern gehörten, und weil Emanuel wohl Susie, sie aber nicht ihn beobachten, konnte – falls sie nicht aufstand und um die Säule herumging –, so setzte er sich kurz entschlossen an jenen freien Tisch und rückte den Stuhl etwas zur Seite, um den Schimmer ihres Haars und die klargeschwungene Linie ihres Halses beobachten zu können. Er saß gewissermaßen in der äußersten Gefahrenlinie.

»Sie wünschen?«

Der Kellner hatte eine unbeteiligte Stimme, aber sein Gesicht drückte Geringschätzung, ja Verachtung aus.

»Eine Bouillon bitte, wenn es geht mit Ei«, sagte Emanuel leise. Er schämte sich vor dem Kellner, er hatte das unangenehme Gefühl, daß dessen geübtes Auge nicht nur einen geringen Barbestand, sondern auch die Erwerbung dieses Geldes durch einen ganz gewöhnlichen Pumpversuch erkennen konnte. In den letzten Monaten war er nicht mehr in Cafés und unter gut angezogene Menschen gekommen, und er fühlte sich befangen. Sein Selbstbewußtsein, das vor dem Arbeitsamt einen so machtvollen Aufschwung erhalten hatte, löste sich im Zigarettenqualm des Caféraumes in nichts auf. Er kam sich wie ein Hochstapler vor, und nicht einmal die Gewißheit, daß er eine Mark in der Tasche hatte, beruhigte ihn. Wer konnte wissen, ob Bouillon mit Ei nicht mehr als eine Mark kostete?

Er kroch ganz in sich zusammen, als wäre er nicht da. Vielleicht würden ihn auch die Kellner und Gäste vergessen.

Der Kellner brachte ihm die Bouillon.

Emanuel besah sich in seinem Taschenspiegel. Der Schlips saß schief, er zog ihn gerade, und dabei zerrte er den Kragen zusammen, der Kragen war nicht mehr blütenweiß, sondern faltenreich und schmuddlig. Ach, Quatsch, dachte er auf einmal. Fall nicht auf den Schwindel rein. Bangemachen gilt nicht ... Aber das war ein etwas krampfhafter Versuch, sehr wohl fühlte er sich nicht. Er war plötzlich in eine unsichere und schiefe Lage hineingekommen und wußte nicht, wie er sich verhalten sollte. Zwei Ereignisse – eigentlich hochwillkommene – an einem Tag, das war etwas zuviel für einen jungen Mann, der durch lange Monate der Untätigkeit und der Hoffnungslosigkeit aus dem Gleichgewicht gekommen war. Das erste Ereignis hieß Susie, das zweite aber: ARBEIT. Und beide Ereignisse standen in enger Beziehung zueinander. Nicht nur, daß er die Gelegenheitsarbeit bei Fritsche & Blumberg übernommen hatte, um Geld für Susie zu verdienen – und dabei eine richtiggehende, tadellose, erstklassige Chauffeurstelle gefunden hatte ... Nein, auch ihr weiteres Verhältnis mußte sich völlig anders gestalten, wenn er nicht mehr stempeln ging, sondern Geld verdiente, Lohn, keine Almosen, bekam und damit etwas für Susie tun konnte. Sie brauchte dann nicht mehr bei der Tanztruppe bleiben, vielleicht ging sie auf ein Büro, sie mußte doch etwas gelernt haben, so ein hübsches und nettes Mädchen, und wenn sie nichts konnte, würde er sie auf eine Abendschule schicken, Schreibmaschine, Stenographie, vielleicht sogar Buchhaltung ...

Er stutzte auf einmal. Woher wußte er denn, daß sie bei ihm bleiben, daß sie zu ihm halten würde? Weil sie, zwei Schritt von ihm entfernt, an einem kleinen Caféhaustisch saß und angeblich einen Brief an Emanuel Roßhaupt schrieb? Schrieb sie ihn überhaupt? Nein, natürlich nicht, sie schrieb gar nicht, das merkte er erst jetzt, versunken in die Betrachtung ihres dunklen Haars. Susie saß da und starrte vor sich hin, und ihr Rücken wölbte sich etwas, als habe sie es nicht leicht ...

