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(1881)
Goethe ist nicht nur die tiefste und umfassendste dichterische Begabung, sondern überhaupt der am reichsten ausgestattete Mensch, der in europäischer Litteratur seit den Tagen der Renaissance hervorgetreten ist. Obwohl die ersten fünfzig Jahre seines Lebens und Wirkens bekanntlich dem achtzehnten Jahrhundert angehören und dessen Ideen- und Gefühlsleben den volltönigsten Ausdruck geben, den es in bejahender Form erhalten hat, und obwohl wir heutzutage an vielen Punkten die Begrenzung seiner Anlagen erblicken, lässt sich die Grenze seiner Herrschaft in Zeit und Raum noch nicht ersehen. Das zwanzigste Jahrhundert wird ihn von dem neunzehnten empfangen, wie dies ihn von dem vorhergehenden empfing, und allmählich wie die Völkerschaften in der Kultur steigen, streben sie, sich seine Dichtungen, Gestalten und Gedanken in stets vollerem Maasse anzueignen.
Man würde Goethe in Verhältniss zu jedem civilisirten Volk stellen können und würde die Entwicklungsstufe dieses Volks in der modernen Zeit an dem Grad seines Verständnisses für diesen einen Geist ermessen können; denn jede Epoche, jedes Land und jeder Mensch charakterisirt sich selbst merkwürdig durch das von ihnen über Goethe gefällte Urtheil. Berthold Auerbach hat das glückliche Wort »goethereif« gebildet. Goethereif war in der ersten Periode von Goethe's Leben kein Volk, auch das deutsche nicht. Aber die Völker reifen schneller oder langsamer dem Verständniss seines Wesens entgegen.
Es ist mir aus diesem Gesichtspunkt eine anziehende Aufgabe erschienen, das Verhältniss zwischen dem grossen Mann und einem kleinen Lande so darzustellen, dass man dadurch einen gedrängten Ueberblick über hundert Jahre der Kulturgeschichte Dänemarks hat. Es wird hier gleichsam Probe gemacht an der Freiheit und Fülle des dänischen Geisteslebens. Wir folgen Goethe von seinem ersten epochemachenden Werke, wo die geniale Unbändigkeit des Jünglings durchbricht. Er ist hier schon gross, aber das Verständniss in Dänemark ist schwach und gering. Das ganze achtzehnte Jahrhundert geht zu Ende bevor man sich im Norden eine Vorstellung von dem Wesentlichen in dem Wirken Goethe's zu bilden vermag. Er ist ein alternder Mann, als er hier von den ersten Jünglingen geahnt und begriffen wird. Von da ab wächst das Verständniss langsam aber sicher. Die verschiedenartigsten Geister begreifen verschiedene Seiten seines Wesens und bald wird das Verständniss productiv. Wir sehen aber gleichzeitig auch Goethe wachsen. Aus dem Jüngling, dessen Bücher verboten und parodirt werden, wird der Mann, dem die Besten der Zeitgenossen huldigen und deren Werke sie erklären, und aus diesem Mann wird der Greis, dessen Ruhm der grösste des Zeitalters ist und an dessen Aufenthaltsort gepilgert wird. Sein Lebenslauf ist schon Geschichte, und kaum ist er gestorben, bevor die geschichtliche Gestalt sich in eine mythische verwandelt. Er steht da, mit den ältesten der Weisen Griechenlands verwandt und doch als ein Grundleger moderner Naturwissenschaft nicht weniger als moderner Poesie und Kritik. Er reicht Thales seine eine Hand, Darwin seine andere, und sein Geist schwebt über die moderne »Weltliteratur«, die er weissagte und deren Grundwall seine Werke sind.
Am 9. September 1776 schrieb Seine königliche Hoheit der Erbprinz zu Dänemark der Canzelei, um durch dieselbe der theologischen Facultät Kopenhagens ein Gutachten abzufordern »ob das Buch Werthers Leiden, von welchem Proft eine Uebersetzung angekündigt hat, ohne Schaden für gute Sitten gelesen werden kann«, wenn nicht »wolle die Canzelei (denn das hat der König befohlen) diese Uebersetzung sofort einstellen und kassiren lassen.«
Am 19. September erfolgte die Antwort der Canzelei an den König: »In allerunterthänigster Erfüllung des Cabinetbefehls vom neunten hujus ist der theologischen Facultät zugeschrieben worden, ob u. s. w., und da die theologische Facultät in Ihrem Gutachten, das allerunterthänigst beigelegt ist, das erwähnte Buch als eine Schrift betrachtet, welche die Religion verspottet, die Laster beschönigt und gute Sitten verderben kann, so hat die Canzelei heute dem Polizeipräsidenten geschrieben, Proft kund zu thun, dass er die in Vorbereitung seiende Uebersetzung sofort einzustellen habe, da dieselbe keineswegs gedruckt oder debitirt werden darf.« [Luxdorphiana S. 258.]
Unter den Mitgliedern der theologischen Facultät der Universität zu Kopenhagen, die dieses burleske Verbot veranlassten, war der als dänischer Bischof später bekannte N. E. Balle, der durch einen sonderbaren Zufall in Leipzig zwei Jahre gleichzeitig mit Goethe und Jerusalem studirt hatte.
Man würde Dänemark Unrecht thun, wenn man einen Beweis ungewöhnlicher nationaler Beschränktheit in einer Urkunde suchen würde, in welcher nur die so häufige theologische Bornirtheit der damaligen Zeit sich ausspricht. In Mailand hatte, wie Goethe selbst Eckermann erzählt, der Bischof die ganze Ausgabe der erschienenen Wertherübersetzung von den Geistlichen in den Gemeinden aufkaufen lassen, um das Buch ganz im Stillen wieder aus der Welt zu bringen – ein Mittel, das übrigens leicht das entgegengesetzte Resultat hätte herbeiführen können. Und in Deutschland selbst war Werthers Leiden an mehr als einem Orte gerade so feindlich wie in Dänemark aufgenommen worden. In Hamburg hatte der durch Lessing unsterblich gewordene Hauptpastor I. M. Goetze seine »Kurze aber nothwendige Erinnerungen über die Leiden des jungen Werthers« 1775 herausgegeben, nach welchen »die ganze Charteque« keinen anderen Zweck habe als »das Schändliche von dem Selbstmorde eines jungen Witzlings abzuwischen und diese schwarze That als eine Handlung des Heroismus vorzuspiegeln« und in Leipzig wurde das Buch von den weisen Vätern der Stadt sogar bei hundert Reichsthalern Strafe verboten. [.W. Appell: Werther und seine Zeit.]
Das Verbot hatte denn auch nicht die geringste Bedeutung in einem Lande, wo alle Gebildeten Deutsch verstanden. Obwohl Werther erst 1832 (durch Meisling) in dänischer Uebersetzung erschien, war schon in den Siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts die Wertherepidemie unter der Jugend in Dänemark stark verbreitet. Rahbek, der empfindsame Elegien- und Trinkliederdichter, Herausgeber eines dänischen Spectators und überhaupt der einzige eigentliche Literator jener Uebergangszeit des 18. Jahrhunderts in das folgende, war in seinem 19. Jahre jener Epidemie verfallen. Wo er sie bespricht und auf ihr gleichzeitiges Auftreten in verschiedenen Ländern aufmerksam macht, stellt er es als unentschieden hin, ob das Buch die Quelle oder das Erzeugniss jenes Fiebers sei, und erklärt nicht zu wissen, »ob er ein Schwärmer wurde, weil er immer Werther in der Tasche trug, oder ob er immer Werther bei sich hatte, weil er ein Schwärmer geworden war.« Goethe selbst, der in »Dichtung und Wahrheit« die allgemeinen Einflüsse der Zeit und die Lectüre englischer Schriftsteller hinzuzieht, um das Entstehen des Buchs zu erklären, war später (Eckermann III. 29) geneigt, den Ursprung individueller zu fassen. »Die vielbesprochene Wertherzeit gehört, wenn man es näher betrachtet, freilich nicht dem Gange der Weltcultur an, sondern dem Lebensgange jedes Einzelnen, der mit angeborenem freien Natursinn sich in die beschränkenden Formen einer veralteten Welt finden und schicken lernen soll.« Die Gegenwart wird wohl an eine Wechselwirkung zwischen Werther und dem Zeitalter glauben.
Obwohl nun die Schwärmerei für Goethe's Jugendwerk viele Herzen erfüllte und manch einer jungen verheiratheten Frau Seufzer und Thränen jugendlicher Anbeter eintrug, waren die dänischen litterarischen Zustände doch durchaus nicht der Art, dass man in den letzten Decennien des Jahrhunderts Goethe schätzen und seiner Entwicklung mit Verständniss und Freude folgen konnte. Rahbek, so eingeschränkt sein Gesichtskreis auch war, ist als entschiedener Vertreter der Empfindsamkeitsperiode fast der Einzige, der in dieser Zeit einen vollen Eindruck von Goethe hat. Und selbst er war persönlich gegen Goethe wegen dessen angeblichen »Stolzes« eingenommen, und war noch im Jahre 1803 nicht weiter gekommen, als bis zum »ersten Goethe«, wie er ihn nennt, dem Verfasser von Werther, Götz, Stella und Clavigo. Was Goethe später geschrieben hatte, war ihm nicht sympathisch, obwohl er 1801 eine Uebersetzung von Wilhelm Meisters Lehrjahren herausgab.
Die älteren, französisch gebildeten, mässig begabten Dichter, Pram und Thaarup, mochten weder Goethe noch Schiller, und verabscheuten überhaupt die ganze neuere deutsche Litteratur. Sie schrieben zwar nie eine Zeile gegen die grossen Deutschen, aber charakteristische mündliche Aeusserungen von ihnen sind aufbewahrt. Von dem aufbrausend heftigen Sonderling Pram hat Oehlenschläger in seinen Lebens-Erinnerungen eine hübsche Anekdote: »Mit Pram disputirte ich zuweilen, bis er rasend und ich hitzig wurde. – ›Höre‹, sagte er einmal, als wir von Schiller sprachen, ›wenn ich einem deutschen Unteroffizier sage: Du sollst mir so ein Stück schreiben wie Wallenstein, und der Schlingel es nicht in vierundzwanzig Stunden thut, so hat er siebenundzwanzig Stockprügel verdient.‹ Nun brach ich in ein Lachen aus, legte die Hand auf seine Schulter und sagte: ›Lieber Pram, und wenn man Dich todt schlüge, Du könntest nicht eine einzige solche Scene schreiben.‹ – ›Das ist, meiner Treu, sehr möglich‹, sagte er nun ganz freundlich; ›ich habe auch nicht von mir gesprochen.‹« – Pram wollte augenscheinlich nicht so sehr Geringschätzung Schillers als überhaupt einen Abscheu für das Neue ausdrücken, der Gründe zu geben unfähig war.
