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Der Sportplatz

»Na, war der Lauf nicht herrlich?«

Sie nickte und ließ sich von ihm seine Jacke um die Schultern legen, während sie über die breite Freitreppe zum Sportplatzcafé emporstiegen. Langsam kam etwas Wind auf, und sie fühlten an der Frische der Luft den Abend, obwohl alles noch eine durchsichtige, zarte Helligkeit zeigte.

Für Frieda war das ein ungewohntes Gefühl. Gläser und Löffel klirrten oben auf der Veranda, ein Mädchen lachte sehr hell, und sie sahen von der Treppe aus die bunten Flecke der Jumper und die weißen Sportanzüge und neugierige junge Gesichter.

Ihre Backen glühten, und während sie hochstieg, spürte sie, daß ihre braungebrannten Beine ein wenig zitterten. Aber sie fühlte sich sehr wohl. Reinhard faßte sie unter den Arm, auf eine sehr vertrauliche Weise. Sie vermochte nicht, sich ihm zu entziehen, und eigentlich wollte sie es auch nicht.

»Das hätten wir schon längst mal machen können, nicht wahr? Aber ich habe das nicht ganz unbegründete Gefühl, daß Sie zu viele andere Dinge im Kopf haben, was?« Er lachte und preßte ihren Arm fest an sich. »Das war doch schön, Frieda, vor zwei Jahren, denken Sie noch manchmal daran?«

Frieda sah starr geradeaus und dachte: Was will er eigentlich? Sie lächelte höflich und ganz unbestimmt. Er sah sie an und wußte nicht recht, woran er war. Immerhin, er hatte ein festes Ziel, und warum sollte er das nicht erreichen? Zu zwei Achthundert-Meter-Läufen rund um die Bahn hatte er Frieda Heidemann wahrlich nicht mitgenommen.

»Hoffentlich finden wir einen anständigen Platz«, sagte er und sah sich um. Oben auf der Terrasse, an den mit bunten Lampions geschmückten Tischen saßen viele junge Leute, bürgerliche Jugend. Sportlich gekleidete, anmutige Mädchen. Flirtende Gymnasiasten. An einem Tisch drei Reichswehroffiziere zwischen Zivilisten.

»Anständiges Lokal, was?« sagte Reinhard.

Sie nickte und ging langsam neben ihm her.

Die Tische waren fast alle besetzt. Aber sie hatten Glück. Ganz vorn an der Balustrade wurden gerade zwei Plätze frei. Irgend jemand stand auf und ging fort. Kurt Reinhard belegte sofort die Stühle mit seiner Jacke und seinem Hut. Er verbeugte sich mit einem fragenden Blick vor den jungen Herren, die an der unteren Hälfte des Tisches saßen. Sie nickten.

Radiomusik. Schallplatten.

Frieda sah hinunter auf den Platz und auf die Stadt, und sie hatte das Gefühl, zu treiben, wie auf einer Brücke, wenn man ins Wasser starrte. Unten im Stadion war noch Betrieb, sie hörte die hellen Rufe über den Platz hin, und hinter dem Platz kamen dunkle Baumalleen und dann die Stadt, vor der eine Wolke abendlichen Dunstes lag. Darüber schwamm der sich verfärbende Himmel mit einer Farbenskala, wie sie einem Maler nie erlaubt ist.

»Dahinten kommt ein Gewitter«, sagte sie leise und zeigte auf die dicke Wolkenwand, die zuerst völlig weiß war und nun immer dunkler und drohender wurde. Der leise Windhauch war vorübergegangen, und die beängstigende Schwüle schien noch zuzunehmen.

Ein Kellner kam an den Tisch. Reinhard bestellte für sich Bier.

»Ein Eisbecher«, sagte Frieda. Sie dachte: Na, warte, mein Junge, wenn du mich einlädst, kannst du auch was springen lassen.