... Und sie hatte es wirklich nicht leicht. Vor ihr lag ein Bogen Schreibpapier und in der rechten Hand hielt sie ihren Füllfederhalter, und ab und zu malte sie damit seltsame Schnörkel und komische Worte auf das Papier, aber niemand konnte behaupten, daß dies ein richtiger Brief sein sollte – dazu an einen jungen Mann. Oh, sie hatte schon viele Männer kennengelernt, junge Schüler in jener Zeit, da ihr Vater sie noch aufs Lyzeum schicken konnte, später Kaufleute, achtbare Beamte, kluge und langweilige Normalfiguren. Sie verschwanden alle, als Susies Vater in den ersten Krisenmonaten des Jahres 1928 Konkurs anmeldete und seine alte Tätigkeit wieder aufnehmen mußte – vom kleinen Handlungsgehilfen zum Inhaber eines führenden Maßgeschäftes für feine Herrenbekleidung und wieder zurück in die traurige Existenz eines Provisionsvertreters für Herrenstoffe. Susie war das vierte Mädchen unter sechs Geschwistern. Zwei jüngere Brüder gingen noch auf die Schule. Sie sollte einen »Brotberuf« erlernen. Noch nicht sechzehn Jahre alt, hatte sie sich zu entscheiden und ihre Wahl zu treffen. Sie begann als Verkäuferin in einem Grammophongeschäft und flog nach kurzer Zeit auf die Straße. Grund: Sie gefiel dem Chef, und der Chef gefiel ihr nicht. Die Eltern verstanden das nicht, sie klagten ihr die Ohren voll, und Susie verbrachte zwei bittere Monate ohne Stellung. In einem eleganten Tanzrestaurant, das sie in großen Abständen mit mühsam zusammengespartem Geld besuchte, denn sie tanzte leidenschaftlich gern, lernte sie eines Abends einen älteren angenehmen Herrn kennen, der sich eifrig um sie bemühte, ohne dabei aber auf jene lächerliche Art zu balzen, wie es angejahrte Herren in Gegenwart von jungen Mädchen so oft tun. Susie war jung und sehr kühl, der angenehme Herr leitete die Filiale eines Filmverleihs, und so fand sie wieder eine Stellung. Als ihr Gönner in einer anderen größeren Stadt einen neuen Posten übernehmen sollte, folgte sie ihm sofort – um so lieber, da die häuslichen Verhältnisse infolge chronischen Geldmangels und einer Nervenzerrüttung der Mutter kaum noch zu ertragen waren. Susie war, wie gesagt, jung und sehr kühl, und sie hatte mit klugen, wachen Augen beobachtet, wie es mancher Freundin und Schulkameradin ergangen war. Sie kam in neue Verhältnisse, sie lernte neue Leute kennen, viele Männer und wenige, die ihr gefielen. Sie spürte genau – diese Erkenntnis hob sie von manchen anderen Mädchen ihrer Herkunft ab –, daß jene rasch geknüpften und noch rascher gelösten Beziehungen mit gut aussehenden, forschen jungen Männern eine durchaus gefährliche Sache waren. Sie verschafften den Männern einige ebenso kurze wie billige Vergnügungen und den Mädchen – auch wenn sie es sich nicht eingestehen wollten – zermürbende Enttäuschungen. Und da erschien das Risiko für Susie doch zu hoch. Ihren Geschäftsführer, der übrigens zufrieden war, wenn er mit ihr ausgehen konnte, behandelte sie mit einer etwas gönnerhaften Liebenswürdigkeit. Er spürte das, aber weil sie die Distanz nicht zu schroff betonte, wären ihre harmlosen Beziehungen wohl noch lange intakt geblieben, wenn er nicht eines Tages seine reizende Angestellte im Arbeitszimmer beim Diktat in einer etwas melancholischen Anwandlung – von der Susie natürlich nichts wissen konnte, und selbst wenn sie etwas gewußt, hätte ihm das nicht viel genützt – plötzlich und überraschend umarmt hätte. Die Folge war, was durchaus nicht üblich ist, eine gutgezielte und gutsitzende Ohrfeige, die Susie gleich darauf außerordentlich bedauerte. Wenn Herr Elbau – so hieß der Herr nämlich auch nur einigermaßen Ahnung von den seltsamen Gefühlsregungen moderner junger Mädchen gehabt hätte, so wäre ihm eine würdevoll resignierende Haltung sehr nützlich geworden, vielleicht hätte er sogar in diesem Augenblick mehr erreicht, ab er je erhofft hatte. Leider aber ließ er sich im Gefühl seiner gekränkten männlichen Eitelkeit dazu hinreißen, etwas unmotiviert zu Susie zu sagen: »Damit dürften sich im Büro wohl einige Änderungen ergeben.«

