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Probleme werden nicht durch Resolutionen aus der Welt geschafft. Auch der beste Wille der Streitenden, – und es gab Augenblicke, wo selbst Eduard Bernstein die Schwäche dieses »guten Willens« hatte und Hervorragende unter seinen Anhängern den »Revisionismus« als eine neue Richtung innerhalb der Partei abschworen, – vermag das Streitobjekt nicht aus der Welt zu schaffen. Einmal ausgesprochene Gedanken lösen sich gleichsam von dem, der sie dachte, ab und haben ein selbständiges Leben.
Die Beschlüsse des Parteitags von Hannover hatten nichts zur Folge, als einen Waffenstillstand. Bernsteins Rede im sozialwissenschaftlichen Studentenverein eröffnete den Kampf von neuem. In Artikeln, Reden und Broschüren wurde er mit steigender Erbitterung geführt. Und die aufreizenden Zurufe der Zuschauer, die vom nächsten Tage die Spaltung der Sozialdemokratie erwarteten und erhofften, erhitzte die Kämpfenden noch mehr. Die wachsende Leidenschaft tötete jede Objektivität. Keiner gestand dem anderen die Ehrlichkeit der Gesinnung zu. Hinter jeder Äußerung eines Revisionisten entdeckte der orthodoxe Marxist Parteiverrat, in jeder Verteidigung des radikalen Standpunktes sah der Revisionist dogmatische Verbohrtheit und bewußtes Demagogentum. Er überhörte geflissentlich die Lehren der Psychologie und der Geschichte, aus denen er hätte folgern können, daß die Verteidigung der Tradition, der grundlegenden Dogmen des Sozialismus notwendig zu demselben Haß, derselben Verfolgung der Angreifer führen muß, wie einst die des Heidentums gegen die Christen, der römischen Kirche gegen die Reformation.
Aber ein noch merkwürdigeres Zeichen dafür, wie wenig bloße Erkenntnisse des Verstandes die ursprüngliche, nur auf die Einflüsse des Gefühls reagierende Natur des Menschen zu ändern vermögen, war die Haltung der Radikalen. Sie verleugneten in ihrem Zorn eine der Grundlagen ihrer eigenen Anschauung: die materialistische Geschichtsauffassung. Es war die befreiendste Lehre, die Marx hinterließ, zu der sich allmählich, bewußt oder unbewußt, auch Nichtsozialisten bekannten: daß, da »alles fließt«, auch die Theorien sich entwickeln müssen, entsprechend den Wandlungen des wirtschaftlichen und sozialen Lebens. In diesem Sinne war der Revisionismus marxistisch und der Radikalismus reaktionär.
Die ernsten Kämpfe zwischen den beiden Richtungen spielten sich zwischen den geistigen Führern ab, von denen die einen die Masse der Arbeiterschaft hinter sich hatten, die anderen noch Offiziere waren ohne Armee. In dem harten Schädel der Proletarier saß jeder Buchstabe des sozialistischen Apostolikums noch fest; wurde der Kampf daher in die Volksversammlungen getragen, so äußerte er sich in wüstem Geschimpfe gegen die Neuerer, die dem Armen das Beste zu erschüttern drohten, was ihnen der Sozialismus gegeben hatte: ihren Glauben. Es kam aber noch ein anderes hinzu: der Respekt vor der Wissenschaft, zu dem der Sozialismus sie verpflichtete, ging Hand in Hand mit einem glühenden Verlangen nach Wissen. Bildungsschulen, wissenschaftliche Vorträge und Kurse kamen diesem Verlangen entgegen und pfropften auf den lebensschwachen Baum der Volksschule ein Reis, unter dessen Früchten Dilettantismus und Bildungsdünkel am besten gediehen. Wozu ernste Denker Jahrzehnte brauchen, das glaubte der Proletarier in ein paar Abendstunden erreichen zu können. Daß er es glaubte, war nicht seine Schuld: die Naivetät seiner Jugend unterstützte die Partei, die ihm in Wort und Schrift nichts mehr einprägte als die Überzeugung von der Dummheit seiner Gegner. Als Gegner aber erschienen ihm auch die Revisionisten. Zu seinem gefühlsmäßigen Haß gegen die Unruhstifter trat die hochmütige Verachtung der Akademiker hinzu.
Einmal, – ich war gerade von einer Agitationsreise zurückgekehrt, – beklagte ich mich darüber, als Reinhard gerade bei uns war.
»Ich habe Sie sonst für so verständig gehalten,« sagte er; »daß Sie nun auch so nervös, so empfindlich geworden sind! – Ich kann Ihnen versichern: mir selbst kommt der Krakehl zum Halse heraus! Er macht unsere Leute kopfscheu; von jedem Gegner wird er uns aufs Butterbrot geschmiert. Außerdem haben wir doch jetzt, ein Jahr vor den Reichstagswahlen und angesichts der Zolltarif-Vorlage Besseres zu tun, als uns über die Verelendungstheorie die Köpfe blutig zu schlagen.«
»Sind wir etwa daran schuld?!« fuhr Heinrich auf. »Oder nicht viel mehr die Großinquisitoren der ›Neuen Zeit‹, die seit Jahr und Tag ihre Spürhunde auf uns hetzen?! Die jungen Leuten, die noch nichts geleistet haben, als ihnen nachzubeten, gestatten, gegen alte verdiente Genossen, – einen Jaurès, einen Auer, einen Vollmar, – wie gegen Schwachköpfe oder Verräter vom Leder zu ziehen?!«
»Die Propheten aus dem Osten nicht zu vergessen, die desgleichen tun –,« unterbrach ihn Reinhard mit einem sarkastischen Lächeln.