Der einzige Dichter der alten Schule, welcher wirklich einen Pfeil gegen Goethe richtete, war der geniale Norweger Johan Herman Wessel (1742-1785), der ein Jahr vor seinem Tode eine komische Erzählung »Stella« veröffentlichte, welche Goethe's Schauspiel gleichen Namens parodirt. Wessel, der durch sein die französische Tragödie verspottendes Meisterwerk »Liebe ohne Strümpfe« in der nordischen Litteratur einen unsterblichen Ruhm gewonnen hat, war schnell von seiner poetischen Höhe gesunken und hatte in den Achtziger Jahren einen grossen Theil seines Humors eingebüsst. Goethe's »Stella« konnte zwar durch die überspannte Empfindsamkeit und den gewagten Schluss die Satire eines komischen Genius herausfordern, aber Wessels Gedicht ist weniger witzig als plump.
Ein fünfter Dichter der ältern Generation, Sander, dem Oehlenschläger seine erste, späte Bekanntschaft mit Goethe verdankte, sprach von dem grossen Dichter mit einem Schrecken wie von »einem Mann mit wilden, stolzen Leidenschaften, der sein schönes Genie missbraucht hatte« und lieh dem Jüngling einige seiner Werke mit einer väterlichen Warnung »als seien sie Pulver und Kugel oder giftige Arzneimittel.« Damals war Oehlenschläger schon 19 Jahr alt; bisher hatte er von Goethe immer nur wie von einem überspannten Schwärmer gehört, der junge Männer verführte, sich eine Kugel durch den Kopf zu jagen, oder wie von einem unsittlichen Schriftsteller, den zu lesen sich für junge Leute nicht zieme.
Wie weit die intelligentesten Kreise, ja selbst die deutschen und deutschredenden Familien in Dänemark, entfernt waren, Sinn für die Grösse Goethe's zu haben, zeigt am deutlichsten der Standpunkt des 1764 geborenen Dichters Jens Baggesen, der in diesen Familien stetig verkehrte. Ende 1790 besuchte dieser zum ersten Male Weimar, wohnte bei Wieland und sah Goethe nicht, der damals in Schlesien war; aber er scheint hier nur Missstimmung und Unwillen gegen den Abwesenden eingesogen zu haben. Gewiss musste die selbstsichere Ruhe Goethe's dem unsteten, hysterisch empfindsamen, im französischen Sinne geistreichen Dänen fremd und unsympathisch sein. Aber seine Briefe an Reinhold wie seine Tagebücher zeigen, dass ihm ausserdem von Goethe's »Freunden«, wie er naiv es ausdrückt, sehr viel Böses über den Hochmuth, die Selbstsucht, den Geniestolz Goethe's eingeflüstert worden sei. [Baggesen an Reinhold, Kopenhagen den 19. Dec. 1791. Briefwechsel I., 20. In Baggesens Reisetagebuch heisst es ein Paar Jahre später: Ich ziehe den vorstellenden (Fichte'schen) Egoismus dem darstellenden (Goethe'schen) vor]
Erst im Anfang des Jahres 1795 kommt Baggesen dazu, Goethe seinen Besuch zu machen, der jedoch wenig befriedigend ausgefallen sein muss; sonst würde er, der Alles aufzeichnet, eine solche Begebenheit nicht unbesprochen gelassen haben. Einen günstigen Eindruck hat er nicht erhalten und um den ungünstigen wiederzugeben, hat er, der sich sonst so völlig in der klassischen Denkweise bewegt, ein romantisch angehauchtes Schmähwort gebraucht; im folgenden Jahre nennt er in einem Briefe an Reinhold mit einer an Novalis erinnernden Wendung Goethe »den erhabenen Brauer in Weimar«. Auch ein zweiter Besuch bei Goethe hat in Baggesens Papieren keine Spur hinterlassen. Welche Scheu er aber dem ihm so fremden Wesen des grossen Mannes gegenüber fühlte, zeigt am schärfsten eine Aeusserung in einem Brief an Jacobi vom 25. Sept. 1797: »Lavatern sah ich dies Mal nicht; die Zeit war zu kurz dazu – und eigentlich, die Wahrheit zu sagen, fürchtete ich Goethe'n bei ihm anzutreffen, der eben in Zürich angelangt war.«
Baggesen, der bei all seiner Zerfahrenheit ein speculativer Kopf war und sich sein ganzes Leben hindurch von der Philosophie ebenso sehr wie von der Poesie angezogen fühlte, hatte in der Kantischen Philosophie seine geistige Erziehung durchgemacht. Sein Enthusiasmus für Kant war so gross, dass er sogar dessen Vornamen Immanuel als zweiten Vornamen annahm, und er sah als junger Mann alle geistigen Erscheinungen durch Kantische Brillen. Deswegen vermochte er nicht Goethe zu verstehen. Mit Kants Moralgesetz gemessen schien ihm Goethe frivol, und von dem Standpunkt des Rationalismus angesehen war er irrationell. Als gegen die Jahrhundertwende die Periode der Reaction für ihn wie für so viele Andere kam, vermochte er nicht sich zu Schelling zu erheben, dessen Naturphilosophie, die in Dänemark Goethe den Weg bahnte, auf seinen rein logischen Geist abschreckend wirkte, sondern nahm zu der Gefühls- und Glaubensphilosophie seine Zuflucht, schloss sich erst Reinhold, dann Jacobi innig an. Sein Unmuth gegen Goethe machte sich im Anfang des neuen Jahrhunderts in einem Gedichte Luft, das man einfach als höchst thöricht verurtheilen kann, das aber völlig im Geiste des vergangenen Zeitalters geschrieben ist, und eben deswegen ein Interesse darbietet, weil es, obwohl auf sehr mangelhafter Kenntniss Goethe's beruhend, das Gepräge der historischen Unfähigkeit eines Verstehens nicht offener tragen könnte. Es heisst hierin:
Muthwillig ist sein Thun, muthwillig all sein Sinnen,
Und Ausgelassenheit sein End' und sein Beginnen.
Wenn And're den Gedanken hin und her
Mühselig suchen, endlich müde finden,
So suchen ihn Gedanken, kreuz und quer
Und finden ihn – doch nur von ungefähr;
(Denn ernstliche Besuche hasst er sehr.)
Und stünds bei ihm, er liess sich niemals finden.
Er hat dem Pöbel manches Buch geschenkt,
Worin er niemals dacht', und jede Zeile – denkt!
Die Worte von Goethe's Hass gegen ernstliche Besuche klingen fast wie eine Reise-Erinnerung. Es kam jedenfalls Baggesen so vor, als sei es Goethe mit gar Nichts Ernst. Er erschien ihm unberechenbar und launenhaft, weil er bei ihm den bewussten Plan, an dessen Bedeutung für die Dichtkunst er glaubte, nicht zu finden vermochte.
Es verwirrte ihn vollständig, dass Goethe sogar den Enthusiasmus als Stoff verwendete und von diesem Stoff zu einem schalkhaften in einem und demselben Werke überging. Und Goethe strebte nicht; man spürte bei ihm keine Gedankenarbeit; er schien als Künstler unbewusst, er hatte nicht gedacht, und jede Zeile dachte. Es ist sehr eigenthümlich, dass diese Wendung, die ein Jahrzehnt später fast überall als das höchste Lob gegolten hätte, hier einen bittern Vorwurf ausdrücken soll. Es ist auch bemerkenswerth, wie verwandt dieser Angriff dem ist, den Baggesen einige Jahre später in seiner berühmten poetischen Epistel »Nureddin an Aladdin« gegen Oehlenschläger richtet. Ganz im Sinne des achtzehnten Jahrhunderts waren für ihn nicht Werden und Wachsen, sondern Denken und Thun die höchsten geistigen Funktionen. Man begreift, dass Baggesen bei Goethe die Regeln »des gebildeten Geschmacks« übertreten fand; aber es gehörte nichts desto weniger viel Uebermuth und etwas Frivolität dazu, gegen einen solchen Mann die platte Beschuldigung zu richten, dass er »dem Pöbel« manches Buch geschrieben hätte.
Das Gedicht ist in der dänischen Litteratur folgenschwer geworden, denn indem es die Entrüstung Oehlenschlägers hervorrief und ihn gegen Baggesen überhaupt verstimmte, gab es dem bis dahin guten, ja innigen Verständniss der beiden Dichter den ersten Riss. Baggesen hatte, als er im Jahre 1800, in der Absicht nie zurückzukehren, Dänemark verliess, Oehlenschläger »seine dänische Leier« vermacht; er sah in dem Jüngling damals mit Recht einen begeisterten Verehrer. Aber kurz danach war der Umschlag in der neueren dänischen Litteratur erfolgt. Die Schlacht auf der Rhede 1801 hatte das Nationalgefühl geweckt, und die Ankunft von Steffens aus Deutschland als Apostel einer neuen Zeit hatte auf die zeitgenössische Jugend, besonders auf fast alle angehenden Dichter und Schriftsteller, den tiefsten Eindruck gemacht. Steffens war in Wirklichkeit der Erste, der die Augen der Jüngern Generation für die Bedeutung und die Grösse Goethe's öffnete, er »der schlimme Atheist«, wie er sich bezeichnet, »der es wagte, die Weisheit jener Zeiten apokryph und den verschrieenen Goethe kanonisch zu nennen«. Ringsum in den Briefen und Memoiren des jetzt ausgestorbenen Geschlechts findet man Zeugnisse der umfassenden Wirkung seiner ersten Vorlesungen.
Grundtvig, der berühmte Dichter und nationale Sektenstifter, hat in seinem »Kirchenspiegel« den Eindruck, den jene Vorlesungen – die einzigen, die er je zu hören aushielt – auf ihn machten, in folgenden Worten wiedergegeben: »Ich fand es zwar ganz unglaublich, aber auch ganz merkwürdig, was er in seiner verwegenen Sprache unleugbar nannte, dass Alles, was wir in Kopenhagen lasen und schrieben und bis in die Wolken erhoben, deutsche und französische Makulatur sei ... und dass, wenn man wissen wolle, was Poesie sei, nur Shakespeare und Goethe, die ich niemals hatte nennen hören, zu lesen seien, wenn man aber einen Begriff von Philosophie haben wolle, so solle man nur Steffens hören und Schelling lesen.«
Welche Umwälzung Steffens in der Seele des jungen Oehlenschläger hervorrief, wie er unter dem Eindruck ihres ersten, Tag und Nacht dauernden Gespräches sein epochemachendes Gedicht »Die goldenen Hörner« schrieb und alle seine früheren Arbeiten, sogar einen halbwegs gedruckten Band Gedichte verwarf, das ist zu oft und zu gut erzählt, um mehr als einer Andeutung zu bedürfen. Zwar hatte Oehlenschläger schon vier Jahre früher Goethe lieben gelernt; er hatte sich damals in »Götz von Berlichingen« mit derselben Schwärmerei vertieft, mit welcher er in der Kindheit seine Lieblingsbücher gelesen hatte: »Ich folgte Goethe's Geist, wie der treue Knabe Georg seinem Herrn in der Schlacht. Ich kroch in den grossen Dichterharnisch, und obgleich ich ihn noch nicht ausfüllen konnte, tröstete ich mich mit Götzens Worten: Die künftigen Zeiten brauchen auch Männer.« Aber jenes Studium war noch völlig naiv; von einem Genuss oder Verständniss der hohen Kunst bei Goethe war Oehlenschläger noch weit entfernt. Gesteht er doch selbst: »Ich merkte gar nicht, dass ich las, dass es Poesie war. Es war die Begebenheit selbst, die ich erlebte.« Die Gespräche mit Steffens und die Vorlesungen desselben über Goethe's Werke lehrten Oehlenschläger den grossen Dichter als Künstler und Denker verstehen.
