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Drei Monate später saß ich an unserem Schreibtisch, in einen Artikel vertieft, den ich Wanda Orbin versprochen hatte.
»Fast schien es, als sollte der Züricher Arbeiterschutz-Kongreß den Beweis erbringen, daß die Anhänger der verschiedensten politischen und religiösen Weltanschauungen auf dem Gebiete praktischer Sozialreform zu gemeinsamen Resultaten gelangen könnten. Die Fragen der Kinder- und der Sonntagsarbeit riefen keinerlei tiefere Differenzen hervor. Nur hie und da fiel ein Wort, das wie Wetterleuchten die Abgründe erhellte, die tatsächlich zwischen den Rednern auseinanderklafften. Aber erst die Frage der Frauenarbeit vollzog schließlich die Trennung der Geister. Schon in der vorbereitenden Sektion kam es zu hitzigen Debatten: auf der einen Seite standen die katholischen Sozialreformer Belgiens und Österreichs, unter ihnen Männer in langem Priesterrock und brauner Mönchskutte, auf der anderen die Führer der internationalen Sozialdemokratie, die Bebel und Liebknecht, die Vandervelde und Geier an ihrer Spitze. Und als wir uns am nächsten Morgen in dem hohen Saal der Tonhalle wieder versammelten – einem Saal, der nur für Festesfreude geschaffen schien, – und der blaue See und die weißen Berge durch die breiten Fenster zu uns hereinstrahlten, ein Bild glücklichen Friedens, da wußten wir: heute kommt es zur Schlacht. Die Tribünen waren überfüllt: die ganze studierende Jugend Zürichs drängte sich dort oben zusammen. Erwartungsvolle Erregung brannte auf ihren Wangen. Und unten sammelten sich die Delegierten um ihre Tische: die Luft schien zu vibrieren unter dem Einfluß all der klopfenden Pulse, all der kampfheißen Blicke. Der katholische Demokrat Carton de Wiart trat hinter das Rednerpult zur Verteidigung seines Antrags: Verbot der großindustriellen Frauenarbeit. Mit tiefem Glockenklang erfüllte seine schöne Stimme den Riesenraum und steigerte sich zum tragischen Pathos, wenn sie die zerstörenden Folgen der Frauenarbeit schilderte: ›Der Säugling verkommt in Hunger und Schmutz, die heranwachsenden Kinder werden ein Opfer der Straße; vom erloschenen Herdfeuer flieht der Mann und sucht Trost und Wärme im Trunk . . .‹ Er malte nicht zu schwarz, und auch aus den Reihen der Gegner hätte ihm niemand widersprechen können. Aber während die tatsächlichen Zustände ihm und seinen Gesinnungsgenossen als eine beklagenswerte Verirrung der Menschheit erschienen, die durch ein gebieterisches ›Zurück!‹ von dem alten kleinbürgerlichen Familienleben wieder abgelöst werden könnten, sahen die Sozialdemokraten in ihnen eine notwendige Begleiterscheinung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, die nur durch ein ›Vorwärts!‹ zum Sozialismus zu überwinden ist. ›Auch wir sind für die Verkürzung der Arbeitszeit, für gesetzlichen Mutterschutz, für Verbot der Frauenarbeit in gesundheitsschädlichen Betrieben,‹ erwiderte Frau Alix Brandt dem Redner; ›aber für ein Verbot der Frauenarbeit überhaupt sind wir nicht. Denn nicht jenes idyllische Bild glücklichen Familienlebens, das Herr de Wiart in so leuchtenden Farben malte, würde seine Folge sein, sondern eine noch größere Zerstörung der Familie, eine noch gefährlichere Untergrabung weiblicher Kraft. Weder Laune noch Neigung treibt die Frauen in Scharen in die Fabriken, sondern Not. Schließt ihnen deren Tore, und dieselbe Not wird sie in das Elend der Heimarbeit treiben, wo schrankenlos die Ausbeutung herrscht, wird sie demjenigen Frauenberuf zuführen, vor dem weder die christliche Sittlichkeit des Staates, noch die Ritterlichkeit der Männer das weibliche Geschlecht jemals gehütet haben: der Prostitution.‹ Und in einer Rede voll hinreißender Leidenschaft verteidigte Frau Wanda Orbin die Berufsarbeit der Frau als die Grundlage ihrer sozialen Befreiung: ›Die Arbeit ist ihre Menschwerdung. Was sie auf der einen Seite zerstört, baut sie auf der anderen wieder auf für die sittliche und geistige Einheit von Mann und Frau. Aus den Konflikten zwischen Beruf und Haus erwachsen dem Weibe zwar die größten Schmerzen, aber auch die größte Kraft. Nicht nur, weil ein Verbot der Frauenarbeit heute die Not steigern würde, wie meine Vorrednerin Ihnen auseinandersetzte, stimmen wir geschlossen gegen den Antrag Wiart, sondern weil wir Frauen die Arbeit wollen um unserer Selbstbefreiung willen, um einer künftigen Neugestaltung der Ehe und der Familie willen, die die ökonomische Unabhängigkeit des Weibes zur Voraussetzung hat.‹ Minutenlang umbrauste der Jubel aus dem Saal hinauf, von den Tribünen herab die Rednerin. Und als die Baronin Vogelsang, eine zarte, schlichte Frauengestalt, sie ablöste, – mit niedergeschlagenen Augen und leise zitternden Händen, ungewohnt des öffentlichen Auftretens, – erschien sie wie die Personifizierung jener fernen versunkenen Welt, die sie mit leisen, weichen Worten, mit einem Appell an das Gefühl wieder glaubte heraufbeschwören zu können: ›Um der Kinder willen, denen die Industrie die Mütter raubt, nehmen Sie den Antrag an –;‹ ihre erhobenen Blicke flehten und rührten manch einem ans Herz, so daß die rauhe Wahrheit, die der Verstand erkennt, hinter den weichen Schleiern, die die Empfindung webt, zu verschwinden drohte . . .«
Ich legte die Feder aus der Hand und seufzte tief auf. Seit meines Kindes Geburt waren die Probleme der Frauenbefreiung für mich keine bloßen Theorien mehr. Sie schnitten in mein eigenes Fleisch, – und ich war keine Industriearbeiterin, – ich brauchte nicht von früh bis spät in der Fabrik zu schuften, fern meinem Liebling. Mir grauste, wenn ich daran dachte, daß so etwas möglich, ja notwendig sein konnte. Es gab Augenblicke, in denen meine Überzeugungen auf tönernen Füßen zu stehen schienen.
