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Das Warenhaus

Erst wollte sie fahren, weil es schon so spät war, aber dann dachte sie, ach was, zwei Groschen, da hätte ich eben zeitiger aufstehen müssen und war gerade so müde und kriegte den Schlaf nicht aus den Augen. Zu lange ausgewesen, gestern nacht und dann die Strümpfe noch gestopft, aber da war ich schon wieder allein, Fritz hat ja Nachtdienst, und eigentlich wird der Junge jetzt viel müder sein als ich, ach was, ich laufe, ist ja gar nicht mehr so weit, muß mich ein bißchen anstrengen, mal Dauerlauf machen, denkst, die Leute sehen dir zu, im Stadion, sie klatschen, Bravo, wie sie läuft, wundervoll gleichmäßig, nach der Uhr läuft sie, ein fabelhaftes Mädel, wird sich den Rekord holen, feste! feste! ... O je, bloß noch zwei Minuten, heute kommt aber auch alles zusammen, wie war das mit gestern abend? Der Abteilungsleiter hat bestimmt gemerkt, daß ich zeitiger fort bin, kann mir den Buckel runterrutschen, ach nee, lieber nicht ... hätte ich doch lieber die beiden Groschen springen lassen, läutet das schon? Um Gottes Willen ... nee, das läutet nicht, an der Ecke kannste die Uhr sehen, eins, zwei, drei, an der Ecke, um die Ecke, zehn Schritte bis zur Ecke, eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, na, gib noch fünfe zu, zehn, elf, zwölfe ... Mensch, geh doch aus dem Weg mit deinen Korkzieherhosen! mußt wohl nicht zur Arbeit ... zwei Minuten, nein, eine Minute vor, aber jetzt ... Da vorn geht Elfriede, die muß ich einholen, dann kommen wir alle beide zu spät, das gibt wieder einen Verlustpunkt, und wer fünf Verlustpunkte hat, der fliegt, und ich habe schon zwei, und gestern abend bin ich so pünktlich fortgegangen, zwanzig nach sieben, Fritz wartete auf mich, und wir haben verdammt nicht so viel Zeit, kann auch mal pünktlich Schluß machen, wird wohl niemand gemerkt haben, Rosa hat für mich abgerechnet, ich muß sie gleich fragen ...

»Nicht so schnell, Elfriede!«

»Tach, Frieda. Ob der Kasten schon zu ist?«

»Och je, gucke mal, wie viele noch reingehen.«

»Aber sie rennen alle.«

»Komm, nehmen wir mal die Beine in die Hand. Bin schon den ganzen Weg gerannt.«

Gleich nachdem sie die Marken eingeworfen hatten, klingelte es im ganzen Haus und automatisch schob sich das Schutzgitter vor die Kontrolltafel.

»Das war aber Schwein!«

Die beiden Mädchen atmeten tief auf.

Elfriede Fabian war das, was Spezialisten ein Flittchen nennen: Frisch, jung, keck, mit jedem Mann sehr schnell auf du und du und ebenso schnell wieder fertig mit ihm, gerissen, unverwüstlich, eitel, ein hübsches Dutzendgesicht, kurzgeschnittene blonde Haare, einen etwas zu schmalen Mund. Sie konnte auch traurig sein, aber das wußte niemand.

»Du kommst doch sonst nie so spät«, sagte sie zu Frieda. Sie liefen eilig neben vielen anderen Mädchen die Stufen hinauf, die Benutzung des Fahrstuhls war ihnen untersagt.

»Ich war gestern 'n bißchen lange aus«, Frieda hatte ein glückliches Gesicht dabei, »heute morgen habe ich den Wecker gehört, aber dann bin ich wieder eingeduselt.«

»Warste tanzen?«

»Nee. Wir gehen lieber ins Kino, wenn wir Geld haben.«

Elfriede lachte. »Erst ins Kino und dann tanzen, sonst haste keinen richtigen Kavalier.«

»Ist auch kein Kavalier. Er ist mein Freund«, antwortete Frieda. Elfriede merkte nichts, sie stiegen höher und höher, die Trikotagenabteilung befand sich im dritten Stock, Frieda saß an der Kasse, und Elfriede war Verkäuferin.

»Ich gehe heute abend fein aus. Zum Sommerfest ins Stadthotel, da kostet es fünf Mark Eintritt und außerdem ist Weinzwang«, erzählte stolz und eifrig Elfriede. »Die Broadway-Girls tanzen, schon mal gesehen, nee ...? Die Jazzkapelle Reso Antonio spielt, knorke ist die, und dann gibt's noch 'ne Attraktion für die Männer ... haste das in der Zeitung gelesen?«

»Nee.«

Frieda hörte nur halb hin, sie dachte an den Abteilungsleiter, ob der wohl was gemeldet hatte wegen gestern abend? Aber jeden Abend bis acht Uhr dasitzen, das ist doch eine ungerechte Sache, keinen Pfennig mehr gibt es für die Überstunden und einmal ist eben 'ne Ausnahme, deswegen kann der Herr mal ein Auge zudrücken, o Gott, ist mir schlecht ...

»Das ist nämlich so: Das schönste Broadway-Girl wird verlost, und der Mann, der das Mädchen gewinnt, erhält ein Frei-Souper für zwei Personen und eine anschließende Fahrt im Privatauto. Mit dem Mädchen natürlich. Kannst dir vielleicht vorstellen, daß die beiden im Auto nicht Harfe spielen werden. Wirst ja wissen, wie die Männer sind, die werden das Mädchen tüchtig hopp nehmen. Na, vielleicht hat sie Glück, kommen ja mächtig viel reiche Leute hin, was Frieda? ... Mensch, was machst du denn für ein Gesicht?«

»Mir ist schlecht.«

»Rote Woche?«

»Nee.«

»Willst du mal mein Fläschchen haben?«

Frieda schüttelte den Kopf. Sie waren oben in der dritten Etage.