Als dann im Jahre 1803 die deutschen Gedichte Baggesens erschienen, musste das an Goethe gerichtete ihn nothwendigerweise im höchsten Grade empören. Seit er in den Geist des neuen Jahrhunderts eingeweiht worden, war seine jugendliche Begeisterung für das feine und geschmeidige Talent des altern Landsmannes verdampft. Er schrieb einige Satiren gegen ihn, die er jedoch nur Freunden vorlas. Er hat sie in seinen »Lebens-Erinnerungen« in leider sehr massiger deutscher Uebersetzung mitgetheilt. Eine Strophe beginnt:
Was?
Er singt »für den Pöbel?«
Solch wurmzerfressnes Möbel
Wagt an den Helden sich?
Du Jens für Weib und Dirne,
Tief in den Staub die Stirne
Vor Goethe, passt für Dich
Das Wortspiel der letzten Zeilen war unübersetzbar. »Ein Jens der Mädchen« ist im Dänischen eine scherzhafte Benennung eines bei den Frauen beliebten Hofmachers..
Oehlenschläger ist geneigt, die ganze spätere Baggesen'sche Opposition gegen die poetische Richtung, die er einschlug, aus dem Zorn über diese Satiren herzuleiten. Er geht doch vielleicht in dieser Ansicht unbewusst etwas zu weit, um jener Opposition jede innere Berechtigung abzusprechen; aber ohne Einfluss auf die Stimmung eines so erregbaren Mannes wie Baggesen waren sie sicherlich nicht. Oehlenschläger bemerkt bei diesem Anlass ferner: »Mehrere Jahre darauf war wieder sein Faust, ein grosses Spottgedicht gegen Goethe, die erste Ursache seiner Feindschaft gegen mich, weil ich ihm meine Entrüstung darüber bezeugte, auf diese Weise einen grossen Mann zu verhöhnen. Um Goethe's willen hatte ich also diese vieljährigen Verfolgungen zu erleiden. Nie habe ich doch diesem auch nur eine Andeutung darüber gemacht, musste auch viele Jahre hindurch es dulden, dass Goethe mich ignorirte und endlich in einigen Briefen an Zelter mich à la Baggesen behandelte.«
Nach wenigen Jahren trat jedoch eine grosse Veränderung in der Stellung Baggesens zu Goethe ein. Während er im Herbste 1806 sich in Kopenhagen aufhielt, wurde er mit dem Oersted'schen Hause bekannt und vertraut. Der grosse Jurist (spätere Premierminister) Anders Sandöe Oersted, Bruder des berühmten Entdeckers des Elektromagnetismus und von beiden Brüdern vielleicht der bedeutendere, war mit der Schwester Oehlenschlägers, der schönen und begabten Sophia, verheirathet. Die junge Frau war eine der damals nicht sehr zahlreichen dänischen Damen, die lebhafte geistige Interessen hegte; sie hatte ein unruhig verlangendes und strebendes Naturell, lebte in Musik und Poesie, war geschmackvoll, witzig und doch zur Schwermuth neigend, in ihrer Ehe mit dem kränklichen, mit Arbeit überlasteten Forscher nicht besonders glücklich und befriedigt. Von fremden Sprachen verstand und sprach sie nur Deutsch, zwar ungrammatisch, aber mit feiner Empfindung für alle eigenthümlichen Wendungen und Ausdrücke. Sie empfing als Gast in ihrem Hause Fichte (den ihr Gemahl in das dänische Geistesleben eingeführt hatte), als der seiner Professur beraubte Denker Kopenhagen besuchte. Sie las Tieck, Novalis, Fichte. Goethe war ihr Lieblingsdichter.
Eine heftige Neigung fesselte bald den 42jährigen Baggesen an die 24jährige Schwester seines damals abwesenden Nebenbuhlers, und man spürte es schnell, dass sie einen bedeutenden Einfluss auf ihn ausübte. Eines Tages wurde er in ihrem Hause krank und blieb, selbst nach der schnellen Heilung, von der Zeit ab fast während seines ganzen Aufenthalts dort wohnen. Im September 1806 schreibt H. C. Oersted an Oehlenschläger: »Baggesen ist hier ... deine Schwester arbeitet, nicht ganz ohne Erfolg, ihn zu Goethe zu bekehren. Er fühlt schon, dass Vieles in seinen Urtheilen über den grossen Dichter persönlichen Verhältnissen entsprang.«
Das den Angriff auf Goethe widerrufende Gedicht, das 1808 in »Pleideblumen« gedruckt wurde, findet sich in einem Schreibkalender Baggesens aus dieser Zeit entworfen. Es lautet:
Palinodie.
Der zarten Unschuld kühle Morgenröthe,
Das schüchterne Gefühl der ersten Liebe,
Die Christusoffenbarung meiner Jugend,
Die zitternde Bekämpfung wilder Triebe,
Die gar zu herbe, noch nicht reife Tugend:
Was früh zur Kunst des Dichters Seele wendet –
Entfernte lang mein krankes Herz von Goethe.
Der freien Weisheit warme Mittagssonne,
Das Gleichgewicht, errungen durch Erfahrung,
Des Mannes gröss're Gottesoffenbarung,
Der vollempfundnen Liebe ganze Wonne:
Was zu Natur der Dichtung Kunst vollendet –
Zog den nicht länger unberufnen Richter
Zurück zum grössten aller deutschen Dichter.
In dem Tagebuch Baggesens vom Sommer 1807 erklärt er: »Dass Lilia (d. h. Sophia Oersted), diese reine, poetisch begabte Seele, schon als junges Mädchen den Deutschen Goethe und den Dänen Baggesen allen ihr bekannten Dichtern vorzog, bewirkte, dass ich (1806-1807) Goethe zu lesen anfing, während ich früher in seinen Schriften nur geblättert hatte. Seine Iphigenia finde ich unleugbar so beschaffen, dass ich jetzt das zu erreichen wünsche, dem zu entfliehen früher mein Wunsch war.« Bezeichnend genug ist es das am meisten klassische Drama Goethe's, welches Baggesen am meisten imponirt.
Er fing an sich seines alten kindlichen Verhältnisses zu Wieland ein wenig zu schämen und die Spuren seiner Verehrung für denselben in seinen Werken zu tilgen. In dem Gedichte »Der Ursprung der Poesie« (Poesiens Oprindelse) wurde 1785 (in der ersten Fassung) Voltaire mit Shakespeare und Klopstock zusammen genannt als die, welche von dem echten Dichtermeth tranken; von 1791 ab war an die Stelle Voltaires Wieland getreten; von 1806 ab wird Wielands Name von dem Namen Goethe's verdrängt.
In der grossen neuen Vorrede zum »Labyrinth« vom Mai 1S07 spricht Baggesen von seinem Auftreten in dem Wendepunkt, als das 19. Jahrhundert sich von dem 18. losriss, und erzählt, wie der Umstand, dass er in den Kreis Wielands anstatt in den Goethe's hineingezogen wurde, für seine Entwickelung verhängnissvoll war. »Wenn ich damals die persönliche Bekanntschaft dieses Genius der Genien gemacht hätte und dadurch früher mit seinen Meisterwerken bekannt und in die Mysterien seiner eigenthümlichen Kunst eingeweiht worden wäre, gewiss wäre dann meine Huldigung, wenigstens für lange Zeit, ausschliesslich geworden.« Baggesen beklagt jedoch das Geschehene oder Unterlassene nicht, denn das Studium Goethe's würde, meint er, seiner Selbständigkeit schädlich geworden sein, Wieland könnte ihm dagegen nicht schaden: »Klopstock, Voss und sogar Schiller haben meine Poesie mehr als Wieland beeinflusst.« Der Satz ist vermuthlich mit subjectiver Wahrheit geschrieben. Der Odenstil Baggesens verräth die Einwirkung von Klopstock, seine Hexameter nur zu sehr diejenige von Voss, aber als geistige Persönlichkeit war er mit Wieland viel näher als mit irgend einem anderen deutschen Dichter verwandt. Sonderbar, dass der zu Goethe neu Bekehrte, der ein so feines Ohr für Verse besass, noch immer fortfuhr, Voss rein metrisch über den so lange verkannten Meister zu stellen, den er doch selbst »in eigentlich poetischer Kraft« den Ersten aller Neueren nennt. Voss nennt er daselbst den Ersten »in eigentlicher Verskunst«. Doch nachdem dies geringe Opfer den alten Göttern gebracht war, gab er sich rücksichtslos dem neuen Cultus hin. Er drehte den Spiess des Unwillens, den er, der klassisch Gläubige, gegen Goethe gerichtet hatte, gegen die in vollem Uebermuth aufblühende romantische Schule und war entzückt, bei dem jetzt weniger als je romantischen Altmeister eine grosse, wenn auch beherrschte Ungeduld über das Treiben der Jüngeren zu spüren.