»Die gehören in dieselbe Kategorie, nur daß ihre, – na, sagen wir parlamentarisch: Unbescheidenheit noch größer ist. Vom Kothurn ihrer Unentwegtheit herab führen sie das große Wort, und ihr Ziel ist offensichtlich der Bannfluch, d. h. der Ausschluß aller derer aus der Partei, die eine selbständige Meinung haben.«
»Wenn man Sie so schimpfen hört, lieber Brandt, könnte man die Schicksalsfügung segnen, die Sie bisher verhinderte, Ihre Zeitschrift ins Leben zu rufen,« sagte Reinhard. »Wenn Sie all Ihre Wut noch in Druckerschwärze verwandeln würden!!«
»Sie irren sehr, wenn Sie glauben, ich werde mein Blatt zum Kampfplatz für Theoretiker machen,« entgegnete Heinrich ruhig. »Mir würde es in erster Linie darauf ankommen, praktische Politik zu treiben. Daß das auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens notwendig ist, daß es endlich an der Zeit wird, den ruhenden Koloß der Partei in Bewegung zu setzen und Tagesarbeit verrichten zu lassen, – das scheint mir das wichtigste Ergebnis der gegenwärtigen Bewegung.«
Reinhard stand auf, stampfte ärgerlich mit der Krücke auf den Boden und sagte: »Als ob das alles eine blitzblanke neue Erfindung wäre! Was war es denn, was wir lange vor Bernstein in den Parlamenten, in den Kommunen, in den Gewerkschaften und Genossenschaften getrieben haben?! Der ganze Unterschied zwischen den Revisionisten und den Radikalen ist, daß die einen in der Arbeiterschutzgesetzgebung, in der Gewerkschafts- und Genossenschaftsbewegung, in der allmählichen Demokratisierung des Staats nichts als Erziehungsmittel für das Proletariat erblicken, und die anderen Sozialisierungen der Gesellschaft, Voraussetzungen des Sozialismus. Dem Arbeiter aber ist's wirklich einerlei, wie die Dinge heißen, die er bekommt, wenn er sie nur überhaupt kriegen kann. Und darum –« er ging erregt im Zimmer auf und nieder – »begreife ich die ganzen Skandale nicht und fühle es meinen Genossen nach, wenn sie euch Akademiker mißtrauisch betrachten. Wir sind ja auf dem besten Wege, – was werft ihr Steine in unseren Teich?! Sehen Sie sich z. B. mal die Tagesordnung unseres Stuttgarter Gewerkschaftskongresses an! Sie waren ja dabei, als man sich wütend an die Gurgeln fuhr, weil der eine die sozialpolitische Tätigkeit der Gewerkschaften forderte, der andere sie für schädlich hielt. Und ich selbst, – Sie besinnen sich! – war der radikalsten einer. An meiner eigenen Entwicklung mögen Sie die Entwicklung der ganzen Bewegung messen. In aller Stille ist viel Wasser die Spree hinuntergelaufen, und jetzt sind wir mitten drin in der Sozialpolitik. Oder betrachten Sie unsere Haltung in der inneren Politik: denken Sie an die Budgetbewilligung der Badener im vorigen Jahr, – Bebel hat sie freilich hinterher heruntergeputzt, – oder an die Zustimmung unserer bayrischen Landtagsfraktion zur Wahlreform, – Bebel wird sie natürlich darum auch noch unter die Lupe des Prinzips nehmen –. Und, vor allem!, erinnern Sie sich, wie selbst die ärgsten berliner Revolutionäre mit dem dreifachen R jetzt stramm und einig zur Landtagswahl aufmarschieren. Von dem Augenblick an, wo der Parlamentarismus den Charakter des Kräutchens Rührmichnichtan für uns verloren hatte, sind wir folgerichtig weitergegangen.«
Ich hatte ihm mit wachsendem Interesse zugehört. »Und was wollen Sie mit alledem beweisen?« fragte ich.
»Daß der ganze Stank und Zank überflüssig ist. – Sowohl vom Standpunkt eurer Angst um Versumpfung und Verknöcherung der Partei, wie vom Standpunkt all der radikalen Kassandras männlichen und weiblichen Geschlechts, die um unser sozialistisches Seelenheil zittern. Wahrhaftig: wenn wir mit der Bourgeoisie paktieren, so doch nur, um für uns das Schäfchen ins Trockne zu bringen!«
»Ich folgere aus Ihren Beweisführungen etwas ganz anderes,« rief ich aus. »Da die Praxis wieder einmal der Theorie vorausgeeilt ist, so muß die Theorie sich ihr anpassen, sonst kommt der Moment, wo das Band zwischen beiden zerreißt. Die Lehre von der planmäßigen Demokratisierung und Sozialisierung der kapitalistischen Gesellschaft muß an Stelle des Dogmas von der alleinseligmachenden Revolution treten –«
»Aber das ist doch genau dasselbe!« polterte Reinhard. »Selbst der dümmste Radikale denkt doch nicht im Schlaf daran, daß er die Hände nur in den Schoß zu legen und auf die gebratene Taube der politischen Macht zu warten braucht, die ihm ins Maul fliegen wird! Jeder Rekrut in unserer Armee sieht alle Tage, wie sie sich jede Handbreit politischer Macht schrittweise erobern muß. Ebenso wächst ihr Einfluß nur nach und nach, und das berühmte Endziel kann nichts anderes sein als die letzte Krönung des Gebäudes.«
Mein Mann lächelte: »Ich sage ja: Sie sind Revisionist.«
»Zum Donnerwetter, nein! – Ich bin Sozialdemokrat!« – Reinhards Augen glänzten – »Und ihr seid Rabulisten.«
Beim Abschied nahm sein Gesicht wieder den alten, gutmütig-freundlichen Ausdruck an.
»Nichts für ungut, Genossen!« brummte er mit einem leichten Anflug von Verlegenheit; dann reichte er meinem Mann die Hand. »Sie können auf mich rechnen. Wenn Ihr Blatt praktische Politik treiben wird, – in bewußtem Gegensatz zu unseren Zeitschriften von rechts und links, die sich um des Kaisers Bart raufen, – so wird es befreiend wirken und seines Erfolges bei unseren Genossen sicher sein.«
Als er gegangen war, reichte mir mein Mann einen Brief von Romberg.
». . . Ihre Pläne sind mir immer wieder durch den Kopf gegangen,« schrieb er, »und der Gedanke, das ›Archiv‹ selbst zu erwerben, ließ mich nicht los. Trotzdem bin ich zu dem Entschluß gelangt, meine persönlichen Wünsche nicht nur zu unterdrücken, sondern Ihnen überdies den dringenden Rat zu geben, die Verkaufsidee überhaupt fallen zu lassen. Sie wissen selbst, daß das neue Unternehmen, dem Sie Ihren Brotgeber, das Archiv, opfern wollen, in bezug auf seinen materiellen Erfolg ein ganz unsicheres ist. Stünden Sie allein, so könnten Sie meinetwegen den Husarenritt unternehmen, aber Sie haben Familie, – verübeln Sie es meiner aufrichtigen Freundschaft nicht, wenn mich die Sorge um sie in diesem Zusammenhang von ihr sprechen läßt. Ich weiß: Frau Alix zieht in diesem Augenblick zürnend die Brauen zusammen; sie ist ja noch fanatischer, noch leichtsinniger wie Sie. Seien Sie darum doppelt klug für beide und erhalten Sie sich das Archiv. Es kann einmal die Rolle der Planke spielen, die Sie vor dem Ertrinken rettet . . .«
Ich warf den Brief heftig auf den Tisch. »Daß Romberg solch bourgeoise Anschauungen hat!« rief ich aus. »Als ob wir beide nicht im Notfall schwimmen könnten!« Heinrich zog mich zärtlich in die Arme.
»Daß du so denkst, weiß ich,« sagte er, »trotzdem werde ich handeln wie ein Bourgeois!« Ich wollte auffahren. »So höre doch erst zu, ehe du schimpfst!« meinte er lächelnd. »Besinnst du dich auf Lindner, den jungen Dichter, den wir auf dem Pariser Kongreß getroffen haben?« Ich nickte. »Er tauchte vor kurzem hier auf und besuchte mich, während du weg warst: ein sympathischer Mensch, dessen Schüchternheit alle seine guten Absichten im Keime erstickt. Er möchte in der Partei wirken; aber auf der einen Seite fürchtet er als Akademiker das Mißtrauen der Genossen, auf der anderen Seite stößt ihn die Pöbelgesinnung zurück, die ihm vielfach schon begegnete. Er schüttete mir sein Herz aus; dabei erfuhr ich, daß er der einzige Sohn reicher Leute ist. Ich sprach ihm von unserem Plan, er war sofort Feuer und Flamme dafür.«
»Und gibt die Mittel?!« unterbrach ich Heinrich erregt.
»Wenn die Eltern, von denen er noch abhängig ist, sie ihm bewilligen . . .«
Endlich dem Ziele nah! war der einzige Gedanke, der mich beherrschte; winzig erschienen ihm gegenüber die noch vorhandenen Hindernisse.