Heute abend hatte sie natürlich ohne weiteres Punkt sieben Uhr aus dem Geschäft fortgehen können, weil es ihm so paßte, und Rosa Seidel mußte die Schlußabrechnung machen. Rosa ist vielleicht jetzt erst fertig, dachte sie weiter. In der Haut von dem Mädel möchte ich auch nicht stecken, was hat die denn vom Leben, und auf einmal fiel ihr die Geschichte ein, die Elfriede Fabian vom Abrechnungsbüro erzählt hatte. Wenn das stimmen würde, daß die Mädchen da oben die Prämien erhalten, wenn das stimmen würde, das wäre eine Bombe ... in die nächste Betriebszeitung muß das hinein, Frieda war verantwortlich für die kleine hektographierte Zeitung, die unregelmäßig, manchmal vierzehntägig, manchmal aber auch erst alle zwei Monate illegal erschien und im Warenhaus an die Angestellten und Arbeiter verkauft wurde. Das Blättchen umfaßte nur wenige Seiten und kostete zehn Pfennige, primitive Zeichnungen waren darin und Korrespondenzen aus dem Betrieb, Berichte über Antreiberei, Lohnabzug, Überarbeit, Klagen über Schikanen der Rayonchefs, über schlechte sanitäre Zustände in den Toiletten und immer wieder Artikel über miserable Bezahlung. Die Verkäufer dieses Blättchens – es waren nur wenige Mädchen und einige der Chauffeure – mußten mit äußerster Vorsicht arbeiten, denn schon der Besitz der Zeitung genügte, um die fristlose Entlassung vor dem Arbeitsgericht zu rechtfertigen. Die Betriebszeitung hieß »Der Warenhauskuli«, am Kopfe des Blattes war vermerkt: Herausgegeben von der Direktion, was die Angestellten besonders spaßig fanden. Manchmal wurde auch ein verhaßter Direktor oder Rayonchef namentlich als Herausgeber angeführt, so z. B. der Herr Dr. Tamme, mit dem Frieda am Vormittag dieses Tages das kleine Intermezzo gehabt hatte. Schade, daß sie diese Geschichte nicht im »Warenhauskuli« verwerten konnte ...

Ihr Eisbecher kam, grün, rot und gelb leuchtete die Mischung.

»Hm«, sagte sie anerkennend.

Kurt sah zu ihr hin und lachte sie an. Er zeigte seine gesunden Zähne. »Sehen Sie sich einmal diese Frau an«, er tippte ihr auf den Arm, und sie folgte seinem Blick. Eine schöne junge Frau in einem sehr eleganten Sportkostüm ging vorüber, neben sich einen schlaksigen Jungen. Von seinem braunverbrannten Gesicht hob sich ihr völlig weißgepudertes auffällig ab.

»Kennen Sie die Frau?«

»Und ob!« Kurt Reinhard machte ein vielsagendes Gesicht.

»Was denken Sie, wie alt diese Frau ist?«

Frieda überlegte. »Anfang der dreißig«, sagte sie.

»Fünfunddreißig. Außerdem ist sie sehr reich, geschieden von einem Großkaufmann und Besitzerin einer herrlichen Yacht ...«

»Woher wissen Sie denn das alles?«

»Ich weiß noch viel mehr. Sie sucht sich hier auf dem Sportplatz und draußen unter den Paddlern ihre Freunde, jung müssen sie sein, Schüler und Gymnasiasten bevorzugt sie, wer bei ihr Favorit ist, braucht sich nicht erst lange anzustrengen«, er schnippste mit den Fingern, »aber ebenso schnell ist wieder Schluß bei ihr ...«

»Das glaube ich nicht. Das ist weiter nichts wie Aufschneiderei und Gerede. Richtiger Männerquatsch.«

Reinhard machte sein überlegenes Windhundgesicht, und Frieda fand ihn auf einmal unangenehmer denn je. Sie drehte sich weg und sah hinunter auf das sanfte Oval des Sportplatzes, das im ungewissen Licht des frühen Abends verschwamm. Ein blondhaariges Mädchen mit kurzem Jungensschnitt lief immer wieder ihre Hürdenstrecke ab, ihre kurzen stämmigen Beine schnellten beim Absprung hoch und landeten dann elastisch auf dem Boden. Einsam und allein spielte ein junger Mann vor der Tribüne mit einem Fußball. Hinter dem Platz stand rauchig und verquollen die abendliche Stadt und dünstete fettige Wärme aus. Kein Lufthauch. Untergrundbahngeruch. Abendzeitungen. Ferne Schreie. Pfiffe.

Und die Gewitterwand, stumm, beängstigend.

»Kellner! Sagen Se mal, servieren Sie immer in dreckigen Tassen?«

Der Kellner, ein alter, kahlköpfiger Mann, besah mit schuldbewußtem verlegenem Gesicht die Tasse, deren Rand Kaffeespuren aufwies. Er hob seine Hand, um etwas zu erwidern, vielleicht wollte er die naheliegende Erklärung vorbringen, daß der junge Mann selbst den Kaffee verschüttet habe, aber dann sank die Hand kraftlos zurück, und er ging schweigend mit der Tasse fort, als sei ihm das Ungehörige seines Vorwurfs zum Bewußtsein gekommen.