Schon die Reise nach Zürich war mir schwer genug geworden, obwohl ich mein Kind in bester Obhut zurückgelassen hatte. Meine Phantasie malte sich täglich neue Schrecken aus, die ihm zustoßen konnten. Und wie viele Stunden des Tages mußte ich jetzt fern von ihm sein! Wie oft sprang ich vom Schreibtisch auf und sah sehnsüchtig auf den sonnigen Platz hinunter, wo es, in seinen weißen Wagen gebettet, auf- und niedergefahren wurde. Wie viele Blicke aus seinen blauen Augen, wieviel krähendes Babylachen von seinem roten Mündchen gingen mir verloren! Und abends, und nachts: wie oft mußte ich, statt an seinem Bettchen zu sitzen, in Versammlungen sprechen, an Partei-Zusammenkünften teilnehmen.
Manche meiner Genossinnen kamen aus der Werkstatt und der Fabrik, auch sie hatten kleine Kinder zu Hause und kein Dienstmädchen, um sie zu hüten; – meine Bewunderung für sie stieg und zugleich mein Verständnis für all die Bitterkeit, den Haß und das Mißtrauen, das sich in ihnen angesammelt hatte. Kann ein Weib der Welt, die den Kindern die Mutter entreißt, mit anderen Empfindungen gegenübertreten? Und doch hatte ich mich in Zürich mit aller Leidenschaft dafür eingesetzt, die weibliche Berufsarbeit – auch die der Mütter – zu erhalten? Ich zerriß den halbfertigen Artikel wieder und schrieb an Wanda Orbin ein paar entschuldigende Worte. Ich konnte nicht mehr über eine Frage sprechen, ich war außer stande, den Lesern fix und fertige Ansichten aufzutischen, seitdem sie mir zur persönlichen Angelegenheit geworden war, und ich ihr für mich selbst die Antwort noch schuldig bleiben mußte.
Mein Mann kam nach Hause. »Bist du schon fertig?« fragte er mit einem verwunderten Blick auf den Schreibtisch, dessen Aussehen keine Arbeit mehr verriet. Ich erklärte ihm die Situation, obwohl ich von vorn herein wußte, daß ihm das volle Verständnis dafür fehlen würde. Er hatte schon oft nachsichtig, wie über eine kindliche Torheit gelächelt, wenn ich den Konflikt berührte, in dem ich mich befand; er war sogar hie und da heftig geworden, hatte mich für sentimental, für überängstlich erklärt, wenn ich die Trennung von meinem Kinde, die meine Berufs- und Parteipflichten mir auferlegte, so schwer nahm. Auch heute schüttelte er den Kopf und unterdrückte sichtlich eine Antwort, weil er mich nicht verletzen wollte. »Ich glaube, wir haben Grenzpfähle berührt, die das Reich des Weibes von dem des Mannes trennen,« sagte ich nachdenklich. »Wir sind nicht imstande, wie Ihr, alle Probleme in kühler Objektivität zu lösen, – wie eine mathematische Aufgabe.«
Gegen Abend besuchte uns Romberg. Wir waren rasch mitten in lebhaftester Debatte. Das Fernbleiben aller jungen sozialpolitischen Professoren vom Züricher Arbeiterschutz-Kongreß hatte wie eine gemeinsame Demonstration gewirkt und war mir um so peinlicher aufgefallen, als es im Gegensatz nicht nur zu meinen großen Hoffnungen, sondern auch im Gegensatz zu ihren eigenen Wünschen und Äußerungen gestanden hatte.
»Waren Sie nicht derjenige, der es stets bedauerte, daß Gelehrte und Arbeiter nicht einmal auf dem Gebiet der Sozialpolitik sich begegnen und miteinander beraten könnten?« fragte mein Mann. »Und nun bot sich Ihnen endlich die Gelegenheit, und Sie ergriffen sie nicht!« Romberg biß sich in die Lippen, wie immer, wenn er um eine Antwort verlegen war.
»Die Zeit war unglücklich gewählt,« meinte er schließlich zögernd.
»Warum sagen Sie nicht lieber gleich, was die linksliberale Presse zu ihrer Rechtfertigung feierlich erklärte,« rief ich empört, »daß die starke Beteiligung unserer Partei den Kongreß von vorn herein zu einem sozialdemokratischen gestempelt habe und preußische Professoren daher nicht hingehörten!«
Er unterbrach mich: »Sie wissen genau, daß der Vorwurf eines Mangels an Mut mich nicht treffen kann!« Ich dachte an das rote Buch und lenkte ein. Aber die gegenseitige Verstimmung wich erst allmählich dem Interesse am Gegenstand unseres Gesprächs.
»Die blutige Wanda hat, wie ich gelesen habe, in Zürich auch die Frauenfrage gelöst,« sagte Romberg mit einem sarkastischen Lächeln.
»Ich fürchte, jede ›Lösung‹ ist nur der Ausgangspunkt neuer Probleme,« erwiderte ich.
Romberg warf mir einen überraschten Blick zu: »Wie, – auch Sie beginnen, an der Unfehlbarkeit Ihrer Päpste zu zweifeln?! Das wird ja immer besser: Schönlank putzt den alten Liebknecht herunter wie einen Schulbuben und weist ihm nach, daß die Verelendungstheorie angesichts der gestiegenen Lebenshaltung der Arbeiter zum alten Eisen geworfen werden muß wie das eherne Lohngesetz seligen Angedenkens; Bebel tritt für die Beteiligung an den Landtagswahlen ein, was ein Preisgeben eines mit aller Lungenkraft verteidigten Prinzipes ist, und Alix Brandt wird zur Antifeministin – –«
»Wenn Ihre Zusammenstellung eine Berechtigung hat, so ist es die, daß meine Zweifel ebensowenig zum Antifeminismus führen, wie Schönlanks oder Bebels Negationen veralteter Anschauungen zum Antisozialismus.«
»Also auch hier nur eine Revision des Programmes?«
»Auf Grund der Revision der Erfahrungen, die wir durchgemacht haben, – gewiß! Übrigens fehlt es ja der Frauenbewegung noch an jedem Programm, weil es ihren Problemen an der wissenschaftlichen Formulierung fehlt.«
»Das wäre eine Aufgabe, die Sie lösen müßten,« meinte Romberg lebhaft.
»Damit würdest du dir und anderen zur Klarheit verhelfen –,« fügte Heinrich rasch hinzu, »ein Buch über die Frauenfrage, das von einer Darstellung der tatsächlichen Verhältnisse ausgehen müßte, das die wirtschaftliche, die soziale und die rechtliche Lage der Frauen zu behandeln hätte, . . .«
»In Ihnen regt sich doch sofort der Redakteur,« unterbrach ihn Romberg. »Die vage angedeutete Idee ist unter Ihren Händen zur Disposition eines ganzen Werkes geworden.«
Das Herz klopfte mir vor Erregung. Der Gedanke an diese Arbeit packte mich gerade durch seine Selbstverständlichkeit. Ein zusammenfassendes, grundlegendes Werk der Art gab es noch nicht. Es fehlte nicht nur mir, es fehlte der ganzen Bewegung, die auch darum so unsicher hin- und hertastete.