Einige Tage später kam Lindner zu uns: ein lang aufgeschossener blonder Mensch, mit kurzsichtig zwinkernden blaßblauen Äuglein und schlaffen, feuchten Händen. Er gefiel mir nicht. Aber ich unterdrückte rasch diese erste instinktmäßige Empfindung.
»Ich möchte den Arbeitern die Kunst nahe bringen,« sagte er im Verlauf unseres schwerfällig sich hinschleppenden Gesprächs.
»Die Freien Volksbühnen erfüllen, wie mir scheint, Ihren Wunsch. Sie haben Tausende von Mitgliedern aus Arbeiterkreisen und leisten Vorzügliches,« antwortete ich.
»So meinte ich es nicht, nein –,« und die Stimme unseres Gastes, die noch den Timbre der Knabenstimme hatte, obwohl er längst über die Entwicklungsjahre hinaus war, wurde lebhafter; »ich dachte, es müßte möglich sein, das Künstlertum im Proletariat zu erwecken, eine neue Kunst – die Kunst der Zukunft – entstehen zu lassen. Ich würde das als meine Aufgabe ansehen.«
Ich musterte ihn genauer: er war gar nicht dumm, er hatte sogar einen originellen Zug.
»Ich glaube nicht recht daran,« sagte ich dann langsam. »Daß die Talente sich durchsetzen, gehört zu den Fabeln der Menschheit. Der harte Kampf ums Dasein erstickt die meisten ihrer Keime. Und die davon doch zur Blüte gelangen, verkümmern schließlich im Dilettantismus. Vielleicht würden die von Ihnen erhofften Talente statt freier Künstler Hörige des Proletariats, wie die Talente, auf die wir vor zehn Jahren hofften, Hörige des Kapitalismus geworden sind . . .«
Mein Junge kam herein und erfüllte das Zimmer im Augenblick mit seiner strahlenden Frische. Wie eine Pflanze, die im Dunkel gestanden hat mit blassen saftlosen Trieben, wirkte Lindner jetzt auf mich. Er tat mir leid, und ich wurde darum weicher. Er erzählte von seinen Eltern. Sie hatten große Hoffnungen auf ihn gesetzt, und daß er sie immer wieder enttäuschte, machte ihn selbst mutlos. Aber jetzt, – jetzt würde er um seine Überzeugung, – um seine Zukunft mit ihnen kämpfen!
Er gewann Vertrauen zu mir. Und wenn er meine instinktive Abneigung immer wieder hervorrief, so überwand das Mitleid mit dieser armen Greisenseele eines Jünglings sie eben so oft. Seine Besuche waren oft recht unbequem. Wie die meisten Menschen, für die die Arbeit nur eine Nebenbeschäftigung ist, hatte er keinen Respekt vor der Zeit. Er fühlte nicht, daß er störte, und wenn man es ihm andeutete, so war er gekränkt. Nur wenn er mit Ottochen spielen konnte, merkte er nicht, daß ich ihn hatte los werden wollen. Er liebte die kleinen Kinder und ließ sich von meinem fünfjährigen Wildfang mit einer Gutmütigkeit tyrannisieren, die rührend war. Oft hörte ich durch die Türe die hellen Kommandotöne meines Jungen.
Mein Bub'! Daß ich nur heimlich, wie aus dem Hinterhalt, sein Geplauder belauschen durfte! Daß ich mir die Stunden für ihn stehlen mußte! Ich war abermals einem falschen feministischen Lehrsatz auf der Spur. Nicht der Säugling bedarf der Mutter am meisten. All die vielen, mechanischen Dienste, die der kleine Körper fordert, versteht eine geschulte Pflegerin besser als sie. Erst der erwachende Geist braucht die Augen der Mutter, die jede seiner Regungen sieht, und ihre Sorgfalt, die allein weiß, welche seiner vielen Triebe beschnitten, welche gestützt, welche der Sonne und dem Wetter ausgesetzt werden können. Und Millionen Frauen dürfen es nicht! Nie erschien mir unsere Gesellschaftsordnung widersinniger: sie zwingt den Staat, Gefängnisse zu bauen für die Verbrecher und Fürsorgeerziehungsanstalten für die verwahrloste Jugend, der sie die Mütter genommen hat.
Sollten wir wirklich darauf warten müssen, bis sich in hundert und aberhundert Jahren der Prozeß der Sozialisierung der Gesellschaft abgespielt hat? War unsere wirtschaftliche und technische Entwicklung nicht heute schon so weit vorgeschritten, um durch eine sozialistische Organisation in Verbindung mit der allgemeinen Arbeitspflicht, die Herabsetzung der Arbeitszeit auf das geringste Tagesmaß zu ermöglichen und den Kindern nicht nur die Mutter, sondern auch den Vater zurückzugeben? In dem leidenschaftlichen Zorn, der mich gegen die Hüter der bestehenden Ordnung erfüllte, konnte ich nicht anders, als sie für Heuchler oder für Dummköpfe zu erklären. Die Frauen galt es, wider sie zu empören! Mutterliebe ist das stärkste Gefühl in der Welt, stärker als die Leidenschaft der Geschlechter, stärker als der Hunger. Einmal von den Fesseln befreit, in die die Tradition sie zwängte, muß sie zum Motor werden, der die Gesellschaft aus den Angeln hebt.
Ich wandte mich in meinen Reden immer mehr an die Frauen. Ich peitschte ihre Empfindung auf; ich erklärte sie für die Schuldigen, wenn ihre Kinder hungerten an Leib und Geist, wenn sie verkamen, wenn die Maschine ihre Jugend zerfraß, wenn sie im Zuchthaus endeten. Der Zolltarif mit seiner Verteuerung aller Lebensmittel, der zu gleicher Zeit die Reichstagsdebatten beherrschte, die Fleischteuerung, die eine Folge der Schließung der Grenzen war, – kurz, die ganze agrarische Reichspolitik, in die die Regierung eingeschwenkt war, boten mir die Handhabe, um an die nächsten Interessen der Frauen anzuknüpfen, an jene Frage, die je nach der Bedeutung, die sie für die Glieder des Volkes hat, ein Gradmesser der Menschheitskultur sein kann: wie sättige ich meine Kinder?
Von einer meiner Versammlungen war ich fast stimmlos zurückgekehrt.
»Sie dürfen weder in Rauch noch in Staub sprechen,« sagte der Arzt wie schon einmal vor Jahren.
Ich lachte ihm ins Gesicht, ließ mir den Hals ein paarmal einpinseln und fuhr nach Schlesien. Mit äußerster Anstrengung gelang es mir, noch zwei Reden zu halten. Dann versagte die Stimme ganz.
Jetzt erklärte der Arzt, daß ich sobald als möglich fort müsse: »In gute reine Luft, am besten ins Gebirge.« Ich schüttelte den Kopf. Wie konnte ich an eine Sommerreise denken?!
»Die Gesundheit geht allem anderen voraus,« sagte mein Mann, »heute noch kannst du packen und morgen in den Alpen sein.«
Die Frage, ob solch eine Reise möglich wäre, schien ihn keinen Augenblick zu beunruhigen.
»Ich kann den Kleinen nicht wochenlang allein lassen –,« wandte ich ein.