Frieda hafte sich beim Klang der scharfen Stimme umgedreht und beobachtete den jungen Mann, der sich beschwerte. Fünf Jungens saßen noch am Tisch, anscheinend Gymnasiasten. Sie sahen nicht schlecht aus. Sportliche schmale Gesichter, gutsitzende Anzüge.

»Das ist mir doch tatsächlich noch nicht passiert! Soll ich mich bei der Geschäftsleitung beschweren?« Er sah seine Freunde an, als erwarte er ihre Unterstützung. Die pafften Zigaretten und lächelten gelangweilt. Sein Blick ging weiter zu dem Mädchen, das an seiner Seite saß, aber nicht zu ihm gehörte. Frieda hatte den Kopf etwas zur Seite gedreht, mit zusammengepreßtem Mund. Auf der Nasenwurzel gruben sich zwei tiefe Falten ein. Dann sah sie weg. Der Junge hatte ein glattes hübsches Gesicht mit einem auffällig großen Mund.

»Na, so 'ne Schlamperei. Ich sage ja immer, in Lokalen bist du nie sicher, was man dir serviert ... kannst nichts kontrollieren ...«

»Genauso wie in unserem feinen Staat ...«

»Kennt ihr die Geschichte, wie Roßmann in Pommern Graupen gegessen hat?« warf ein kleiner fixer Schwarzhaariger ein.

Frieda sah Reinhard an, und er sah ihr in die Augen. Es war wie ein geheimes Einverständnis.

»Also todsicher wahr, was ich euch sage. Vor ein paar Monaten passiert. Da hatte die SA Gautreffen. Roßmann kommt mit seinem Zug in eine große Mühle, dort sollten sie abends verpflegt werden. Es gibt also Graupen. Sie schleppen einen großen Kessel ins Freie und fangen an zu futtern. Jeder mit einem Löffel aus dem Pott. Die Graupen schmecken sehr fettig, aber die Jungens hatten Hunger, und sie löffelten alles leer. Und was denkt ihr, wie sie bis runter auf den Boden kommen, was da liegt ...?«

»Ne Ratte«, sagte der hübsche Junge neben Frieda.

Sie schüttelte sich und legte den Löffel auf den Tisch.

»Woher weißt du denn das?« fragte der Erzähler enttäuscht.

»Gott, was soll denn anders drin gewesen sein?«

»Wie kam denn die Ratte da rin?« erkundigte sich ein anderer.

»Der Müller war wahrscheinlich Jude, was?«

»Ach hör mit dem Quatsch auf.«

Der alte Kellner kam wieder an den Tisch, stellte den Kaffee hin und murmelte: »Verzeihung!« Der junge Mann sah ihn durchdringend an, dann, als der Kellner ging, wurde er durch irgend etwas irritiert, drehte sich um und begegnete Friedas Blick. Fast ohne Übergang begann er zu lächeln und sagte: »Entschuldigen Sie, gnädiges Fräulein, habe ich Sie gestoßen?«

Sie schüttelte erstaunt den Kopf und sah zu Reinhard hin.

»Wann wollen wir zurückfahren?« sagte er.

»Wir essen in der Stadt Abendbrot, ja?«

Sie spürte, daß ihr Nachbar sie noch immer betrachtete. Ohne Kurts Frage zu beantworten, starrte sie hinunter auf den Platz, der sich dichter mit Schatten füllte. Das blonde Mädchen lief nicht mehr über die Hürden. Nur der Fußballspieler kombinierte einsam vor den Tribünen mit dem Ball. Die Beharrlichkeit, mit der er sich abmühte, fand Frieda erstaunlich.

Einige Lampen glühten auf, Lampen mit bunten Umhüllungen an der Außenfront des Cafés, während die Tischlampen noch dunkel blieben. Glückliches Licht. Abendmusik im Radio. Teures Mädchen, sieh mein Leiden ... Rigoletto ... Verdi ... Klirren von Tassen und Gläsern. Stimmen.

Frieda sah sich um und suchte vergebens die Dame mit dem blauen Kleid, sie stieß immer wieder auf das weiche Gesicht des jungen Mannes, der neben ihr saß. Mit einer kurzen abwehrenden Bewegung zog sie ihren Jumper straff an. Vieles schien sich wunderlich zu verändern an diesem Abend.

