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Ich stand in Wien auf der Rednertribüne des Ronachersaals und verneigte mich noch einmal vor dem applaudierenden Publikum. Ich wußte: ich hatte nicht gesprochen wie sonst. Schon als der Vorsitzende mich an den dichtgedrängten Reihen vorbeigeführt hatte, an den eleganten, graziösen Frauen, deren Toiletten nicht wie die der Berlinerin dazu da zu sein schienen, die Trägerin unter der Last des Glanzes vergessen zu machen, sondern ihre Individualität betonten, ihre Reize unterstrichen, an den jungen und alten Herren im Frack und Smoking mit den geschmeidigen Gestalten und dem süffisanten Lächeln des Weltmanns, war mir der Kontrast zwischen dem kühlen Ernst meines Vortrags und dieser Umgebung zum Bewußtsein gekommen. Dann war ein Wogen von bunten Hüten, ein Knistern von seidenen Kleidern, ein Funkeln von Brillanten unter mir gewesen. Operngläser aus Silber und Perlmutter hatten sich auf mich gerichtet, und um das mattschimmernde Rokokoornament an den Decken und Wänden des reizenden Konzertsaales hatte ein feiner, zarter Nebel geschwebt, gewoben aus Zigarettenrauch und Parfüm.
Ich stieg die Stufen hinab. Man klatschte noch immer. Ich mußte wohl so etwas wie eine neue Sensation gewesen sein, wie sie in Gestalt von Sängern, Taschenspielern und Diseusen auf dieser Tribüne gewöhnlich zu erscheinen pflegte.
»Ich gratuliere Ihnen –,« sagte eine dunkle Stimme neben mir. Nur ein Mann in der Welt hatte solche Stimme! Es war Brandt. Und als meine Hand in der seinen lag, war mir, als stünde ich allein mit ihm hoch auf einer Felseninsel und in der Ferne nur brandete das Meer der Welt.
»Sie in Wien, – meinem geliebten Wien, und ich nicht neben Ihnen, – es kam mir absurd vor,« hörte ich ihn leise sagen. Aber schon sah ich den Kreis, der sich um uns gebildet hatte: Menschen, die warteten, mich begrüßen zu können, mir vorgestellt zu werden, der Vorstand der Fabier, der mich zum Essen geladen hatte. Ich gewann meine Fassung wieder, und während mein Herz hoch aufschlug vor Freude, hatte ich das Bedürfnis, gegen alle, die sich mir näherten, doppelt und dreifach freundlich zu sein.
In einem halbdunkeln verräucherten Kaffee spät am Abend trafen wir uns wieder. Brandt erwartete mich mit Dr. Geier, seinem Schwager, dem Führer der österreichischen Sozialdemokratie, und einem Kreis von Parteigenossen, die mitten in einer Debatte jäh verstummten, als ich eintrat. Sie hatten sich offenbar gezankt, was ich mit der ganzen Empfindlichkeit der Frohgelaunten sofort empfand. Man stand auf, man begrüßte mich, aber meine Anwesenheit wirkte sichtlich störend. Eine kleine brünette Frau mit glänzenden braunen Augen fühlte das Peinliche der Situation und zog mich auf einen Stuhl neben sich.
»Ich bin Adelheid Popp,« sagte sie einfach, »ich habe mich so an Ihrem Vortrag gefreut und wünschte nur, unsere Arbeiterinnen hätten ihn hören können.« »Das hätte ich auch gewünscht, – er wäre dann besser gewesen,« antwortete ich. Ihre Augen lachten mich an. »Wissen Sie was?!« rief sie lebhaft. »Wiederholen Sie ihn in einer Volksversammlung!« Mit freudiger Zustimmung schlug ich in die dargebotene kleine, warme Hand. »Aber garantieren kann ich nicht, daß es derselbe Vortrag wird!« Wir vertieften uns in ein Gespräch, und ich erfuhr, daß diese zierliche Frau eine arme Arbeiterin gewesen war, von dem Augenblick an aber, wo sie der Sozialismus gewonnen hatte, zu einer begeisterten Vorkämpferin der Arbeiterbewegung sich entwickelt habe. Ganz anders war sie wie unsere deutschen Frauen: heiter und gutmütig, ohne eine Spur jener steifen Zurückhaltung, die daheim all meinem Entgegenkommen zu spotten schien. »Sie sollen mal schauen, was in Wien eine Volksversammlung heißt!«
Das Gespräch der anderen hatte indessen da wieder angeknüpft, wo ich den Faden zerrissen hatte. Ich hörte zu.
»Ist es nicht unerhört für einen praktischen Politiker, sich auf Seite der breslauer Hundertachtundfünfzig zu stellen und einen blutleeren Theoretiker wie Kautsky zu verteidigen?!« rief Brandt, während die dunkeln Brauen sich ihm eng zusammenzogen und die Augen dem Gegner zornig entgegenblitzten.
»Bist du vielleicht in deiner gegenteiligen Stellung zur Agrarfrage weniger Theoretiker als er?!« spöttelte Geier. »Die Güter, auf denen du dir die Sporen des Praktikus verdient hast, liegen doch auf dem Monde!« Mit einer entschuldigenden Gebärde wandte er sich mir zu. »Verzeihen Sie, wenn wir uns auch in Ihrer Gegenwart noch mit so uninteressanten Dingen beschäftigen –«
»Sie brauchen sich vor mir nicht zu entschuldigen,« antwortete ich, »mich haben die Verhandlungen des breslauer Parteitags lebhaft interessiert, und da ich leider bis heute noch nicht weiß, auf welcher Seite ich stehe, so höre ich Debatten wie den Ihren besonders gerne zu.«
Und nun wogte der Streit wieder hin und her. Brandt verteidigte die von der Mehrheit des breslauer Parteitages abgelehnten Vorschläge der Agrarkommission, als »notwendige Forderungen der Gegenwartspolitik«, als ein erfreuliches Zeichen für die wachsende Erkenntnis, daß eine Partei von der Größe der deutschen Sozialdemokratie die Interessen weiterer Volkskreise vertreten müsse, als nur die der Industriearbeiter. »Übrigens, was zanken wir uns, lieber Viktor?« meinte er schließlich und warf mit einer hochmütigen Geste den Kopf zurück. »Du wärst der Erste, die Vorschläge nicht nur zu akzeptieren, sondern selbst zu machen und gegen alle Welt zu verteidigen, oder – wie Schönlank treffend sagte – eine Revision der Vorstellungsweise in der Partei herbeizuführen, wenn du in die Lage versetzt würdest, Landagitation treiben zu müssen.«
Geier hieb wütend auf den Tisch, daß die Tassen klirrten und der Kellner, der verschlafen an einer Säule lehnte, erschrocken die Augen aufriß und dienstfertig die Serviette schwenkte. »Da liegt doch gerade der Hase im Pfeffer: ich bin eben nicht in der Lage und Ihr, trotz Eurer anderthalb Millionen Stimmen auch nicht! Konzentriert doch Eure Werbekraft auf die Millionen Lohnarbeiter, die Euch noch fehlen, und laßt Eure Enkel sich über die höhere Bauernfängerei den Kopf zerbrechen! Was du praktisch nennst, ist eben unpraktisch im höchsten Grade. Das Aufrollen dieser schwierigen und gänzlich unaufgeklärten Fragen, – ob die Konzentration des Kapitals in der Landwirtschaft sich nach denselben Gesetzen vollzieht wie in Industrie und Handel oder nicht, ob wir daher mit der Proletarisierung der Bauern oder mit der Vermehrung der ländlichen Kleinbetriebe zu rechnen haben werden, – all das noch dazu auf einem seiner ganzen Zusammensetzung nach inkompetenten Parteitag, ist nur geeignet, die Parteigenossen zu verwirren. Über theoretischem Gezänk, das Ihr Reichsdeutsche so liebt, wird ein gut Teil praktischer Arbeit zum Teufel gehen –«
»Und glaubst du etwa, die Annahme der lendenlahmen Resolution Kautsky, die die Agrarfrage doch nicht aus der Welt schafft, sondern ihre Lösung nur auf die lange Bank schiebt, wird dies Gezänk verhindern? Im Gegenteil! Die Bebel und Schönlank und David werden sich nicht mundtot machen lassen,« entgegnete Brandt.
Geier schüttelte ärgerlich den großen Kopf mit den wirren blonden Haaren. »Bebel wird sich dem Beschluß des Parteitages fügen; – die anderen freilich, geborene Krakehler, getrieben durch den eigentlichen geheimen Generalstabschef des ganzen Feldzuges, Vollmar, werden die Parteidisziplin ihrer Rechthaberei opfern.«
Die Diskussion der leidenschaftlichen Männer fing an, mich zu beunruhigen, – nicht ihrem Inhalt, wohl aber ihrer Form nach. Ich hatte Brandt noch nie so erregt gesehen, und etwas wie Furcht befiel mich. Kurz entschlossen erhob ich mich.
»Verzeihen Sie, wenn mein Weggehen Sie stört wie mein Kommen, aber ich bin sehr müde.« Alles brach auf, sichtlich erleichtert. Kalter Regen, mit kleinen spitzen Schneeflocken gemischt, schlug uns ins Gesicht, als wir heraustraten. Menschenleer war's in den engen Gassen. Ist das wirklich Wien, die Kaiserstadt? dachte ich fröstelnd. Geier und Brandt begleiteten mich; wir verabredeten allerhand für den nächsten Tag. Ich erzählte von den verschiedenen Einladungen, die ich bekommen hatte.
»Zu den Protzen werden Sie doch nicht gehen, die nur Staat mit Ihnen machen wollen?!« Brandts Stimme klang grollend, wie ferner Donner, und sein Blick ruhte beinahe drohend auf mir. Und doch erschrak ich nicht; es lag im Ton etwas, das mir das Blut in Wallung brachte, etwas, das klang, wie ein Besitzergreifen. »Bist du Frau von Glyzcinskis Vormund?« brummte Geier.