»Na los, ein bißchen schnell, meine Fräuleins, immer auf die letzte Minute.«

»... «

»Hu, hu, ist ja wieder mal mächtig dunstig hier.«

Die Mädchen liefen eiligst an ihre Garderobenschränke, um sich umzuziehen. Es war Vorschrift, daß alle Verkäuferinnen ungefähr gleich gekleidet waren: Schwarzes Kleid oder schwarzer Arbeitskittel. Elfriede hatte ein schwarzes Straßenkleid mit einem kleinen weißen Kragen an, so brauchte sie sich nicht erst umzuziehen, Frieda aber zog jeden Morgen ihren schwarzen Kittel über, die Vorschrift kam ihr gelegen, auf diese Weise gingen die Kleider nicht so schnell kaputt.

»Tag, Friedel, Rosa hat dich schön gesucht.«

»So, was ist denn wieder los?«

»Weiß nich.«

Der Garderoberaum befand sich hinter der Küche des Warenhauscafés, in einem schmalen finsteren Gang, über den Garderobenschränken befanden sich einige kleine Lüftungsklappen, die in die Küche führten. Der Geruch abgestandener Speisen, dunstige Luft, Gestank von Fetten sammelten sich in dem kleinen Raum an. Tellerklappern und zischende Geräusche waren zu hören. Die Mädchen stießen sich beim Umziehen, es war eine verschlafene mißmutige Stimmung.

Frieda legte rasch ihre Handtasche und das Päckchen mit dem Frühstücksbrot in ihr Fach und eilte zur Kasse zweiundzwanzig.

Die Abteilungsleiter gaben Anweisungen, Blöcke waren verlegt, die Lehrmädchen staubten die Tische ab, schon kamen die ersten Kunden, obwohl es gerade erst achtmal geschlagen hatte. Frieda nahm die Schlußabrechnung von gestern abend durch. Rosa hatte noch eine ganze Reihe Eintragungen gemacht, also mußten noch Kunden dagewesen sein. Einige Posten waren rot angestrichen. Das sah sehr verdächtig aus. Sie bekam heftiges Herzklopfen.

Die kleine Margarete, die neben Kasse zweiundzwanzig am Packtisch stand, sagte zu ihr herüber: »Gestern abend hat's Krach gegeben.«

»Wegen mir?«

»Reinhard, das blöde Luder, hat 'ne Lippe riskiert.«

»Hat er was gemeldet?«

Margarete konnte nicht mehr antworten. Aus dem Verkehrsbüro, das hinter der Trikotagenabteilung lag, kam langsam Herr Kurt Reinhard, Abteilungsleiter für den Rayon zweiundzwanzig, die Hände auf dem Rücken, in einem tadellosen, graukarierten Anzug, die Hose mit korrekter Bügelfalte, am Rockkragen das deutsche Sportabzeichen. Man sah dem Anzug nicht an, daß er aus der Konfektionsabteilung des Warenhauses stammte, Reinhard hatte eine gute Figur für Maßanzüge, eine Sportfigur, Frieda kannte sie ganz genau, nicht nur vom Sportplatz. Es gab wenige Mädchen im Rayon zweiundzwanzig, die Reinhards Figur nicht ganz genau kannten.

Aber das war weit vor Fritz Brönickes Zeit, das war aus und vorbei.

Sie beugte sich heftig über ihren Auszugszettel und rechnete. Er kommt jetzt rüber, dachte sie, er wird mir wieder in seiner unangenehm wohlwollenden Art Vorwürfe machen, sie konnte das nicht leiden, außerdem fühlte sie sich nicht wohl, sie hatte Angst ...

Aber Reinhard kam nicht herüber, er rückte an seiner blauweißen Krawatte, die großartig zu dem Anzug paßte, lächelte, sah sich eine Weile die Kasse zweiundzwanzig mit Fräulein Frieda Heidemann darin an, ihre strohhellen Haare machten die schmutzig-braune Verschalung des Kassenplatzes rebellisch, ihre schwarze Schürze war unvorschriftsmäßig herabgerutscht, darunter sah die weiße Bluse hervor, die oben einen kleinen Einschnitt hatte, man konnte hineinsehen, und der Abteilungsleiter ahnte aus dieser Entfernung ihre festen runden Brüste, die prall wie kleine Äpfelchen abstanden. Er kannte sie genau, diese süßen Dinger, die so viel Spaß machten.

Frieda sah nicht auf, deshalb ging er weiter, um für Ordnung im Rayon zweiundzwanzig zu sorgen. Die kleinen Verkäuferinnen grüßten, als er vorbeikam, sie lächelten dabei und sahen ihm nach, er hatte immer noch die Hände auf dem Rücken.

»Tag, Friedel.«

Rosa Seidel stand vor der Kasse, ein blasses müdes Mädel, bei allen beliebt, weil sie immer bereit war, auszuhelfen, weil sie nie etwas vorhatte, weil sie ein kleines zufriedenes Arbeitstier war, das lieber im Warenhaus Überstunden machte, als nach Hause zu gehen, in die muffige Enge des Elternhauses, zu einer zerschlagenen Mutter, zu einem ewig besoffenen Vater. Frieda Heidemann hatte sie besonders gern.