Ein Zeitungsverkäufer ging vorbei und bot Zeitungen an. Einer der Jungens kaufte den »Völkischen Beobachter«, entfaltete ihn breit und begann zu lesen.

Kurt beugte sich über den Tisch zu Frieda.

»Wissen Sie schon, daß es heute vormittag wieder mal Tote gegeben hat ...?«

»Ja, ich weiß, die Polizei hat auf Arbeitslose geschossen.«

»Ja, nachdem die Beamten erst halbtot geschlagen worden sind.«

»Woher wissen Sie denn das?«

»Aus der Zeitung natürlich.«

»So. Aus der Zeitung natürlich. Und das glauben Sie alles? Denken Sie vielleicht, den Arbeitslosen macht es Spaß, sich mit der Polizei rumzukloppen?«

»Ach, Frieda, warum verteidigen Sie die Leute? Nordost ist immer so 'ne richtige Kommune, bei den Burschen ist Hopfen und Malz verloren ...«

»Entschuldigen Sie bitte, daß ich mich einmische«, sagte der hübsche Junge mit seiner hellen Stimme, »aber ich habe gerade Ihre letzten Worte gehört, und ich finde sie doch nicht ganz richtig ...« Reinhard machte ein abweisendes Gesicht, aber Friedas Nachbar sah nur das Mädchen an. »... Es gibt nur zwei Möglichkeiten. Entweder halten Sie unsere Arbeitslosen grundsätzlich für asoziale Elemente, dann müssen Sie versuchen, diese neue und einigermaßen gefährliche Klasse, wie wir heute morgen wieder gesehen haben, auszuhungern, Sie wissen, die berühmten zwanzig Millionen, von denen Clemenceau gesprochen haben soll.«

»Wir haben schließlich nur fünf Millionen Arbeitslose«, sagte Reinhard unfreundlich.

»Oho, Sie vergessen die Familien und die sogenannten Sozialrentner, Ausgesteuerten, Pensionäre, Invalidenversicherten und das ganze Kroppzeug, na, ist auch egal, ich wollte bloß noch sagen, die andere Möglichkeit wäre, daß Sie an eine Überwindung der Krise glauben, dann müssen Sie den Leuten aber auch zugestehen, daß sie um sich beißen, wenn es ihnen schlecht geht ...«

Reinhard fühlte ganz genau, daß der Gent – wie er ihn titulierte – nur den Versuch machte, ihn bei Frieda auszustechen. Na warte, dachte er und nahm sich vor, in diesem Zweikampf zu siegen.

»Es gibt wohl noch eine dritte Möglichkeit«, sagte er langsam. »Wenn man an eine Überwindung der Krise glaubt und ich glaube tatsächlich daran, so komisch Ihnen das auch vorkommen mag –, dann müssen eben von jedem einzelnen Opfer gebracht werden, ohne daß die Betroffenen alles zerschlagen und die Polizei angreifen.«

Der Junge lächelte ironisch, und Frieda starrte ihn unverwandt an.

»Das läßt sich wundervoll aus einer gesicherten Position heraus sagen und die zwanzig Millionen – oder die fünf Millionen, wenn Sie wollen – hören den Quark schließlich jeden Tag aus den Mündern unserer Regierungsmänner, is ja 'ne ganz alte Platte, nützt aber leider nischt gegen einen leeren Magen ...«

»Oh, Sie irren sich, ich würde genauso handeln, wenn ich selbst arbeitslos wäre, übrigens glaube ich, daß Ihre Position zumindestens genauso gesichert ist wie meine und ihre Sympathie für die Arbeitslosen von Nordost eine rein platonische und völlig unverbindliche Angelegenheit ist.«

Reinhard freute sich, das hatte er ihm gut gegeben. Er sah Frieda an. Die anderen Jungens am Tisch hörten aufmerksam zu.

»Das ist ein Irrtum.« Wenn er nur nicht immer so infam lächeln würde, dachte Reinhard. »Wer hat denn gesagt, daß ich mit den krakeelenden Arbeitslosen sympathisiere? Ich habe gesagt, es gibt nur zwei Möglichkeiten, und ich bin trotz Ihres Einwandes, der eben ein durchaus liberaler und unzulänglicher Einwand ist, immer noch der Meinung.«

Reinhard war rot geworden.