In dieser Zeit hatte aber Susie schon eine junge Statistin namens Gerda Sponholtz kennengelernt, ein ruhiges, nachdenkliches, oftmals trauriges Geschöpf, die ab und zu kleine Rollen bei jener Gesellschaft, deren Filialleiter Herr Elbau war, spielte und die zu der kleinen gesunden Susie Schmitz ebenfalls eine leichte Zuneigung gefaßt hatte. Als Susie dem Mädchen von der Kündigung erzählte, vertraute diese ihr unter dem Siegel der strengsten Verschwiegenheit an, daß sie eigentlich ihre Statistentätigkeit nur nebenberuflich ausübe, abends aber tanze sie in einem Revueballett, genannt die »Broadway- Girls«. Wenn Susie Lust habe, werde sie versuchen, ihre Freundin unterzubringen ... usw.

Und so kam Susie zu den »Broadway-Girls«, zur Revue und damit in den Vorraum der höllischen Verworfenheit nach landläufiger Meinung.

Die Wirklichkeit sah anders aus: Susie mußte arbeiten und schuften, trainieren und lernen, so daß sie spät nachts wie ein Sack ins Bett fiel und sofort einschlief. In der ersten Zeit schmerzten ihr sämtliche Knochen so heftig, daß sie sich kaum bewegen konnte. Sie zog mit Gerda zusammen in eine kleine Wohnung, dadurch wurde vieles leichter, trotz harter Arbeit und bitterer Müdigkeit. Manches Mal stellten sie sich die Frage: Was haben wir vom Leben? und übrig blieb nur eine vage Hoffnung auf das ungewisse Morgen. Gerda hatte einen kleinen Freund, der sie nicht heiraten konnte, weil er kein Geld hatte, dafür hielt Frau Sponholtz den Schupooberwachtmeister Alfred Langlotz parat, mit dem sich Gerda nicht richtig verstand. Susie aber hatte niemanden als Gerda. Sie teilten ihre Sorgen.

Manches Mal machten Männer, die sich die Girls angesehen hatten, Annäherungsversuche – keinesfalls sehr häufig übrigens, da paßte schon Samuel Großmann zu gut auf – aber diese Männer waren auch danach und hatten nur bei solchen Mädchen wie Eleonore oder Stupps Glück, Mädchen, die schon etwas unten durch waren, und auch nur dann, wenn die Männer »etwas springen ließen«. Susie machte nie mit, schon um Gerda nicht zu enttäuschen, die aus ihrer Vergangenheit gewisse Lehren gezogen hatte, die sich Susie ersparen sollte. Eine Zeitlang ging Susie mit einem jungen und netten Bankbeamten, dem ehemaligen Freund eines Tanzmädchens, das plötzlich gestorben war. Die Eltern des Jungen erfuhren entsetzt von seinen Beziehungen zu einer zweifelhaften Person vom Ballett und ließen ihn in eine holländische Filiale der Bank versetzen. Er schrieb nicht mehr, die Sache war aus. Später interessierte sich ein Junglehrer für Susie, dann ein hübscher kleiner Italiener, der aber zur Sorte der Windhunde gehörte. Wie Schatten glitten diese Begegnungen an ihr vorüber, ohne ihr etwas anzuhaben, ohne sich tiefer einzuprägen, leicht und harmlos, und nichts blieb zurück als ein schaler Nachgeschmack und die Hoffnung auf einen Menschen, »um den es sich lohnt«. Diese Wendung, die bei ihr haften geblieben war und die manches Mal aus dem Labyrinth der Wünsche und Träume auftauchte – oft nach Enttäuschungen, in Stunden der Resignation –, diese Wendung war nicht von Susie. »Ich möchte nur einmal einen Menschen kennenlernen, um den es sich lohnt«, ein Kino- Zwischentitel aus Chaplins »Goldrausch«. Im Tanzsaal des Goldgräbergasthauses. Das kleine hübsche Tanzmädchen, Georgia Haie, sagt diese Worte hoffnungslos und bitter zu einem Bekannten. Sie hat ein schmerzlich-trauriges Gesicht. Charlie steht neben ihr, klein und geduckt, hört alles, fühlt alles und schweigt. Georgia Halt sieht über ihn hinweg. »Einen Menschen, um den es sich lohnt.«