»Verzeihen Sie mir meine Heftigkeit –,« flüsterte Brandt, und im raschen Wechsel seines Mienenspiels hatte seine Stirn sich wieder geglättet, war sein Auge wieder klar geworden. Ich senkte stumm den Kopf.
Zögernd, als fesselten sie magnetische Kräfte, glitten unsere Hände auseinander. Er betrat mit mir das Hotel. »Du – wohnst auch hier?!« sagte Geier überrascht.
Ich schlief nicht in dieser Nacht. Es lag schwer und dumpf auf mir, und ich wollte – wollte nicht denken.
Wir fuhren am nächsten Morgen zusammen nach Schönbrunn.
Alle Einladungen hatte ich abgelehnt.
Graue Spätherbststimmung beherrschte die Natur. Die letzten Blätter rieselten von den Bäumen, ohne daß ein Windhauch sich regte.
Im freien Walde sind selbst die dunkeln Tage schön: des Laubes beraubt, reckt sich nackt und kraftvoll das starke schwarze Geäst gen Himmel, ein wundervoller Teppich vom hellsten Gelb bis zum tiefsten Rot in halb verblichenen weichen Farben spielend, breitet sich unter ihm aus. Aber die Gärten, die des Menschen Kunst gestaltet, starren uns an wie der Tod. Sie leben nur, wenn im Rasenteppich die bunten Beete blühen, wenn das Laub der geschnittenen Hecken und der Kugelbäume die armen krummen, um ihr natürliches Wachstum betrogenen Ästchen dicht umkleidet, wenn von den Terrassen herunter, aus den Tritonenbecken empor das Wasser rauscht und springt, und die Sonne sich lachend in den Scheiben der Schloßfenster spiegelt. Dann spielen, wie große Schmetterlinge, Kinder in hellen Kleidern auf den breiten gelben Kieswegen, sodaß der Garten voll Freude sogar der schönen Damen in Reifrock und Puderperücke vergißt, die einst mit dem graziösen Geschwätz ihrer roten Lippen und dem lustigen Klappern ihrer Stöckelschuhe seine Gänge belebten.
Heute waren wir allein, zwei graue Gestalten, zwischen blätterlosen Laubengängen und schlafenden Fontänen.
»Sie sind so blaß,« sagte Brandt, »der Heimweg gestern im Schnee hat Ihnen geschadet –.« Ich schüttelte den Kopf. »Meine Roheit hat Sie verletzt?« Ich sah zu ihm auf, aber das Lächeln, das ich ihm zeigen wollte, erstarb mir auf den Lippen. So müde, so traurig war sein Blick. In dem meinen blieb er hängen. Es war wie ein Abschiednehmen.
»Ich habe es mir überlegt, stunden-, nächtelang,« kam es tonlos über seine Lippen, »ich muß fort von Berlin – mit meiner Fr . . . –,« er stockte, »mit Rosalie –,« verbesserte er sich hastig, »bis – bis die Entbindung vorüber ist. Es ist besser, – besser für uns alle.«
»Ja,« sagte ich, die Kehle schnürte sich mir zusammen.
Dann gingen wir. Wo waren wir doch nur noch an diesem Tage? Ich entsinne mich nicht. Meine Augen nahmen Bilder auf, von denen meine Seele nichts wußte.
Später trafen wir wieder irgendwo in einem Kaffee mit Geier zusammen. Es kamen noch allerlei Menschen, die ich an meinem Vortragsabend gesehen hatte, sie gingen mit kühlem Gruß und vieldeutigem Lächeln an uns vorüber.
»Du siehst,« hörte ich Geier leise sagen, während er mich in die Zeitung vertieft glaubte, »zum mindesten hättest du nicht im selben Hotel mit ihr wohnen dürfen.« Brandt fuhr auf. Flehend sah ich zu ihm hinüber. Er schwieg. Die Kellner brachten die Abendblätter. »Na, da haben wir's ja,« rief Geier, nachdem er sie rasch überflogen hatte, und stürzte mit einem kurzen Gruß davon in seine Redaktion.
Ich las: »Aus Berlin wird uns soeben mitgeteilt: Nachdem seit einiger Zeit die politische Polizei eine fieberhafte Tätigkeit entwickelte und Haussuchungen umfassender Art bei fast allen bekannten Mitgliedern der sozialdemokratischen Partei stattfanden, bringt der Reichs- und Staatsanzeiger heute folgende Bekanntmachung: ›Es wird hiermit zur öffentlichen Kenntnis gebracht, daß nachstehende Vereine: die sechs sozialdemokratischen Wahlvereine, die Preßkommission, die Agitationskommission, die Lokalkommission, der Verein öffentlicher Vertrauensmänner, der Parteivorstand der sozialdemokratischen Partei Deutschlands auf Grund des § 8 des Versammlungs- und Vereinsrechts vorläufig geschlossen sind.‹«
Kurz vor der Volksversammlung, in der ich sprechen sollte, besuchte ich Geier in seiner Redaktion, engen, halbdunklen Räumen im Souterrain eines alten Hauses. Von fast undurchdringlichem Tabaksqualm war sein Zimmer gefüllt, das den merkwürdigen Mann, der grundhäßlich war und hinreißend schön sein konnte, der stotterte und doch der glänzendste Redner war, phantastisch umwogte. »Ich habe nur eine kurze Frage an Sie,« sagte ich, – nichts war ihm widerwärtiger, wie überflüssiges Weibergeschwätz, – »ich möchte in die Partei eintreten, – was halten Sie davon?«
Er sah mich prüfend an, von oben bis unten, strich sich mit der feinen Hand den wirren rotblonden Schnurrbart und zuckte die Achseln. »Bleiben Sie draußen,« antwortete er schroff, »eine Krokodilshaut gehört dazu, – ich zweifle, daß Sie die haben –«
»Und wenn ich sie hätte?!«
»Dann, – ja dann tragen Sie wie wir Ihre Knochen auf den Markt der Partei –.« Er reichte mir mit kurzem Kopfnicken die Hand, – ich war entlassen.
Und wieder stand ich auf der Rednertribüne, vor mir ein großer Saal, nüchtern wie eine Scheune, von flackernden Gasflammen erhellt. Von rechts und links strömten die Menschen herein: junge und alte Frauen in Kopftüchern und Schürzen, die verfrorenen roten Hände andächtig gefaltet, Männer in Arbeitsblusen, tiefen Ernst auf den durchfurchten Gesichtern. Sie richteten alle die Augen auf mich, staunend, fragend, erwartungsvoll. Kopf an Kopf drängten sie sich um die schmale, niedrige Stufe, die mich über sie emporhob. Sie kauerten zu meinen Füßen, eng aneinandergeschmiegt: ein kleines Fabrikmädchen mit zerzaustem Blondhaar, ein junger Mann mit den klassischen Römerzügen des Südtirolers, ein altes Mütterchen, die welke Hand horchend hinter das Ohr gelegt. Und mir war, als wölbe sich der niedrige Saal zum Dom; als träten die Abgesandten der Menschheit durch seine hohen weitgeöffneten Pforten. Tiefe, demütige Andacht erfüllte mich. Die Welt, die draußen war, versank. Denen, die mich umringten, gehörte von dieser Minute an meine Kraft und meine Hoffnung. Daß ich mich ihnen gab: meinen Arm den Schwachen, meine Beredsamkeit den Stummen, meinen an Gipfelwanderungen gewohnten Fuß den Lahmen, und den Blinden mein Auge, das die Befreiung sah, – das war dieser Stunde stilles Gelöbnis.
»Genossen und Genossinnen –« Hell und scharf, wie ein Schlachtruf, klang meine eigene Stimme mir ins Ohr. Der Jubel der Menge umbrauste mich, während ich weiter sprach. Das blasse Gesicht des kleinen Fabrikmädchens vor mir fing an zu glühen, dem alten Mütterchen rollten die Tränen über die welke Wange und die klassischen Römerzüge des Tirolers strafften sich in eiserner Energie.
Als ich geendet hatte, war es sekundenlang still, – dann eine Beifallssalve, zahllose Händedrücke von schwieligen Fäusten, und lauter und lauter anschwellend der Kriegsgesang der Arbeitermarseillaise. In ihrem Takt schob sich die Menge hinaus, auf der Straße klang sie fort, zog mit den Wandernden rechts und links in die nachtstillen Gassen, und auf dem ganzen Heimweg verfolgte mich ihre Melodie: aufreizend, siegesbewußt.
Einen Tag später als Brandt kam ich nach Berlin zurück. Er empfing mich am Bahnhof, bleicher, übernächtiger als je. Wir fuhren zusammen nach der Kleiststraße, wo wir nun schon zwei Monate wohnten, er mit seiner Familie im Vorderhaus, ich im Gartenhaus, in den zwei kleinen Stübchen. Wir konnten einander an der Mauer mit der Schweizer Landschaft vorbei in die Fenster sehen. Oft, wenn er bei mir gewesen war, tauchte hinter den weißen Vorhängen drüben ein Schatten auf, der mit gespenstischer Schnelle sein Gesicht zu verdunkeln schien. Dann erhob er sich, sah mich kaum an und verließ das Zimmer.
»Rosalie will nicht reisen, mit mir nicht,« erzählte er während der Fahrt. »Sie behauptet, meine Nähe steigere nur ihr Übelbefinden, deshalb habe sie sich entschlossen, allein zu gehen und zwar – nach England.«
»Nach England?« fragte ich erstaunt. »In dieser Jahreszeit?! Hat sie Freunde dort?«
»Niemanden! – Die fixe Idee einer Schwangeren, sagt der Arzt.«
Ich schwieg, auf das tiefste betroffen. Mir, dem Weibe, schien sonnenklar, was ihre Beweggründe waren. Das Recht der Abwesenden wollte sie zur Geltung bringen, und ein instinktives Gefühl trieb sie nach England –, woher ich gekommen war, wo ich, wie sie meinte, mir an Kenntnissen und Interessen erworben hatte, was ihren Mann an mich fesselte.
Der Wagen hielt. »Ich komme gegen Abend hinüber,« sagte ich und verabschiedete mich hastig vor der Haustür. Ich mußte allein sein. Meine Zimmer fand ich mit Blumen geschmückt, wie zu einem Fest. »Der Herr Doktor –,« sagte die Aufwärterin mit süßlichem Lächeln und einem vertraulichen Blick.