»Und welche Meinung haben Sie, wenn ich fragen darf?« sagte er.

Der Gymnasiast lehnte sich zurück und zündete eine Zigarette an.

»Die zynische von beiden. Sie ist die einzige, die einem konsequenten Individualisten helfen kann.«

Frieda sah Reinhard fragend an.

Der Junge, der den »Völkischen Beobachter« las, hatte während des ganzen Gesprächs ungeduldig zugehört, ohne etwas zu sagen. Nun knallte er seine Zeitung auf den Tisch und schlug mit der Faust darauf.

»Also schrankenloser Egoismus, was?« fragte er zornig. »Du vergißt, daß wir eine Aufgabe der Nation gegenüber haben!«

»Ach Gott, die ollen Kamellen müßtet ihr euch nun doch langsam an den Schuhsohlen abgelaufen haben, du sagst Nation und Sie, gnädiges Fräulein«, er verbeugte sich vor Frieda und empfing dafür einen wütenden Blick Reinhards, »Sie sagen, wenn ich Sie vorhin recht verstanden habe, Menschlichkeit, und dieses kleine Kommunistenaas aus der Obersekunda B sagt Proletariat, alles dasselbe. Vor der Geschichte versagen nicht nur alle menschlichen Maßstäbe, sondern auch alle Theorien. Lest doch mal Dacqué! Jahrtausende. Jahrmillionen. Und immer derselbe Quark. Nichts ändert sich. Der Stärkere siegt, das ist ganz einfach die einzig mögliche Philosophie des Lebens. Ihr seht die Geschichte bloß bis zu den ollen Phöniziern, etwas anderes paukt man uns schon nicht ein, und deshalb glaubt ihr eben noch an Fortschritt ...«

»Und Sie sind der Meinung, daß das ganze Elend auf der einen Seite und der Luxus auf der anderen Seite so bleiben soll wie bisher?« sagte Frieda rasch.

»Ach, so einfach mit den beiden Seiten ist das ja gar nicht.«

Er sah sie zufrieden und gönnerhaft lächelnd an. »Das steht nur in den Parteibüchern so ...«

»Du bist ein großer Zyniker, Heinz, aber mit deinem Taschengeld kann man sich den Zynismus auch leisten ...«

»Was soll denn das heißen? Soll das etwa ein Vorwurf sein?« Zum erstenmal verlor der Widersacher Reinhards etwas von seiner kräftig aufgetragenen Gelassenheit.

»Ein Vorwurf? Aber ich bitte doch, wie komme ich dazu! Ich meine nur, daß ich mich zum Beispiel mit einer etwas substantielleren Weltanschauung versehen muß, weil mein Vater nicht Großkaufmann, sondern Postinspektor ist ... Schlimmer Materialismus, was?«

»Du bist ja noch viel zynischer als ich ...«

»Was seid ihr für Jammerlappen«, sagte der Junge mit dem »Völkischen Beobachter«, »entscheiden muß man sich, klar entscheiden, das ist die einzige Rettung aus der Verworfenheit und Unklarheit ...«

Heinz, Friedas Nachbar, lächelte perfide, er fühlte sich anscheinend wieder obenauf.

»Für wen entscheiden, bitte?« sagte er. »Du hast ja gehört, lieber Blunk, daß ich mich entschieden habe. Aber Zynismus scheint dir nicht zu liegen, du bist witzlos ...«

»Das trifft mich nicht. In Sachen der Nation lasse ich den Vorwurf der Witzlosigkeit ruhig auf mir sitzen. Du aber hast gar keine Entscheidung getroffen, so heftig du das auch behauptest, du windest dich nur heraus. Unser Ziel ist die Erneuerung unseres Volkes in rassischer, politischer, wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht ...«

»Schönes Programm. Aber was versteht ihr darunter? Haut die Juden? Das kannst du in der Geschichte alle zwanzig Jahre wiederfinden.«

»Wir haben gar nicht die Absicht, Pogrome zu veranstalten, beruhige dich nur. Wir wünschen nur, daß sie Deutschland verlassen und dahin zurückkehren, woher sie gekommen sind.«