Auf wunderbare Weise war das in Susies Gedanken haften geblieben. Und sie begann sich mit der Frage zu beschäftigen, wie man wertvolle Menschen von oberflächlichen und unaufrichtigen unterscheiden könne. Der Instinkt war doch manches Mal eine etwas zweifelhafte und nicht ganz zuverlässige Sache. Nicht, daß sie daran gedacht hätte, als ihr dieser komische und keinesfalls hübsche Arbeitslose mit dem ansprechenden Namen Emanuel Roßhaupt über den Weg gelaufen war, nein, aber sie hatte das Geld von ihm genommen und war mit in seine Wohnung hinaufgegangen – oder genauer: in die Wohnung seines Freundes – sie hatte mit ihm gefrühstückt und ihn auf den Bahnhof geschickt, und dann war inzwischen die Geschichte mit dem seltsamen Zettel passiert, der auf dem Tisch lag, und als Herr Chauffeur Brösicke nach Hause kam, stellte sich heraus, daß ihm und nicht dem Rotkopf die Wohnung gehörte.

Und dann erschien Langlotz und erzählte etwas von einem Mord, Polizeibeamter von einem rothaarigen Arbeitslosen niedergestochen ... wie in einem schlechten Kriminalroman ... und dann ... was hatte er gesagt? Ich bin es nicht gewesen. Aber wenn ich es gewesen wäre, was wäre dabei? Nein, er war es nicht gewesen, aber wenn er es gewesen ist ...

Nun?

Was ist dabei ...?

Sie läßt ihn sitzen, sie denkt nicht mehr an ihn, sie geht fort zur Probe. Da ist abends die dumme Sache im Stadthotel, und sie müssen in der Brühhitze des Nachmittags die ganze Nummer erst noch mal durchproben. Die Tür geht auf, er steht im Garderoberaum, in einem lächerlich schäbigen Anzug, und er verlangt haargenau das von ihr, was sie sich schon vorgenommen hatte. Nun ist es aus – sie schmeißt ihm die Sache mit dem Polizeibeamten an den Kopf, aber zum erstenmal läßt ihn etwas kalt. Er wird nicht mehr rot. Er antwortet und geht fort. Und von seinen letzten Groschen hat er ihr noch ein Buch gekauft. Ein Buch, das sie schon lange gelesen hatte.

Warum wohl? Warum ...?

Und er läuft fort, und sie steht da mit ihrer hundsgemeinen Antwort, und etwas bleibt in ihr hängen, und sie weiß, er kommt nicht wieder. Alles geht weiter, die Probe geht weiter, heute abend wird sie im Stadthotel verschenkt werden, wie es im Kontrakt steht, an irgendeinen Mann, den sie nicht kennt, und der sie morgen nicht mehr kennen wird, eine harmlose Sache vielleicht, und der Rotkopf wird seinen Vorsatz wahrmachen und aus der Stadt fortgehen, und sie bleibt zurück ... und sie bleibt zurück, und immer tiefer graben sich die Worte ein: ... einen, um den es sich lohnt.

Susie geht also zu Gerda und sagt es ihr. »Mir ist hundeelend«, sagt sie, »weil ich den Jungen so dreckig behandelt habe. Ich glaube, er hat es nicht verdient.« Gerda läßt sie aussprechen. Und dann sagt sie: »Nein, das hat er nicht. Schreibe ihm doch was.«

»Schreiben? Was soll ich ihm denn schreiben?«

»Das weiß ich nicht«, sagt Gerda, »das ist deine Sache. Ich würde ihm aber etwas Nettes schreiben. Ich glaube, es würde ihm guttun.«

»So? Meinst du?«

Ja und Gerda meinte noch etwas ganz anderes.