»Schon gut –,« unterbrach ich sie hastig und warf die Türe hinter mir ins Schloß.
Was nun?! Sie durfte nicht fort. Wirklich nicht?! Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. War es Furcht? Oder nicht vielmehr Freude – Freude, die wie ein orkangepeitschtes Meer alle Dämme überflutete, alles Denken begrub?! Allein – allein mit ihm – tage-, wochen-, monatelang! Ein ganzes Leben der Entsagung war kein zu teurer Preis dafür! Wenn sie wiederkam, würde ich gehen, – aus seinem Gesichtskreis still verschwinden, – und zu ihr würde er zurückkehren, – zu ihr – und dem Kinde . . .
Es klopfte. »Frau Dr. Brandt läßt gnädige Frau zum Abendbrot bitten –« »Ich komme –«
Wir saßen um den gedeckten Tisch: Brandt schweigsam, mit gerunzelten Brauen, die beiden kleinen Knaben – seine Söhne aus seiner ersten Ehe – verschüchtert und ängstlich von einem zum anderen blickend, ich, eine Unterhaltung mühsam aufrecht erhaltend; sie allein schien lustig, fast übermütig, ihre Augen flimmerten, ihre großen weißen Hände, die mir immer vorkamen, als hätten sie ein eigenes Leben, als wären sie junge Raubtiere, – bewegten sich ruhelos, streichend, klopfend, sich dehnend, um sich gleich wieder zur Faust zu ballen, auf dem Tisch. Das Mädchen kam und brachte einen Eiskübel mit einer Flasche Champagner. Brandt sah mißbilligend auf seine Frau. »Wie kannst du, Rosalie, – in deinem Zustand!«
Sie lachte.
»Nur heute, – wo wir ein Fest miteinander feiern und ihr dasitzt wie Ölgötzen und nicht lustig seid, – lustig wie ich! – Trinkt, Kinder, trinkt, so ein Abend kommt nicht so leicht wieder!« Sie stürzte das erste Glas in einem Zug hinunter. Und dann sprach sie unaufhörlich, fieberhaft. Von der Reise, die sie machen werde, von den Herrlichkeiten, die sie dafür schon eingekauft habe – »drei seidene Kleider und Hüte dazu, und einen Rohrplattenkoffer für zweihundert Mark, – mach' keine entsetzten Augen, Heinrich; ich weiß ja, du bezahlst es gern, – so gern!« –, von ihren Träumen. »Ich sehe immer denselben Mann, der mir winkt, zu dem ich hin muß,« – ihre Stimme sank und ihre Augen weiteten sich, daß das Weiße unheimlich groß um die dunklen Pupillen stand – »und der mir helfen wird.«
»Trinken Sie nicht mehr –,« bat ich erschüttert und legte meine Hand auf die ihre, die eiskalt war. Sie schüttelte sie ab wie eine lästige Fliege.
»Sie glauben, ich spräche im Rausch?!« sagte sie. »Sie irren. Ich bin nüchtern, ganz nüchtern, – ich weiß nur mehr als Sie, viel mehr, und – und ich glaube an Träume!«
»Bist du denn nicht eifersüchtig auf deinen Rivalen, zu dem ich reise?« Damit wandte sie sich mit einem lauernden Blick aus halb geschlossenen Augen an ihren Mann.
»Rosalie!« stöhnte er gequält. Rasch stand ich auf. Ich konnte die Blicke der Kinder nicht mehr ertragen.
»Es ist schon zu spät für euch,« redete ich sie an und griff nach ihren Händen, »kommt, – ich bring' euch zu Bett.« Sie lachten dankbar.
»Ach, Tante, bring uns doch immer zu Bett!« flüsterte der Älteste, als er in den Kissen lag, und seine melancholischen Zigeuneraugen sahen mich flehend an. »Und morgen, bitte, bitte, erzähl uns eine Geschichte,« fügte der Jüngste hinzu und richtete sich im Bett noch einmal auf.
Indessen war es im Wohnzimmer zu einer heftigen Szene gekommen. Rosalie lag schluchzend auf dem Diwan. »Er will mich nicht reisen lassen, er will mich umbringen, – mich und das Kind,« schrie sie. »So mäßige dich doch, um Gottes willen!« beschwor sie Brandt mit einem Blick auf die Glastür, hinter der sich der Schatten des Mädchens hin und her bewegte. Sie achtete nicht auf ihn, ihre Stimme wurde nur noch lauter und heftiger. »Ich halte es nicht mehr aus, – ich mag deine Bevormundung nicht, und deine schlechte Laune. Ich laufe davon –« Und ihr Schluchzen wurde zum Weinkrampf.
Der Arzt wurde geholt. »Sie müssen ihrem Willen nachgeben, wenn Sie nicht das schlimmste riskieren wollen,« entschied er schließlich. »Natürlich darf sie nicht ohne Pflegerin reisen, – ich kann Ihnen eine empfehlen, auch eine gute deutsche Pension in London.«
Schon am nächsten Morgen kam Rosalie zu mir, um Abschied zu nehmen. Sie war völlig verwandelt, weich, freundlich, ruhig. Es war fast ein strahlendes Lächeln, mit dem sie mir im Weggehen sagte: »Nun weiß ich gewiß: Alles – Alles wird gut werden.«
Wie unter dem Zwang einer stillschweigenden Verabredung sahen Brandt und ich uns in der nächsten Zeit selten und nie allein. Ich aß drüben bei ihm mit den Kindern, nahm sie mit bei meinen Ausgängen und sorgte für sie, soviel mir an Zeit dafür übrig blieb. Mit wehmütiger Freude sah ich, wie sie täglich mehr an mir hingen und mit all ihren kleinen Wünschen und Kümmernissen zu mir kamen. Weihnachten stand vor der Tür. »Einen richtigen Weihnachtsbaum machst du uns, Tante, nicht wahr?« bettelte Wölfchen, der Jüngste. »Im vorigen Jahr war er man soo klein.« »Ich möchte am liebsten zur Mutter fahren, – wie ganz früher,« meinte Hans, der Älteste, und seine Augen schimmerten feucht. »Zur Mutter –?!« staunte ich.
»Nun ja, du weißt doch, unsere richtige Mutter wohnt weit, weit weg in Wien,« plauderte Wolf; »sie ist immer krank. Aber im Sommer, da dürfen wir sie besuchen, wenn sie in Schruns ist oder in Klobenstein –« »Die Rosalie ist gar nicht mit uns verwandt, aber auch gar nicht,« unterbrach ihn Hans eifrig, und mit einem fragenden Blick auf mich fuhr er zögernd fort: »Unsere Marie sagt, sie kommt nicht wieder und – und du bleibst bei uns?!«
Ich blieb ihm die Antwort schuldig. Jäher Schreck lähmte mir die Zunge. Ich hatte Brandt nach seiner ersten Frau nie gefragt, hatte geglaubt, sie sei früh gestorben. Welche Schicksale lasteten auf dem Mann, den ich liebte – täglich verzehrender, sehnsüchtiger –, und rissen die jungen Seelen dieser Kinder in ihren Wirbeltanz?!
Zärtlich zog ich die Knaben in meine Arme: »Seid brav, recht brav, daß der Vater sich an euch freut, dann sollt ihr einen Weihnachtsbaum haben wie noch nie!«
Mit glühendem Eifer, der mich alles andere vergessen ließ, bereitete ich das schönste Fest des Jahres vor. Freude wollte ich um mich verbreiten, lauter überschwengliche Freude. Mit dem Geld, das ich mir von Brandt für seine Kinder erbat, und das er mir verwundert gab – er hatte an Weihnachten gar nicht gedacht –, und den Goldstücken, die mir ein paar Artikel eben eingetragen hatten, kaufte ich einen ganzen Jahrmarkt voll Spielzeug; und Pfefferkuchen und Marzipan und Schokolade, dazu Schürzen, Bänder, und ein himmelblaues Kleid für das Dienstmädchen, das mich mit ihren kleinen blanken Augen immer so lustig anlachte. Am Morgen des Weihnachtstages schloß ich mich im Eßzimmer ein und putzte die große duftende Edeltanne mit lauter blitzendem Kram, mit roten Rosen und bunten Lichtern. Leuchten sollte sie wie das lebendig gewordene Glück. Vielleicht wird sie ihm ein einziges frohes Lächeln entlocken! dachte ich.
Nachmittags mußte ich zuerst zu den Eltern. Es wurde früh beschert, weil alle Familienmitglieder bei Onkel Walters geladen waren. Im Salon stand wie immer der Baum: farblos, schneeweiß, sehr kühl, sehr vornehm. Und davor unsere Tische, beladen mit Geschenken. Der Vater hatte sich einmal wieder nicht genug tun können. Er war in letzter Zeit für mich von einer Güte, die mir wehe tat, weil ich wußte, daß sie nur einer Täuschung ihr Dasein verdankte. Meine wiener Volksversammlungsrede hatte die deutsche Presse ignoriert, auch sonst mußte es ihm scheinen, als zöge ich mich mehr und mehr zurück. Was ich für die Tagespresse schrieb, – ich fing damals an, auch am »Vorwärts« gelegentlich mitzuarbeiten –, erschien ohne meine Unterschrift; die wesentlich literarisch-kritischen Artikel in den Wochenblättern hatten meist seinen Beifall. »Ich wollte dir handgreiflich zeigen, wie zufrieden ich mit dir bin«, – damit entschuldigte er gleichsam die Fülle der Gaben. Daß ich das weiße Kleid und den Spitzenschal und die seidenen Strümpfe und zierlichen Schuhe mit solcher Freude empfing, weil ich allein dessen gedachte, für den sie mich schmücken sollten, – er ahnte es nicht! Nur die Mutter hatte schon hie und da mißtrauisch nach Brandts Gattin gefragt, wenn sie ihn allein bei mir traf, und zuweilen war uns die Schwester begegnet und hatte uns mit vielsagendem Lächeln begrüßt.