»Du, ich konnte es nicht verhindern. Reinhard hat mich bei der Abrechnung gesehen, er schnauzte furchtbar ...«

»Hat er was gemeldet?«

»Ich glaube wohl.«

»Au, Backe.«

»... ich glaube, der war bloß wütend, weil du nicht da warst.«

»Weil ich nicht da war? Wie meinst du das?«

»Ich weiß auch nicht.«

»... «

»Zweiachtzig bitte ...« Die Kasse schnurrte. »Zweizwanzig zurück, danke sehr.«

Rosa Seidel stellte sich hinter ihren Tisch mit den Herrensocken, aber als die Frau von der Kasse weg war, kam neue Kundschaft, Rosa mußte bedienen. Sie hatte noch etwas sagen wollen zu Frieda, was wollte sie ihr nur sagen? ... »Oh, das ist garantiert reine Wolle, deshalb kosten die auch einsfünfundneunzig ... natürlich, wir haben auch billigere ...«

Kasse zweiundzwanzig befand sich am Rand des Rayons zweiundzwanzig, mit dem Blick in die Abteilung für Damenunterwäsche und in den Rayon vierundzwanzig: Sanitäre Artikel. Hinter der Trikotagenabteilung, in der Nische zwischen Treppenaufgang und Fahrstuhl, lag das Verkehrsbüro, ausstaffiert mit bunten Reklamelandschaften, Konzert-, Kino-, Theaterankündigungen, Schildern für Zeitfahrkarten, großen Stadtplänen. Die Fahrstühle stiegen und stiegen, erste, zweite, dritte Etage, zwölf Stück, abgesehen von Rolltreppen und Paternostern, vierte, fünfte, sechste Etage, bedient von zwölf Schwerkriegsbeschädigten, siebente, achte, neunte Etage, sie stiegen und schwebten wieder abwärts. »Bitte welche Etage?«, ein Druck auf den roten Knopf, am Führerstand ertönte eine Klingel, Signallampen flammten auf, verlöschten, die Kunden warteten in großen Trupps vor den Türen, sie waren unruhig und stießen hin und her, Zeit ist Geld, und das Warenhaus ist billig, die Rolltüren schnurrten auf. »Bitte nur fünfzehn Personen! Besetzt!«, abwärts, abwärts. »Unseren Angestellten ist die Benutzung des Fahrstuhls untersagt!« – sie haben junge Beine, diese dreitausend Angestellten, die Lehrmädchen, Verkäufer, Verkäuferinnen, Direktricen, Abteilungsleiter, Revisoren, die Kassiererinnen, Schreiber, Stenotypistinnen, Kontoristinnen, die Dekorateure, Maler, Mechaniker, Heizer, Portiers, die Packer, Austräger, Chauffeure, Kutscher, die Näherinnen, Flickerinnen, Putzmädchen, Garniererinnen, die Kellnerinnen, Köchinnen, Küchenmädchen, nur die Fahrstuhlführer durften fahren, immer fahren, auf und ab. Und dreitausend kleine Angestellte mußten laufen.

Es war ein seltsames Haus.

Es war ein erhabenes Haus.

Es war ein furchtbares Haus.

In der fünften Etage befand sich das Abrechnungsbüro. Zwanzig junge Mädchen rechneten Tag für Tag die Abrechnungsblocks der kleinen Verkäuferinnen nach und verglichen die Summen mit den Summen auf den Abrechnungsbogen der Kassiererinnen. Nicht immer stimmten die Summen. Die Mädchen schrieben ihre Kassenzettel, neue Kundschaft wartete und drängte, der Abteilungsleiter pfiff sie an, sie vergaßen die Summen auf ihren Gesamtadditionszettel zu übertragen, eine Ziffer fehlte, diese Ziffer fanden die Mädchen im Abrechnungsbüro. Sie konnten zweierlei tun, sie konnten die Blocks verbessern, damit war die Sache gut. Sie konnten die Summen anstreichen und vermerken, damit war die Sache nicht gut.

Damit wurde der betreffenden Verkäuferin der fehlende Betrag vom Gehalt abgezogen.

Damit erhielt das Mädchen im Abrechnungsbüro, das den Fehler gefunden hatte, diesen gleichen Betrag als Prämie.

Aber das wußten die kleinen Verkäuferinnen nicht.

Sie wußten nur, daß ihnen jeder fehlende Posten abgezogen wurde.

Zwanzig Mädchen saßen in der fünften Etage im Abrechnungsbüro. Sie konnten zweierlei Dinge tun, neunzehn Mädchen hielten sich an das zweite, denn dabei verdienten sie Geld. Es ergab für jede manches Mal zwanzig Mark im Monat.

Aber eine machte nicht mit.

Eine verbesserte, wenn sie Fehler in den Blocks fand, weil sie früher selbst einmal hinter den langen Tischen gestanden hatte, weil auch ihr vergessene Posten vom Gehalt abgezogen worden waren, weil sie den Judaslohn verachtete. Diese eine erzählte die Sache der kleinen Elfriede Fabian, und das Flittchen kam mit der Neuigkeit zu Frieda Heidemann gelaufen.

»Du, ich hab 'ne große Neuigkeit, in der Abteilung oben, in der Abrechnungsabteilung, wenn die da Fehler finden, dann kriegen die Fräuleins das Geld, was sagste nu ...?«

»Was denn für Geld?« Frieda hatte wichtigere Sorgen, sie hörte kaum hin.

»Wenn uns was abgezogen wird, he! Verstehst du? Wenn wir 'nen Posten vergessen, das bekommen die feinen Fräuleins in der Abrechnungsabteilung, wie findest du das?«

Sie strahlte vor Freude, daß sie diese Entdeckung gemacht hatte. Ihre Augen leuchteten vergnügt.

Frieda verstand immer noch nicht ganz, aber sie hörte nun doch zu.

»Was für Posten? Die Fehlposten? Und das bekommen die Mädchen oben? Ich denke, das behält die Firma?«

»Ja, Scheibe.«

Elfriede mußte schnell verschwinden, der Abteilungsleiter kam wieder, drei Damen standen mit Zahlzetteln an der Kasse, der Registrierapparat schnurrte, Rosa Seidel verkaufte zwei Paar braune Herrensocken, Frieda war es noch immer nicht ganz wohl, aber sie versuchte, das Unwohlsein zu ignorieren.