»So ... und dann ist alles in Ordnung?«

»Nee, dann gehts erst los ...«

»Wenn die Arbeiter nicht vorher einen Strich durch die Rechnung machen«, sagte Frieda auf einmal. Es wurde still. Alle sahen das Mädchen an. Reinhard lächelte verlegen. Nur der geleckte Junge neben Frieda verlor seine Fassung nicht. Er klatschte in die Hände und rief: »Bravo! Siehste, lieber Blunk, ich bin mit dem gnädigen Fräulein nicht ganz einverstanden, aber deine Rechnung scheint doch nicht so einfach aufzugehen, wie du denkst.«

»Warte nur ab«, sagte Blunk finster. »Wir werden schon aufräumen.«

»Und was springt für dich dabei heraus? Ein gut bezahlter Posten? Noch was? Eine Staatsanstellung?«

Frieda beugte sich zu Reinhard hinüber und sagte leise:

»So ein Quatsch!«

Er nickte und lächelte, weil sie sich mit ihm gegen die anderen verbündete. Er wollte sie wieder aus dem Kreis der Diskussion ausschalten.

»Kleine Gymnasiasten«, sagte er geringschätzig.

»Aber Sie haben gar keine Meinung, was?« fragte sie schroff. Ihm wurde es unbehaglich.

»Doch. Nur nicht die Ihre, Sie kleine Bolschewistin.«

»Pah ...«

»Ja, lachen Sie nur, ich weiß schon Bescheid.«

Frieda erschrak, ließ sich aber nichts anmerken. Sie schob ihren leeren Eisbecher zur Seite. »Bestellen Sie mir lieber noch ein Eis«, sagte sie.

»Gern. Ober!« Er bestellte. Dann beugte er sich wieder vor. »Wollen Sie mir einmal ganz ehrlich etwas sagen?«

»Was denn?«

»Haben Sie eigentlich irgend etwas mit dem ›Warenhauskuli‹ zu tun? Mir können Sie es ja sagen ...«

Sie bekam schmale, wütende Augen und sagte kurz und schroff: »Nein.« Mißtrauisch sah sie ihn an, sie überlegte sich, ob Reinhard sie nur mitgenommen habe, um das zu erfahren. Zuzutrauen war ihm alles. Er aber ließ sich durch ihr unfreundliches Gesicht nicht stören.

»Aus Rayon sieben kommen so ziemlich die meisten Berichte. Finden Sie nicht auch?«

»Ich lese den Wisch nicht.«

»Ach nee ... soll ich Ihnen das glauben ...?«

Rutsch mir den Buckel runter, dachte sie. Sie rückte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her, und dabei stieß sie mit ihrem rechten Bein, ohne es beabsichtigt zu haben, gegen den Fuß des jungen Mannes, der neben ihr saß. Allerdings, er schien seine Beine vorsorglich so weit zu ihr herüberbalanciert zu haben, daß eine Karambolage unvermeidlich war. Im Augenblick der Berührung erschrak sie sehr und machte sich ganz steif. Sie zog ihren Fuß sofort zurück und sah Kurt unverwandt an. Hatte der Junge neben ihr überhaupt etwas gemerkt. Auf einmal spürte sie die Berührung von seiner Seite. Ihr Blut schien zu stocken. Kurt sah ihren starren Blick und machte ein fragendes Gesicht. Da ließ der Druck nach. Erst jetzt bemerkte sie, daß der freche Kerl während der ganzen Zeit ununterbrochen mit seinen Freunden gesprochen hatte.

Der Ober brachte ihr Eis.

»Wollen wir gehen?« fragte Reinhard.

»Noch eine kleine Weile«, antwortete sie, »dann gehen wir.«

Der Fuß ihres Nachbars hatte sich wieder dem ihren genähert und berührte ihn. Frieda wußte selbst nicht genau, warum sie nachgab, und sie dachte keinen Augenblick an Fritz, es war nur ein Spiel, und Fritz hatte gar nichts mit dem ganzen Spiel zu tun, er war irgendwo, fern und weit und durch eine Welt von diesen geleckten Jungens geschieden. Sie hatte nie geglaubt, daß man so jung sein und dabei eine solche Menge Blödsinn quasseln konnte. Sie hatte das Gefühl, daß diese jungen Leute nur deshalb so hochtrabend redeten, um die nutzlose, leere Existenz zu verdecken und ihre verantwortungslose, aber bequeme Passivität zu rechtfertigen.