Der Vater wollte mich durchaus nicht heimgehen lassen, wollte bei Onkel Walters absagen: »Wenn sie meine Tochter nicht haben wollen, so mögen sie auch auf mich verzichten.« Es kostete Mühe, ihn umzustimmen. »Ich bin ja nicht allein«, sagte ich schließlich – sehnsüchtig dachte ich an die erwartungsvollen Knabengesichter, an den stillen Abend mit ihm –, »ich muß noch zur Bescherung im Kinderheim«, dabei wandte ich den Kopf dunkel erglühend zur Seite.
Endlich konnt' ich gehen. Und mein bunter, lustiger Weihnachtsbaum funkelte und sprühte, ein Fanal der Freude, ein Sonnwendfeuer, ein Gruß an das steigende Licht. Der Jubel der Kinder klang durch die Räume. »Du – du Zauberin,« flüsterte eine tiefe Stimme mir ins Ohr.
Still und feierlich, in ihr weiches glitzerndes Schneekleid gehüllt, erwachte die Erde am nächsten Morgen. Der Arbeitslärm des Alltags war verstummt, und Räderrollen und Menschenschritte klangen gedämpft auf dem Winterteppich. Es war Feiertag.
Und im Festgewand stand ich und wartete dessen, der kommen mußte.
Mein Herzblut, das ich bereit war, restlos für ihn zu vergießen, hatte es mit roten Rubinen bestickt, Schnüre, an denen die Tränen meiner Sehnsucht schimmernd gereiht waren, schmückten mir den Nacken, mit Smaragden der Hoffnung waren die seidenen Schuhe besetzt an meinen Füßen, die ihm entgegengingen, und auf meinen Armen, die ihn umfassen wollten, funkelten, alle Farben und allen Glanz der Welt in sich vereinend, die Diamanten meiner Leidenschaft. Und er kam, er sah mich, – und die armen kleinen Liebesworte schämten sich ihrer millionenfachen Entweihung und verstummten.
Nicht wie die Tage, die wie Kugeln am Zählbrett gleichgültig rechnend weiter geschoben werden, waren die jenes sonnendurchleuchteten Winters. Die Nacht gebar einen jeden als Wesen göttlicher Art, ewigen Lebens voll. Hoch über die Erde trugen sie uns auf starken Flügeln, und mochte drunten riesenhaft die schwarze Gestalt der Schuld die Arme drohend gegen uns recken, – wir sahen sie nicht. – Bis einer kam, der häßlich war und neidisch, und mit Faustschlägen an der Türe uns weckte aus unserem erdenfernen Liebestraum.
Wir kehrten vom Wannsee zurück, wo wir unter blauem Himmel auf spiegelglattem Eis gemeinsam unsere Kreise gezogen hatten. Mit ängstlichem Gesicht hielt die gute Marie uns einen Brief entgegen. »Rohrpost – und Rosaliens Schrift –« Heinrichs Gesicht entfärbte sich. »Ich bin in Berlin und ersuche dich, mich vom Hotel aus abzuholen. Unser Kind soll im Vaterhause geboren werden,« schrieb sie. Noch am Abend traf sie ein. Ich sah ihren dunklen Schatten hinter den Vorhängen. Ich wußte, was er mir bedeutete: kein Verzichten nach kurzem gestohlenem Glück, wie ich es einst geglaubt hatte, sondern Kampf um den Einsatz des ganzen Lebens. Mit dem Recht der Liebe gehörte Heinrich mir. Alles andere »Recht« ist nur verschleiertes Unrecht.
Sie verlangte meinen Besuch. Ich fand sie im Bett liegend, vollkommen ruhig, während die Pflegerin damit beschäftigt war, das Zimmer umzuräumen. »In vierzehn Tagen etwa erwarte ich,« sagte sie nach gemessener Begrüßung, »Heinrich ist natürlich sehr unglücklich, daß ich ihn jetzt schon ausquartiere,« mit spöttischem Lächeln sah sie zwischen uns hin und her. Ich verabschiedete mich so rasch als möglich und nahm mir vor, diese Komödie freundschaftlicher Besuche nicht weiter zu spielen.
Daß es jetzt für mich an der Zeit gewesen wäre, zu gehen, fern von Berlin in aller Stille die Entwicklung der Dinge abzuwarten, – das fühlte ich instinktiv. Aber die Leidenschaft, die mich beherrschte, machte mich taub für die leisen Stimmen meines Inneren. Ich konnte ja gar nicht fort, beruhigte ich mein Gewissen, ich hatte kaum die Mittel, um zu leben, wie viel weniger, um zu reisen, – ich war gerade jetzt unentbehrlich in Berlin, wo der Konfektionsarbeiterstreik täglich ausbrechen konnte.
Es kamen auch viele einsame Stunden, wo meine Phantasie böse Träume spann: Ich sah ein winziges Kinderhändchen von unheimlicher Kraft, das mir den Geliebten entreißen wollte. Nein: ich konnte nicht fort!
Er besuchte mich seit Rosaliens Rückkehr nur selten. Sie hatte ihr Bett und ihren Stuhl am Fenster so gestellt, daß sie zu mir herübersehen konnte. Auch einen kleinen Spiegel hatte sie anbringen lassen, durch den ihr niemand entging, der den Hof betrat. Oft, wenn ich das Haus verließ, um ihn zu treffen, war mir, als verfolge mich dies glänzende runde Ding mit dem bohrenden Auge darin durch alle Straßen. Zuweilen bemerkte ich auch, wie die Pflegerin, eine Johanniterschwester mit einem ausgemergelten fanatischen Asketengesicht mir von ferne nachschlich. Im Traum sah ich sie dann auf meinem Bette sitzen und mit hungrigen Augen die Schrift glutheißer Liebe lesen, die mir im Herzen geschrieben stand.
Wir wählten immer andere Orte für unsere Zusammenkunft: kleine Weinstuben, stille Konditoreien, wo es nach saurem Wein und altem Kuchen roch und die Kellner die Wissenden spielten. Es war so widerwärtig, daß wir es schließlich vorzogen, in Wind und Wetter draußen im Wald zu sein, wo reine Luft unsere Stirnen kühlte. Einmal führte uns der Weg durch den Wald nach Paulsborn. Dicht lag der Nebel über dem See, ein feiner Regen stäubte vom Himmel. Er hatte mit seinem Arm seinen Mantel auch um mich geschlungen.
»Vergiß mich, Alix, wenn du kannst,« sagte er, »laß den armen Kerl laufen, der allen Unglück bringt, die ihm zu nahe kommen.«
Ängstlich forschte ich in seinen verschlossenen Zügen. »Willst du, daß ich gehe?« frug ich mit Betonung.
Er zog mich fester an sich. »Ich müßte es wollen, um deinetwillen! Und doch, wenn ich mir vorstelle, du tätest es – lieber brächt' ich dich um!«
Zärtlich drückte ich meine Wange an seine Schulter. »Wenn das der Tod ist, den ich allein zu fürchten habe, so werd' ich ewig leben.«
»Weißt du denn auch, was dir bevorsteht –?« »Ja,« lächelte ich, »dein Weib werde ich sein, dein glückseliges Weib!«
»Glaubst du so sicher, daß sie in die Scheidung einwilligt, daß sie nicht vielmehr alles tun wird, um dich, um uns zu verderben?«
Ich dachte schaudernd ihrer lauernden Blicke und ihrer Raubtierhände. Aber ich verscheuchte das Angstgefühl, das mich zu unterjochen drohte.
»Nur die Trennung von dir wäre mein Verderben, und die erzwingt sie nicht. Dir werd' ich gehören, auch wenn ich's vor der Welt nicht darf!«
»Sie werden alle mit Steinen nach dir werfen –«
»Hast du mich lieb, bin ich unverwundbar –«
Stärker strömte der Regen, dicht über den schwarzen Kiefern schienen die Wolken zu lagern. Am warmen Ofen im Wirtshaus trockneten unsere Mäntel. An Heimkehr war zunächst nicht zu denken. O, daß eine Sintflut uns umschlösse wie eine Insel und kein Schiff den Weg zurückfände in die Welt!
»Kaum ein Jahr ist es her, daß ich Rosalie heiratete,« begann er nachdenklich, »wie heller Wahnsinn erscheint mir heute, was ich tat. In zarter Rücksicht hast du, Gute, nie gefragt und hast doch ein Recht, mehr von mir zu wissen, als daß ich dich liebe. Nach sechsjähriger Ehe, – Jahren steigender Qualen, in denen wir uns immer weiter voneinander entwickelten, – verließ mich meine erste Frau. Ich hätte es ihr längst verziehen – sie litt ja wie ich! –, aber daß sie die beiden kleinen Kinder im Stiche ließ, das begriff ich nicht, werde es nie begreifen. Im Scheidungsprozeß wurden sie mir zugesprochen. Und nun begann ein Leben dauernder Aufregung. Wohl zehnmal am Tage, wenn ich im Redaktionsbureau saß, packte mich die Angst um die Kleinen. Ich sah sie von den unzuverlässigen Wärterinnen unbeaufsichtigt gelassen, von der Mutter heimlich entführt, und fuhr gehetzt zwischen der Wohnung und dem Bureau hin und her. Ständig war ich auf der Suche nach jemandem, dem ich die Kinder anvertrauen konnte. Ich klagte meine Not einem Freunde. ›Ich wüßte eine Dame, mit der Sie das große Los ziehen würden,‹ sagte der, ›aber sie wird eine Stellung kaum annehmen wollen. Sie ist reicher Leute einziges Kind, ist aus Liebe zur leidenden Menschheit Krankenpflegerin geworden, und dabei die schönste Frau der Welt.‹ Ich war wie elektrisiert. Er mußte mir Namen und Adresse nennen, und in der nächsten Stunde schon war ich bei ihr. Wie ein Geschenk des Himmels schien es mir, daß sie ohne viel Überlegung ja sagte. Sie war gut zu meinen Kindern. Ich konnte ruhig arbeiten. Ich fand ein behagliches Zuhause, wenn ich heimkam. Daß sie weder die schönste Frau der Welt, noch reicher Leute Kind war, sondern irgendwo im Osten in einer Tagelöhnerkate das Licht der Welt erblickt hatte, war mir eher willkommen, als daß es mich enttäuscht hätte. Ihre Vorliebe für seidene Kleider, auf die sie all ihren Verdienst verwandte, mochte das Märchen um sie gesponnen haben. Ich ließ es geschehen, daß – daß sie mich liebte. Ich hatte Jahre und Jahre jede Liebe entbehrt und hielt nun meine Dankbarkeit für Liebe. Nur daran, mich zu fesseln, dachte ich nicht. Zu schwer lastete die Erinnerung an die Ehe auf mir. Da warf mich ein heftiges Nervenfieber aufs Krankenlager. Und während ich noch matt und elend zu Bette lag, erklärte mir Rosalie, mich noch am selben Tage verlassen zu wollen, wenn ich ihr nicht die Heirat verspräche. Ich war empört, aber viel zu schwach zu energischem Widerstand. Ich dachte an meine Kinder. Sie ging schon am nächsten Tage mit unseren Papieren aufs Standesamt, um das Aufgebot anzumelden. So wurden wir Mann und Frau –«. Er schwieg. »Und trotz alledem wirst du mich lieb behalten?« fragte er dann leise.