»Fräulein Heidemann, wechseln Sie mal einen Hundertmarkschein, für die Hauptkasse ... nein, Herr Dünnhaupt hat mich rauf geschickt.«

»Ich habe noch nicht so viel.«

»Dann geben Sie bitte so viel Kleingeld, wie Sie entbehren können.«

»Fräulein, ich habe Ihnen einen Zwanzigmarkschein hingelegt.«

»Hier, schreibe mal die Quittung aus ...«

»Das dauert aber lange an der Kasse!«

»Darf ich Ihren Zettel sehen, gnä' Frau?«

»Den habe ich schon hingelegt. Passen Sie doch ein bißchen besser auf, natürlich, vorhin eben habe ich ihn hier hingelegt ... ach nee, hier ist er.«

»Ihren Zettel bitte!«

»Ach, können Sie mir das nicht in Fünfzigpfennigstücken herausgeben?«

»Hilde, wo ist das Paket für die Dame?«

Puh ...

Einen Augenblick Stille. Niemand war in der Nähe. Rosa ordnete ihren Stoß Socken. Elfriede kam aus dem Rayon vierundzwanzig, harmlos, mit ihren kleinen Schlenkerschritten. Sie hob ihre Hand und zeigte an Friedas Kopf vorbei nach dem Verkehrsbüro.

»Kiek mal, da hängt das Plakat vom Sommerfest des Stadthotels.«

In der Mitte der Ankündigungstafel hing ein besonders auffälliges, resedafarbenes Plakat, auf dem ein halbnacktes Girl in anreißerischer Frontstellung das Publikum anlockte. Die Arme waren weit ausgestreckt, die Finger gespreizt, die Beine in den Kniekehlen gewinkelt, so daß man von weitem den Eindruck hatte, es handle sich um einen aufgezogenen Hampelmann. Zwischen Armen und Beinen des Girls stand im Fettdruck die Ankündigung des Sommerfestes und in besonders großer Schrift darüber:

Das verschenkte Girl

»Sagen Sie mal, Fräulein Fabian, warum schwirren Sie immer im Haus herum und bleiben nicht auf Ihrem Posten? Vorhin habe ich das schon gemerkt, dann waren Sie drüben im Rayon vierundzwanzig, und jetzt sind Sie wieder an der Kasse. Haben Sie hier was zu suchen?«

Elfriede Fabian drehte sich auf den Absätzen herum, machte ein Mäulchen, zwinkerte mit den lustigen Augen und verschwand. Frieda beugte sich schnell über die Abrechnung. Sie mußte lachen. Elfriede war nämlich die neueste Errungenschaft des Abteilungsleiters, jeder wußte das, und die schwatzhafte Elfriede machte auch gar kein Hehl daraus. Nu, wenn schon, dachte Frieda.

Aber Reinhard ging nicht fort, er blieb vor der Kasse zweiundzwanzig stehen, Frieda sah nicht auf, sie rechnete, sie addierte, der konnte so lange stehen bleiben, wie er wollte, für sie war er nicht vorhanden; mochte er sich melden, wenn er was von ihr wollte.

»Viel zu tun, was?« sagte er und sah ihr dabei in den Blusenausschnitt.

Sie nickte.

»Wenn man viel zu tun hat, geht man aber abends nicht zeitiger fort!«

Sie sah ihn an, auf ihrer Nasenwurzel erschienen die beiden tiefen Falten.

»Ich bin nicht zeitiger fortgegangen, ich bin zwanzig nach sieben fortgegangen ...«

»Aber Ihr Dienst war noch nicht zu Ende, Sie hatten gestern abend Schlußkassierung.«

»Fräulein Seidel hat die Abrechnung für mich fertiggemacht.«

»Das war nicht Fräulein Seidels Sache.«

Frieda schwieg, sie rechnete weiter.

Aber Reinhard ging nicht fort.

»Fräulein Heidemann ...«

Sie sah ihn wieder an, er hatte ein ganz hübsches Gesicht, glatt, schmal, gut rasiert, nun zeigte er auch sein gewinnendes Lächeln und die tadellosen Zähne.

»... Herr Dr. Tamme möchte Sie sprechen.«

Sie konnte nicht verhindern, daß ihr das Blut zu Kopfe stieg. Zu Dr. Tamme? Bedeutete das Kündigung? Wegen gestern abend? Da war natürlich Reinhard schuld, dieser verdammte Spürhund ...

Er lächelte immer noch.

»An mir liegt es wirklich nicht, Fräulein Heidemann. Sie können sich nicht über mich beklagen. Dienst ist eben Dienst ...«

»Jetzt gleich?«

»Ja, Fräulein Seidel kann inzwischen die Kasse übernehmen, ist doch nicht viel los. Aber kommen Sie schnell wieder herunter!«

Frieda Heidemann ging langsam die Treppen hinauf zur fünften Etage. Als sie an der Abrechnungsabteilung vorbeikam, dachte sie daran, was Elfriede Fabian ihr erzählt hatte. Ist doch eine verdammte Schweinerei, ob das wohl stimmt? Vielleicht hat Elfriede bloß aufgeschnitten, bei der muß man sich in acht nehmen, ich werde mich mal genau erkundigen, aber wenn das stimmt, eine Schweinerei ist das, eine große Schweinerei, alles, der ganze Betrieb, die ganze Arbeit, das ganze Leben ...

Sie ging durch die Drehtür in die Büroräume, vorbei an Kassenschaltern und Schreibmaschinenzimmern. Dann kam eine Tür mit einer Milchglasscheibe, auf der stand:

Direktion

Vor der dritten Tür blieb sie stehen.

Dr. Ludwig Tamme

Sie klopfte.