»Natürlich: Ottochen nimmst du mit,« antwortete Heinrich ohne Besinnen, »auch diesem Stadtpflänzchen wird das Landleben gut tun.«
Um jene Zeit war mein Schwager Erdmann gestorben. Meine Mutter kam mit Ilse nach Berlin zurück. Ich erschrak, als ich sie sah. Jetzt erst war sie wirklich alt geworden, unauslöschlich hatten sich die Falten der Verbitterung um ihre Mundwinkel eingegraben. Zwischen ihre fest aufeinandergepreßten Lippen kam kein Laut der Klage. Aber wenn Ilse neben ihr stand in all ihrer strahlenden Jugend, mit den Augen, die sehnsüchtig die Sonne suchten nach all dem monatelangen Leid, dann fühlte ich die ganze Qual dieses Zusammenlebens.
Sie kamen häufig allein zu mir, und ich mußte immer wieder zwischen ihnen vermitteln. Endlich faßte ich den Mut, der Mutter ehrlich meine Meinung zu sagen:
»Warum läßt du sie nicht frei? – Viele in ihrem Alter stehen allein in der Welt. Wozu quälst du dich selbst und sie?«
Die Mutter wurde hochrot im Gesicht. »Da sieht man, wohin eure religionslose Moral euch führt!« rief sie. »Nicht genug, daß du im Lande umherziehst und die Frauen gegen Kirche und Staat aufhetzst, wie mir mein Bruder erzählt, du respektierst nicht einmal mehr die selbstverständlichsten Gebote der Mutter- und der Kindespflicht.«
»Nein,« antwortete ich erregt. »Eine Pflicht, die kein Gebot des Herzens ist, eine Pflicht, die sich wie ein antiker Schicksalsspruch durchsetzen will, auch wenn die Menschen dabei zugrunde gehen, erkenne ich nie und nimmer an! – Was Onkel Walter erzählt, sollte dir übrigens nichts Neues sein: du weißt, daß ich Sozialdemokratin bin. Daß meine Agitation ihm jetzt, wo sie sich gegen seine speziellen agrarischen Interessen richtet, besonders antipathisch ist, scheint mir auch nur selbstverständlich.«
»Und ich hatte gehofft, daß die Mutter in dir dich allmählich von diesen Abwegen zurückführen würde –«
»Die Mutter in mir treibt mich vorwärts!« unterbrach ich sie.
»Lehrt sie dich auch jede Familienrücksicht über Bord werfen? Nicht daran denken, wie du alle kompromittierst, die unseren Namen tragen? Wie mein Bruder sich sogar gezwungen sieht, ein Mandat für den nächsten Reichstag nicht mehr anzunehmen?!« Ihr Zorn fing an, mich zu entwaffnen.
»Liebe Mutter, das alles wollen wir, denke ich, nicht wieder aufrühren,« sagte ich ruhig. »Die Verwandten haben sich längst in aller Form von mir losgesagt, und wenn es für mich Familienrücksicht gibt, so ist es allein die auf mein Kind.«
»Gerade an diesem Kind wirst du für all das Unglück, das du über uns gebracht hast, büßen müssen!« rief die Mutter mit funkelnden Augen.
Ich war von dem drohenden Ton ihrer Stimme betroffen. »Was meinst du damit?!« frug ich.
»Solltest du für Otto etwa nicht auf Klotildens Erbe hoffen?« entgegnete sie. »Hat sie dich seit deiner Heirat jemals eingeladen?!«
»Ich stehe dauernd in brieflichem Verkehr mit ihr. Sie hat mir erst kürzlich über meine ›Frauenfrage‹ Worte wärmster Anerkennung geschrieben. Und daß sie mich nicht bei sich sehen kann, begreife ich vollkommen. Ich würde ihre Freunde vertreiben, an denen sie hängt,« antwortete ich ausweichend.
»Nun so laß dir von mir gesagt sein, daß die Berichte über deine agitatorische Tätigkeit sie aufs äußerste empörten. Jenny Kleve kam eben aus Augsburg zurück –«
Ich biß mir heftig auf die Unterlippe. »Jenny Kleve! Allerdings eine gute Quelle! Und eine geeignete Vertreterin meiner Interessen!« spottete ich. »Bist du es nicht gewesen, die alles daran setzte, um zwischen ihr und ihren Geschwistern und Tante Klotilde nähere Beziehungen herzustellen?! Dein eigener Bruder warnte dich damals, dir kein Kuckucksei ins Nest zu legen!«
»Ich habe nur meine Pflicht getan,« erklärte die Mutter.
Tante Klotildens Erbschaft! Der Gedanke bohrte sich mir in Hirn und Herz. Mit einer Sicherheit, die nie auch nur den geringsten Zweifel aufkommen ließ, hatte ich stets auf sie gerechnet. Ich wußte: ihrem geliebten ältesten Bruder, meinem Vater, hatte sie versprochen, für mich sorgen zu wollen; er hatte mir noch kurz vor seinem Tode den Inhalt ihres Testamentes vorgelesen, und hinzugefügt: »Daß ich Deine und Deines Jungen Zukunft gesichert weiß, wird mir das Sterben erleichtern. Habe ich doch selbst gar nicht für Euch sorgen können!« Über manche schwere Stunde hatte die Erinnerung daran mir hinweggeholfen: Mag kommen, was will, mein Kind wird einmal nicht darben! Sollte sie ihr Wort brechen können?! Ein kalter Schauer erschütterte meinen Körper. Ich wußte, wie es tat, an die jämmerliche Notdurft des Lebens ständig denken zu müssen. Wie viele junge Menschen hatte ich aus der Flut des Lebens auftauchen sehen, von einem starken Talent emporgetragen, und nach ein paar Jahren hatte das Bleigewicht der Not sie niedergezwungen!
Mein Sohn sollte sich frei entwickeln können. Ich mußte mich selbst überzeugen, ob die Warnung meiner Mutter berechtigt war.
Mein Mann war böse, als ich davon sprach. »Du wirst dich doch nicht mit den Kleves auf eine Stufe stellen?!« rief er aus. »Unser Junge hat es nicht nötig, daß seine Mutter sich erniedrigt. Er wird stark genug sein, sich selbst durchzukämpfen.«
Ich war so erregt, daß all die verschwiegenen Qualen hervorstürzten wie ein entfesselter Wildbach: »Du freilich wirst nichts davon merken, wenn er sich grämt, gerade so, wie du nicht merkst, nicht merken willst, wie mich die Sorgen niederdrücken. Du schiltst, wenn ich nach deiner Ansicht nicht genau genug auf jeden Wurstzipfel achte, der in die Küche kommt, aber du fragst nicht danach, woher ich das Geld nehme, wenn du keins mehr hast und wir leben wollen!«
Und ich erzählte ihm, wie ich im vorigen Jahr den Verleger um Vorschuß hatte bitten müssen, wie ich mein bißchen Schmuck heimlich aufs Versatzamt getragen hatte. Er wurde ganz blaß, und sein Gesicht nahm jenen harten, kalten Ausdruck an, vor dem ich mich immer fürchtete. Tagelang gingen wir stumm nebeneinander her, während das gezwungene Zusammensein uns stets aufs neue reizte.
»Die Ehe ist doch eine gräßliche Einrichtung,« sagte Heinrich schließlich und reichte mir in versöhnlicher Stimmung die Hand.
Ich nickte eifrig und meinte lächelnd: »Wie stark muß die Liebe sein, um sie auszuhalten!«
»Die besten Freunde müssen einander unerträglich werden, wenn sie Tag und Nacht in denselben Käfig gesperrt sind,« ergänzte er.