Es war eben der Zeitpunkt, wo die Naturphilosophen und Romantiker ihrer Unzufriedenheit mit Goethe öffentlichen und noch mehr privaten Ausdruck gaben. Seit sein Aufsatz »Winckelmann« erschienen war, konnten sie ja in ihm nicht mehr einen Beschützer und Patriarchen sehen. Oehlenschlägers Briefe an H. C. Oersted vom Jahre 1807 geben von dieser gegenseitigen Missstimmung reichliches Zeugniss. Er beklagt sich bitterlich über seinen alten Freund Steffens: »Selbst Goethe war ihm zuletzt nichts Rechtes mehr«, sagt er, und die Aeusserungen der Schlegel haben ihn ganz besonders empört:
»Als ich mit Friedrich über Goethe's Krankheit sprach, sagte er kaltgrinsend: ›Der alte Kerl hat faule Nieren und wird's nicht lange mehr machen.‹ August Wilhelm sagte mir, trotzdem er wusste, dass ich von Goethe kam und bei ihm beliebt war: ›Goethe soll sich sehr niederträchtig geäussert haben in der Literaturzeitung etc.‹ Ich hatte alle Fassung nöthig, um ihm nicht eine Maulschelle zu geben, dass der kleine Schwächling unter den Tisch gerollt wäre. «
Ueber die Stimmung Goethe's spricht Oehlenschläger sich in folgenden Worten aus: »In Berlin war ich allein und frei, die lange, drückende Belästigung von Steffens' Persönlichkeit hatte etwas Bitteres hinterlassen, böses Blut gesetzt. Nun kam ich nach der Sehnsucht eines halben Lebens zu meinem Lehrer und Meister Goethe! Und da sah ich die stumme Entrüstung des alten Löwen über die neuere Frechheit und den muthwilligen Ungestüm. Er sprach wenig davon, aber ich las in seinem Herzen und zog aus seinem besonnenen Urtheil meinen Schluss ... Ich hatte nicht viele Autoritäten, aber Goethe war eine.«
In demselben Jahre (1807) schreibt Baggesen in einem Brief nach Kopenhagen: »Sage Sophia, dass der Friede zwischen ihrem Goethe und ihrem Baggesen geschlossen ist, und was Sie gewiss erfreuen wird, dass, wenn ich der Erste war, der ihm öffentlich die Hand reichte, so war er der Erste, der mir privat die seinige gab, indem er mich herzlich grüssen und mir für »Parthenais«, die er in Karlsbad gelesen hatte, danken liess. Wir sind über den Werth und Unwerth der neuen Schule völlig einverstanden.« Die Beziehungen Baggesens zu Sophia Oersted sind zum ersten Mal in dem reichhaltigen, aber allzu breiten, achtbändigen Werk Kr. Arentzens: »Baggesen og Oehlenschläger« dargestellt worden.
Zu einer unbedingten Verurtheilung der Romantiker ist Baggesen in diesem Augenblick durchaus nicht geneigt. Sein aus demselben Jahre herrührendes dänisches Gedicht »Mein Gespenst und ich selbst« (Min Gjenganger og jeg selv) beweist, dass die aufrichtige, wenn auch nicht tiefgehende Wandlung, die in ihm vorgegangen war, seine Augen für die poetisch-geniale Seite der Kindlichkeit bei Tieck und der Ausgelassenheit bei Schlegel geöffnet hatte; ja er war vielleicht während dieser Uebergangsepoche gerechter als Oehlenschläger gegen die Romantiker gestimmt; was er aber bei ihnen Anzuerkennendes fand, dafür hatte ihm die eingeimpfte Bewunderung für Goethe das Verständniss gegeben.
Seine deutsche Gedichtsammlung »Die Heideblumen« enthält nicht nur Nachklänge an Goethe, sondern auch directe Huldigungen. Goethe wird der »Dichtung strahlender Gottmensch« genannt, und in dem Stammbuch des jungen Goethe, den Baggesen in Heidelberg bei Voss traf, schilderte er den Vater des ihm schnell lieb gewordenen Jünglings als zwischen Homer und Shakespeare emporragend.
Die Begeisterung für einen auf so ganz verschiedenem geistigen Boden stehenden Dichter war jedoch bei Baggesen nur anempfunden und konnte bei seinem widerspruchsvollen Charakter sich nicht lange auf diesem Höhepunkt halten. Nach und nach, wie sein Verhältniss zu den deutschen Romantikern und zu Oehlenschläger sich immer kritischer und polemischer gestaltete, wie Oehlenschläger ohne geistig vorwärts zu schreiten ihn in der öffentlichen Meinung immer mehr überstrahlte, und vollends nachdem er im November 1811 bei seiner Rückkehr vom Ausland durch den kalten, fremden Empfang Sophia Oersteds, die in der Zwischenzeit einen andern und jüngern Freund in dem Philosophen Sibbern gefunden hatte, das Band, das ihn ursprünglich mit Goethe und Oehlenschläger verknüpft hatte, zerrissen fühlte, – wurde sein Ton gegen den grossen deutschen Meister kühler und pietätloser.
Schon in seinem »Taschenbuch für Liebende« 1810, noch mehr in dänischen Prosaschriften und Poesien von 1814 und 1817 behandelt er Goethe als weitschweifigen, halbironischen oder altersmüden Romantiker. In seiner »Abrakadabramythologie« heisst es: »Lerne Goethe, Tieck und Schlegel auswendig – besonders was Deutschland schon von diesem Kleeblatt vergessen hat.« Baggesen meinte also, dass Deutschland im Jahre 1817 schon irgend etwas von Goethe vergessen habe.
Erst 1836 erschien als »Dritter Theil der Poetischen Werke Baggesens in deutscher Sprache« sein schon 1804 geschriebenes grosses aristophanisches Drama »Der vollendete Faust oder Romanien in Jauer«, ein Werk, das nach den Aeusserungen Oehlenschlägers in seiner ursprünglichen Gestalt eine hauptsächlich gegen Goethe gerichtete Satire gewesen sein muss, das aber, 1806 geändert und 1809 reingeschrieben, nur geringe Spuren der einstigen Grundtendenz trägt. Goethe, der mit dem Namen Opitz bezeichnet ist, wird als über der Satire stehend dargestellt. Das Stück, das vielleicht, weil es Niemand liest, in Dänemark einen unverdienten Ruhm geniesst, spielt in Weimar während des Besuches der Frau von Staël. Das vorwärts drängende französische Heer steht als drohende Macht im Hintergrund, und ein fremder Offizier betritt zuletzt, nachdem ganz Romanien ohne Schwertschlag erobert worden, als siegreicher Fortinbras die Bühne. Unter erdichteten Namen erscheinen Goethe, Wieland, Jean Paul, Fichte, Dr. Gall, Frau von Staël, Schelling, Tieck und Baggesen selbst als Hanswurst. Ich gestehe, dass die Satire mir nicht immer verständlich ist und mir nur ausnahmsweise witzig vorkommt. Nur der Scherz, der mit den Romantikern, besonders mit den nachlässigen Versen Tiecks und dem fremdklingenden lyrischen Nonsens der Sonettfabrikanten getrieben wird, ist durch und durch treffend und amüsant.
Ein gewisses geistiges Armuths-Zeugniss hat Baggesen sich selbst dadurch gegeben, dass diese dramatische Parodie, in welcher vor Allen Tieck gehänselt wird, seiner ganzen Form oder Unform nach – das Theater im Theater u. s. w. – genau an die Tieckschen polemisch-phantastischen Lustspiele erinnert. Die Neueren werden (nicht eben tief) als Barbaren aufgefasst, welche die griechisch-römische Kultur tilgen und alle »Schulen« abschaffen wollen. Schelling und Konsorten werden (nicht eben geistreich) dargestellt, wie sie mit grossen Prügeln die Büsten »der unromantischen Philister« Homers und Virgils herunterschlagen. In einem Chor-Gesang wird ausdrücklich Goethe von all dem Unheil, das seine Epigonen anrichten, freigesprochen, aber da die Frucht nie weit vom Stamme fällt, scheint Goethe irgendwie doch für die Verirrungen seiner Schüler eine Verantwortung tragen zu müssen. Der Sohn Baggesens bemerkt in seiner Vorrede, dass der Vater zwar Goethe für den grössten Dichter Deutschlands anerkannt habe, »aber«, heisst es, »er war überhaupt jeder Vergötterung feind, und hasste in der Literatur die Schulen«. Mag es mit dem letzten Satz sein wie es will, der erstere spricht geradezu eine Unwahrheit aus. Wie? Baggesen, der in seinem Leben nie zu vergöttern müde wurde, sei der Vergötterung feind gewesen, habe aus solcher Ursache Goethe nur flüchtig, in einem kurzen Zeitraum seines litterarischen Lebens geschätzt! Nein, die Ursachen lagen viel tiefer. Der zersplitterte, unruhige, enthusiastische, hyperkritische Baggesen konnte Goethe nicht rückhaltslos erkennen ohne gleichzeitig sein eigenes poetisches Wesen zu verurtheilen, oder es wenigstens als eine untergeordnete Entwickelungsstufe anzusehen. Das that er eben in jenem Augenblick, da er durch schwärmerische Liebe inspirirt, sich der Bewunderung für Goethe hingab; denn eben zu jener Zeit brach er in seinem Werke »Mein Gespenst und ich selbst« mit seiner ganzen dichterischen Vergangenheit. Sobald aber der Traum, sein Naturell von Grund aus mit einem Schlage ändern zu können, verflogen war, musste er notwendigerweise zu der alten, nur gemilderten, Antipathie zurückkehren.
Die Stellung Oehlenschlägers zu Baggesen, insofern sie von dem Verhältniss des letzteren zu Goethe bedingt wurde, ist in »Hroars Saga« 1817 dichterisch umschrieben. »Ich habe immer deine Geistesgaben hoch geschätzt«, sagt hier der Skalde Hrane zu seinem Nebenbuhler Ragnvald, »aber es war deine feindliche, allzu bittere Gesinnung gegen Andere, die mich zuerst gegen dich reizte. Erinnerst du dich, wie heftig du den herrlichen alten angelsächsischen Skalden Hofting angriffst? Ich fand es eines echten Sohns Bragi's unwürdig, Schandgedichte auf einen grossen Mann zu singen, und es war mein Missvergnügen und meine unverholene Entrüstung darüber, die dich veranlassten, auch über mich deine Bitterkeit zu ergiessen«.
Es ist aus Oehlenschlägers Lebens-Erinnerungen bekannt, wie väterlich er während seines ersten Aufenthalts in Weimar von Goethe aufgenommen wurde, wie es den Meister amüsirte »die deutsche Sprache in einem poetischen Geiste entstehen zu sehen«. Man erinnert sich vielleicht auch, wie Hakon Jarl bei der ersten Vorlesung Goethe nicht gefallen wollte, wie sehr dies Oehlenschläger zu Herzen ging und wie während der traurigen Wanderung im herzoglichen Lustgarten die schönen Goethe'schen Verse, die in der Felswand eingegraben stehen, »Die ihr Felsen und Bäume bewohnt, o heilsame Nymphen! u. s. w.« dem Verzweifelnden wieder Muth einflössten. Von Weimar zog Oehlenschläger fast direct nach Dresden, wo Ludwig Tieck, dessen Gegenwart in der Stadt er nicht ahnte, ihn zuerst aufsuchte und durch den herzlichen Beifall, den er seinen Werken Aladdin, Hakon, dem Evangelium des Jahres spendete, den für Lob und Tadel so empfänglichen Dichter beglückte. In Dresden sah Oehlenschläger zum ersten Male Gemälde von Correggio.