Im Zimmer war ein leises Geräusch zu hören. Sie öffnete die Tür und trat ein. Frieda kannte das Zimmer schon, es war geräumig und hell, sogar in diesen warmen Monaten noch überheizt und voller Zigarettenrauch. Die Fenster waren geschlossen. Der schmale, schwarzhaarige Herr, der auf Frieda immer einen etwas kümmerlichen und bemitleidenswerten Eindruck machte, legte seine Zigarette in eine Aschenschale, lüftete das Gesäß und sagte mürrisch: »Was wollen Sie denn?«

Der Mann sieht aus, als könnte er nicht japsen, und doch hängt alles von ihm ab, meine Stellung hier und mein Verhältnis mit Fritz und so vieles noch. Ich sehe schlecht aus, mir ist nicht wohl, aber was soll ich denn sonst tun? Soll ich auf die Knie fallen und heulen?

»Ich soll mich bei Ihnen melden, ich heiße Frieda Heidemann, Rayon zweiundzwanzig.«

»Heidemann? Den Namen kenne ich nicht.«

Er setzte sich wieder zurecht und blätterte in den Notizen, die sich auf die Tätigkeit dieses Morgens bezogen ... Heidemann ... Heidemann ... nee, auf dem Memorandum stand nichts ... so ein kleines Mädchen hat es doch gut, der ihre Sorgen möchte ich mal haben, nette Ondulation hat sie, frisch, adrett, die heiraten ihre Jungens, kriegen Kinder, werden alt und dick, Probleme stören ihre Verdauung nicht, sie haben nichts zu verlieren ...

»Herr Kurt Reinhard schickt mich herauf!«

»Ach so!«

Jetzt fiel ihm die Sache wieder ein. Natürlich, das war ja das Mädel mit den Socken. Er sah sich ihre Socken an. Hübsch! Frieda bemerkte seinen Blick und sah an sich herunter. Dr. Tamme wurde rot und blickte weg. Dieses blödsinnige Minderwertigkeitsgefühl, nicht mal so 'ne kleine Verkäuferin, oder was sie nun ist, kann ich in aller Ruhe ansehen, gleich komme ich mir vor wie ein kleiner Junge, erröte, stottere. Und dabei kann ich sie glattweg hinausschmeißen, wenn ich will ...

Er hatte den Zettel mit dem Namen Heidemann gefunden und sah schnell die Stichworte durch.

»Sagen Sie mal, was fällt Ihnen eigentlich ein, Ihren Arbeitsplatz zu verlassen und einfach fortzulaufen, obwohl Ihr Dienst noch nicht zu Ende war, he? Haben Sie etwa die geringste stichhaltige Entschuldigung dafür ...?«

Seine Stimme hatte zu hoch und schrill eingesetzt, er konnte den Befehlston nicht durchhalten, das lag ihm nicht, immer dasselbe Minderwertigkeitsgefühl, wirst dir doch vor so einem kleinen Mädel keine Blöße geben, ist ja eine Lappalie, lächerlich geradezu, teile ihr in aller Ruhe mit, daß sie gekündigt sei ... nein, nein, nein, was kann die Kleine schon dafür, behandle sie anständig, aber sage ihr ordentlich die Meinung ...

»Na, haben Sie keine Entschuldigung?«

»Mir war schlecht geworden.«

Ihr wurde es auch wirklich schlecht, was rauchte der Mann bloß für eine Zigarette, ein ekelhafter, süßlicher Geruch, und ganz blaß sah er aus, dieser verdammte Bengel, natürlich, mit uns können sie es machen, jung ist er wie ein Schoßhund, und wenn seine Eltern nicht Geld hätten wie Heu, säße er nicht hier, um mich anzuschnauzen, ganz schwach ist mir in den Kniekehlen, wenn ich will, lasse ich mich einfach zusammensacken, dann soll er nur wagen, mich zu kündigen ...

Sie schwankte.

»Wenn es Ihnen schlecht ist, dann haben Sie Ihrem Vorgesetzten davon Mitteilung zu machen und um Erlaubnis zu fragen. Sie wissen genau, daß wir Sie ohne weiteres für die halbe Stunde beurlaubt hätten. Sie können doch wirklich nicht behaupten, daß wir unsere Angestellten rigoros behandeln.«

Siehst du, so geht es auch, alter Freund, ganz ruhig sprechen, klipp und klar. Seine Hand zitterte leicht auf der kalten Schreibtischplatte. Einen Augenblick machte es ihm Spaß, sich so zu beobachten, von außen gewissermaßen, ganz kalt und ruhig und unparteiisch, das waren seltene Momente, aber nun irritierte ihn das Mädchen wieder. Vielleicht ist sie mir noch dankbar, schönes Haar hat sie. Und gesund sieht sie aus, angenehm mollig, muß mir mal ihren Namen merken, Heidemann, Rayon zweiundzwanzig, was soll ich denn noch zu ihr sagen? So ein Mädchen könnte ich gebrauchen, dann würde vielleicht alles besser werden, ich bin neunundzwanzig Jahre, ich habe Geld, bin Direktor der Personalabteilung und werde weiter avancieren, meine Familie ist stolz auf mich, sie ist stolz auf mein rer. pol., die Aktien des Warenhauskonzerns gehören zu 30 Prozent der Familie, mir kann nichts passieren, alles ist da ... nur glücklich bin ich nicht. So ein einfaches kleines Mädchen könnte ich gebrauchen, die ganz natürlich ist, die mir hilft und die zu mir hält. Was soll ich mit den »Partien« anfangen, die mir von der Verwandtschaft empfohlen werden, diese gescheiten und kalten Weiber, denen man sofort ansieht, wie sie mal in zehn, zwanzig, dreißig Jahren sein werden, die mich alle von oben herab behandeln und dabei noch glauben, ich würde es nicht merken. Dieser kleinen Heidemann sieht man nicht an, wie sie in zehn Jahren aussehen wird, so eine könnte ich gebrauchen. Aber wie ...?