»Ich glaube, es ist Zeit, daß wir für ein paar Wochen in Freiheit gesetzt werden,« wagte ich zögernd auszusprechen; – ich erwartete jeden Tag die Antwort von Tante Klotilde auf meinen Brief, in dem ich sie gefragt hatte, ob es ihr recht wäre, wenn ich mit dem Kleinen nach Grainau käme. Ich würde mir eine eigene Wohnung nehmen, – natürlich, – und sie nur besuchen, wenn sie uns sehen wollte. Mein Mann runzelte zwar noch die Stirn, aber er meinte dann doch lachend: »Mach, daß du wegkommst, damit ich die Gattin los werde und die Geliebte wiederfinde.«
Die Antwort kam, – eine kühle, glatte Ablehnung. »Die Welt ist groß,« schrieb sie, »Du brauchst Deine Sommerferien nicht gerade in Grainau zu verleben, wo die Situation für dich, – ganz abgesehen von der meinen, auf die Du ja keine Rücksicht zu nehmen scheinst –, eine wenig gemütliche wäre. Die Bauern würden Dir fremd, wenn nicht feindlich gegenüberstehen. Seit der Dienstbotenbewegung, die Du mit soviel Lärm in Szene setztest, hast Du ihre Sympathie verloren. Deine ständigen Angriffe auf unseren allverehrten Kaiser« – hier hörte ich die Stimme der Kleves, die nur in der Potsdamer Hofluft zu atmen vermochten – »haben den vielleicht noch vorhandenen Rest vollends zerstört . . . Ich bin eine alte, kranke Frau und brauche innere und äußere Ruhe. Im übrigen wird meine Liebe zu Dir durch die räumliche Entfernung eher erhalten, als beeinträchtigt werden . . .«
Was nun? Gab es nichts mehr, das mir den Weg zu ihr bahnen könnte? »Gehen Sie ins Gebirge,« hatte der Arzt gesagt. Wenn ich nun doch reisen würde, – mit dem Kleinen, – irgend wohin nicht allzuweit von Grainau, wo der glückliche Zufall eine Begegnung ermöglichen könnte! Ich war überzeugt: sah sie mein Kind, ihr ganzes Herz würde gewonnen werden!
In Mittenwald, dicht unterm Berg, fand ich bei einem Bauern ein Giebelzimmerchen und die große, bunte Wiese, die ich meinem Liebling versprochen hatte. Den ganzen Tag spielte er dort mit dem kleinen Sohn des Hauses, dem Hansel, und seine weiße Stadthaut bräunte sich, und seine Muskeln wurden straff. Ich saß indessen auf der Altane und schrieb alle möglichen Artikel und freute mich, wenn das Honorar immer wieder eine Woche längeren Aufenthalt möglich machte. Von fernher glänzte und lockte die Zugspitze bis zu mir herüber. Ich sah sie bei Nacht im Mondschein, wenn die Sterne am dunkeln Himmel sich bewundernd um sie scharten. Ich sah sie bei Tage, wenn die Sonne sie inbrünstig küßte und ihr doch nichts zu rauben vermochte von ihrer jungfräulichen Reinheit. Ihr zu Füßen war das Stückchen Erde, das ich liebte, wie keins in der Welt. Wo ich mein Jugendglück fand und – begrub. Ich verstand, daß es Menschen gibt, die vor Heimweh krank werden.
Auf unseren Spaziergängen suchte ich immer die Wege, auf denen ich dem weißen Berge näher kam, und erzählte dem aufhorchenden Kleinen von ihm als der verzauberten Prinzessin und ihrem grauen finsteren Wächter, dem Waxenstein. Dabei wurden mir wohl auch die Augen feucht. »Sei nich traurig, Mamachen,« tröstete mich mein Kind. »Ein großer Held wird kommen und die Prinzessin befreien!«
Einmal, als wir wieder zu dem stillen See aufwärts gingen, plauderte er lustig von den Kühen und den Blumen. Dann wurde er plötzlich still, ein grübelnder Zug trat in sein rundes Kindergesichtchen, und seine Wangen färbten sich dunkler.
»Der Hansel will Kutscher auf'n Stellwagen werden,« begann er unvermittelt; »ist das nicht dumm?!«
Ich nickte zerstreut. Er schwieg wieder.
Als wir uns aber im Walde lagerten, zog er meinen Kopf dicht an den seinen und flüsterte aufgeregt: »Ich muß dir ein großes Geheimnis sagen, – dir ganz allein. Ich will ein Held werden und alle schlechten Leute totschlagen!«
Ich streichelte seinen Lockenkopf. »Das ist nicht leicht, mein Kind,« sagte ich ernst.
»Oh, ich weiß! Aber was man will, das kann man auch!« rief er mit einem hellen Jauchzen in der Stimme. Ich zog ihn zärtlich an mich. Hatte ich es nötig, um ihn zu bangen? Brauchte ich zu fürchten, daß seine Zukunft von der Gunst der harten Frau dort drüben abhängig werden könnte? Ich vergaß allmählich, weshalb ich hierher gekommen war. Ich sah nicht mehr erwartungsvoll die weiße Straße hinauf, wo ich vor Zeiten so oft mit der Tante gefahren war.
Es fiel von meiner Seele wie lauter dunkle Schleier. Die Sonne und die freie Bergluft berührten sie wieder. Zuweilen kam ich mir selbst wie verzaubert vor: als sei all mein Träumen, mein Hoffen und Sehnen aus mir herausgetreten und lebendig geworden in der Gestalt dieses Kindes.
An den Wiesenwegen standen überall Kruzifixe, Wahrzeichen jener Verneinung des Lebens, die uns gelehrt hat, Armut und Unglück nicht als unsre ärgsten Feinde, sondern als gottgewollt anzusehen.
»Ich kann einen angenagelten Gott nicht anbeten,« sagte mein Sohn.
Unser Aufenthalt ging zu Ende. Ich mußte zum Parteitag nach München. Aber ich konnte nicht fort, ohne drüben gewesen zu sein, wo auf dem Hügel die kleine weiße Kirche steht und der grüne Badersee im Walde träumt, mit dem Bilde der Zugspitze im Herzen. Wir fuhren nach Garmisch und wanderten über die Wiesen, an den braunen Heuschobern vorbei, dorthin, wo sich in leisen Wellenlinien das Tal erhebt, Hügel an Hügel von alten Baumriesen bekrönt und blühenden Büschen. Glänzend wie ein Silberstreifen schlängelt sich der Weg durch die Gründe, – braune und rote Dächer tauchen auf, – schon plätschert der Bergbach, der ganz, ganz oben in den Furchen und Spalten dem Felsen entspringt und vom Schnee sich nährt und vom Eis: Das war Grainau –. »Und nun, Bubi, paß auf: nun kommen die blauen und goldgelben Häuser mit den lustigen Heiligenbildern daran und den vielen, vielen Nelken auf den Altanen.«
»Wo denn, Mamachen?!«
Ich sah mit großen Augen um mich. Wo waren sie nur? Die Erinnerung malte mir wohl ihr Bild, aber die Zeit hatte ihre Farben verlöscht, und überall standen neue Häuser mit kalkweißen Wänden, – ohne den heiligen Florian in den Nischen, – blumenlos. Wie verschüchterte Bauernkinder vor den Städtern verkrochen sich die alten scheu in den Winkeln. Ich beschleunigte meine Schritte. Der Wald war derselbe geblieben, und zwischen den Buchenstämmen leuchtete schon der See. Dort wollt' ich stille Andacht halten! – Mein Fuß stockte: ein großes Hotel erhob sich an seinem Ufer. In seine kristallklare Flut hatte man eine Nixe aus Bronze versenkt; auf den Kähnen drängten sich die Menschen um sie und starrten hinunter. Aber den Badersee sahen sie nicht. Der lag ganz still und sah zum Himmel empor in großer, großer Einsamkeit. Und hinter dunkeln Wolken versteckten sich die Berge, als schämten sie sich der Welt unter ihnen.