»Wenn du mich lieb behältst nach meiner Beichte,« antwortete ich und erzählte ihm von meiner Jugendliebe. »Weißt du –« sagte ich zum Schluß träumerisch, während seine Hand leise die meine streichelte, »mein Herz ist wie die Erde: ohne den Frühling wäre der Sommer mit seiner glühenden Sonne und seinen voll erblühten Rosen nicht gekommen. Und darum werde ich noch im Winter an ihn denken müssen.«
Spät kamen wir nach Hause. Vor dem Tore stand die Johanniterschwester. Wie Fledermäuse flatterten ihre schwarzen Haubentücher im Wind.
An meiner Tür empfing mich die Aufwärterin mit grinsender Untertänigkeit. »Herr Reinhard ist da,« sagte sie, »ich wußte nicht, daß gnädige Frau so lange fort bleiben würden – bei dem Wetter.« Ich hörte seine Krücke hart und heftig aufschlagen.
»Fast wäre ich wieder gegangen,« grollte er, »ich –« er legte starken Nachdruck auf dies ›ich‹ – »ich habe keine Zeit, um Ausflüge zu machen.«
»Verzeihen Sie, daß Sie warten mußten. Hätten Sie mir Ihren Besuch mit einem Worte angekündigt –«
Er lachte besänftigt. »Schon gut – schon gut! Wir wollen uns bei Präliminarien nicht aufhalten. Die Entscheidung steht vor der Tür –, an eine friedliche denke ich, nach der allgemeinen Stimmung zu urteilen, nicht mehr. Werden wir auf Sie rechnen können?«
»Selbstverständlich. Aber daß Sie gerade jetzt, wo die öffentliche Meinung sich mehr und mehr auf Seite der Arbeiter stellt, wo einflußreiche Kreise der Bourgeoisie öffentlich für sie eintreten, an einer befriedigenden Lösung verzweifeln, begreife ich nicht.«
»Welch ein Neuling Sie doch sind!« Er schüttelte verwundert den breiten Kopf. »Weil einigen bürgerlichen Idealisten all das aufgedeckte Elend an die Tränendrüsen geht, darum, meinen Sie, werden die Unternehmer nachgeben?! Wo der eigene Geldbeutel in Frage kommt, hört die Sentimentalität auf. Immerhin: wir werden bis zum äußersten warten, und –« seine Lippen kräuselten sich höhnisch – »hoffen. Bei der miserablen Organisation, trotz der Hundearbeit der ganzen letzten Monate, ist es kein Kinderspiel, die Verantwortung für den Streik auf sich zu nehmen.«
Er erzählte mir noch von den intimen Verhandlungen mit den Meistern der Damenmäntelkonfektion, von der mühseligen Ausarbeitung eines detaillierten Lohntarifs, von den Plänen für die nächste Zukunft, und empfahl sich, nachdem ich ihm nochmals versprochen hatte, als Rednerin überall zur Stelle zu sein, wo er mich würde brauchen können. Mein Gewissen schlug. Über dem eigenen Schicksal war ich nahe daran gewesen, das Geschick der Hunderttausende zu vergessen. Schon waren Schriften aller Art erschienen, die das Leben der Konfektionsarbeiter malten, wie ich es oft genug gesehen hatte. Warum war keine von mir? Und in den Versammlungen der bürgerlichen Frauenvereine wurde plötzlich entdeckt, daß die Not der Arbeiterin größer war als die höherer Töchter, in der Ethischen Gesellschaft wurden die Mittel zu ihrer Abhilfe lebhaft debattiert. Und ich allein schwieg!
Von nun an fehlte ich nirgends mehr. Und ich fühlte: je weiter ich mich von mir selbst entfernte, desto stärker wurde ich. In einer Reihe großer Versammlungen wurden die Forderungen der Konfektionsarbeiter noch einmal klargelegt, ihre Lage beleuchtet, der sie Abhilfe schaffen sollten. Ich war in den Feensaal gegangen, wo Martha Bartels sprach. Kaum, daß ich noch Einlaß fand, denn auf der Straße schon stauten sich die Menschen. So viel Armut war wohl noch nie aus ihren dunklen Höhlen hervorgekrochen. Und noch nie hatten sich so viel elegante Frauen in ihrer nächsten Nähe befunden.
In dem tief eingewurzelten Gefühl, das noch immer hinter dem schönsten Kleid die größte Respektsperson vermutet, drängten sich die Armen schüchtern an den Wänden entlang. Alte Frauen mit müden, rot geränderten Augen standen auf, um seidenrauschenden Damen Platz zu machen. Keinen Blick des Neides sah ich, keinen des Hasses. Als Martha Bartels sprach, schlicht, fast nüchtern, und ihnen die Geschichte ihres eigenen Leides erzählte, da weinten viele. Aber es waren nicht die fruchtbaren Tränen der Erkenntnis, unter deren heißer Flut die Kraft des Widerstandes gedeiht, es waren die Tränen der Verzweiflung, die armseligen Tropfen, die in den Kirchen fließen, wenn der Pfarrer von der Kanzel die Ergebenheit in Gottes Willen predigt. Zorn und Leid stritten in mir: Zorn, – daß Armut und Religion die Menschheit so um ihre Würde hatten betrügen können, Leid, – daß von dieser Menschen Kampfeslust und Ausdauer Sieg oder Niederlage abhängen würde.
Beim Ausgang traf ich meine Mutter. Mit einer Anzahl bekannter Damen hatte sie der Versammlung beigewohnt. Sie waren alle erfüllt von dem Gehörten. Die Ruhe der Rednerin und der Zuhörer hatte den Eindruck nur verstärkt.
In weitesten Kreisen, von den Nationalsozialen bis in die Reihen der Konservativen hinein, schien das Interesse für die Heimarbeiter rege zu sein. Meine Mutter war voll Eifer; ich hatte sie um einer solchen Sache willen nie so erregt, so lebhaft gesehen. Sie zwang mich förmlich, an einer Zusammenkunft teilzunehmen, die am nächsten Tage bei einem bekannten berliner Geistlichen stattfinden sollte.
Ich holte sie ab, um mit ihr hinzugehen, und fand selbst meinen Vater voller Teilnahme. »Da ist dein Platz, da kannst du was leisten,« sagte er, mir die Hand schüttelnd, »da findest du uns alle an deiner Seite, wenn es gilt, den jüdischen Konfektionären, diesen Menschenschindern und Ausbeutern, das Handwerk zu legen.« Eine ähnliche Stimmung beherrschte die Sitzung, wenn auch der Wunsch nach einer friedlichen Lösung des Konflikts und die bestimmte Hoffnung auf seine Erfüllung von dem Einberufer sehr betont wurde.
Er berichtete von dem Komitee, das sich kürzlich auf Anregung der Ethischen Gesellschaft gebildet hatte, um zwischen den Arbeitern und den Unternehmern eine Verständigung anzubahnen. Männer und Frauen der verschiedensten Parteirichtungen, deren Namen in der Öffentlichkeit einen guten Klang hatten, gehörten ihm an. Man beschloß, sich ihm gleichfalls anzuschließen. »Kommt es trotz alledem zum Streik, so schaffen wir eine Hilfskasse,« rief eine lebhafte kleine Dame, deren Energie beim Durchsetzen ihrer Pläne sie bekannt gemacht hatte. Man stimmte ihr ohne weiteres zu. »Wir müssen alle Geschäfte boykottieren, die die Forderungen der Arbeiter nicht bewilligen,« erklärte eine andere, und man überbot sich in steigender Erhitzung in Vorschlägen zugunsten der Sache. Ich erinnerte mich im stillen des Streiks der westphälischen Bergarbeiter. Auch damals sprach sich die öffentliche Meinung, soweit sie mir zu Ohren kam, zugunsten der Kämpfenden aus, aber sie tatkräftig zu unterstützen, daran wagte noch niemand zu denken. Also doch ein Fortschritt?! Mein Optimismus regte sich wieder.
Ich berichtete Reinhard von dem Erlebten. »Halten Sie die Leute vor allen Dingen bei ihrem Unterstützungsversprechen fest. Alles andere ist Mumpitz,« sagte er. Und ich lief von einem zum anderen, und ließ mir, wo es irgend anging, schriftliche Zusicherungen geben. Inzwischen arbeiteten im stillen auch die Vermittler, und zu gleicher Zeit sah ich Martha Bartels und ihre Gefährtinnen, wie sie unermüdlich nach ihrer eigenen Arbeit treppauf, treppab stiegen, um die Begeisterung für den Kampf anzufachen, der ihnen nicht nur unausbleiblich, sondern erwünscht war. Sie schimpften laut und leise über das Zögern und Warten der Fünferkommission: »Wir pfeifen auf alle Versöhnungsduselei, bei der wir doch nur den kürzeren ziehen. Wir wollen eine ehrliche Entscheidung auf dem Schlachtfeld.« Die Ereignisse schienen ihnen recht zu geben.