Ich gruppire diese Thatsachen, weil es mir unzweifelhaft vorkommt, dass man hier die Haupt-Ergebnisse zusammen hat, aus welchen das bekannte (ausnahmsweise zuerst in deutscher Sprache verfasste) Drama Oehlenschlägers »Correggio« hervorging. Oehlenschläger ist natürlich selbst das Modell des naiven, begeisterten Coloristen, gegen dessen Zeichnung sich Einwendungen machen lassen, der aber durch den Schmelz seiner Farben die Mängel der Formgebung deckt. In dem grossen, strengen, von Allen verehrten, fast unfehlbaren Buonarotti, der durch sein erstes hartes Urtheil dem armen Correggio alles Vertrauen an seine Begabung raubt, ihn aber dann um so rücksichtsloser schätzt und durch sein Lob in den Himmel des Glücks erhebt, erkennen wir unschwer Goethe wieder, der schon bei diesem ersten Besuche Oehlenschlägers nach dessen eignen Worten »allzu oft an einem gewissen hochmüthigen, zurückhaltenden Wesen Gefallen fand«. Tieck endlich, der feingebildete, kunstsinnige Schüler der Grossen, der Oehlenschläger so brüderlich entgegengekommen war, ist augenscheinlich das Vorbild des Giulio Romano, den der Dichter mit seinem Mangel an Blick für die feinere Eigenthümlichkeit der Künstler zum Vertreter der humanen Bildung gemacht hat. Zwei Goethe'sche Gedichte, Künstlers Erdewallen und Künstlers Apotheose, die Oehlenschläger beide übersetzt hatte, enthielten ausserdem im Grundriss die Idee des Dramas.
»Correggio«, das in Dänemark immer für eins der schwächeren Oehlenschläger'schen Werke gegolten hat, begründete bekanntlich durch seine Uebereinstimmung mit dem damals herrschenden deutschen Geschmack den Ruf des Dichters in Deutschland und wird noch heutzutage, wohl allein unter allen seinen Dramen, auf deutschen Bühnen gespielt, ja, diese tragische Idylle wurde sogar das Vorbild eines ganzen europäischen Genre, der Künstler-Dramen.
Wenn meine Vermuthung richtig ist, dass Goethe und Tieck unbewusst für Michel Angelo und Giulio Romano Modell gesessen haben, lässt es sich nicht läugnen, dass der Einfluss, den »Correggio« auf die Stellung Oehlenschlägers zu den zwei deutschen Dichtern ausübte, ein im eminenten Sinne tragikomischer war. Tieck schrieb gegen das doch in vielen Hinsichten schöne und werthvolle Stück eine leidenschaftlich bissige Kritik und Goethe wollte den armen Poeten, der einen Umweg von 20 Meilen gemacht hatte, um dem so treu verehrten Meister die Frucht seines italienischen Aufenthalts zu zeigen, nicht einmal erlauben, ihm sein Drama vorzulesen. Die Stimmung Goethe's gegen Oehlenschläger war eine kältere geworden; der ungestüme und nicht immer taktvolle Jünger wollte sich gern das alte herzliche Verhältniss wieder ertrotzen. Man weiss, dass der Versuch misslang und dass Oehlenschläger traurig nach Hause reisen musste, »nachdem er«, wie die letzten Worte des zweiten Bandes seiner Lebensbeschreibung lauten, »die Gunst des grossen Goethe verloren hatte«.
Er hätte es verdient, diese Gunst, die ihm so theuer war, zu behalten, er, der später noch den Satz schrieb: »Keinen Mann in der Welt habe ich mehr als Goethe geachtet und geliebt.« Unmittelbar und direkt verdankt er ihm als Dichter nicht viel. Fast nur in seinem herrlichen Jugendwerk »St. Johannes-Abend Spiel« spürt man den Einfluss von einem bestimmten Goethe'schen Vorbilde, dem »Jahrmarktsfest zu Plundersweilen«; und selbst hier steht das dänische Werk, das eine jährlich wiederkehrende Volksfeier im Walde nördlich von Kopenhagen verherrlicht, das geistiges Eigenthum der ganzen Nation geworden ist und dessen Repliken als Sprichwörter auf den Lippen des Volks leben, völlig selbständig dem deutschen gegenüber, das es an Bedeutung übertrifft.
Was Oehlenschläger aber im Allgemeinen und Ganzen Goethe verdankt, ist gewiss sehr viel; es lässt sich jedoch natürlicherweise nicht mit Bestimmtheit nachweisen. Der »Götz« hat ohne Zweifel stark dazu mitgewirkt, dass er schon jung zu der nationalen Vorzeit seines Volkes zurückgriff; seine Begeisterung für die mittelalterlichen Denkmäler Dänemarks, für den Roeskilder Dom z. B., hat sich vielleicht an dem Enthusiasmus Goethe's für den Strassburger Münster entzündet; Goethe's Beispiel hat ihm endlich Muth eingeflösst seiner Neigung zu folgen, alte Rhythmen der Volkslieder, alte, volksthümliche und den Dialekten angehörende Worte in die poetische Sprache aufzunehmen. Im Uebrigen haben weder die Vorzüge noch die Fehler der Oehlenschläger'schen Poesie mit Goethe etwas gemein. Er war in seiner Frische und seinem Pathos wie in seiner Schlaffheit völlig national. In seinem Gedicht »Meine Meister« nennt Oehlenschläger nach Ewald, Shakespeare, Cervantes, Homer, zuletzt auch Goethe als den, der hinter den Anderen in jeder einzelnen Fähigkeit zurückstehe, der aber in sich ihre gesammten Kräfte vereine. Er fühlte und bewunderte in seiner edlen Naivetät den universellen Geist in Goethe.
Dieser hat ihm nicht Recht gethan, wenn er ihn in den bekannten Briefen an Zelter mit Werner, Arnim, Brentano und mehreren zusammenwirft als einen, dessen Arbeiten und Treiben »durchaus ins Form- und Charakterlose geht«. Nicht dass das Urtheil einfach zu hart sei, aber es ist ganz und gar nicht treffend. Kaum treffender ist es, wenn Goethe schreibt: »Dieser gute Oehlenschläger ist auch einer von den Halben, die sich für ganz halten und für etwas darüber. Diese Nordsöhne gehen nach Italien und bringens doch nicht weiter, als ihren Bären auf die Hinterfüsse zu stellen; und wenn er einigermassen tanzen lernt, dann meinen sie, es wäre das recht.« Denn Bärenartiges gab es bei Oehlenschläger überhaupt nicht, und die Wildheit war bei ihm nur zu gelehrig, den Tanz der Wohlerzogenheit zu lernen. Man fühlt, dass Goethe, durch das wenig gewinnende Wesen Oehlenschlägers zurückgestossen, sich nie die Mühe gegeben hat, ihn zu lesen. Er lobte, von seiner Freundin Amalia von Hellwig veranlasst, Tegnérs Frithiofssage, sogar unter der Ueberschrift »Volkspoesie« (was diese Production am wenigsten ist); das originelle und so viel kräftigere Vorbild derselben, Oehlenschlägers »Helge«, nannte er dabei nicht und hat er augenscheinlich nicht gekannt.
Wie im Allgemeinen die Romantiker, vor allen Tieck, einen viel grösseren direkten Einfluss auf die dänische Literatur ausübten als Goethe, so steht auch Oehlenschläger mit seiner unbedingten Verehrung desselben unter den zeitgenössischen Dichtern und Schriftstellern allein. Fast alle übrigen Urtheile über Goethe, die in dänischen Briefen oder Memoiren aus der damaligen Zeit vorkommen, sind von theologischer und ästhetischer Befangenheit diktirt.
Bredahl, der grobe und wilde Dramatiker des Entrüstungspessimismus, schätzte Oehlenschläger weit höher als Goethe; der kleine romantische Poet N. Sötoft findet noch 1820 (nach einer Lobpreisung Tieck's) Goethe frivol und marmorkalt. Er schreibt: »Schiller ist gewiss ein grosser Geist voll Gemüth; aber echte Genialität lässt sich meiner Ansicht nach nie in seinen Arbeiten finden, und bei Goethe scheinen Frivolität, Frechheit und besonders eine Marmorkälte über das Gemüth gesiegt zu haben.« So grosse Ansprüche an Genialität stellt bisweilen die Kleinheit, und so frivol moralisirend ist bisweilen die Unbedeutendheit.
Der kindlich religiöse, pietistisch angehauchte Ingemann, der bekannte Dichter hübscher Lieder und quasihistorischer Volksromane, der in seiner Jugend eine erbärmliche, die platonische Liebe verherrlichende Nachahmung Werthers verfasst hatte, schreibt in seinem »Rückblick auf mein Leben« von Goethe: »Seine Persönlichkeit – insofern dieselbe sich in seinen Schriften offenbart – habe ich nie geliebt, und mit der vollsten Erkenntniss seines Genies habe ich immer eine Art von Hass zu der Lebensansicht genährt, die ich in seinen Werken fand.« Goethe war ja ein Geist mit offenen Sinnen, der ohne falsche Scham wie ohne Leichtfertigkeit seiner Sinne bekannt war; er war ein Kind der Natur, das sich seiner Mutter nicht schämte. Ingemann hasste Goethe wie er die Sinne und die Sinnenwelt hasste.
Zu derselben Gruppe ästhetisch befangener Beurtheiler Goethe's kann der allerdings ganz anders durchgebildete und freisinnige Bischof Jens Paludan-Müller, der Vater des berühmten Dichters, nicht ganz gerechnet werden. In seinen Briefen an Sibbern verehrt er im höchsten Grade Goethe als Künstler und »plastischen Darsteller des Menschen als veredeltes Naturproduct«; er findet Goethe »unendlich reich innerhalb seiner Sphäre«; aber befangen wie er ist in dem Dualismus der mittelalterlichen Weltanschauung operirt er mit den Begriffen Natur und Freiheit wie mit unbedingten Gegensätzen: Goethe kenne die Natur in ihrem ganzen Umfang; das Reich der Freiheit sei ihm dagegen ein unbekanntes Land; Goethe vermöge den Menschen nur als Bürger der Erde, nicht zugleich als Erbe des Himmels zu schildern; dies sei sein Mangel, ja noch mehr: »sein grosses Verbrechen.« Kein Wunder deshalb, dass die pietistische Parodie des Pfarrers Pustkuchen, die falschen »Wanderjahre«, deren Tendenz die ist, den Abscheu aller guten Christen vor Goethe's Lebensansicht zu erwecken, von Paludan-Müller mit sympathischem Interesse gelesen wird. Er möchte das Buch in den Händen aller blinden Bewunderer Goethe's wissen, um ihre Augen für seinen eigentlichen Charakter als Dichter zu öffnen.