»Also, Mahnke trainiert tatsächlich wieder bis Mitternacht!« Der kleine Schwarzhaarige war aufgestanden und sah auf das fast völlig dunkle Stadion hinunter. An den Barrieren spielte immer noch ein Fußballspieler allein mit einem Ball, unzweifelhaft derselbe junge Mann, den Frieda schon beobachtet hatte. Die jungen Leute schienen den einsamen Mann zu kennen, denn sie lachten herzlich, und einer meinte: »Gott, wenn ich denke, daß der Junge auf die Art in die Stadtmannschaft möchte ...«

Helles Gelächter, schadenfrohe Gesichter.

»Dabei kann er froh sein, daß er sich schon bis zum Ersatzmann hochgestapelt hat ...«

»Na, na, spielen kann er schon.«

»Spielen! Ach Gott, als ob es damit getan wäre! Spielen können wir doch alle!«

»Fragt sich bloß, was!« Das war wieder Heinz. Er versuchte vor seiner hübschen Nachbarin mit geistreichen Bemerkungen – oder was er so dafür hielt – zu glänzen. Frieda spürte das, und es machte ihr Spaß. Er legte plötzlich seine Hand auf den Tisch, weit zu ihr herüber, so daß sich ihre Finger, wie unabsichtlich, berührten. Die Dämmerung verhüllte alles. Aber sie zog rasch ihre Hand weg.

Auf einmal flammten die elektrischen Tischlampen auf. Ein allgemeines »Ah!« erhob sich befriedigt von den Tischen.

Kurt rückte wieder in ihr Blickfeld, er lächelte und hatte ein angenehmeres Gesicht als der weiche Bursche neben ihr. Sie beugte sich zu ihm, und er legte die Hände auf die ihren, ihre Finger streckten sich auf dem karierten Tischtuch aus, und die Bluse stand vorn ab. Mein Rayonchef, dachte sie und lächelte ... Sie spürte, daß die Jungens zu ihr hinsahen, und sie spürte den Blick ihres Nachbars, und eine heiße Welle durchflutete sie, als Kurt ihr über die Hände strich.

»... und dann fahren wir in das Palastcafé und dort tanzen wir, weißt du noch, als wir Silvester vor zwei Jahren zusammen getanzt haben, ja ...?« Sie lächelte. »... und dann trinken wir noch mal 'ne richtige Pulle, und dann fahren wir nach Hause und ...« Er flüsterte nahe an ihrem Ohr, so daß niemand etwas hören konnte, und sie sagte immer »Nein!« und schüttelte ihre strohhellen Haare und lächelte dazu ...

»Sieh mal, da draußen blitzt es!«

Sie sahen hinaus in die weiche Dunkelheit. Die Luft der Nacht war würzig und ließ sich greifen. Helle kurze Striche zuckten weit draußen auf, aber kein Donner folgte. Wetterleuchten.

»Gehen wir!« sagte Kurt mit einem siegessicheren Gesicht.

Sie stand sofort auf. Die Jungens verbeugten sich, und Frieda nickte. Während Kurt den Ober bezahlte, sah sie ihn an, und ihr kam ganz rasch der Gedanke: Was weiß er vom »Warenhauskuli«? Warum hat er gefragt? Aber sie fand keinen Zusammenhang, und die warme Luft spülte alle unangenehmen Gedanken fort. Nur heute nacht noch, nur einmal, alles vergessen, alles vergessen ...

Sie gingen durch die Tischreihen, Frieda mit hocherhobenem Gesicht, so daß der Stipps ihrer Nase nach oben noch deutlicher zu sehen war als sonst schon, und sie spürte die Blicke, und besonders heftig die jenes jungen Mannes, der neben ihr gesessen hatte, und all das machte ihr viel Spaß, weil sie seit langem nicht mehr in dieser Welt verkehrt hatte, und sie wollte nur diesen einen Abend noch auskosten, denn Fritz hatte Nachtdienst, und nichts konnte ihre Unternehmungslust hindern.

Als sie die große Freitreppe hinabschritten, die zum Stadionvorplatz führte, kam ihnen ein etwa fünfundzwanzigjähriger Mann entgegen, der anscheinend zu den Ankleideräumen wollte. Er sah müde und schmutzig aus, trug einen zerrissenen grauen Sweater, schwarze Höschen, verdreckte Knieschützer, Sportsocken und Fußballschuhe, unter dem rechten Arm hatte er den Lederball. Er sah Frieda nicht an und trottete müde und verdrossen vorbei. Kurt drückte ihren Arm, das sollte soviel heißen wie: Sieh mal, das ist der verrückte Mahnke!