Am Abend des Kaisergeburtstages kam ich durch die menschenwimmelnde Friedrichsstadt. Nüchtern wie immer glänzten die Tausende elektrischer Birnen an den Geschäftshäusern, verschlangen sich zur Kaiserkrone, zum W. II, und nirgends zeigten sich Spuren einer von Liebe befruchteten Phantasie, die neue persönlichere Huldigungen hätte schaffen können. Irrte ich mich, oder waren die Fassaden der großen Konfektionshäuser sogar um einen Schein dunkler als sonst? Das Kaisertelegramm an den Burenpräsidenten Krüger schien, so hieß es, den Absatz deutscher Waren nach England lahmzulegen. Und während Alldeutsche und Antisemiten jubelten, ballten die Unternehmer die Fäuste im Sack.
Die Versammlung, in die ich kam, bot ein anderes Bild als die letzte: es war vor allem eine der Männer. Und die Arbeiterinnen, die erschienen waren, gehörten zu den besser Bezahlten, zu den Aufgeklärteren, den Selbstbewußten. Etwas wie Siegeszuversicht schien sie zu beherrschen. Sie wiesen mit Fingern auf die Herren im Gehrock und Zylinder, sie tuschelten einander die Namen der Chefs und Zwischenmeister zu, die der Einladung der Arbeiterkommission heute gefolgt waren, sie warfen hochmütig den Kopf zurück, wenn einer von ihnen eine vertrauliche Begrüßung zu wagen versuchte. Reinhard sprach. Er erläuterte die Forderungen der Arbeiter. Seinem Temperament tat er sichtlich Gewalt an. Eisige Ruhe begleitete während der ersten Viertelstunde seine Rede. Dann unterbrach ihn eine gröhlende Stimme: »Bezahlter Agitator –«, das war das Signal für die anderen. Kein Satz blieb ohne Zwischenruf. Je dunkler die Flecken auf Reinhards Backenknochen sich röteten, je mehr die straffen Haarsträhnen ihm an den feuchten Schläfen klebten, und je heftiger die knochigen Hände ihm zitterten, desto lauter, roher, unflätiger wurde das Gebrüll der Zuhörer. Er sprach ruhig weiter – von den elenden Löhnen der Frauen, von ihrer sittlichen Gefährdung. »Sei man stille, Quasselkopp,« schrie dicht neben mir ein dicker Kerl, mit Brillantringen auf den roten Wurstfingern, »die Mächens wissen schon, wofür wir jut zahlen.« Alles lachte. »Frag mal, von wo die Kleene da ihren süßen, roten Lockenkopp hat,« rief ein anderer. »Von de sittliche Jefährdung,« brüllte aus dem Hintergrund eine ölige Stimme. Es war kein Halten mehr. Man überbot sich in zynischen Witzen. Und die Frauen, die vorhin so kampfbereit, so unnahbar schienen? Sie kicherten in ihre Taschentücher, einige lachten kokett die ärgsten Zotenreißer an. Reinhard schwieg erschöpft. Die Diskussion war von der allgemeinen Ulkstimmung beherrscht. Nur zuletzt, als es zur Abstimmung gehen sollte, erhob sich einer der Meister, um eine Programmrede zu halten. Er sprach vom Mittelstand, »dem sittlich gesunden Kern des Volkes, der wahre Religion und echtes deutsches Familienleben pflegt und hochhält,« und den »die Sozialdemokratie in ihrer Respektlosigkeit angesichts der heiligsten Güter der Nation« vernichten wolle. »Auch dieser uns angedrohte Kampf ist nichts anderes als ein Vorstoß der Umsturzpartei gegen die Staatsordnung, und zum Kanonenfutter lassen die Dummen unter den Arbeitern sich gebrauchen. Wir aber stehen wie ein Fels im Meer;« – unter dem Bravogeschrei der Zuhörer warf er sich stolz in die Brust und bewegte pathetisch die Arme. »Wir sagen nein und abermals nein und wissen, daß wir trotz dem Geschrei der Gegner, trotz Streikdrohung, immer noch so viel Arbeiter kriegen, als wir brauchen, – und wenn wir sie von den Hottentotten nehmen sollten.«
Am Ausgang erwartete ich Reinhard. Ich sah, wie Martha Bartels, von einer Schar lebhaft gestikulierender Frauen umgeben, erregt auf ihn einsprach. »Es ist kein Halten mehr,« sagte er im Nähertreten. »Nun ist's aber auch höchste Zeit,« rief ich, noch heiß vor Entrüstung. »Wir müssen das Eisen schmieden, solange es warm ist, – in allen Kreisen findet der Streik Unterstützung.« »Sachte, sachte, liebe Genossin,« wehrte er ab. »Im Augenblick sind uns stärkere Knüppel zwischen die Beine geworfen worden, als Ihre hilfsbereiten Damen aufheben können. Wenn England die deutsche Konfektion boykottiert, so können wir einpacken.«
Der Termin für die Antwort der Unternehmer wurde abermals herausgeschoben. In den Arbeiterkreisen begann es bedenklich zu gären; es gab Leute, die schon von Intrigen, Schmiergeldern und offenem Verrat munkelten. In Hamburg, in Erfurt, in Stettin, in Breslau brach der Streik aus, – in Berlin zögerte man noch immer, scheinbar um dem Vermittelungskomitee Zeit für seine Verhandlungen zu gewähren, in Wirklichkeit aber, um die Entwickelung der Dinge in England abzuwarten. Man glaubte an einen Krieg, zum mindesten an einen wirtschaftlichen. Endlich liefen, so zahlreich wie sonst, bei den großen Konfektionären die Bestellungen ein; und in einer Versammlung der Ethischen Gesellschaft wurde, zugleich mit einer rückhaltlosen Sympathieerklärung an die kämpfende Arbeiterschaft, das völlige Scheitern der Einigungsversuche mitgeteilt.
Im Bureau der Schneider-Gewerkschaft trat die Arbeiterkommission zusammen. Es war wie im Hauptquartier eines Krieges. Wir empfingen die Streikerklärung als unsere Parole und unseren Marschbefehl. In riesigen Plakaten wurde die Bevölkerung am nächsten Morgen zu den Versammlungen eingeladen, mein Name stand unter denen der vierzehn Referenten.
Ich saß mit meiner Rede beschäftigt am Schreibtisch, als es draußen zweimal heftig klingelte. Der Vater! – »Dein Name steht auf den Litfaßsäulen unter lauter Sozialdemokraten,« brauste er mich an.
»Du bist auf der Seite der Streikenden, wie ich weiß, du selbst hast mich ermuntert.« Er ließ mich nicht ausreden. »Nicht um ein ungesetzliches Vorgehen zu unterstützen, – du mußt deinen Namen augenblicklich zurückziehen –«. Er stierte mich an mit dem wilden Blick, den ich so fürchtete. Ich lehnte mich zitternd an den Schreibtisch. »Fahnenflüchtig?! Nein! Wär' ich's, du würdest dich bei ruhiger Überlegung meiner schämen müssen.« Er umklammerte mein Handgelenk. »Soll ich mein Kind verlieren?« stieß er hervor, sein Atem keuchte, die Augen traten aus den Höhlen.
»Ich kann mein Wort nicht brechen, – auch mir selbst gegenüber nicht,« flüsterte ich. Ein Ruck ging durch seinen Körper, meine Hand stieß er von sich, faßte sich ein paarmal mit den Fingern an den Kragen, als würde er ihm zu eng, und schritt festen Schrittes, wortlos, der Türe zu. Ich hörte sie zufallen, – eine zweite knarrend sich öffnen, – heftig ins Schloß zurückschlagen; ich lief ans Fenster: ein alter Mann ging über den Hof, sehr langsam, tief gebückt, schwer auf den Stock sich stützend. O, daß er nur ein einziges Mal den Kopf noch wenden möchte, – aber der starre Nacken bewegte sich nicht. Schluchzend brach ich zusammen.
»Alix!« Heinrichs entsetzter Ruf brachte mich wieder zu mir. Er hatte den Vater fortgehen sehen und war, alle Vorsicht vergessend, zu mir geeilt. »Wirst du heut abend sprechen können?!« »Gewiß, – nun bin ich ja ganz – ganz frei!« Die Tränen waren versiegt, mir war, als läge mein Herz zu Eis erstarrt in meiner Brust. Selbst der Geliebte kam mir plötzlich fern und fremd vor.
Für die Kriegserklärung, die ich heute abzugeben hatte, war es die rechte Vorbereitung: kein weiches Gefühl konnte mich überwältigen, eiserne Entschlossenheit beherrschte mich. Zu einer Riesenkraft wollte ich die schwarze Menschenmasse vor mir zusammenschweißen, von einem unbeugsamen Willen beseelt. Und ich richtete die Paläste der Unternehmer vor ihren Augen auf, die ihre Arbeit gebaut hatte, und wies auf ihre üppigen Tafeln, die ihr Hunger deckte. Ich zeigte ihnen die seidenen Kleider ihrer Frauen und ihrer Mätressen, an denen der Schweiß der Arbeiterinnen klebte, und ihre Edelsteine, in denen das Augenlicht derer gefangen war, die es in nächtlicher Arbeit verloren hatten. Ich fühlte: schon war die Luft erfüllt vor unsichtbarem Sprengstoff. Und nun sprach ich von der kommenden Schlacht, die nichts sei als ein Teil des großen Krieges zwischen unverschuldeter Armut und schuldbeladenem Reichtum; sprach von alledem, was der Preis ihres Mutes, ihrer Ausdauer sein würde, und doch nur darum von unschätzbarem Werte sei, weil es sie geistig und körperlich fähig mache, den Menschheitsfeldzug bis zu Ende zu führen. »Eure Sache ist die Sache der ganzen Arbeiterschaft. Jede Schwäche von euch ist ein Verrat an ihr . . .«
»Eine demagogische Hetzrede,« sagte jemand, als ich die Tribüne verließ. »Prachtvoll« – versicherte mir ein sozialdemokratischer Reichstagsabgeordneter händeschüttelnd. Ich sah fragend um mich: erstaunte, bewundernde, auch tränenfeuchte Blicke begegneten den meinen, aber vom Fieberfanatismus der Kriegslust bemerkte ich nichts. Verständnislose Verlegenheit lag zum Teil auf den abgehärmten Zügen der Frauen. »Was hat sie gemeint?« hörte ich flüstern. »Was sollen wir tun?« »Und wie gerade die Damenmäntel dann bezahlt werden, sagte sie nicht« – »ob wir gleich in die Betriebswerkstätten kommen?« – Mir sank der Mut. Heinrichs Lob – er hatte sich's nicht nehmen lassen, mich zu begleiten – schien mir von Mitleid diktiert.