»Ich habe, fürchte ich, die nötigen Vorkenntnisse nicht,« meinte ich schließlich zaghaft.
»Dafür haben Sie ja einen Nationalökonomen zum Mann,« antwortete Romberg.
Während des Abends, den wir im Theater verbrachten, dachte ich nur an den Plan der Arbeit, die ich entschlossen war auszuführen. Erst auf Rombergs wiederholtes: »Sehen Sie nur!« sah ich mich um. In der Reihe vor uns erschienen zwei seidenrauschende Damen mit goldroten Haaren, feuchtschimmernden Augen und unnatürlich glühenden Lippen. »Wird für diese in Ihrem Zukunftsstaat kein Platz sein?« flüsterte Romberg. »Ich hoffe nicht!« sagte ich. »Schade!« antwortete er lächelnd. In der Bewunderung für derlei Erscheinungen ist er wie ein Onkel aus der Provinz, dachte ich ärgerlich. Als wir aber nachher, seiner Gewohnheit gemäß, die die Nacht gern zum Tage machte, noch lange bei uns zusammensaßen, kam er auf die Begegnung zurück: »Können Sie sich wirklich eine Welt als wünschenswert vorstellen, in der alle Frauen Berufsphilister werden, wie es heut schon alle Männer sind; in der sie keine Zeit mehr haben, ihre Schönheit zu pflegen, kurz, in der alle duftenden Luxusgärten in Kartoffelfelder verwandelt werden?« –
»Ich würde solch eine Welt zerstören und nicht schaffen helfen! Aber Frauen, wie jene, auf die Sie anspielen, gehören nicht zu den duftenden Blumen, zu den an sich unnützen, aber unentbehrlichen Reizen des Lebens. Sie sind verdorbene Speisen für verdorbene Gaumen.«
»Sie mögen in dem Einzelfall recht haben; unumstößlich aber bleibt für mich das Eine: nicht die Berufsarbeiterin, nicht die, nach Ihren Begriffen freie, emanzipierte Frau wird der Kultur höchste Blüte sein, sondern die femme amante.« Er sah mich kampflustig an, er liebte den Widerspruch und erwartete ihn; der Typus einer Frauenrechtlerin stand für ihn ein für allemal fest, und er glaubte immer wieder, ihn in mir vor sich zu haben.
»Sie hoffen umsonst auf meine sittliche Empörung,« spottete ich, »meine Meinung stimmt fast überein mit der Ihren, nur daß ich die Existenz der femme amante leugne, solange nicht die wahrhaft freie Frau ihre Voraussetzung ist . . .«
Als Romberg uns verlassen hatte, zog mein Liebster mich in seine Arme und flüsterte mir ins Ohr: »Hätte ich nicht meinem dummen Katzel widersprechen müssen, das die femme amante wegdisputieren will und selbst nichts anderes ist?« »Und nichts anderes sein will,« sagte ich leise und gab ihm seinen Kuß zurück.
Ich lag noch lange wach und grübelte. Ob ich ihm anvertrauen könnte, was mich bewegte? Schon in der kurzen Zeit meiner Ehe war mir klar geworden, was ich vorher nicht verstanden und darum nur verurteilt hatte: warum Staat und Kirche nicht die Liebe, sondern die Pflicht zur Grundlage der Ehe gemacht haben, warum nach ihnen die Zeugung, Erhaltung und Erziehung der Nachkommenschaft ihre Hauptaufgabe ist. Die Ehe kam mir vor wie eine moralische alte Jungfer, die der jungen unbändigen Liebesleidenschaft durch ihre Predigten das Leben ständig vergällt. Die Liebe braucht Festtagsstimmung, die Ehe braucht den Alltag. Vor jedem rauhen Luftzug, den die Ehe erzeugt, läßt die zarte Blume der Liebe die Blätter hängen. Die Liebe ist ein Rausch, die Ehe ist nüchtern. Lodern auf dem Altar der Liebe die Flammen, so schämen sich die Opfernden wie arme Sünder, wenn die Ehe sie plötzlich ertappt. Eins aber vor allem wurde mir täglich gewisser: die Liebe fordert Freiheit, die Ehe Abhängigkeit. Einer muß sich dem anderen unterordnen, wenn der Frieden des Hauses gewahrt sein soll, wo aber in der Liebe Unterordnung anfängt, flieht sie selbst.
So türmten sich die Probleme der Frauenfrage, – meiner Frauenfrage. Wahrlich, es war eine große Aufgabe, sie zu lösen.
Ich stürzte mich mit Feuereifer in die Vorstudien meiner Arbeit; daß sie mich ans Haus, an den Schreibtisch fesselte, war eine willkommene Begleiterscheinung.
Als der Vortragsaufforderungen gar zu viele wurden, – und es blieb nicht bei bloßen Aufforderungen, deren Annahme oder Ablehnung der Entscheidung des Einzelnen überlassen blieb, die Genossinnen verfügten vielmehr ohne viel zu fragen über meine Arbeitskraft –, erzählte ich von dem Buch, das ich vorbereitete, und das mir eine gewisse Beschränkung auferlege. Ich war nicht wenig erstaunt, daß dieselben Menschen, die der Wissenschaft eine fast unbegrenzte Bedeutung zumessen, über meine Mitteilung die Nase rümpften und sie nur als einen Vorwand ansahen, um mich von der Agitation zurückzuziehen. Je mehr ich sie zu überzeugen suchte, desto weniger verstanden sie mich. »Wer so 'ne Erziehung jehabt hat, wie die Jenossin Brandt, für den is das Schreiben doch keen Kunststück,« sagte eine von ihnen. »Un ieberhaupt: im Erfurter Programm steht haarkleen allens, wat wir wollen,« fügte eine andere hinzu. »Genosse Bebels ›Frau‹ und Genossin Orbins Artikel in der ›Freiheit‹ sind als Grundlage für unsere Bewegung mehr als ausreichend,« sagte Martha Bartels mit einer Schärfe, die sich steigerte, je älter sie wurde. Ich sah ein, daß nichts zu machen war; im Grunde hatten die Frauen recht, wenn sie sich um ungelegte Eier nicht kümmern mochten.