»Also gut. Ich gehe zu Herrn Brösicke.«

»Der ist doch nicht mehr zu Hause!«

»Ich weiß, ich gehe zum Taxihalteplatz.«

»Hoffentlich triffst du ihn.«

»Hoffentlich.«

»Aber komme nicht zu spät ins Stadthotel.«

»Nein. Ich werde pünktlich da sein, verlaß dich drauf.«

Und nun saß sie im Tankstellencafé und die Schnörkel bedeckten das Papier, und nichts Ordentliches kam zustande, ihre Gedanken wanderten im Kreise herum, vom Arbeitsamt Nordost zum Stadthotel, von »Gösta Berling« zu dem niedergestochenen Polizeibeamten, und ihre Glieder waren so schwer, als könne sie nie mehr in der Truppe tanzen, das rote Licht des Cafés, der Zigarettenrauch, die Leute verschwammen zu einer dicken zähflüssigen Masse, die sich immer enger und enger um sie schloß, immer dichter und enger ...

»Herr Ober!«

»Bitte?«

»Haben Sie eine Abendzeitung?«

»Einen Moment.«

Ein Mann ging vorbei und sah sie aufdringlich an. Sie trank ihren Tee aus, und dann kam der Ober wieder und legte eine Abendzeitung auf den Tisch. Auf der ersten Seite stand gar nichts davon, auf der zweiten auch nicht, die Redaktion hatte den toten Arbeitslosen in den Lokalteil verwiesen. »Schwere Ausschreitungen im Arbeitsamt Nordost.« Sie fuhr mit dem Zeigefinger über die Zeilen und ihre Hände feuchteten sich an. »Heute morgen gegen 9 Uhr 55 ...« und dann kam die Meldung von den »Exzessen jugendlicher Rowdys«, nein, das wußte sie schon, hier stand der Name des Toten, »... mußten in Notwehr zur Schußwaffe greifen. Dabei wurde der 29jährige Vertreter Erwin Bayer durch einen Bauchschuß tödlich verletzt ...«, ihr Finger lief zittrig weiter über die Meldung bis zu der durch fette Borgis herausgehobenen Zwischenzeile

»Polizeibeamter niedergestochen«.

»Die Demonstranten, die ein Steinbombardement auf die Polizeibeamten eröffnet hatten, griffen plötzlich den von seiner Truppe abgekommenen Wachtmeister B. an, wobei der Beamte von einem bisher noch nicht ermittelten Täter ...« Susie ließ das Blatt sinken und sah an die Decke.

Und wenn ...

Es war ihr egal. Heiß und rot wurde ihr Gesicht. Es war ihr ganz egal, was der Junge getan hatte. Sie mußte ihm ein paar gute Zeilen schreiben. Gehen Sie nicht aus dieser Stadt fort. Kommen Sie wieder.

Der Zigarettenrauch löste sich, wurde durchsichtiger, zerriß. Sie hörte schlechte Grammophonmusik.

»Haben Sie keine anderen Platten, Herr Ober?«

»Doch. Sie können sich aussuchen, was Ihnen beliebt.«

Susie ging an den Schallplattenschrank und sagte etwas zu dem Fräulein. Die schüttelte den Kopf und reichte ihr ein Verzeichnis. Susie blätterte darin.

»Haben Sie das?«

Das Fräulein nickte und sah Susie an, dann drehte sie sich um und suchte im Schrank. Susie lächelte und ging an ihren Platz zurück. Die Uhr an der Wand zeigte zehn vor acht. Sie hatte nicht mehr viel Zeit. Hoffentlich stand Herr Brösicke noch da.

Der Apparat begann zu tacken, dann kratzte die Nadel in die Rillen, eine dünne Stimme:

»In St. Pauli bei Altona
Bin ich verlassen worden,
Ich hab geglaubt, weil es so schön,
Wir zwei würden nie auseinandergehn ...«

Sie fühlte sich so heiter, so leicht. Sie nahm einen sauberen Bogen Papier und begann zu schreiben.

Eine dünne Stimme. Grete Mosheim.

Ihre Schulmädchenschrift zitterte etwas auseinander, aber die Feder setzte keinen Augenblick ab.