Zu Hause fiel ich sofort in den Schlaf der Erschöpfung. Mitten in der Nacht fuhr ich entsetzt aus dem Traum; irgendein langgezogener Ton weckte mich. Ich sprang aus dem Bett. Aus den Fenstern drüben drang helles Licht. Die Schatten vieler Menschen bewegten sich hastig hin und her. Gellende Schreie klangen über den Hof.
Jetzt – jetzt wand sich das unglückselige Weib, das ich betrogen hatte, in gräßlichen Schmerzen, – und das Kind – meines Geliebten Kind! – kam zur Welt. Kalter Schweiß trat auf meine Stirne. Das flackernde Licht von drüben malte gespenstische Gestalten in mein Zimmer. Ein großes Ungeheures beugte sich über mich, die zusammengekauert, frostgeschüttelt am Fenster hockte. Es griff mir in den Nacken mit spitzen Krallen, es wuchs – wuchs, erfüllte den ganzen Raum – die Wohnung – das Haus – die Welt. »Ich bin die Schuld – deine Schuld!« gellte es in meinen Ohren mit dem letzten Schrei des Weibes drüben . . .
Es steht gut – Mutter und Kind sind wohl –« Heinrich stand vor mir, leichenblaß; »aber du –« er sah mich erschrocken an, wie eine schwere Krankheit lag die Nacht hinter mir, – »wenn du jetzt schon zusammenbrichst, wo das Schwerste bevorsteht!«
»Nachdem ich das überstanden, gibt es nichts Schwereres –«
Ich war in der nächsten Zeit fast nie zu Hause. Wenn ich früh erwachte, müde, als hätte ich kein Auge zugetan, so schien mir's, als stünde jenes große Ungeheure hinter mir, vor dem ich unaufhörlich die Flucht ergreifen mußte. Nur wenn ich draußen war, fern dem Bannkreis dieses Hauses, wenn die Not der anderen, die der Streik aufdeckte und gebar, sich zwischen mich schob und meine Schuld, atmete ich freier.
Ich saß auf der Reichstagstribüne, als die nationalliberale Interpellation, die Lage der Konfektionsarbeiterinnen betreffend, zur Verhandlung kam und alle bürgerlichen Parteien ihr arbeiterfreundliches Herz entdeckt zu haben schienen. Was noch kein preußischer Minister zu denken gewagt hatte – daß eine Arbeitseinstellung berechtigt sein kann –, das erklärte Herr von Berlepsch vor der deutschen Volksvertretung angesichts dieses Streiks. Kein Zweifel: der Riesenkampf, den die Ärmsten der Armen kämpften, wird kein vergeblicher sein, eine neue Ära sozialer Reformen bricht an. Und dem Verdikt des Reichstags werden die Unternehmer sich beugen müssen. Ich verstand nicht, warum der Redner der sozialdemokratischen Fraktion sich angesichts dieser Kundgebungen so skeptisch äußern konnte.
Im ganzen Reich wurde für die Streikenden gesammelt. Neben den Bureaus der Streikkommission, in denen Streikkarten ausgestellt und Unterstützungsgelder gezahlt wurden, richteten bürgerliche Vereine Hilfsstellen ein, wo Nahrungsmittel und Kleidungsstücke zur Verteilung kamen.
Stolz, oft übermütig in ihrer Hoffnungsfreudigkeit stellten sich in den ersten Tagen die Streikenden ein. Von Unterstützung wollten sie nichts wissen, nur ihre Karten ließen sie sich geben.
»Wir halten aus,« sagte ein junges, bleichsüchtiges Mädel, und ihre Augen blitzten dabei. »Die Unternehmer haben uns für sich hungern lassen, nun hungern wir mal für uns selber –« und, ein Liedchen trällernd, war sie wieder draußen. Selbst auf den Gesichtern alter müder Frauen lag ein stilles Leuchten. Ein halbwüchsiger Bengel, der in Begleitung seiner Mutter kam, verkündete triumphierend: »Wir arbeeten jetzt for drei, damit Muttern feiern kann,« und lächelnd streichelten ihre zerstochenen Finger seine Wange: »Nu kommen ooch janz andere Zeiten!«
Oft standen die engen Bureauräume gedrängt voll Wartender. Dann flogen Witze hin und her; vom »Meester« erzählten sie einander, der mit der »Ollen« händeringend in der leeren Bude stand. »Noch janz anders soll die Gesellschaft winseln! Laßt man erst acht Tage ins Land jehen, denn werden sie zu uns bitten kommen,« rief ein krummbeiniges Schneiderlein. »Wir werden ihr Mores lehren, der Rasselbande!« fügte zähneknirschend ein anderer hinzu.
Allmählich änderte sich das Bild: Blasse Frauen, die unsicher und ängstlich blickten, mit Kindern auf den Armen und an der Schürze, drängten sich um die Zahlstellen; das morgens angehäufte Geld, das mir unerschöpflich schien, war jeden Abend wieder ausgegeben. Auch Männer kamen, Familienväter, mit zusammengepreßten Lippen. Die Witze verstummten. Finstere Entschlossenheit lag in dem Schweigen der Wartenden. Aber immer noch traten welche an den Tisch, die nichts verlangten, als die Ausfüllung ihrer Streikkarten. Auch Frauen waren unter ihnen. Eingesunkene Wangen, trockene Lippen, fiebrige Augen sprachen vom Heldenmut der Hungernden. Verlegen schob sich wohl auch ein junges Mädel durch die Türe und streckte die Hand nach dem Gelde aus. »Schämst du dir nicht!« schrie einer einmal eine hübsche Brünette an, mit Rosen auf dem kecken Filzhut, und riß sie unsanft zurück, »hat noch so'n Deckel auf'n Kopp und Glacénene an die Finger und will den ollen Weibern das Brot nehmen?!« Kam aber gar ein kräftiger Mann, so hagelte es empörte Schimpfworte: ein Verräter, wer in seinem Opfermut nicht bis zum Äußersten ging.
Und dann kamen die Tage, wo sie in dichtgedrängten Scharen bis auf die Straße hinunterstanden, und keiner mehr war, den der Hunger nicht bezwungen hätte. Viele schämten sich, daß sie unterlegen waren; sie wagten kaum den Kopf zu heben, wenn sie vor den Zahltisch traten. Zusammengesunken erschienen andere vor Mutlosigkeit. »Erreichen wir's?« flüsterte fragend der eine, »geben sie endlich nach?!« der andere. Tränenumflorte Augen richteten die Frauen auf uns, scheue Blicke voll Zweifel und Mißtrauen die Männer. Und nichts als Schweigen, als Achselzucken konnte die Antwort sein. Die Kassen füllten sich langsamer; der aus rührseliger Sentimentalität entstandene Enthusiasmus bürgerlicher Kreise verpuffte wie ein Feuerwerk. Die Unternehmer hielten aus; sie hatten noch immer genug zu essen. Und die Opferwilligkeit der deutschen Arbeiterschaft für die kämpfenden Brüder hatte ihre äußerste Grenze erreicht.
Ich sah Reinhard nur flüchtig. Die hektische Röte wich nicht mehr von seinen Backenknochen. Er hatte keine ruhige Minute.
»Wir sind am Ende,« sagte er mir mit rauher Stimme, als wir uns in einem der Streikbureaus wieder begegneten. Es traf mich wie ein Peitschenschlag. Was hatte ich damals denen, die ich zum Streik aufrief, als sicheren Lohn ihres Ausharrens in Aussicht gestellt! Würden sie mir jemals wieder vertrauen können?! »Die Forderung der Betriebswerkstätten werden wir fallen lassen müssen –.« »Gerade das?! Die Hauptsache!« rief ich. »Das einzige Mittel vielleicht, um dem Elend der Heimarbeit, um der Ausbeutung der Zwischenmeister ein Ende zu machen!« – »Gerade das. Wir wollen froh sein, wenn sich der Lohntarif durchsetzen läßt und der Reichstag sein Versprechen einer durchgreifenden Gesetzgebung einlöst.«
Schweren Herzens kam ich an jenem Tag in das Bureau. Es war überfüllt, und lautes Stimmengewirr drang mir entgegen. »Die Führer verraten uns!« rief einer. »Wir können hungern, und sie stopfen sich die Taschen –,« brüllte ein anderer. Ein paar keifende Weiber hieben mit Fäusten auf den Zahltisch: »Betrüger seid Ihr, – Ausbeuter, – schlimmer als die Meister,« schrien sie den Dahinterstehenden ins Gesicht, die das Geld abzählten. »Wir haben nichts mehr –,« flüsterte einer der Gewerkschaftsbeamten mir hastig zu, »– es war ein Ansturm ohnegleichen.« Ich lief die Treppe wieder hinab, sprang in die nächste vorüberfahrende Droschke und fuhr zur Zentralstelle der Ethischen Gesellschaft. Heute, so hatte man mir mitgeteilt, sei eine beträchtliche Summe eingelaufen. Ich ließ mir geben, was zur Verfügung stand, – es war auch nur ein Tautropfen, der im Augenblick in der durstenden Erde verschwinden würde, – und fuhr zurück, so rasch der arme Schimmel laufen konnte. Vor dem Bureau stauten sich die Menschen. Ein paar Polizisten hielten mühsam die Straße frei. Ich sprang aus dem Wagen und versuchte mich vorzudrängen. »Wat, so eene biste, daß de erster Jüte fährst?« schrie mich eine rohe Stimme an, und eine Faust stieß mich in den Rücken. Ein paar Bursche, die nach Fusel rochen und mit den Konfektionsarbeitern sichtlich nicht das Geringste zu tun hatten, überschütteten mich mit unflätigen Redensarten. Ich versuchte, mir mit ein paar Ellbogenstößen freie Bahn zu schaffen, während meine Hände die Geldtasche angstvoll umklammerten. »So loof doch, loof – wir werden dir Beene machen,« gröhlten sie und ich fühlte ihre Fäuste wieder auf meinem Rücken. Ich schrie laut auf. Im Augenblick war ich von bekannten Gesichtern umgeben, ich hörte noch ein paar Ohrfeigen rechts und links und war halb getragen, halb geschoben im Zimmer.