Sie wollte sich erst umdrehen, aber dann ließ sie es sein, und ihr kam nur irgend etwas in den Kopf, das die gleich wieder vergessen hatte. Dies nämlich: Was denkt sich dieser junge Mensch jetzt, in diesem Augenblick?

Es war eine interessante Frage, aber als Kurt mit ihr zur nächsten Untergrundbahnstation ging, fiel ihr etwas anderes ein, sie schlüpften schnell an den lärmenden Autos vorbei, eng aneinandergeschmiegt, und Kurt dachte mit Vergnügen an die frühere Zeit und ob sie noch einmal wiederkommen würde. Er war nach diesem Abend auf der Stadionterrasse nicht mehr abgeneigt – vorher wollte er nur ein bißchen Spaß und noch etwas anderes.

»Laß mich mal ziehen«, sagte sie. Er steckte ihr behutsam die Zigarette in den Mund, und sie zog hastig und ungeschickt mit vorgewölbten Lippen daran. Dann sah sie ihn an. Sie lächelten.

Der einsame Fußballspieler aber, der in seine Garderobe ging, um sich umzuziehen, dachte – oder besser, er träumte mit offenen Augen folgendes:

... und Mann an Mann, und die Tribünen drohen einzustürzen, aber die Italiener spielen besser, geschlossener, 2:1 bis zur Halbzeit, große Enttäuschung bei den Deutschen, der Mittelsturm befriedigt nicht, zu wenig Schußfreudigkeit, kein Zusammenspiel, nach der Pause geht es so weiter, und ich sitze auf dem Rasen und sehe zu. Aber auf einmal, der Linksaußen stürzt, wird vom Platz getragen, Ersatzmann! Im Publikum raunen sie: Wer ist das? Mahnke? Unbekannter Mann. Nie gehört. Wird eine schöne Pleite werden. Einzelne gehen schon weg. Verlorenes Spiel. Du, was ist das, der Mahnke hat den Ball, der Ball klebt ja daran, und wie er läuft, päng, jetzt hat er den rechten Verteidiger umspielt, da den anderen, Bravo, Bravo, und nun, der Ball klebt ihm an der Kappe, wie er hereinkommt, hervorragend, und jetzt, und jetzt, Mahnke! Mahnke! aus zwölf Meter Entfernung, das Leder auf die Spitze, ein eleganter Schwung, man hört nur ein leises Pfeifen und dann ... Goal! Goal! Mahnke! Goal! Hammse das jesehn? Scharf links in die Ecke, son Stückchen über dem Boden, das ist ein Mann, der Mahnke! Woher kommt er denn? Wie? Ausgleich, tscha, ob sie es noch schaffen? Schon haben sie den Ball wieder, aber warum geben sie ihn nicht nach links? Päng, eine Chance verpaßt, haaaaahh! Linksaußen geben! Da, sie haben ihn wieder, und jetzt ... Zu Mahnke! Ah, der holt ihn sich selbst, brillant, der Junge ist hohe Klasse, wieviel Minuten sind noch? Was, keine Aussichten mehr? Sehen Sie mal, wie der umspielt! Jetzt gibt er ab, schön war das ... haaaahh und der Mittelstürmer verpatzt wieder alles. Mahnke in die Mitte! Er holt sich den Ball, Bravo! Ran an den Mann, stürmischer Beifall, wie er läuft, der Kerl, da, er täuscht links, und nun rechts, und der Ball klebt immer an seinem Fuß, der sieht gar nicht auf den Ball, passen Sie mal auf, ganz große Klasse, was wird er machen, die Verteidiger blockieren ihn, ran an den Speck, Junge! Zehn Meter Entfernung, Flachschuß, bumm, war das 'n Schuß, Torlatte, hat ihn schon wieder, herrlich gestoppt, paß auf die Verteidiger auf, Junge, links, rechts, er täuscht, er setzt an zum Schuß, ein Schwung, Schuß, Goal! Goal! Hing in der rechten Ecke! Das gesehen? Wie hieß der Mann? Schlußpfiff, 3:2, Sieg an den Fahnen, neuer Mann, sie tragen ihn vom Platze, gut sieht der Junge aus, die Weiber stürzen hinterher, wird bald Einladungen kriegen, der Junge, neuer Fußballstil, einzigartig, äußert sich nicht, der Junge, nach zwei Spielen Mannschaftsführer, die Karriere der alten Helden verblaßt ... Robinson, Zamora, Tull Härder ... So träumte Herr Mahnke.


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