Nur eine Idee erwähnte ich noch, die ich kürzlich als den gesunden Kern aus der ungenießbaren Schale einer französischen Broschüre herausgeschält hatte: die einer staatlichen Mutterschafts-Versicherung. Ich wollte ihr eine fest umrissene Gestalt geben und sie in den Mittelpunkt meines Buches stellen. Die Mutter schützen, solange sie das Kind unter dem Herzen trägt, sie dem Kinde erhalten, solange es der Pflege und Ernährung durch sie bedürftig ist, – das schien mir aber auch ein Ziel, würdig einer starken Bewegung, es zu erreichen. Ich schlug vor, in unseren Versammlungen die Frage zur Erörterung zu bringen. Aber seltsam: um unseren Sitzungstisch saßen die früh gealterten, abgehärmten Mütter, und kein Wort, keine Miene verriet, daß der Gedanke sie zu erwärmen vermöchte. Alles Neue galt ihnen zunächst als etwas Feindliches. Diese Revolutionärinnen hatten schon eine Tradition und waren darum vielfach reaktionär.
Von dem Plan meines Werkes sprach ich mit ihnen nicht mehr. Aber ich beschloß, alle Zeit, die mir blieb, ihm zu widmen.
Doch auf die Möglichkeit stetiger Arbeit hoffte ich vergebens.
An unserem Schreibtisch saßen wir, mein Mann und ich. Wie schön hatten wir es uns gedacht, das gemeinsame Arbeiten! Aber dieses Einandergegenübersitzen von zwei Menschen, die sich lieben, die jeden Ausdruck im Gesicht des anderen sehen müssen und unwillkürlich zu deuten versuchen, diese Sorge, einander ja nicht zu stören, schufen eine Atmosphäre von Nervosität, die um so unerträglicher wurde, als keiner den Mut hatte, sie dem anderen zu gestehen. Es kam vor, daß ich aufatmete, wenn mein Mann das Zimmer verließ; und oft ging ich hinaus, weil ich fühlte, daß er allein sein mußte.
Tausenderlei Dinge zerrissen die Tage und die Stimmung: Da gab's bei den Kindern Vokabeln zu überhören und Anzüge zu sticken, da waren die Haushaltssorgen, die mich um so stärker in Anspruch nahmen, je weniger ich von ihnen verstand, und die ständige angstvolle Frage: komme ich aus? Auf meinen Mann, der für mich die Güte und Rücksicht selber war, wirkte sie wie ein rotes Tuch. Ohne irgendeine Erklärung und Entschuldigung gelten zu lassen, hielt er mich stets für schuldig, wenn ich sie nicht bejahend beantworten konnte. »Du verschwendest, – du läßt dich vom Mädchen betrügen –,« rief er, während die Zornadern ihm auf der Stirne schwollen. Und doch lebten wir nach meinen anerzogenen Begriffen über die Maßen einfach. Mich kränkte sein Zorn, den ich als Ungerechtigkeit empfand. Ich konnte keine gute Hausfrau sein, wenn ich zu gleicher Zeit meinen schriftstellerischen Beruf ausüben wollte. Das menschliche Gehirn ist auf das Nebeneinander von zwei Gedankenketten nicht eingerichtet. Und der Haushalt erfordert umsomehr die Gedankenwelt der Frau, je weniger ihr seine Pflichten zur mechanischen Gewohnheit geworden sind. Mir blieb kein Ausweg: ich verschwieg meine Sorgen, ich vermied es soviel als möglich, meinen Mann um Geld zu bitten, was ich immer als eine Erniedrigung meiner selbst empfand. Wanda Orbin hatte recht, tausendmal recht: die ökonomische Selbständigkeit des Weibes ist die Voraussetzung einer glücklichen Verbindung der Geschlechter, sie hilft so manche andere Klippen der Ehe umschiffen. Ich schrieb, neben der Vorarbeit für mein Buch, wieder Artikel für Zeitschriften und Tagesblätter, um Geld zu verdienen.
Nur wenn ich bei meinem Kinde war, wenn seine Pflege meine Gedanken in Anspruch nahm, dann empfand ich das nicht wie eine Störung oder wie ein Ablenken von meiner eigentlichen Tätigkeit. Fühlte ich sein warmes rundes Körperchen in meinen Armen, so strömte wunschloser Friede mir tief ins Herz. Lachten mich seine blauen Augen an, so vergaß ich alles darüber, was es an Glück in der Welt noch geben mochte, und weinte es, und ich wußte nicht warum, so gab es kein Menschenleid, das mir hätte größer erscheinen können; klammerten sich seine rosigen, kleinen Finger fest um die meinen, so fühlte ich, daß es für immer von mir Besitz ergriffen hatte; daß mein Herz dazu da war, um es zu lieben, mein Geist, um es zu erziehen, meine Kraft, um ihm den Weg ins Leben bahnen zu helfen. Kam ich von ihm zu meinem Mann zurück, so war jeder Schatten von Kummer verschwunden, ich liebte ihn doppelt, weil er meines Kindes Vater war. Und sah ich meine Stiefsöhne dann, so tat mir das Herz weh: ich konnte sie nicht lieben wie mein eigenes Kind; sie mußten das fühlen, wenn ich mich auch noch so sehr bemühte, meine Zärtlichkeit für den Kleinen nur zu äußern, sobald sie fern waren.
Zuweilen, wenn das Geld wieder einmal recht knapp war, dachte ich nicht ohne Bitterkeit an die reiche Mutter dieser Kinder. Aber meinem Mann sagte ich nichts davon. Die Erziehung, die ich zu Hause genossen hatte, und deren Folgen Georgs sanfte Hand von mir abzustreifen vermochte, bekam wieder Macht über mich: ich lernte schweigen, um nicht zu verletzen, und um Auseinandersetzungen aus dem Wege zu gehen.
Meine Mutter kam um jene Zeit häufig zu mir. Seitdem wir unser Kind hatten taufen lassen, war sie viel milder und herzlicher geworden, obwohl ich sie über unsere Beweggründe nicht im Irrtum gelassen hatte. »Wir haben kein Recht, dies Kind von vornherein in eine Ausnahmestellung zu zwingen,« hatte ich ihr gesagt, als sie in unserer Handlungsweise einen Ausdruck unseres eigenen Gesinnungswechsels zu sehen glaubte; »ebensowenig wie wir es später, wenn es selbständig denken kann, hindern wollen, zu tun oder zu lassen, was seiner eigenen Überzeugung entspricht.«
Aber nach anderen Richtungen hütete ich mich um so mehr, sie ins Vertrauen zu ziehen. Sie hatte mir häufig gesagt: »Wenn du einmal verheiratet bist, wirst du einsehen, daß das Leben der Frau aus lauter Opfern und im Kampf mit lauter Kleinkram besteht!« Sie durfte nicht glauben, daß ihre Prophezeiung in Erfüllung gegangen wäre. Und sie mußte in der Meinung erhalten werden, die sie schließlich allein über meine Heirat getröstet hatte: daß meine äußere Lage die behaglichste sei. An der Art, wie diese ruhige, anscheinend kühle Frau ihre Freude darüber äußerte, sah ich erst, wie sehr sie selbst unter den dauernden pekuniären Sorgen gelitten hatte. Wie oft hatte ich sie um ihrer Härte willen im stillen angeklagt. Jetzt bat ich ihr manches ab. Ich erinnerte mich, wie umsichtig sie den großen Haushalt geführt hatte, wie sie stunden- und tagelang Wäsche flickte und uns unsere Kleider nähen half, – wie schwer mochte es auch ihr geworden sein, wie viel mochte sie entbehrt haben!