Ich kann doch nicht zu ihr sagen: »Gehen Sie heute abend mal mit mir aus.« Vielleicht denkt sie, ich will ein kleines Verhältnis, sie abknutschen, in ein Stundenhotel gehen, fertig, Schluß. Darauf fliegen die Mädchen heute nicht mehr. Und mit mir schon gar nicht

»Und dann möchte ich Ihnen noch eine Kleinigkeit empfehlen: Sie tragen Socken, das ist ja jetzt im Sommer ganz nett und praktisch, aber für unser Warenhaus eignet es sich wirklich nicht. Wollen Sie bitte künftighin Strümpfe anziehen.« Sie nickt. Warum sie wohl immer den Kopf gesenkt hält, man kann ihr Gesicht gar nicht mehr sehen, also, was soll ich ihr noch sagen, na, ich kann sie in den nächsten Tagen noch einmal raufbestellen, nicht lockerlassen, Kopf hoch, setze deinen Willen mal durch. So ein Mädchen ist gut für dich.

»Also, daß mir das nicht noch einmal vorkommt. Gehen Sie wieder an die Arbeit.«

Sie machte einen dummen, gar nicht graziösen Knicks und verschwand, ohne ihn anzusehen.

Dr. Tamme sah ihr nach, noch als die Tür geschlossen war, und sein Blick bekam etwas unangenehm Starres, und vor ihm befand sich eine große Leere. Die rechte Hand zitterte immer noch auf der Platte des Schreibtisches, nervös und rasch begannen die Finger eine Melodie zu klopfen. Er schwitzte. Nach einer Weile brannte er sich eine neue Zigarette an. So ein Mädchen brauche ich. Aber die Zigarette schmeckte nicht mehr, und er warf sie weg.

Er setzte sich wieder gerade, um weiter zu arbeiten.

Und dann dachte er: Heute abend werde ich ausgehen, irgendwohin, tanzen und so, entschließe dich, tue mal was, zaudere nicht, reiße dich zusammen, du brauchst eine richtige Frau. So eine mollige, natürliche, warme, wie die kleine Heidemann von der Kasse zweiundzwanzig.

Und er notierte sich auf sein Memorandum: Fräulein Heidemann, Kasse zweiundzwanzig, sehr wichtig!!!

Frieda stieg ganz langsam die Treppen hinab, die Sache war wirklich schnell gegangen, und Reinhard wird sie noch nicht erwarten. Eine seltsame Sache. Anscheinend habe ich nicht mal 'nen Strafpunkt gekriegt. Ist das eine Pflaume, der Tamme. Wenn er energisch wird, sieht er besonders komisch aus. Der spielt bloß Theater. Kommt mir bald so vor, als müsse er sich durch Gebrüll Mut machen. Ekliger Bursche. Meine Beine kann er auch nicht leiden, na schön, ziehe ich eben Strümpfe an. Ob er das alles von Reinhard weiß? Natürlich, von wem denn sonst. Vor Reinhard muß ich mich in acht nehmen. Kein Wörtchen soll er mir nachsagen können. Aber ich werde ihn wie Luft behandeln. Ja, wie Luft. Immerhin, netter als Dr. Tamme ist er noch allemal.

Reinhard war im Rayon zweiundzwanzig nicht zu sehen, und Frieda löste Rosa an der Kasse ab.

Die Kunden drängten sich an der Kasse. Frieda mußte beim Packen helfen, weil Margarete ganz allein hinter dem Packtisch stand und die Arbeit nicht bewältigen konnte. Die Kunden schimpften, alles ging ihnen zu langsam, sie wollten in einem Warenhaus prompt bedient sein.

Und auf einmal stand Fritz Brösicke an der Kasse.

Wie ein Gespenst tauchte er vor Frieda auf, er sah aufgeregt und abgehetzt aus.

Frieda mußte sich festhalten.

»Wie kommst du denn hierher?«

»Du, ich muß dich unbedingt sprechen, 's ist was passiert.«

»Das geht doch hier nicht.«

Frieda sah sich scheu um, der Abteilungsleiter war nicht in der Nähe. Fritz stellte sich ganz nahe an die Kasse. »Höre mal 'nen Augenblick zu.« Frieda beugte sich zu ihm herüber, so daß ihn ihre Haare beinahe berührten.

»Du mußt so tun, als ob du was zu bezahlen hättest. Es kann jeden Augenblick jemand von der Aufsicht kommen.« Fritz zog sein Portemonnaie, zählte das Geld darin und sprach zu seiner Freundin, schnell, hastig und furchtbar aufgeregt.

»Wie ich heute morgen nach Hause komme, da sind zwei fremde Mädchen im Zimmer, und Emanuel ist weg. Die Mädchen – 's sind feine Mädchen – die Mädchen sagen, Emanuel hätte sie mit nach Hause genommen, weil sie ihren Zimmerschlüssel vergessen haben, glaubst du das?«

»Das verstehe ich alles nicht.«

»Ich auch nicht. Emanuel bringt doch so was gar nicht fertig, er ist doch viel zu doof dazu, aber die Mädchen ...«

»Dreisiebzehn bitte, ja, einen Moment bitte, ich packe es Ihnen sofort ein ... Fräulein Kleinmichel, wo ist die Schlupfhose ...?«

Fritz drückte sich etwas abseits und überlegte, wie er seiner Freundin die Sache klarmachen sollte.

Die Kasse war wieder einen Augenblick leer.