Der Standpunkt dieses Geistlichen Goethe gegenüber, die fast unbedingte Anerkennung seiner Künstlergrösse, die in nicht bewusstem Widerspruch mit der eigentlich auch nur formellen Ablehnung seiner ganzen Welt- und Lebensanschauung steht, wurde in den dreissiger Jahren der herrschende bei der gebildeten dänischen Klerisei, die von dem eifrigen Goethe-Bewunderer Bischof Mynster ihr Gepräge erhielt. Mynster hat nicht einmal Bedenken gehegt, als Motto für seine Selbstbiographie die in dem Munde eines Bischofs doch gewiss sonderbar klingenden Worte Goethe's an Auguste Stolberg anzuwenden: Alles geben die Götter, die unendlichen, ihren Lieblingen ganz u. s. w.
Es war das Gleichgewicht, die umfassende Weltklugheit, das Beschauliche, über den Parteien Stehende, die erkämpfte Leidenschaftslosigkeit, der erhabene Egoismus, die zu dem Geiste Goethe's Männer wie Mynster und Seinesgleichen hinzogen. Die Tiefe und Wahrheit seiner in Leid und Forschen gewonnenen Lebensweisheit vermochten sie nicht zu ergründen.
Interessanter, wenn auch viel toller und barocker als die Aeusserungen dieser der Hochkirche angehörenden Geistlichen über Goethe, sind diejenigen des genialen Sonderlings N. F. S. Grundtvig (geb. 1783), des Stifters der einzigen aus ursprünglich dänischen Ansichten hervorgegangenen kirchlichen Gemeinde. Ich habe schon erzählt, dass er zuerst von Steffens 1802 Goethe's Namen hörte; zehn Jahre später spricht er sich zum ersten Mal über ihn aus.
In seiner »Weltchronik« 1812, in der er als Apostat des Rationalismus und überzeugter Anhänger der historischen Schule mit der Bibel in der Hand, an dem Offenbarungsglauben festhaltend, den Geist der Zeit verurtheilte und die Geschichte pries, wird Goethe »der beste Kopf, den Deutschland in mehr als zwei Jahrhunderten erzeugt hat«, gelobt, weil er als Verfasser von »Götz« die Geschichte neu belebt und das Zwergengeschlecht durch die Vorführung der Riesenväter desselben erschreckt habe. »Werther« und »Faust« sieht er ausschliesslich von dem Gesichtspunkte des Offenbarungsglaubens. Werther nennt er »ein Gemüth voll tiefer Sehnsucht, das sich mit einem Seufzer vom Glauben kehrt«. Er meint, dass der Dichter in »Faust« vor seinen eigenen Gedanken erschreckt sei, wo der Held seinen Bund mit dem Teufel schliesse; jedenfalls kehren wir, die wir uns des Falles des Geschlechts und der Erbsünde erinnern, uns mit Schaudern fort. Die Ründung der Goethe'schen Meisterwerke sei theuer erkauft, sie seien geeigneter das Zeitalter einzulullen als zu erwecken. An »Tasso« und »Egmont« zeigt Grundtvig, dass Goethe's Weltansicht sich nicht über die der gewöhnlichsten Lebensklugheit erhebe. In »Wilhelm Meister« habe er beweisen wollen, wie herrlich man leben könne, wenn man es verstehe, das Leben mit Geschmack zu geniessen.
In seiner »Aussicht über die Weltchronik« von 1817 hat Grundtvig sich einen neuen geschichtlichen Standpunkt für die Beurtheilung Goethe's gewählt. Nachdem er Sachsen, Schwaben und Franken als die ursprünglichsten deutschen Stämme und unter diesen wieder die Franken als den grunddeutschen Stamm bezeichnet hat, stellt er die Behauptung auf, ob nun Goethe ursprünglich ein Frankfurter, und Frankfurt ursprünglich fränkisch gewesen oder nicht, so sei doch Goethe innerlich ein echter fränkischer Deutscher, er stehe als Ausdruck des eigentlichen Deutschthums, des höchsten Verständnisses aller deutschen Stämme mit einander da. Dass Goethe weit tiefer von Ossian als von Shakespeare ergriffen sein soll, ist eine der vielen losen Behauptungen, woran Grundtvig reich ist. Weniger aus der Luft gegriffen ist unleugbar die Behauptung, Goethe sei »der deutsche oder richtiger der wirkliche Voltaire«, wenn auch die Begründung äusserst schwach ist, nämlich die, dass was Voltaire nur anscheinend vermochte, das finde man bei Goethe, »die Macht Alles, was er wolle, glanzvoll schimmern zu lassen«. Mit ungeheurer Geschmacklosigkeit folgt dann: »Diese Kunst ist merkwürdig; denn so mit Geist vergolden vermag Niemand, in dem nicht ächte Kraft sich findet, und es würde ohne Zweifel treffend sein, zu sagen, Goethe vergolde mit dem Athem des sterbenden Werthers.« Nicht viel schlagender ist die Zufügung: »Der Glanz Goethe's ist kalt und todt; er hat mit ihm viel Unreinheit in seinen Werken zu adeln sich bestrebt.«
Grundtvig nimmt Goethe es höchst übel auf, dass er so früh die geschichtlichen Stoffe aufgab, um sich in »Faust« und den »Wahlverwandtschaften« dem rein Natürlichen zu widmen: »Wo die Naturgeschichte Goethe's die Königin der Zeit wird, da ist Saga von ihrem Thron gestossen«, und noch heftiger wird ihm vorgeworfen, dass er »die Geschichte in dem Grade über die Schulter ansieht, dass er es nicht einmal für der Mühe werth hält sie zu bekämpfen, oder sie nur als Form gebraucht um seinen eigenen wohlgefälligen Roman darin zu giessen«. Grundtvig droht ihm, dass die Geschichte sich zur Strafe nicht minder vornehm von ihm wie von Voltaire wenden werde, der in seiner Art gleichfalls »der Geschichte den Stuhl vor die Thür stellte« und dadurch »ihres Lobes verlustig ging«. Man sieht, dass der Verfasser tief in dem Hass zum Jahrhundert des Rationalismus steckt und die Reaktion dagegen als endgültig betrachtet. Naiv und nicht ohne Feinheit sagt er dann: »Zum Württemberger Friedrich Schiller wendet sich freundschaftlich die Geschichte« (und Grundtvig), und nun folgt ein ganz treffender Vergleich zwischen Schiller und Goethe: »Die Freiheit strebte Schiller in allen Stellungen als einen Räuber, einen Empörer, einen Vaterlandsvertheidiger, einen Soldaten, endlich als eine Träumerin zu malen ... er war also ein historischer Schauspieler, wie Goethe ein natürlicher Romanheld. Die Kunst Schillers war weit edler und reiner, stand aber in Leben und Glanz und Einheit weit hinter Goethe's zurück.« Dies ist im Wesentlichen das Urtheil Grundtvig's, wobei er gewiss sein ganzes Leben hindurch stehen blieb. Von einem irgendwie gearteten Einfluss Goethe's auf die Production des volksthümlichen Psalmendichters ist natürlich keine Rede.
Es gibt noch einen poetischen Zeitgenossen Oehlenschlägers, der sich wie die meisten Anderen anfangs gegen Goethe sträubte, bei dem aber Goethe's Einfluss sich mit grosser Entschiedenheit nachweisen lässt; das ist der merkwürdige deutschgeborene und am leichtesten deutsch schreibende Dichter Schack von Staffeldt (1769 bis 1826), der mit Gewalt dänischer Lyriker sein wollte und es trotz all seinen sprachlichen Sünden und Sonderbarkeiten auch wirklich wurde. Seine dänischen Poesien haben in der Regel einen ultraromantischen Charakter, sie offenbaren aber den echt deutsch-metaphysischen, grüblerischen Zug seines Wesens, durch welchen er in der Litteratur, der er seiner Wahl nach angehörte, so eigen und selbständig dasteht. Er hatte in seiner frühen Jugend die landläufigen Vorurtheile gegen Goethe getheilt. Nach einem Besuch bei Klopstock schreibt er: »An Goethe tadelte er mit Fug die blindgepriesene Natur, ohne Auswahl und Verschönerung.« Nachdem aber Oehlenschläger, sein glücklicher und so viel reicher begabter Nebenbuhler, der dänischen Poesie die neue Bahn gebrochen hatte, fing er an nicht nur ihn, sondern auch den von ihm gepriesenen Goethe zu studiren und beiden nachzuahmen. Direkte Nachahmungen von Goethe kommen bei ihm in nicht geringer Zahl vor. »Mahomet's Gesang«, »Der Sänger«, »Erlkönig«, »Die Braut von Corinth«, »Nähe des Geliebten« sind unter seinen Gedichten nachgeahmt. Wichtiger ist aber, dass er augenscheinlich nie ohne die Vertiefung in Goethe den hohen Rang erreicht hätte, der ihm als dänischem Lyriker jetzt allseitig zuerkannt wird. Für die Schönheiten solcher Werke wie Iphigenia und Tasso hatte er mehr Blick als für die Vorzüge der deutschnationalen Jugenddichtungen Goethe's. Denn er war nicht wie Oehlenschläger in seiner Dichtung national, sondern wurde, obschon er in seiner frühen Jugend als fanatischer Däne einen Angriff auf das Deutschthum in Dänemark gerichtet hatte, mit den reiferen Jahren immer mehr kosmopolitisch gesinnt. Während Oehlenschläger als naiver, sinnlich-frischer Künstler und geborener Dramatiker in den späteren Schauspielen Goethe's (besonders in der Natürlichen Tochter) »die abstracte Dictionsvergötterung, diese Vornehmheit im Style, durch welche die dramatische Bewegung sich dem Menuette nähert« scharf gerügt hat, begrüsste Staffeldt »Die Natürliche Tochter« als Vorbote einer neuen Kunstepoche, in der die nationalen Unterschiede zurückgedrängt und die allgemein menschlichen Züge allein hervortreten werden. Der abstracte, metaphysische Dichter verräth sich in dieser Vorliebe, die den Beweis liefert, dass es auch ausserhalb Deutschlands einzelne Verehrer gab, die den alten Goethe auf Kosten des jungen rühmten.
Das Verständniss Goethe'scher Dichtung war, wie wir sahen, gleichzeitig mit der Natur-Philosophie und der Romantik in Dänemark durch Steffens so zu sagen eingeführt worden. Die ersten Gegner Goethe's waren, insofern sie nicht aus rein theologischer Beschränktheit sich gegen das Neue verschlossen, als Voltairianer, Lessingianer, Kantianer eigentlich philosophische Gegner. Die ersten leidenschaftlichen Anhänger, die er in Dänemark fand, waren Romantiker mit einem Anflug von Natur-Philosophie.