Ich kämpfte mit den Tränen. Meine Jugend hatte ich gesucht, – war ich nicht statt dessen plötzlich uralt geworden? Ich mochte nichts mehr sehen, auch das Rosenhaus nicht. Aber mein Junge gab nicht nach.
Lange lagen wir auf dem Moose im Wald, den kleinen Rosensee uns zu Füßen, am jenseitigen Ufer das traute grünumrankte Haus. Hier hatte sich nichts verändert. Und all die Bilder von Glück und Leid, die dieser Rahmen einst umschloß, zogen an mir vorüber. Die Jahre zwischen damals und heut wären mir wie ein Traum erschienen, wenn nicht das Kind neben mir mich an die lebendige Gegenwart erinnert hätte. Ich stand auf und reckte den Körper. Der Abschied von diesem Haus, diesem See, diesem Wald war der erste Schritt in das neue Leben gewesen. Ich bereute ihn nicht. Dankbar sah ich noch einmal hinüber. Trotz alledem: dieser Erdenwinkel blieb mein.
Eine weißhaarige Frau, die den schweren Körper nur mühsam am Stock vorwärts bewegte, trat aus der Tür in den Garten. Uns entgegen auf dem schmalen Steg kam hastig ein hellgekleidetes Mädchen. Dicht vor mir blieb sie sekundenlang mit weit aufgerissenen Augen stehen. Es war Jenny Kleve. Dann sah ich noch, wie sie hinüberlief, mit erregten Gesten auf die alte Frau einsprach, und wie diese dem herbeigerufenen Diener eine Weisung erteilte. Ich lachte auf: jetzt hat sie Befehl gegeben, mich nicht vorzulassen, dachte ich; – Jenny Kleve, auf diesen Triumph freust du dich umsonst!
In München erwartete uns Berta, mit der der Kleine nach Berlin zurückreisen sollte.
Hätte ich nur mit ihnen heimreisen können! All der Staub der Stadt, der meine Lunge erfüllt, der grau und schwer die Glut meines Herzens fast erstickt hatte, war vom Bergwind weggeweht worden. Mein Kind, – mein Geliebter, – waren sie nicht der Inhalt meines Lebens? Mein Geliebter, – nicht mein Gatte, an dessen Seite nichts mich zwang als ein Stück Papier. »Die geläuterte Moral der Zukunft wird die Roheit unserer Gesittung nicht verstehen,« schrieb ich an Heinrich, »die die Beziehungen der Geschlechter, wie die zwischen Unternehmer und Arbeiter, zwischen Herrn und Diener, mittelst eines formulierten Vertrages regeln wollte, die die Frau nötigte, als Symbol des Auslöschens ihrer Persönlichkeit, den eigenen Namen mit dem des Mannes zu vertauschen. Liebe sollte immer ein Geheimnis, sein, eins, um das nur die Allernächsten wissen. Die Ehe schreit es in alle Welt hinaus und erzählt zynisch jedem Gassenbuben: sieh, dieses Weib gehört jenem Mann! . . . Ich sehne mich nach Dir. Mit tieferer, heißerer Sehnsucht, als da die Liebe mir nur ein Traum war. Ich möchte untertauchen bis auf den Grund ihres Ozeans, denn mir ist, ich wäre bisher nur auf der Oberfläche gefahren, und in der Tiefe warteten Schätze auf mich von unermeßbarem Wert. Aber wenn ich an unsere laute Straße denke, an die engen Zimmer, in die unsere große Liebe sich sperren ließ, um Magddienste zu tun, – dann sinkt meine Sehnsucht in sich zurück, wie ein Springbrunnen, der eben in Milliarden Wassertropfen der Sonne entgegenflog und nun, da der Gärtner den Hahn abdreht, plötzlich verschwindet . . .« –
»Du hast recht,« antwortete er, »tausendmal recht! Aber glauben kann ich Dir erst, wenn Du Deine Empfindung nicht nur aussprichst, sondern ihr folgst . . . Komm, und wir wollen in irgend einem stillen Winkel, wo uns niemand kennt, Hochzeit feiern wie einst . . . Der Parteitag braucht Dich nicht. Dieser Augenblick jedoch ist vielleicht der einzige, der in uns beiden die Erinnerung an die Ehe auslöscht . . .«
Aber ich ging nicht. Ich war unfrei. Nie hätte ich es mir eingestanden, und doch war es so: ich stand, wie die Mutter, noch unter dem kalten Gesetz der Pflicht. Ich durfte die Aufgabe nicht im Stiche lassen um meiner Wünsche willen! Am wenigsten jetzt, wo ihre Erfüllung mir widerstrebte.
Wie schön hatte ich es mir einst gedacht, wenn zu den Kongressen der Partei die Gesinnungsgenossen von Ost und West, von Nord und Süd zusammenkommen würden, ungleich nach Beruf und Alter und Geschlecht, und doch ein einiges Heer, von derselben Kraft durchdrungen, von demselben Willen beseelt, neue Kreuzfahrer, die auszogen, der Menschheit heiliges Land zu suchen. Und jetzt?
Schon im Hotel, wo die meisten Delegierten untergekommen waren, musterte man sich mißtrauisch, begrüßte sich kühl. Und Gruppen bildeten sich, die berieten, ob und wie man die Ansichten der anderen Gruppen überstimmen könne.
Dem Parteitag ging eine Frauenkonferenz voraus. Als ich in den Kreis der fünfundzwanzig Genossinnen trat, fühlte ich die abweisende Kälte, die mir entgegenströmte. Nur Ida Wiemer schüttelte mir herzhaft die Hand. »Was sagen Sie nur zu dieser Tagesordnung?!« flüsterte sie erregt.
Ich lachte spöttisch: »Sie wollen offenbar in anderthalb Tagen die ganze Frauenfrage lösen. Arbeiterinnenschutz, Kinderschutz, gesetzliche Regelung der Heimarbeit, politische Gleichberechtigung, – ein imponierendes Programm! Es ist ja aber auch eine hübsche Zahl von Jasagern beisammen. Die schlucken die Resolutionen unbesehen.«
»Aber Krach gibt's auch,« antwortete Frau Wiemer. »Ihnen müßten die Ohren geklungen haben, so giftig ist die Bartels auf Sie.«
»Auf mich?! Ich habe ja gar nichts getan!« meinte ich verwundert.
»Aber die düsseldorfer Genossinnen haben einen Antrag auf Anstellung einer Parteisekretärin eingebracht. Man meint, Sie müßten dahinterstecken –«
Darum also die bösen Gesichter!
»Und dann: daß Sie als Einzige von uns morgen im Kindlkeller sprechen!«
Darum also die gekränkten Mienen!