Weihnachten 1897 war es. Zum erstenmal putzte ich für mein Kind den Weihnachtsbaum. Erstaunt riß es die Augen auf und streckte die Händchen verlangend aus, als es die vielen bunten Lichter sah! Unter der Tanne lag allerlei Spielzeug für ihn, darunter ein großer bunter Hampelmann, den mein Vater geschickt hatte. Mit dem Söhnchen auf dem Arm trat ich zu meinem Weihnachtstisch, auf dem ein geheimnisvoll versiegelter Brief lag. Ich öffnete ihn, während mein Junge fröhlich lallend den Hampelmann hin- und herschwenkte: »Ein Häuschen im Grunewald« stand darin. Vor Überraschung war ich sprachlos. Heinrich umarmte mich und das Kind, glückselig über die Freude, die er bereitet hatte. In aller Stille hatte er mit Hall verhandelt und ihn rasch bereit gefunden, unseren Wunsch durch die Beschaffung von Baugeld und Hypotheken erfüllen zu helfen. »Wie wird unser Kind gedeihen, wie ruhig und friedlich wird meine Alix dort arbeiten können!« sagte er.
»Werden wir auch die Zinsen aufbringen können?« meinte ich schließlich, nachdem der erste Sturm der Freude sich gelegt hatte. Ein Schatten flog über seine Züge: »Mußt du dich immer gleich wieder fürchten, – auch angesichts solch eines Glücksfalles?!« Beschämt senkte ich den Kopf. Die Lichter waren längst erloschen, und die Kinder schliefen, unser Liebling mit dem Hampelmann, fest an sich gedrückt; der süße Duft der Wachskerzen, vereint mit dem starken der Tannes erfüllte das Zimmer; wir großen Kinder träumten darin unseren Weihnachtstraum: von dem stillen Häuschen im Wald, fern dem Lärm der Großstadt, von einer Heimat, die wir beide nie gekannt hatten, von unserem Kind, das wachsen sollte wie die Bäume: die Wurzeln im Boden der Mutter Erde, das Haupt erhoben, der Sonne zu und dem Sturme trotzend.
Am nächsten Morgen, einem echten Weihnachtsfeiertag, über den der Himmel all seinen Glanz und seine Farben goß, zog ich meinem blonden Buben ein weißes Mäntelchen an, packte ihn sorgfältig in die weichen Kissen seines weißen Wagens und schickte ihn zu den Eltern. Meine Gedanken begleiteten ihn: wie ein helles Licht sah ich ihn auftauchen in dem dunklen Flur, sah, wie der Großvater ihn feuchten Auges in die Arme nahm, fühlte, wie der letzte eiserne Reifen um des alten Mannes Herz zersprang.
»Das war ein lieber Gedanke von Dir,« schrieb die Mutter. »Ich habe Deinen Vater seit Jahren nicht so froh gesehen. Er strahlt noch jetzt und behauptet, es gäbe in der ganzen Welt kein zweites Kind wie seinen Enkel. Mich hat die Nachricht von Heinrichs Weihnachtsgeschenk noch besonders beglückt: so hat Gott meine Gebete doch erhört und alle Strafe von Dir abgewendet!«
Unseren wundergläubigen Vorfahren galten die zwölf Nächte, die dem Weihnachtsabend folgen, für heilig: in dieser Zeit wurde die Arbeit auf das notwendigste beschränkt, nur in Feiertagsgewändern begegneten die Menschen einander, und die Träume, die geträumt wurden, gingen in Erfüllung. Unter der Schwelle unseres Bewußtseins lebt und wirkt auch heute noch dieser Glaube. In den Straßen und in den Herzen ist es stiller als sonst. Der fieberhafte Pulsschlag des öffentlichen Lebens stockt. Selbst der heimatloseste Weltenbummler sucht sich einen Winkel Familienleben, wo er unterkriechen kann. Und wem es recht wohl und warm ums Herz wird, der wünscht zuweilen, sich auf immer einspinnen zu können in diese Stille.
Aber das junge Jahr wirft alle guten Gaben, die die Greisenhand des alten zum Abschied spendete, aus seinem Lebenspalast hinaus und ruft mit schmetternden Fanfaren zu neuen Kämpfen, richtet Ziele auf mit lockenden Preisen, so daß auch die süß Schlummernden sich dem Land ihrer Träume entreißen und im grellen Licht des Tages den alten Wettlauf wieder beginnen.
So erging es auch uns. Sturmzeichen sahen die Wetterkundigen am Himmel seit jenen ersten Gewitterwolken kaiserlicher Reden im vergangenen Jahr. »Rücksichtslose Niederwerfung jeden Umsturzes« hatte die eine gefordert, als »Vaterlandslose« hatte die andere diejenigen gebrandmarkt, die den Flottenforderungen ablehnend gegenüberstanden. Inzwischen war die Flottenvorlage dem Reichstag zugegangen, die ihren Schatten monatelang vorausgeworfen hatte, und auf sieben Jahre hinaus Millionen und Abermillionen für neue Schiffsbauten forderte. Doch die stürmische Entrüstung, zu welcher der Philister sonst immer bereit ist, wenn seinem Geldsack Gefahr droht, war ausgeblieben. Denn in feiner psychologischer Kenntnis der Menschennatur, die um so überraschender war, als die Regierungen ihre Völker mit dergleichen nicht zu verwöhnen pflegen, waren Vorfälle, die früher spurlos vorübergingen, – wie der Streit eines deutschen Kaufmanns mit den Polizeibehörden der Republik Haiti und die Ermordung zweier deutscher Missionare in China, – zu so ernsten Konflikten mit fremden Mächten aufgebauscht worden, daß der furor teutonicus sich daran zu entzünden vermochte. Einmal gereizt, griff der gute deutsche Michel wutschnaubend nach dem Racheschwert, und in seinen Träumeraugen brannte plötzlich wieder die alte Sehnsucht nach fernen fremden Ländern und ihren Märchenschätzen. Was uns, die wir nüchtern geblieben waren, wie eine romantische Floskel klang, – die pathetische Rede des Kaisers an seinen nach China ausziehenden Bruder von dem Dreinfahren der gepanzerten Faust und dessen Antwort von dem »Evangelium der geheiligten Person Seiner Majestät«, das er im Auslande verkünden wolle, – das entsprach im Augenblick dem fanatisierten Empfinden des deutschen Bürgers. Er, dessen Leben so lange sang- und klanglos dahingeflossen war, der seit Bismarcks Abschied für seine Begeisterungsfähigkeit keinen Gegenstand mehr gehabt hatte, berauschte sich an der Idee der Weltmacht, und die ungeheure Flottenforderung schreckte ihn nun nicht mehr.