Es findet sich aber unter den bedeutendsten und innigsten Goethe-Verehrern eine kleine Gruppe von Natur-Philosophen, die es mit der Forschung ernst nahmen, und die, obwohl sie in Schelling ihren gemeinsamen Ausgangspunkt haben und die Pflege der Identitäts-Philosophie mit der Vertiefung in Goethe vereinigen, als Naturforscher, Dichter, Denker mit anziehender Ursprünglichkeit ihre Weltanschauung darstellten. Ich denke besonders an Hauch, Sibbern und Hans Christian Oersted.
Carsten Hauch (geb. 1790), ein tüchtiger Zoologe und hervorragender romantischer Dichter, der sich sogleich Oehlenschläger leidenschaftlich anschloss, ihn bald durch sein Feuer inspirirte, bald gegen die Aussenwelt vertheidigte, fühlte sich schon in seiner Jugend nach seiner Geistesart besonders von den kleineren Gedichten Goethe's unendlich angezogen. »Kaum«, sagt er, »konnten die alten Runenlieder auf ihre Zuhörer stärker wirken, als diese musikalische Lyrik, in welcher Goethe vor allen andern Dichtern seine Stärke hat, mich damals ergriff. Seine Lieder konnten mich auf meinen Wegen wochenlang begleiten, und ich sang sie mir oft laut vor, wenn ich allein war, zu Melodien, die ich selbst, so gut ich es vermochte, erfand.« Man wird in den lyrischen Dichtungen Hauch's grössere Verwandtschaft mit Novalis und Tieck als mit Goethe finden; er war jedoch von dem Naturton Goethe's tief beeinflusst und er verstand voll und ganz die Goethe'sche Kunst.
Hauch war in seinem Mannes-Alter an den Hochschulen in Soröe und Kiel Professor. Nach dem Tode Oehlenschlägers siedelte er, zum Professor der Aesthetik an der Universität ernannt, nach der Hauptstadt über, und nach meiner persönlichen Erfahrung ist das Hauch'sche Haus in Kopenhagen dasjenige gewesen, in welchem der Geist Goethe's am tiefsten begriffen und am höchsten verehrt in Dänemark fortlebte. Obwohl ich in diesem Hause (in den Sechziger Jahren) viel verkehrt habe, erinnere ich mich kaum eines Abends, wo Goethe's Name nicht genannt und von seiner Kunst nicht gesprochen wurde. Sie war der Maasstab, mit dem die Kunst Anderer gemessen und zu gering oder zu wenig einfach befunden ward. Hauch, den man sich als einen Vergötterer Oehlenschlägers dachte und der jedenfalls sein entschiedener Bewunderer war, verehrte unter den Dichtern nur Shakespeare und Goethe unbedingt. Er betrachtete es als Pflicht, Oehlenschläger gegen die vermeintliche Pietätlosigkeit der Jugend principiell und unbedingt zu vertheidigen. Der Goethekultus, der in seinem Heim getrieben wurde, musste indessen nothwendig das Verdienst Oehlenschlägers etwas in Schatten stellen, und nie habe ich schärfere, unbarmherzigere Kritik der geistigen Persönlichkeit Oehlenschlägers, nie eine verständnissvollere Bewunderung von Goethe gehört als in dem Hauch'schen Familienkreis. Es war nicht allein der Dichter Goethe, dessen Geist über dem Hause schwebte. Man huldigte in den praktischen Angelegenheiten des Lebens – nicht durch Nachahmung, durch natürliche, ursprüngliche Uebereinstimmung – Ansichten, wie sie Goethe hegte, man spürte seinen Geist in dem grossen Gewicht, das auf körperliche Fertigkeiten gelegt wurde, wie gut schwimmen, gut segeln, ein Haus zeichnen und bauen zu können oder es zu verstehen, auf dem Eise ein Menschenleben zu retten. Nicht allein, dass man solches verstand und that, es war, als thäte man es im Namen eines ungenannten Meisters, Goethe.
Hauch war nie so glücklich, nach Weimar zu kommen und den Schutzgeist des Ortes von Angesicht zu Angesicht zu schauen. Dies Loos fiel Oersted und Sibbern zu. Hans Christian Oersted (geb. 1777) hat für Dänemark eine ähnliche Bedeutung wie Alexander von Humboldt für Deutschland. Sein grosser Ruhm ist unter den Einsichtsvolleren in Dänemark jetzt etwas verblasst; seine Philosophie mit ihrem Gemisch von furchtsamen Pantheismus und Vernunftchristenthum ist längst als Halbheit verlassen; der Glanz, den seine grosse Entdeckung seinem Namen gab, wird in den Augen Mancher durch seine Unfähigkeit, diese Entdeckung irgendwie fruchtbar zu machen, verdunkelt; aber ihm bleibt das unbestrittene Verdienst, mit grossem Wissen, ununterbrochenem Forschen, kindlich reiner Hingebung an ideale Ziele und der Autorität, die eine grosse Leistung gibt, für die naturwissenschaftliche Erziehung und Bildung seines Volkes erfolgreich gewirkt zu haben. Er hat die polytechnische Lehranstalt in Kopenhagen gegründet und durch sein Buch »Der Geist in der Natur« zu seiner Zeit Humanität und Toleranz in weite Kreise verbreitet.
Früh hatte er mit der Naturphilosophie gebrochen. Die Lehre von einem einzigen grossen Weltorganismus musste ihn fesseln, aber in dem mystischen, von Phantasmen bevölkerten Halbnebel konnte er mit seinem Bedürfnisse nach strenger, ernster Forschung nicht aufkommen. Einer seiner Lieblingsgedanken war der, dass die Poesie, die zu seiner Zeit sich noch recht oft in übernatürlichen und ungesund phantastischen Vorstellungen bewegte, sich nach und nach die naturwissenschaftliche Weltanschauung zu eigen machen und darstellen müsse. Er hatte selbst, um diesen Gedanken zu illustriren, ein mittelmässiges Hexametergedicht »Das Luftschiff« geschrieben. Er meint, wie er sich ausdrückt, dass die Fortschritte der Naturforschung und die allgemeine Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse eine Menge Vorstellungen, deren sich die Dichter früher bedienten, unbrauchbar machen und in die poetische Rüstkammer einer vergangenen Zeit verbannen werden, zugleich aber, dass die Wissenschaft den Dichtern für diesen Verlust einen reichen Ersatz bietet. Als diese Ansicht von dem Theologen, Bischof Mynster, heftig angefochten wurde, berief er sich (in dem zweiten Theil seines Werkes »Der Geist in der Natur«) auf Goethe wie auf einen grossen Dichter, der weit weniger als die meisten anderen aus jener poetischen Rüstkammer verwendet und seine Mittel ohne Umweg direct von der Natur geholt habe. Er macht geltend, dass Goethe in seinem Gedicht »Die Metamorphose der Pflanzen« den Geist der Lehre, die er als Naturforscher der Welt vorgelegt hatte, zusammengedrängt gab. Er nennt mit Bewunderung Goethe's Gedicht über die Howard'sche Auffassung der Wolkenformation. Er hebt hervor, dass man ringsum in seinen Werken dichterischen Darstellungen wissenschaftlich begriffener Naturverhältnisse begegnet, und beklagt nur, dass Goethe die mathematische Naturlehre so gröblich missverstehe. Dann schliesst er: »Welch anderer deutscher Dichter hat sich durch und durch so als Naturbeobachter offenbart? Selbst in seinen Darstellungen der Menschen sieht man, dass er den Wesen, die seine Einbildungskraft erschuf, ein Gepräge gab, das nur von tiefgehender Beobachtung herrühren konnte.«
Im Jahre 1822 besuchte Oersted Goethe in Weimar. Eine weitläufigere Darstellung dieses Besuches scheint leider verloren gegangen zu sein. Eine kürzere sendet er am 10. October 1823 an seine Halbschwester, Frau Bull:
»Was dich vielleicht am meisten amüsiren wird, ist, dass ich aufs Freundschaftlichste von Goethe, dessen grossen Dichtergeist du liebst, empfangen wurde. Er hat in den späteren Jahren seines Lebens mit verdoppeltem Eifer dem Studium der Naturwissenschaften obgelegen und empfing mich wie ein Physiker den andern. Da ich ihm sagte, wie sehr es mich erfreue, dass meine Wissenschaft mich einem Manne näher geführt hätte, der schon seit meiner frühesten Jugend Gegenstand meiner Bewunderung gewesen sei, antwortete er mir: ›Was kann wohl ein Mann in meinem Alter besser thun, als sich in die Arme der Natur zu werfen.‹ Ich verbrachte einen der schönsten Abende in seinem Familienkreis.«
Dass Oersted seinerseits Goethe nicht gleichgültig war, beweist mir der Umstand, dass – wie mir der bekannte Politiker Herr Dr. Loewe-Bochum mitgetheilt hat – der deutsche Physiker Schweigger sich oft und bitter beklagte, Goethe habe seine Entdeckung des elektromagnetischen Multiplikators stets übersehen und immer statt seiner Oersted als den eigentlichen epochemachenden Entdecker – wohl mit Recht – gepriesen.
Es ist bereits berührt worden, wie Baggesen, als er, im Jahre 1811 vom Auslande zurückgekehrt, zu dem Hause Anders Sandöe Oersteds hineilte, schon bei dem ersten kalten Empfang sich aus der Gunst Sophia Oersteds verdrängt fühlte. Während seiner Abwesenheit war Frederik Christian Sibbern (geb. 1785), ein höchst ursprünglicher, echt humaner, allseitig gebildeter junger Denker in das Haus eingeführt worden, hatte sich in Sophia Oersted leidenschaftlich verliebt, und wurde nun seinerseits von ihr in die glühende Verehrung für Goethe eingeweiht, die fünf Jahre früher wie durch Ansteckung Baggesen ergriffen hatte. Das Verhältniss war gewiss ein völlig unschuldiges, wenn auch von der Seite Sibberns ein das ganze Gemüthsleben beherrschendes. Es waren zwei Seelen, die sich in Goethe begegneten und die ihrer gegenseitigen Neigung die Weihe der Goethereligion verliehen.
1811-12 unternahm Sibbern, bevor er die Stelle als Professor der Philosophie, die er mehr als 50 Jahre inne hatte, in Kopenhagen antrat, eine Reise ins Ausland; sein Briefwechsel während dieser Reise ist gedruckt und der grosse Raum, den Goethe in diesen Episteln einnimmt, macht es vielleicht deutschen Lesern wünschenswerth, einige Bruchstücke derselben kennen zu lernen.