Die arme Düsseldorferin wußte offenbar nicht, in was für ein Wespennest sie mit ihrem Antrag gestochen hatte, und konnte die Erregung, die er hervorrief, nicht begreifen. Ich kam ihr zu Hilfe und goß nur Öl ins Feuer. Alles fiel über uns her. Martha Bartels sah in dem Antrag ein Mißtrauensvotum gegen ihre Tätigkeit als Zentralvertrauensperson und spielte die persönlich Gekränkte, Luise Zehringer gab der offenbar allgemeinen Meinung, wonach ich mir auf diese hinterlistige Weise eine fette Pfründe schaffen wollte, drastischen Ausdruck, indem sie mit einem wütenden Blick auf mich erklärte:
»Die Genossinnen, die nur ab und zu von sich hören lassen, sonst aber praktisch gar nicht arbeiten, können wir für solche Stelle nicht brauchen. Die haben unser Vertrauen nicht.«
Dabei begann sie krampfhaft zu schluchzen und kreischte, wie ich es von ihr noch nie gehört hatte. Aller Klang und alle Weichheit waren aus ihrer Stimme verschwunden. Ob das das unausbleibliche Schicksal aller Agitatorinnen war?!
Die Bartels sekundierte ihr: »Uns können nur Frauen nützen, die Fleisch von unserem Fleische sind . . . Keine akademisch gebildeten Damen, die nur mal, um sich zu zeigen, ab und zu in einer großen Versammlung einen Vortrag halten –.« Ich stand dicht vor ihr und sah ihr gerade ins Gesicht. »Solche Paradepferde können wir nicht brauchen,« schrie sie.
Mein Nachbar, ein belgischer Genosse, schüttelte verwundert den Kopf: »Es scheint, die ganze Konferenz richtet sich gegen Sie. Was haben Sie nur getan?!« fragte er.
»Ist's nicht Verbrechen genug, daß ich überhaupt da bin?!« antwortete ich bitter.
Als im weiteren Verlauf der Debatte die Frage des Arbeiterinnenschutzes besprochen wurde, nahm ich die Gelegenheit wahr, abermals die Forderungen einer umfassenden Mutterschaftsversicherung zu verteidigen. Ein paar Beifallsrufe wurden laut, die meisten der Frauen jedoch, ihr Leben lang gewohnt, sich unterjochen zu lassen, waren durch die Anwesenheit so anerkannter Parteiautoritäten, wie Wanda Orbin und Martha Bartels, viel zu verschüchtert, als daß sie ihnen hätten opponieren können. Kaum hatte ich geendet, als Wanda Orbin sich zum Worte meldete.
Sie sprach mit einer Leidenschaft, als gelte es, die höchsten Prinzipien des Sozialismus zu verteidigen, und mit einer Stimme, als hätte sie eine Riesenvolksversammlung vor sich: »Der Gedanke, welcher der Mutterschaftsversicherung zugrunde liegt,« sagte sie, »ist der Gedanke der menschlichen Solidarität in seiner weitesten Form. Die Verwirklichung dieses Prinzips aber steht in so schreiendem Gegensatz zu dem Wesen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, daß wir sie auf ihrem Boden nicht erreichen werden . . . Sie kann erst zur Verwirklichung gelangen, wenn das Recht des lebenden Menschen über den toten Besitz zur Geltung gebracht sein wird, – in einer sozialistischen Gesellschaft . . .« Ihre Stimme überschlug sich, Schweißtropfen standen auf ihrer Stirn. Von allen Seiten klatschte man enthusiastisch.
»Bisher hat es nur als ein Kennzeichen der bürgerlichen Frauenbewegung gegolten, aus Opportunitätsgründen möglichst wenig zu fordern, um überhaupt etwas zu erreichen,« antwortete ich in ruhigem Gesprächston. »Wir verlangen im Gegenteil Alles, und nehmen nur als Abschlagszahlung, was davon stückweise errungen wird. Haben wir etwa jemals aufgehört, für den Achtstundentag zu agitieren, weil der Gegenwartsstaat ihn nicht gewähren wird? Mit noch größerem Recht können wir von ihm die Mutterschaftsversicherung fordern, denn ein gut Teil ihrer Ziele muß er im eigensten Interesse verwirklichen. Er braucht gesunde Mütter, arbeitsstarke Männer, kriegstüchtige Rekruten.«
Wanda Orbin erhob sich noch einmal. »Die Forderung der Mutterschaftsversicherung ist durchaus nicht so radikal sozialistisch, wie Frau Brandt meint . . .,« rief sie. Ringsum klatschte man wieder. Weder sie noch ihre Zuhörerinnen hatten bemerkt, daß sie, um mir zu widersprechen, sich innerhalb weniger Minuten selbst widersprochen hatte.
Als ich ins Hotel zurückkam, müde und verärgert, trat mir überraschend mein Mann entgegen. Ich errötete dunkel. Er küßte mir nur die Hand.
»Ich wußte, daß du Kämpfe haben wirst,« sagte er, »und daß ein Freund dir fehlen könnte.« Mit tiefer Dankbarkeit sah ich ihm in die Augen.
Der Geist, der in der Frauenkonferenz umgegangen war, herrschte auf dem Parteitag.
»Wir brauchen die Akademiker nicht!« war die Parole, unter der er stand. »Wenigstens die nicht, die sich erlauben, eine andere Meinung zu haben als wir.«
Ein Antrag besonders war von symptomatischer Bedeutung; er verlangte nichts weniger, als daß die Mitglieder der Partei verpflichtet werden sollten, Kritiken über schriftliche oder mündliche Äußerungen von Parteigenossen nur in Parteiblättern, das heißt solchen Zeitungen und Zeitschriften, die der Parteikontrolle unterstehen, zu veröffentlichen. War es nicht ein grotesker Widerspruch zu den grundlegenden Prinzipien der Partei, daß solch ein Antrag auch nur ernsthaft diskutiert werden konnte? Daß es Sozialdemokraten gab, die die »Einheitlichkeit der Partei« dazu mißbrauchten, um die Meinungsfreiheit niederzuknütteln?
»Ich habe geglaubt, die Leute hätten sich in der Adresse geirrt,« sagte Vollmar und reckte sich zu seiner ganzen Riesengröße auf, sodaß er turmhoch und turmsicher über der brandenden Woge der Menge stand. »Das ist ein Antrag für die Zentrumspartei, für die Kirchenorgane mit dem Zensor obenan, wo nur eine Meinung gilt. Es genügt nicht, ihn zu bekämpfen, ihn niederzustimmen. Bis auf seine Wurzeln, gilt es, ihn zu verfolgen, sonst kehrt er in der und jener Form alljährlich wieder und überwuchert unser Erdreich. Es ist der ewige Geist der Kontrolle, der Geist der Kasernenhofdisziplin, dem er entspringt. Und gegen ihn müssen wir uns wenden. Nicht die freie Meinung unterdrücken, was eine Schwäche verraten würde, die nur dem Tode, das heißt der Versteinerung einer Bewegung vorangehen kann, sondern sie fördern, ist unsere Aufgabe. Sollte der Versuch unternommen werden, selbständige Menschen mundtot zu machen, so wäre der kein echter Sozialdemokrat, der es fertig bekäme, sich solcher Zensur zu unterwerfen. Es wäre wahrhaftig nicht der Mühe wert, die Fesseln der bürgerlichen Gesellschaft von sich zu werfen, um sie nur mit neuen zu vertauschen!«
Ich sah mich um im Saal. Es waren nur bestimmte Gruppen, die Beifall klatschten. Reihenweise saßen die Genossen an den langen Tafeln mit verschlossenen oder gleichgültigen Mienen. Unwillkürlich lief mir ein Schauer über den Rücken. Die »Diktatur des Proletariats«, – wird sie die Freiheit sein?