Aber die Regierung erreichte durch ihre Politik noch mehr als das: hatte das Interesse eines großen Teiles der Bourgeoisie sich in einer für sie bedenklichen Weise in den letzten Jahren der sozialen Frage zugewandt, so war nunmehr ein Mittel gefunden, es von ihr abzulenken. Mit schmerzlichem Erstaunen sah ich, wie Männer, auf die ich noch vor wenigen Monden für unsere Sache gerechnet hatte, den Nationalismus über den Sozialismus siegen ließen, wie selbst ein Romberg und seine Freunde die Weltmachtpolitik verteidigten. Daß es zwischen ihr und der Arbeiterpolitik nichts anderes geben könne als unversöhnlichen Gegensatz, schien mir über allem Zweifel zu stehen. Für Rombergs Argumente, der in der Erschließung neuer Absatzgebiete auch einen Vorteil für die deutsche Arbeiterschaft sah, war ich vollkommen unzugänglich.
Die große Flutwelle patriotischer Begeisterung trieb nicht nur alte Freunde von unserer Sache ab, sie trug uns auch neue Feinde zu. Vielen, die sich um Politik bisher kaum gekümmert hatten, galten wir jetzt als Feinde des Vaterlandes, die mit allen Mitteln bekämpft werden müßten. Der Weizen Herrn von Stumms, unseres grimmigen alten Gegners, blühte; er drohte mit der Revolution von oben, wenn die Flottenvorlage im Reichstag zu Falle käme. Und tatsächlich schien ein neues Ausnahmegesetz in Vorbereitung. Der »Vorwärts« veröffentlichte ein Geheimschreiben des Staatssekretärs des Innern an die verbündeten Regierungen, worin er ein Gesetz zum Schutz der Arbeitswilligen in Aussicht stellte, das, nach den Absichten unserer Gegner, die Koalitionsfreiheit der Arbeiter notwendig beeinträchtigen, wenn nicht vernichten würde.
Was die Regierung gewollt hatte, wurde erreicht: eine Mehrheit für die Flottenvorlage, eine scharfe Trennung zwischen den bürgerlichen Parteien und der Sozialdemokratie für die Wahlen zum neuen Reichstag.
Aber auch für uns schien die Lage günstig: auf der einen Seite die Weltmachtpolitik mit ihrer möglichen Folge kostspieliger Kriegsabenteuer und drückender Steuerlasten, auf der anderen die Bedrohung des Koalitionsrechtes, – war das nicht genug, um die proletarischen Massen zu einem gewaltigen Protest aufzupeitschen?! Warum war die Stimmung in unseren Versammlungen so flau, warum fehlte auch mir, wenn ich sprach, jene anfeuernde Kraft der Rede, die früher an ihren Wirkungen zutage getreten war? Die starke, hoffnungsvolle Freudigkeit war verloren gegangen, als ob sich zwischen uns und das Ziel, dem wir so leidenschaftlich zustrebten, ein dunkler Schleier gesenkt hätte. Durch die Einheit, die unsere Kraft gewesen war, ging ein blutender Riß. Das Instrument der Partei klang verstimmt, als wäre eine Saite gerissen.
Langsam und allmählich, für die meisten unmerklich, hatte es sich vorbereitet: mit der Entwickelung der Sozialdemokratie von der Sekte zur Partei hatte sich zuerst die Taktik ihres Vorgehens leise verändert. Von der Ablehnung jeder Beteiligung an einem Parlament des kapitalistischen Staates als eines unmöglichen Paktierens mit der Bourgeoisie bis jetzt, wo sogar von alten bewährten Führern die Teilnahme an den Landtagswahlen unter dem Dreiklassenwahlsystem empfohlen wurde, war ein weiter Weg. Und er war gegangen worden. Was einer der wenigen Staatsmänner der Partei, Georg von Vollmar, nach dem Fall des Sozialistengesetzes unter dem empörten Widerspruch der radikalen Elemente in der Partei erklärt hatte: daß in dem Maße, in welchem wir einen unmittelbaren Einfluß auf den Gang der öffentlichen Angelegenheiten gewinnen, wir unsere Kraft auf die nächsten und dringendsten Dinge konzentrieren müßten und »dem guten Willen die offene Hand, dem schlechten die Faust« zu zeigen sei, – das hatte sich von Jahr zu Jahr als immer notwendiger erwiesen, und vor der Logik der Tatsachen wich die radikale Phrase bloßer Verneinung Schritt vor Schritt zurück.
Jetzt aber begann sogar die alt-ehrwürdige Theorie vor dem Ansturm der jungen Praxis in ihren Grundvesten zu zittern. Im Lichte der fortschreitenden Zeit erwiesen sich manche Fundamentalsätze, wie sie das Erfurter Programm formuliert hatte, als überholt. Schon die Beschäftigung mit der Agrarfrage hatte gezeigt, daß die wirtschaftliche Entwickelung sich nicht überall mit den von Marx aufgestellten Gesetzen in Einklang bringen ließ, daß die Konzentrierung des Kapitals sich nicht so rasch und nicht so schematisch vollzieht, wie er auf Grund damaliger Erfahrungen angenommen hatte. Und auch das vom kommunistischen Manifest mit apodiktischer Sicherheit in Aussicht gestellte allgemeine Herabsinken der Arbeiter in den Pauperismus war nicht eingetreten; die Lebenslage des Proletariats hatte sich vielmehr im Laufe des letzten halben Jahrhunderts gehoben. Und nun trat einer der bewährtesten Vorkämpfer des Sozialismus, einer ihrer Märtyrer, der noch im Exil in England lebte – Eduard Bernstein –, auf und erörterte in breiter Öffentlichkeit die neuen Probleme des Sozialismus. Er rüttelte weder an seiner Voraussetzung noch an seinem Ziel, aber er zeigte an der Hand der Tatsachen, daß der Weg zwischen beiden länger ist und anders geartet, als Marx und seine Schüler ihn dargestellt hatten, daß wir ihn daher mehr berücksichtigen, unsere Handlungen mehr auf seine Etappen, als auf das schließliche Ende einstellen müßten.
Auf uns, die wir durch die Erkenntnis des Elends in der Welt zum Sozialismus geführt worden waren, die wir von ihm in einem in seiner Wurzel religiösen Glaubensüberschwang die Erlösung von allem Übel erwartet hatten, wirkte die kühle Klarheit der Bernsteinschen Beweisführungen niederschmetternd. Meinem Verstande waren die Grundsätze des Sozialismus so ohne weiteres einleuchtend gewesen, weil mein Gefühl mit seinem Wollen von vornherein übereinstimmte. Sie kritisch und wissenschaftlich zu prüfen, war mir, wie Tausenden meiner Gesinnungsgenossen, nie eingefallen. Jetzt war es ein Gebot der höchsten Tugend, – der intellektuellen Redlichkeit, – es nachzuholen.