Am Abend war auch das letzte Geld verteilt.
In diesem Augenblick der Not kam es zu einer überraschenden Wendung: ein Teil der Zwischenmeister, empört darüber, daß die Unternehmer ihnen alle Schuld an den schlechten Löhnen zuzuschieben suchten, machten gemeinsame Sache mit den Arbeitern, und die Fabrikanten, die nunmehr ernstlich in Gefahr standen, die Einnahmen der Saison zu verlieren, die aber andererseits auch genug von der Lage der Dinge unterrichtet waren, um zu wissen, daß die Streikenden das Ende ihrer Widerstandskraft erreicht hatten, riefen offiziell die Vermittlung des Gewerbegerichts an. Die Fünferkommission der Arbeiter, davon in Kenntnis gesetzt, zögerte nicht, auch ihrerseits mit dem Einigungsamt in Verbindung zu treten. Im Bürgersaal des berliner Rathauses, vor einem vielhundertköpfigen Publikum, kam es zur Verhandlung und zur endlichen Unterzeichnung eines Vertrags, dessen wichtigste Bedingungen die Erhöhung der Löhne und die Gegenseitigkeitsverpflichtungen in bezug auf die Durchführung der Lohntarife waren. Von den Betriebswerkstätten war gar keine Rede mehr.
Die Streikleitung berief die Referenten zu einer neuen Sitzung. In öffentlichen Versammlungen sollten wir das Ende des Streiks verkünden. Ich versuchte, mich frei zu machen. »Wir haben Ihr Wort, Genossin Glyzcinski,« sagte einer der Führer mit scharfer Betonung. »Wie kann ich diesen Ausgang als einen Sieg verteidigen,« wandte ich ein. »Darüber mögen Sie denken, was Sie wollen,« entgegnete Martha Bartels heftig, »hier haben Sie einfach Ihre Pflicht zu tun, wie wir alle.« Flüchtig fuhr mir durch den Kopf, daß ich aus meiner Welt dem Zwang der Pflicht entflohen war, um meiner Überzeugung zu folgen, aber ich fühlte mich viel zu müde, um jetzt darüber nachzudenken. Ich fügte mich stillschweigend. Als eine Wohltat sah ich es an, daß ich wenigstens nicht in demselben Saal, vor denselben Menschen sprechen mußte. Weit in den Osten, in die Andreasstraße, schickte man mich. »Sie werden keinen leichten Stand haben,« sagte Reinhard beim Weggehen, »es ist das Hauptquartier der Anarchisten.«
Heinrich Brandt begleitete mich auf dem Wege zur Versammlung. Wir hatten uns in der Zwischenzeit nur immer auf Minuten gesehen. Erst jetzt, wo Rosalie schon seit einigen Tagen aufgestanden war, schwand unsere Angst um sie. Das Wochenbett war normal verlaufen; sie nährte den Kleinen und schien seelenruhig. Trotzdem war Heinrich heute wortkarg, und sein ausdrucksvolles Gesicht, das jede Stimmung verriet, erschreckte mich. Aber soviel ich auch in ihn drang, er meinte, es sei nichts, gar nichts geschehen, ich solle lieber an meinen Vortrag denken, als über die Ursache seiner schlechten Laune nachgrübeln.
Der kleine Saal war schon voll, als ich kam. In allen Händen sah ich weiße Zettel, mein Auge fiel auf lauter erregt gerötete Gesichter. Bei der Wahl des Bureaus siegte der Führer der Anarchisten mit riesiger Mehrheit über unseren Kandidaten. Ich empfand es fast wie eine Erleichterung –, »nun werden sie mich gar nicht reden lassen,« flüsterte ich Heinrich zu. Aber schon stand der junge blonde Mann mit den zarten Mädchenzügen auf der Tribüne: »Ich erteile der Referentin Frau von Glyzcinski das Wort«, und mit einer höflichen Handbewegung machte er mir neben sich Platz.
Ich sprach schlecht. Keinen Augenblick konnte ich meiner eigenen Empfindung, meinen innersten Gedanken folgen. Ich war nur ein Sprachrohr. Trotz der musterhaften Leitung des jungen Anarchisten, der die Ruhe immer wieder herzustellen suchte, unterbrachen mich Zurufe aller Art: sarkastische, gemeine, wütende. Dazu Heinrichs Gesicht, auf dem meine Blicke immer wieder haften blieben –, ich verlor den Faden, verwirrte mich wurde ängstlich. Man rief höhnisch »Bravo«, als ich geendet hatte. Und dann sprach der Vorsitzende. Seine ganze Rede war ein feuriger Appell an das Proletariat, eine glühende Anklage der Streikleitung. Im Moment, wo aus England Millionen an Unterstützung zu erwarten seien, habe sie sich feige den Kapitalisten unterworfen und die Sache des Volks verraten. An ihm sei es nun, zu zeigen, daß es sich von keiner Seite knebeln lasse, daß es den Kampf nicht nur fortsetze, sondern ausdehne, bis ein Generalstreik dem Volk die Macht verleihe, dem Unternehmertum seine Gesetze zu diktieren. In jedem Wort, das er aussprach, brannte das Feuer seiner Überzeugung, und alles jauchzte ihm zu. Meine Resolution wurde abgelehnt, die seine, die die Fortsetzung des Streiks erklärte, angenommen. Durch einen Nebeneingang ließ man mich hinaus. Man hätte mich sonst vor den Insulten der fanatisierten Menge nicht schützen können.
Der Streik war trotzdem zu Ende. Die englischen Millionen waren nichts als ein Märchen. Ein paar Tollkühne hungerten noch eine Woche länger –, das war alles.
Wir gingen durch den Tiergarten heimwärts, Heinrich und ich. Die Kälte tat mir wohl. »Am liebsten zöge ich selbst solch Schneekleid an, um ganz, ganz kalt zu werden,« murmelte ich. Eine große Hoffnungslosigkeit hatte sich meiner bemächtigt.
»Nun sollst du auch wissen, was mir fehlt,« sagte Heinrich, auf dessen Arm ich mich müde stützte. »Ich hatte heute eine böse Szene mit Rosalie. Sie will in den Süden – auf Monate – mit mir. Um unsere Ehe wieder herzustellen, wie sie sagt. Ich weigerte mich, brauchte lahme Ausreden, die sie durchschaute. Sie bekam einen Weinkrampf, dann warf sie mir vor, daß ich das Kind töten wolle, indem ich sie, die nährende Mutter, nicht schone.«
Er blieb aufatmend stehen.
»Ich versprach ihr jede Rücksicht, – nur mit ihr reisen könne ich nicht. Jetzt fordert sie eine Auseinandersetzung, auch mit dir. Zwei Tage hat sie mir Zeit gegeben.«
»Sie hat recht,« sagte ich, »auch sie zieht ein Ende mit Schrecken dem Schrecken ohne Ende vor.«
Ich zwang mich zur Ruhe, – seinetwegen.
Die beiden Tage schleppten sich hin wie ebenso viele Jahre, jede Stunde beladen mit Qualen, mit Selbstvorwürfen, mit Zweifelfragen. Hatte ich nicht das Leben dieser Menschen zerstört, hatte den, der mir auf der Welt der liebste war, in einen Kampf gerissen, der für ihn vielleicht des Einsatzes nicht wert sein würde, hatte dem Kinde schon im Mutterleibe den Vater gestohlen!
Und dann kam der Tag und die Stunde. Ich wartete von mittags bis abends. Jeder Schritt auf dem Hof ließ mich auffahren, vor jedem Laut, der von drüben klang, zitterte ich. Minuten gab es, in denen ich die Hände faltete, wie ein kleines Kind, wenn sinnlose Angst es den schützenden Vater im Himmel suchen ließ. Aber durfte ich beten – ich! –, selbst wenn ich noch glauben könnte?! Die Bilder auf meinem Schreibtisch starrten mich an und sahen mir nach, wohin ich auch im ruhelosen Auf- und Abwandern mich wandte: der Vater, der einst einen braven Offizier seines Regiments für unwürdig erklärt hatte, weiter des Königs Rock zu tragen, weil er das Weib eines andern liebte; die Mutter, deren ganzes Leben unter dem einen Gesetz der Pflichterfüllung stand; – aber lugte nicht neben ihr aus dem Rahmen ein stilles, edles Antlitz hervor mit gütigen dunkeln Augen? »Großmama,« schluchzte ich leise. O, daß ich den Kopf in ihrem Schoß vergraben, ihr beichten und aus ihrem Munde mein Absolve te hören dürfte!
War das nicht sein Schritt? Ich riß das Fenster auf. Klang nicht ein Ruf zärtlich aus dem Dunkel? Mit angehaltenem Atem horchte ich. Klopfte es nicht an der Pforte? Oder war es mein eigenes Herz, das ich hörte? Ich blieb auf dem engen, kleinen Flur, an die Mauer gelehnt, mit krampfhaft aufgerissenen Augen und pochenden Schläfen. Die Treppe draußen knarrte, ich griff an die Klinke, die Türe sprang auf –
»Alix!« Welch ein Ton war in seiner Stimme! Halb bewußtlos sank ich in seine weitgeöffneten Arme.
»Sie willigt in die Scheidung.«