»Sie würde ein rasches Ende nehmen, wenn sie etwas anderes wäre,« sagte einer unserer Genossen, als wir am Abend zusammen waren und ich die Frage ausgesprochen hatte.
Während der letzten Tage des Kongresses, deren Verhandlungen sich um die praktischen Fragen der Arbeiter-Versicherung und der Kommunalpolitik drehten, legten sich die Wogen der Erregung wieder. Und als August Bebel von den kommenden Reichstagswahlen sprach und seine braunen Jünglingsaugen unter dem grauen Haarschopf immer feuriger glänzten, je drastischer seine Darstellung der inneren und äußeren politischen Lage wurde, je weitgehendere Hoffnungen er für den Wahlkampf daran knüpfte, da jubelte alles ihm einmütig zu; jener zündende Funke der Begeisterung sprang von einem zum anderen, derselbe Funke, den eine Kriegserklärung für alle waffenfähigen Männer bedeuten mag. Sie werfen ihr Werkzeug beiseite, sie treten in Reih und Glied, und zum guten Kameraden wird der Nachbar, mit dem sie eben noch in kleinlichem Hader lebten.
Noch erging sich die bürgerliche Presse in langatmigen Betrachtungen über den »Bruderzwist« in der Partei, um Hoffnungen für ihre Sache daraus zu schöpfen, und schon standen wir in Reih und Glied dem gemeinsamen Feind gegenüber.
Am Tage unserer Rückkehr nach Berlin ging ich zur Mutter. Drei Monate hatte ich sie nicht gesehen. Ihre Briefe, die kurz und freudlos waren, ließen mich nichts Gutes ahnen. Sie wohnte mit Ilse in einer Pension am Lützow-Ufer. Als ich aus dem hellen Tageslicht in das dunkle Zimmer trat, – die Häuser hier traf nie ein Sonnenstrahl, – löste sie sich langsam, wie ein Schatten, aus dem tiefen Stuhl, in dem sie gesessen hatte. Ihre Hände nur leuchteten weiß und überschlank aus dem schwarzen Ärmel des Kleides. Sie war sehr verändert.
Streifen weißen Haares zogen sich durch ihre blonden Scheitel. Auf ihrem schmalen Gesicht wechselte fahle Blässe mit fliegender Röte. Die Pupillen in ihren Augen standen keinen Augenblick still. Ein Gefühl von Zärtlichkeit überkam mich. Ich küßte ihre beiden Hände.
»Es ist nicht leicht –,« sagte sie.
»Was denn, Mamachen?« fragte ich so sanft, als hätte ich eine Kranke vor mir.
»Weißt du noch, wie ich Ilse die Stiefel zuschnürte, als sie ein Kind war? Vor ihr auf den Knieen, – nur damit sie sich nicht bücken sollte?« begann sie langsam, traumverloren. »Dann pflegte ich ihren Mann zu Tode, – und nun läßt mir die Angst keine Ruhe, daß sie wieder in ihr Unglück rennt –« Sie ließ sich nicht beruhigen. Es war, als ob eine fixe Idee sie beherrschte.
Eines Abends schickte Ilse nach mir.
»Um Gottes willen – rasch –,« rief sie mir schon vor der Haustür entgegen, »ich fürchte mich so!« Oben fand ich die Mutter im Bett zusammengekauert, die Augen starr ins Wesenlose gerichtet. »Hans – Hans – tu mir nichts!« wimmerte sie. »Du hast ja mein Versprechen –« Und dann streckte sie wie lauschend den Kopf vor. »Hier meine Hand darauf –« flüsterte sie ruhiger werdend, und ihre weißen Finger griffen in die leere Luft, um etwas zu umschließen, das niemand sah als sie.
Der Arzt erklärte ihren Zustand für Nervenüberreizung und verlangte die Trennung von Mutter und Tochter. Aber erst nach Wochen voller innerer und äußerer Qualen ließ sie sich überreden, ohne Ilse nach Montreux zu gehen. Ich hatte ihr versprechen müssen, die Schwester zu mir zu nehmen, und sie selbst überwachte noch ihre Übersiedlung in eine zufällig leere Wohnung neben uns.
Es war um die Weihnachtszeit; jene Zeit voller Geheimnisse und voller Freuden; jene Zeit, die ein Gott der Liebe wirklich geweiht zu haben scheint. Ich hatte dann immer alle Hände voll zu tun. In den Laden gehen und kaufen, das kann jeder, der einen vollen Beutel hat, auch im Alltag des Jahres. Aber den Wünschen derer, die man liebt, nachspüren, und sie mit eignen Händen zu erfüllen suchen, das kann nur, wer Festtagsstimmung hat.
Eine Götterburg baut' ich meinem Buben auf mit Wodan und Baldur, mit Loki im roten Feuerkleid und den Walküren in Schwanengewändern. Stets fehlte noch irgend was: ich mußte weit umherlaufen, um die Silberflügel für die Helme der Schlachtjungfrauen oder den goldenen Eber für Freyrs Wagen zu finden. Und ich war so müde, so schrecklich müde! Es war, als ob mein Körper täglich schwerer auf den Füßen lastete. Endlich war alles fertig. Ich lag erschöpft auf dem Sofa.
Wie schwach mir war und wie glühend heiß dabei! Mit einer letzten Kraftanstrengung schlich ich ins Schlafzimmer und legte mir den Fieberthermometer unter den Arm: 39½; – Ich rief nach Berta und schickte zum Arzt. Dann wußte ich nichts mehr von mir.
Erst allmählich sah ich schattenhaft Gestalten um mein Bett – Heinrich – den Arzt – die Pflegerin in der weißen Haube und – die Mutter! Wie hatte man sie nur rufen können, die arme, kranke Frau?! Oder, – eiskalt packte mich die Angst, – sollte ich sterben müssen?! Ich durfte doch gar nicht! Ich mußte den Weihnachtsbaum putzen für mein Kind! Unaufhaltsam liefen mir die Tränen über die Wangen.
Ich genas. Auf dem Sofa lag ich jetzt wieder, und über meine Decke ließ Ottochen alle Götter und alle Walküren reiten.
»Wie kam es nur,« wandte ich mich zur Mutter, die, noch schmaler geworden, im Stuhl neben mir lehnte, »wie kam es nur, daß du so plötzlich hier warst? Heinrich gab mir sein Wort, daß er dir nichts von meiner Erkrankung geschrieben hat, – und Ilse auch.«
Ein stilles Lächeln glitt über ihre Züge.
»Nein, niemand schrieb mir, – aber ich sah, daß der Tod neben dir stand. Ihr mögt noch so sehr zerren wie an einer Kette, das Band zwischen Mutter und Kind ist stärker als Ihr.«
Am nächsten Tage reiste sie ab. Sie hatte den alten schwarzen Mantel an, den ich seit Jahren an ihr kannte, und auf ihrem dunkelgrauen Hut saß ein kleiner grünschillernder Käfer, – ich weiß noch alles ganz genau. An der Tür zögerte sie und sah mich an, – mit einem langen, langen Blick. Ich wollte mich aufrichten und sie noch einmal umarmen. Aber ich war viel zu schwach dazu.