Die Zeiten meiner religiösen Kinderkämpfe schienen wiedergekehrt zu sein. Nur daß ich jetzt mit allen Fasern meines Innern in dem Glauben wurzelte, dem ich meinen ganzen Lebensbesitz geopfert hatte, aus dem ich alle meine Kräfte sog. Was stand noch fest, dachte ich verzweifelt, wenn so vieles schwankte? Ernüchtert, – bar jener stürmischen Begeisterung, die mich ausziehen ließ, der Menschheit eine neue Welt zu erkämpfen, sah ich den langen, öden Weg vor mir mit all seinen kleinen Hindernissen, die im Schweiße unseres Angesichts überwunden werden sollten, und mit dem Ziel, das im Nebel der Ferne fast verschwand. Die Naivetät jungen Glaubens, die noch keine Probleme kennt, ist für die Masse der Menschen die Voraussetzung ihres Enthusiasmus und damit ihrer Stärke. Ich hatte sie verloren wie viele meiner Genossen; das lähmte uns. Oft kamen Augenblicke, wo ich die anderen beneidete, die, sei es aus unbewußter Furcht vor einem inneren Zusammenbruch, sei es aus einer gewissen Beschränktheit ihres Denkens, den alten Glauben gegenüber der neuen Erkenntnis aufrecht erhielten und leidenschaftlich verteidigten. Mein Gefühl war auf ihrer Seite, und nur zu häufig riß es mich wieder mit sich fort. Vielleicht wäre es sogar auf lange Zeit hinaus das herrschende geblieben, wenn nicht mein Mann immer wieder meinen Verstand gegen mein Herz zu Hilfe gerufen hätte. Und die Tatsachen und die Zahlen waren unerbittlich: Die Konzentration des Kapitals und die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat waren die beiden anerkannten Bedingungen der Verwirklichung des Sozialismus. Aber der Schneckengang der Entwickelung zum Großbetrieb, der zuweilen sogar ein Krebsgang zu sein schien, und die Tatsache, daß von hundert Wahlberechtigten nur achtzehn sozialdemokratische Stimmzettel abgaben und mehr als die Hälfte der erwachsenen männlichen Arbeiterschaft der Sozialdemokratie noch gleichgültig, wenn nicht feindlich gegenüberstand, bewiesen, wie weit wir noch vom Ziel entfernt waren. Eine Selbsttäuschung hierüber wäre ein Verbrechen an unserer Sache gewesen, – das sah ich ein. Es galt, den Kinderglauben ruhig und mutig aufzugeben.
Mit jener rücksichtslosen Leidenschaft, die stets das Produkt der Angst um die Gefährdung der Grundlagen des Lebens und Wirkens ist, bekämpfte die Masse der Arbeiterschaft, an ihrer Spitze all die Führer, deren heißblütiges Temperament über alle Zweifel siegte, und all die klugen Demagogen, die auf der Seite der Mehrheit blieben, weil ihre Macht von dieser Mehrheit abhing, die neuen Ideen und ihre Vertreter. Und dieser ganze Kampf fiel in die Vorbereitung der Reichstagswahlen; er lähmte die Agitationskraft der einen, die wie ich noch mit sich selbst zerfallen waren, er lenkte die Interessen der anderen ab, die die Partei vor dem unheilvollen Einfluß der Ketzer glaubten schützen zu müssen.
Wenn ich in Versammlungen sprach, fühlte ich: meine Worte zündeten nicht. Einmal traf ich bei solcher Gelegenheit Reinhard wieder. Er schien mir sehr gealtert. Wir sprachen über unsere Aussichten. »Wir hätten zwanzig bis dreißig Mandate erobern können,« sagte er, »wäre das ganze Getratsch von Endziel und Bewegung uns nicht in die Parade gefahren.«
»Hat Bernstein etwa nicht recht?!« fragte ich.
»Recht! – Recht!« antwortete er heftig. »Natürlich hat er recht in dem, was er sagt, aber daß er es sagte, in diesem Augenblick sagte, war ein Fehler, ein schwerer Fehler. Wir alten Gewerkschafter, die wir mitten im Leben stehen, sind schon lange seiner Meinung, aber wir machen die Genossen nicht kopfscheu mit theoretischem Kram, wir handeln einfach, wie die Verhältnisse es fordern.«
»So hätte er schweigen sollen?«
»Keineswegs! Er hätte nach den Wahlen fünf Jahre zum Reden Zeit genug gehabt. Aber daß er uns jetzt diesen Knüppel zwischen die Beine schmeißt –«
Ich dachte an Reinhards Worte, als mir ein andermal in der Diskussion ein rabiater Genosse vorwarf, auch ich hätte »das Endziel in die Tasche gesteckt«, und verteidigte mich nicht. Solange wir im Kampf gegen den gemeinsamen Gegner standen, mußte die Streitaxt begraben werden. Aber die Radikalen dachten anders. Es kam vor, daß Reichstagskandidaten von den eigenen Genossen wie Parteiverräter behandelt wurden. Wanda Orbin vor allem, die immer wieder erklärte, daß die Reinheit der Partei ihr höher stünde als ihre numerische Stärke, wurde zur fanatischen Gegnerin aller derer, die sich nicht unverbrüchlich auf die alten Dogmen einschwuren. Und mehr als je hatte sie die Frauen auf ihrer Seite, – die Frauen, die nicht auf dem Wege wissenschaftlicher Erkenntnis, sondern einzig und allein durch ihr Gefühl geleitet zu Sozialistinnen geworden waren. Mit jener naiven Kraft der ersten Christen, die ihr ganzes Tun und Denken auf die unmittelbare Wiederkehr des Gekreuzigten eingerichtet hatten, hofften sie auf die baldige Erfüllung ihres Zukunftstraums.
Als das Resultat der Wahlen bekannt wurde, – es war in bezug auf die Zunahme der Mandate, aber noch mehr im Hinblick auf das Stimmenverhältnis weit hinter unseren Erwartungen zurückgeblieben, – stieg die Erbitterung gegen die »Bernsteinianer«, denen man die Schuld an diesem Ergebnis zuschob, noch mehr.
Ein Symptom für die allgemeine Stimmung war der Beschluß, der nach einer stürmischen Versammlung im Feenpalast von den Berlinern gefaßt wurde. Seinem Wortlaut nach richtete er sich zwar nur gegen eine Beteiligung an den Landtagswahlen in Berlin selbst, sein Tenor aber war eine Verurteilung der Beteiligung überhaupt. Sie erschien den Radikalen als ein bedenkliches Hinneigen zu revisionistischen Ideen.