»Was soll ich denn mit den Mädchen machen?«

»Das weiß ich doch nicht.«

»Die wollen nämlich angeblich bei uns im Hinterhaus wohnen, es sind Tanzmädchen, und heute abend müssen sie wieder im Stadthotel tanzen, haben sie gesagt ...«

»Im Stadthotel? Die Broadway-Girls, was?«

»Wie? Wieso? Woher weißt du denn das?«

Frieda zeigte auf das Plakat im Verkehrsbüro, und weil gerade wieder eine Dame an der Kasse zweiundzwanzig bezahlen wollte, ging Fritz Brösicke zu dem Plakat hin und sah es sich genau an. Das verschenkte Girl. Das könnte schon stimmen. Das ist vielleicht die Kleine mit dem schwarzen Haar und den blauen Augen, die auf dem Sofa schlief. Am Taxihalteplatz erzählte sie was von zweihundert Mark. Das könnte schon stimmen. Aber was hat Emanuel dann damit zu tun? Rausschmeißen kann man sie doch nicht so ohne weiteres.

»Du, vielleicht räumen die dir zu Hause die Bude aus!«

»Ach nee, das glaube ich nicht, was gibts da schon auszuräumen ...«

»Aber Fritz, du kannst jetzt nicht mehr hier stehenbleiben, wenn das jemand merkt, fliege ich wieder rein.«

»Ja, ja, ich gehe schon, du solltest mir bloß 'nen Rat geben, was da zu machen wäre ...«

»Ach Gott, wie kann ich denn das wissen, ich weiß doch gar nicht, was das für Mädchen sind, die ihr da in eure Bude hereingelassen habt. Ihr seid schrecklich unselbständig, alles muß man euch vorkauen ...«

»Na, na, nicht zu heftig.«

»Mensch, verschwinde bloß ...«

»Was soll ich denn nu machen?«

»Deine Sorgen. Prima kommt mir die Sache nicht gerade vor, so viel kann man sich an den fünf Fingern abzählen ...«

»Hast recht, also tschüs.« Er kam noch einmal zurück. »Heute abend brauchst du nicht zu mir zu kommen. Ich fahre nämlich schon nachmittags.«

»Is gut.«

Was hat er denn? dachte Frieda. Verschnupft?

Sie ging an den Packtisch, um Margarete zu helfen. Es war nur ein Augenblick, schon sah sie Fritz nicht mehr, vielleicht benutzte er den Fahrstuhl, aber da legte sich eine Hand auf ihre rechte Schulter. Sie wußte, wer es war, sie erschrak nicht einmal.

»Hat der Herr was gekauft?«

»Ja ...«

»Was denn?«

Du kannst mir mal, dachte sie, aber sie zitterte. Sie ging an die Kasse und sah sich den obersten Kassenzettel an. Zwei Paar Damenstrümpfe stand darauf, sie steckte den Zettel wieder zurück, sagte gar nichts, rieb nur die Lippen aneinander, und dann sah sie wieder auf. Reinhard lächelte infam.

»Ja, ja, Fräulein Heidemann, bei Ihnen ist es auch immer dasselbe. Zulernen können Sie nicht, was? Ihnen fehlt jedes Verhältnis zu Ihrer Arbeit. Jede Anstrengung, jede Mühe für das Geschäft liegt doch nur in Ihrem eigenen Interesse. Wenn es der Firma gut geht, geht es auch Ihnen gut. Aber Sie erledigen widerwillig Ihr Pensum, und dann gehen Sie quietschvergnügt 'ne Stunde zeitiger nach Hause. Und kaum haben Sie deswegen eins auf den Deckel gekriegt, stehen Sie schon wieder herum und quatschen mit ihrer Privatbekanntschaft.«

»Der Herr hatte mir was Wichtiges zu sagen.«

»Na, das kennen wir schon. Im übrigen wissen Sie doch, laut Hausordnung, daß so was verboten ist.«

Reinhard lief vor der Kasse auf und ab, während er das alles erzählte. Er sprach ziemlich laut. Frieda stand untätig hinter der Kasse und beobachtete ihren Vorgesetzten mit einem völlig undurchsichtigen Gesicht. Erst wollte sie etwas erwidern, aber dann ließ sie es sein. Als sie die Kasse wieder bedienen mußte, ging Reinhard einige Schritte nach rechts und stellte sich an eine hohe Stehleiter. Oben schichtete Fräulein Ella Kleinmichel Stoffballen. Sie trug ein ganz kurzes sportliches Kleidchen, und Reinhard sah sich ihre hübschen Beine an. Das Mädchen wippte auf den Zehenspitzen, um ein ziemlich hohes Fach zu erreichen, an den Füßen trug sie flache Sandalen. Ihre Strümpfe waren oberhalb der Knie um Gummibänder gerollt. Reinhard betrachtete die Handbreit weißen Fleisches zwischen Strumpf und Hemdhose. Das Mädchen bemerkte ihn nicht, sie hantierte völlig unbefangen mit den großen, schweren Stoffballen. Ihr Kleid war ärmellos, beim Heben der Arme bemerkte Reinhard die dunklen, gekräuselten Haare in ihren Achselhöhlen. Sichtlich interessiert sah er sich die Sache an. Ihm fiel auf, daß die Kleine rötliches Haar auf dem Kopf hatte und fast schwarze unter den Achseln. Auf einmal drehte sich Reinhard schnell um. Fräulein Heidemann stand unbeschäftigt hinter der Kasse und sah mit einem komischen Mund zu ihm herüber. Sie machte sich über ihn lustig. Na warte, dir wird das Lachen vergehen, dachte er. Er bekam plötzlich wieder Appetit auf das mollige Mädchen.

»Ich will Ihnen noch eins sagen, Fräulein Heidemann, wenn ich genau nach meinen Instruktionen handeln würde, hätte ich Ihre Nachlässigkeit eben wiederum melden müssen. Sie wissen ja, was das zu bedeuten hat ...«

Verdammt, konnte ihn die Kleine unbefangen anstarren!