Lieber Herr Roßhaupt! Verzeihen Sie mir, daß ich so heftig zu Ihnen war. Ich möchte Ihnen alles erklären. Können Sie nicht morgen mittag einmal zu uns herüberkommen, vielleicht gegen zwölf Uhr? Wegen heute abend brauchen Sie keine Angst zu haben. Dem ›verschenkten Girl‹ geschieht nichts Das ist eben mein Beruf. Ihre Susie Schmitz.

Sie steckte den Brief in einen Umschlag, schrieb darauf: An Herrn Emanuel Roßhaupt – dann klebte sie zu, zahlte und ging hinaus.

Emanuel sah ihr nach. Sie drehte sich nicht mehr um. Inzwischen lief die Rückseite der Grete-Mosheim-Platte:

»Eine kleine Sehnsucht braucht jeder zum Glücklichsein ...« »Ober!« sagte er.

Die Bouillon kostete sechzig Pfennig. Er bekam vier Groschen heraus. Zwei Herren warteten schon auf seinen Tisch, als er aufstand. Er ging aber noch nicht fort. Er mußte sich erst Luft machen.

Die Toilette.

Porzellan, weiß, sauber. Ein schmaler Spiegeltisch. Zeitungen. Fromms-Act-Päckchen. Der Toilettenmann verzehrte mit dem größten Behagen ein fettiges Kotelett, er sah Emanuel überhaupt nicht an.

Saubere angenehme Stille. Emanuel glotzte an die Wand, an den handgemalten, verzierten und verschnörkelten Zettel:

»Bei fröhlich plätscherndem Gepinkel
vergeßt den Wärter nicht im Winkel.«

Im Vorraum zu den Toiletten stellte sich ein junges Mädchen, das ein ebensolches Sportkleid trug wie Susie, auf eine Münzwaage und zog ihre Gewichtskarte.

»Oh«, sagte sie dann, aber Emanuel wußte nicht warum. Er wußte nur, daß Fritz jetzt schon in diesem Augenblick ihren Brief hatte. Er verlor wieder allen Mut. Er wollte die Entscheidung hinauszögern. Wenn ich so tue, als wäre nichts los, als ginge mich die Sache überhaupt nichts an, dann steht vielleicht etwas Gutes im Brief ...

Er ging aber doch sofort und schnell hinaus.

Dunkle Wärme. Der Bahnhof dehnte seine Gerüste im rauchigen Bogenlampenlicht. Geheul der Züge.

Der Wagen von Fritz stand an zweiter Stelle, das Mädchen war nicht mehr bei ihm.

»Hier ist der Brief«, sagte Fritz.

Er sah Emanuel neugierig an. Der steckte den Brief ein.

»Nanu? Mach ihn doch auf.«

»Was sagte sie?«

»Nischt.«

Emanuel nahm den Brief wieder aus der Tasche und macht ihn vorsichtig und behutsam auf. Als er die paar Zeilen gelesen hatte, reichte er den Zettel Fritz hin.

»Mensch, du hast ja Chancen! Wie hast du denn das gedreht?«

Emanuel lachte.

»Heute abend gehe ich ins Stadthotel!« sagte er und ging fort.

Fritz sah ihm nach und schüttelte den Kopf. Ein paar Schritte von ihm entfernt standen einige Chauffeure, die rauchten, und sahen auf die Bahnstrecke hinunter. Der Himmel leuchtete in den wunderlichsten Farben, und ganz am Rande schwamm ein milchiges Rot. Sie konnten weit die Eisenbahnstrecke hinaufsehen, über die glänzenden Geleise hinweg. Grüne und rote Signallichter funkelten dazwischen. Die dunklen Silhouetten der Fabriken und Essen standen gegen den letzten Rest der Sonnenglut und gingen langsam in Rauch und Schatten unter. Der Lärm schwoll an.

Einer erzählte: »Vor zwei Jahren, wie ich noch arbeitslos war, da ging ich nachts immer auf die Bahnhöfe und kaufte mir 'ne Bahnsteigkarte und ging dann rauf, auch wenn ich Hunger hatte. Lieber auf den Bahnhof als was im Magen ...«

»Und?«

»Manchmal konnte ich Koffer tragen oder sonst was. Aber schöner war noch, zuzusehen, wie die Leute abfuhren und ankamen. Weiter nischt.«

Das Telephon schrillte, Fritz lief los, sein Wagen war dran.

»Gehen wir einen Schnaps trinken«, schlug einer der Chauffeure vor.


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