In dem Kreise der Genossinnen äußerte sich das gegenseitige Mißtrauen weniger im Streit um Meinungen, als in persönlichen Reibereien. War ich schon während meiner Tätigkeit in der bürgerlichen Frauenbewegung zu der Überzeugung gelangt, daß diese spezifisch weibliche Art nur durch eine Zusammenarbeit mit dem Mann sich beseitigen lassen würde, so war ich jetzt entschlossen, den Einfluß, den ich noch besaß, nach dieser Richtung geltend zu machen.
»Wir haben die Gleichberechtigung der Geschlechter auf das Programm geschrieben, wir müssen sie also zu allererst in der eigenen Partei durchführen,« erklärte ich, und selbst die Feindseligsten waren in diesem Gedanken mit mir einig. »Bei den Genossen aber werden Sie damit schön abblitzen!« meinte Martha Bartels. »Bei denen heißt's noch immer, wenn unsereins den Mund auftut: Kusch dich! zu Hause – wie in der Bewegung,« sagte eine andere langjährige Parteigenossin. »Sie wissen, wie wir voriges Jahr behandelt worden sind, –« fügte die dicke Frau Wengs hinzu, »als wir auch nur eine Einzigste von uns in den allgemeinen Versammlungen als Delegiertin zum Parteitag wollten aufgestellt haben. ›Wascht man eure dreckige Wäsche alleene –,‹ sagten uns die Vertrauensleute.« »So müssen wir eben immer wiederkommen,« entgegnete ich. »Na – für die schönen Augen von Genossin Brandt tun sie's am Ende,« höhnte Martha Bartels. Schließlich beschloß man, noch einen Versuch zu machen, und es gelang auf einer der Parteiversammlungen, zunächst meine Delegation zum Parteitag der Provinz Brandenburg durchzusetzen. Die Freude der Genossinnen über diesen Erfolg war die der Kinder, wenn sie ein neues Spiel beginnen: auf eine Zeitlang war jeder Streit vergessen.
Am Vorabend der Provinzialkonferenz veröffentlichte die Presse eine neue Rede des Kaisers, die er im Kurhause von Öynhausen gehalten hatte: »Das Gesetz naht sich seiner Vollendung und wird den Volksvertretern noch in diesem Jahre zugehen, worin jeder, der einen deutschen Arbeiter, der willig ist, seine Arbeit zu vollführen, daran zu verhindern sucht, oder gar zu einem Streik anreizt, mit Zuchthaus bestraft werden soll . . .«
Das bedeutete nichts weniger und nichts mehr, als eine Vernichtung des Koalitionsrechts, das war eine Kriegserklärung an das Proletariat, für die es nur eine Antwort gab: einmütiges Zusammenhalten. In der Sitzung am nächsten Morgen brachte ich eine Protestresolution ein, die zur einstimmigen Annahme gelangte, und unter dem Eindruck der kaiserlichen Drohung verlief die Tagung ohne einen Mißklang. Martha Bartels schüttelte mir herzlich die Hand, wie seit Monaten nicht, die gute Frau Wengs lachte über das ganze runde Gesicht, klopfte mir wohlwollend auf die Schulter und versicherte: »Nun haben Sie uns aber alle miteinander auf Ihrer Seite.«
Zwei Tage später erfuhr ich, daß einer der berliner Wahlkreise bereit sei, mich zum nächsten Parteitag zu delegieren.
»Du bist leicht zu befriedigen!« sagte mein Mann mit einem leise spöttischen Ton in der Stimme, als er meine Freude sah.
»Es ist doch ein Anfang,« antwortete ich. »Oder meinst du, ich wäre in die Partei gekommen, um ewig Rekrut zu bleiben?«
»Gewiß nicht,« lachte er, »ich kenne doch meinen ehrgeizigen Schatz!«
Mir stieg das Blut in die Schläfen. War es Ehrgeiz, der mich beherrschte, oder nicht vielmehr der berechtigte Wunsch nach einem Wirkungskreis für meine Leistungskraft? Zu tief empfand ich das Opfer, das ich brachte, wenn ich mein Haus und mein Kind verließ, als daß ich es dauernd für überflüssige Nichtigkeiten hätte bringen können. Jetzt war ich im Aufstieg, und weil ich es war, hatte ich die Sympathie der anderen für mich; es galt nunmehr, beides festzuhalten.
In der Versammlung, die über die Parteitagsdelegationen endgültig zu entscheiden hatte, herrschte von Anfang an Gewitterschwüle. Die schroffsten Gegner saßen einander gegenüber, und bei jedem Punkt der Tagesordnung kam es zu hitzigen Wortgefechten. Eines schien von vornherein klar: die Masse der radikalen Berliner erwartete vom nächsten Parteitag eine Abrechnung mit den revisionistischen Elementen in der Partei, ja sie scheuten sich nicht, selbst gegen Bebel Stellung zu nehmen, weil er in der Landtagswahlfrage nicht auf ihrer Seite stand. Man forderte schließlich, daß sämtliche Delegierte sich auf die Feenpalastresolution verpflichten sollten. Während ringsumher alles durcheinander schrie und tobte, wurden die zur Delegation Vorgeschlagenen aufgerufen.
»Genossin Brandt, stehen Sie auf dem Boden unseres Beschlusses?« Überrascht fuhr ich auf, – ich hatte nicht erwartet, als Erste gefragt zu werden, – ich versuchte mir im Moment die Situation zu vergegenwärtigen. »So antworten Sie doch!« rief ungeduldig die Stimme des Vorsitzenden.
Die Genossinnen umringten mich: »Sie werden uns doch nicht im Stiche lassen,« flüsterte Frau Wiemer von der einen Seite, – »wir haben ja nur für Berlin die Beteiligung abgelehnt,« zischte mir Martha Bartels von der anderen ins Ohr. Und ein leises »Ja« kam zögernd von meinen Lippen.
Gleich darauf hörte ich Reinhards Namen nennen, und im selben Augenblick seine Antwort: ein scharfes »Nein«. Ich wurde gewählt – er nicht.
Glückwünschend umringten mich die Genossinnen. Aber jedes Wort, das sie sagten, ließ mich dunkler erröten. Am Ausgang traf ich Reinhard. »Das hätte ich von Ihnen nicht erwartet,« sagte er. »Sie kannten doch den tieferen Sinn der Resolution.«
Ich schlich nach Hause, müde, schuldbewußt. Noch in der Nacht schrieb ich eine Erklärung für den »Vorwärts«, und legte mein Mandat in die Hände meiner Wähler zurück . . .
Die Frauen hätten mich am liebsten gesteinigt, die Männer lachten mich aus. Ich schwieg. Womit hätte ich mich verteidigen können?