Seine Stimme wurde auf einmal sehr leise.

»... Sie sehen also, daß ich noch ein Herz für Sie habe.«

Er versuchte zu lächeln, aber der Versuch mißglückte.

Friedas Gesicht erstarrte, sie sah Reinhard gar nicht mehr an, sie sah durch ihn hindurch, er war für sie nicht da, ihr Kopf war eisig kalt, das dauerte ein paar Sekunden, dann löste sich alles auf, sie konnte wieder atmen, Reinhard lächelte sie an und zupfte an dem weißen Spitzentüchlein in seiner Jackentasche, sie sah ihn genau an, er war ein hübscher, netter Junge und konnte nichts dafür, daß er im Rayon zweiundzwanzig zu befehlen hatte, er war ein Windhund, aber privat konnte er zuvorkommend und anständig sein, du mußt dich gut mit ihm stellen, sonst fliegst du einmal im hohen Bogen, und dann ist alles aus ...

»Gehen Sie eigentlich abends nicht mehr sporteln? Ich habe Sie doch früher öfter im Stadion gesehen. Keine Zeit? Ach, so viel Zeit muß man haben, sonst wird man zu dick!« Jetzt zeigte er alle seine Zähne, seine tadellos weißen Zähne beim Lachen. »Kommen Sie heute abend mal mit, ich lade Sie ein, aber geben Sie mir keinen Korb! Wir können uns doch mal so nett aussprechen wie früher ...«

»Nein, nein«, sie wehrte erschrocken ab, und dann mußte sie wieder die Kasse bedienen.

Aber Reinhard kam nach einer Weile zurück, er ließ nicht locker.

»Sie haben was gegen mich, ich verstehe Sie nicht. Natürlich kann ich das nicht durchrutschen lassen, wenn jemand nachlässig wird, ich bin doch schließlich dafür verantwortlich, was hier oben geschieht, aber sehen Sie, wenn wir uns mal in aller Ruhe aussprechen würden, dann wird es vielleicht besser gehen, was?«

Besser gehen, besser gehen ... ja, ich weiß schon, was er meint, vielleicht ist es gar nicht so dumm, sich nach allen Seiten zu sichern, gestern abend hat er mich auch gemeldet, und wenn ich heute abend nicht mitgehe, wird er mich auf den Kieker nehmen, und dann findet sich schnell mal eine Gelegenheit, um mich zu schwenken. Aber was mache ich heute abend mit Fritz?

»Also abgemacht, was? Gehen wir mal zusammen aus. Nicht lange, nur ein oder zwei Stunden, ich warte hier auf Sie ...«

Und weil ihr in diesem Augenblick einfiel, daß Fritz Frühdienst hatte, daß sie nicht auf ihn warten sollte, daß er an diesem Abend keine Zeit für sie hatte, deshalb nickte sie mechanisch. Kurt Reinhard, strahlend über das ganze Gesicht, machte eine knappe Verbeugung und nahm seinen Rundgang wieder auf. Er war nur vier Jahre älter als Frieda, hatte mit vierzehn Jahren als Lehrling in diesem Warenhaus angefangen, ganz nette Karriere bis jetzt, und Erfolge bei Mädels machten ihm noch immer Spaß.

Kaum war er verschwunden, erschien Rosa Seidel an der Kasse.

»Mensch, hat der dich vollgequasselt. Einen Anpfiff?« Frieda schüttelte den Kopf.

»Na, mir hat er eben wieder einen Abzug machen lassen. Webefehler in einem Pullover, die alte Tante hat ihn zurückgebracht. Hätte ich sehen können, sagt er ...«

Ella Kleinmichel kam vorbei. Sie flüsterte was zur Kasse herüber.

»Nehmt euch in acht, der Fatzke kommt gleich wieder vorbei. Der hat anscheinend was gegen uns.«

Die Mädchen gingen auf ihre Plätze.

Der Vormittagsansturm begann. Ununterbrochen beförderten die Fahrstühle neue Kundschaft in die einzelnen Etagen. Im ganzen Haus summten tausende Stimmen durcheinander, der Lärm stieg von Stockwerk zu Stockwerk, floß von einer Abteilung in die andere. Am hellen Tage brannten unzählige elektrische Lampen in den weiten Räumen und entzündeten die Herzen der kleinen Mädchen, die hier arbeiteten, weckten Sehnsucht und Begierde, strahlten magisch und verheißungsvoll von einer schönen, glitzernden Welt, in der die kostbarsten Modellkleider aus der unerreichbaren Ferne des Warenhausschaufensters in die Nähe des persönlichen Besitzes rückten. Das war ihre Traumwelt: Chiffonkleider, Opanken, Pelzmäntel, Parfüme ... Eilig liefen sie hin und her, schwarz, unscheinbar, sie mußten bedienen, sie wurden dafür bezahlt, etwas anderes hatte in diesem Hause keinen Platz. Es war nichts Außergewöhnliches an den Verkäuferinnen und Lehrmädchen zu bemerken, gleichgültig blieben die Gesichter, monoton die Stimmen, nur das Haar wuschelte sich bei mancher wirr und kraus ...

... zärtliches Haar, lockiges Haar, duftendes Haar. Sorgsam und liebevoll mit den Händen hindurchfahren, den Mund hineindrücken, den Duft atmen, sanft darüberhinstreichen, mit einem guten Wort ...

Oder besser noch: Schweigend, auf den Balkonen dieser Stadt, auf den Dächern, unter den sommerlichen Himmeln, über dem Rauch der Stadtbahnzüge, über dem Lärm der Straßen. Fernhin die Rufe, Schreie, Pfiffe, Gesang der Autos, Rauschen der Transmissionen, Klingeln der Straßenbahnen.

Und die Lichter der Stadt. Bis zu den Sternen des Himmels. Jetzt aber war Tag. Werktag.


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