Am 4. April 1812 schreibt Sophia Oersted an Sibbern: »Sie glücklicher, der Sie jetzt nach Weimar reisen. Gott segne Sie. Ich gönne es Ihnen vom ganzen Herzen. Vergessen Sie nicht Ihr Versprechen, mir etwas von Goethe zu erbetteln oder zu stehlen ... Zu meiner Persönlichkeit passt Schiller nicht so wie Goethe. Die Einfachheit, Kraft und Festigkeit, die unfassbare, Alles durchdringende und doch so milde Stärke, die wie der Magnet durch die Erde, durch jede noch so kleine Arbeit von Goethe geht, die fehlt ihm, und die ist es eben, die bei Goethe mich erhebt, tröstet, erfreut und beruhigt.«
Sibbern traf Goethe nicht, weder in Weimar noch in Jena. Er hielt sich damals in Carlsbad auf. Sibbern wollte aber nicht unterlassen, die Bekanntschaft der Frau von Goethe zu machen. Er schreibt aus Weimar 16. Mai 1812: »Es ist und bleibt mir ein Räthsel, wie Goethe sie zur Frau hat nehmen können ... In Jena sah ich sie einen ganzen Abend hindurch tanzen, bis ein Uhr fast jeden einzigen Tanz. Es ist Sitte unter den Studenten, ihr den Hof zu machen, theils natürlich, um sich über sie aufzuhalten, theils weil sie es pikant finden. Sie wetteifern darin, mit ihr tanzen zu dürfen.« (Sie war damals 48 Jahre alt.)
In seiner Ungeduld, Goethe zu sehen, hielt Sibbern es nicht aus, dessen Rückkunft nach Weimar zu erwarten, sondern pilgerte ihm zu Fuss bis Carlsbad nach. In einem Briefe aus Jena 16. Juli 1812 hat er seine Eindrücke von der Erscheinung Goethe's beschrieben:
»Aber ich sollte von Goethe erzählen, jetzt, da ich das Glück gehabt habe, den wunderbaren Mann zugänglich für mich zu finden, ihn in guter und glücklicher Stimmung getroffen und mehrmals gesprochen habe. Ich könnte und sollte billigerweise jetzt voll Freude sein; wenn das Herz nur genügsamer wäre. Er hat mich so gut empfangen, wie ich nur hoffen durfte; und doch – wenn ich nicht die Hoffnung oder richtiger den Vorsatz hätte, noch ein Mal vor meiner Heimreise zu ihm zu kommen, würde ich voll Missmuth sein. Doch preise ich die Stunden, die ich bei ihm verbrachte (vier Mal in Allem) und die, in welchen ich ihn bei Frau von der Recke sah, und die Augenblicke, da ich ihn bei der Quelle und auf den Promenaden begrüsste; ich preise mich glücklich für sie alle, und beklage nur, dass ihrer nicht mehrere waren und dass ich ihm nicht weit näher kam. – Er ist von einer majestätischen Schönheit, voller Kraft in Blick, Haltung und Gang, wie ein Mann in den besten Jahren und dennoch trägt sein Gesicht das Gepräge der 63. Er hat eine Gestalt und einen Anstand wie ein Fürst; lieber möchte ich sagen, wie ein Minister, und denke dabei fast an den alten Bernstorff ... Leben und wirken wird er gewiss, ohne irgend eine Hemmung, wenigstens noch zwanzig Jahre. Er sieht aus, als könne er achtzig Jahr erreichen, ohne ein Greis zu werden. Freuen Sie sich, dass er noch so viele Jahre mit Ihnen leben kann und Ihnen jedes Jahr neue Gaben bringen ...
Ich zog in den Gasthof in Carlsbad ein und ging am folgenden Morgen in die Stadt, um mir eine Wohnung zu suchen und meinen Koffer vom Posthaus abzuholen. Als ich über den »Ring« ging – so heisst hier der Markt – begegnete ich ihm; er kam mir entgegen mit einem Becher in der Hand, er kam also vom Brunnen; ich kannte ihn augenblicklich und wollte schon den Hut ziehen. Dann bedachte ich, dass er ja nicht mich kannte ...Von Goethe merkte ich nichts weiteres, weder auf den Strassen noch auf den Spazierwegen; ich hatte mir fast gedacht, dass er dort in Carlsbad alles füllen und durchdringen, Alles ihn wiederspiegeln müsse ...
Ich stand denn vor ihm. Er empfing mich freundlich; ich war da eine Viertelstunde; dann machte er eine Verbeugung und liess mich gehen. Es hatte nicht viel auf sich, was ich mit ihm besprach; es nimmt ja schon Zeit zu sagen, woher man kommt und wohin man geht; etwas war die Rede von der neuen Universität in Norwegen, die mir überhaupt ein bequemer Gegenstand ist, um ein Gespräch anzuknüpfen. Ueber meine Begeisterung für ihn sagte ich nicht ein einziges Wort; das wagte ich nicht. Ich stand mit ihm am Fenster. Er stand da, hoch und kräftig, in einem blauen Rock, den er auch am Tage voraus trug. Als ich von ihm ging, war es, als ob es in meiner Seele stille stand; ich konnte ihre Stimmung wenden, wohin ich wollte, zur Freude, zum Missmuth ...
Wenn ich später in einer Entfernung einen blauen Rock und eine hohe stattliche Gestalt sah, wurde ich sogleich aufgeregt. Und noch viel mehr, als ich ein Paar Tage danach wirklich Goethe auf der Strasse begegnete und er mich ansprach: Wie geht es? – Es war mir wie vormals, wenn von ferne ein gelber Shawl meine Freude erregte, und ich ihm nachzustieren fortfuhr, obwohl ich erkannt hatte, dass es nicht der rechte war.«
Wie sehr Sibbern sein Leben lang sich mit Goethe beschäftigte, davon legen seine Briefe nach der Rückkunft von seiner Reise Zeugniss ab. Fast sein ganzer, deutsch geführter Briefwechsel mit Henriette Herz ist Goethe gewidmet. 1815 schreibt er ihr, es gehe kaum ein Tag, wo er nicht an Goethe denke, er halte sich an ihn in Freude wie in Trauer, aber besonders in bitteren Stunden. Er findet, dass die Leiden, von welchen Goethe sich durch seine Werke frei machte, auch den, der sie liest, verlassen, ja es sei dem Leser, als hätte Goethe alles eben für ihn geschrieben. Sibbern hat (wie er es später seinen Gabrielis wiederholen lässt) eine schmerzgemischte Freude daran, »Dichtung und Wahrheit« zu lesen; denn der Inhalt entzückt ihn, aber der Vergleich zwischen diesem vollen reichen Leben und seinem eigenen sei niederschlagend. Die Ruhe, das Gleichgewicht, die Allseitigkeit Goethe's kann Sibbern nie müde werden zu preisen. »Einen vollendeteren Mann« sagt er, »in allem, was bloss und rein menschlich ist, hat unser Zeitalter kaum hervorgebracht«. Man sieht, dass es trotz alledem auch für ihn eine für Menschen zugängliche Sphäre gab, die mehr als bloss und rein menschlich sein sollte.
Henriette Herz ist Weib genug, sich von Sibbern um Goethes willen fast vernachlässigt zu finden. Sie vergleicht die Passion ihres dänischen Freundes für Goethe mit seiner früheren für Sophia Oersted. »Wie Sie einmal jeden Abend mich von ein Paar schönen Augen unterhielten, die Sie in Ihr Innerstes getroffen hatten, so ist Ihr Brief so voll von Goethe, dass Sie mich selbst darüber vergessen«. Sie antwortet übrigens im selben Geist, bewundert Goethe, hat aber längst gewusst, dass das Heiligste nicht für ihn das Heiligste sei. Sie, die wegen der Parallele, welche ungewöhnliche Fähigkeiten, Verbindungen mit ausgezeichneten Männern und gemeinsame Abstammung zu ziehen einladen, so oft mit Rahel zusammen genannt wird, hatte nichts von dem ursprünglichen, untrüglichen Sinn für Goethes Grösse, der eins der auffallendsten Zeugnisse abgiebt für Rahels geistesfreie Genialität.
Als der junge Professor der Philosophie nach wenigen Jahren mit einer dichterischen Production auftrat – in Dänemark ist man, was man auch sonst sei, immer ein wenig Poet – spielten in der Schrift »Nachgelassene Briefe von Gabrielis«, einer Wertheriade, für welche seine Beziehungen zu der Frau Oersted den Stoff gaben, die Dichtungen Goethe's noch eine grössere Rolle als die Ossians in »Werther«. Die Liebenden spazieren in den Buchenwäldern Seelands, und sie singt ihm Goethe'sche Lieder vor. Sie hat in ihrem Blute etwas von der Naturharmonie Goethes. »Was mich auch am Tage unruhig bewegt hat«, sagt sie, »Abends liegt alles vor mir in milde Ruhe aufgelöst«. Und sie versteht wie Goethe das Ganze im Einzelnen zu gemessen. »Die vorzüglichsten Wesen«, sagt er ihr, »haben immer die längste Jugend; denn sie begehren Nahrung von dem unendlichen Leben der ganzen Natur, und in jedem Genuss geniessen sie das Weltall. So ging es Ihnen mit Goethe, mit dem Sie langsam emporwuchsen und sich langsam entfalteten«. In Sibberns Werk »Ueber Poesie und Kunst« ist Goethe endlich geradezu als der ideale Künstler dargestellt, denn er vertritt die Verschmelzung von Genialität und Besonnenheit, die Sibbern das Höchste ist. Sehr verständig wird hier entwickelt, wie Goethe nur um sich selbst allseitig zu entwickeln und zum tüchtigen, vollendeten Organ seines Genius zu machen in allen Richtungen der Kunst und Wissenschaft gestrebt und gearbeitet zu haben scheint, wie er aber eben dadurch seinen Mitmenschen eine ganze helle und reine Welt schenkte. Besonders Tiefes und Nettes findet man in Sibberns kunstphilosophischen Schriften nicht, und von den begabteren Zeitgenossen wurden sie besonders wegen des breiten schleppenden Stils fast übersehen. Was sein Verhältniss zu Goethe betrifft, so war es der damaligen Intelligenz-Aristokratie schon ein Anstoss, dass Sibbern trotz des Anlaufes zu rein freisinnigen Ansichten es nicht lassen konnte – nach dem Beispiel seiner Freundin Henriette Herz – bei dem gepriesenen Goethe das christliche Gefühl und die Gottesergebenheit zu vermissen.
Sibbern war nicht derjenige, dem es gelang, als Aesthetiker die geistige und künstlerische Ueberlegenheit Goethe's in dem Bewusstsein des dänischen Volkes dauernd zu befestigen.
Diese Aufgabe und dieser Erfolg waren einem am entgegengesetzten geistigen Pol sich befindenden Gegner von Sibbern, dem gewandten und genialen Dichter und Denker Johan Ludvig Heiberg vorbehalten. Unter allen dänischen Grössen ist es Heiberg, welcher, mit dem hellsten Bewusstsein über sein Ziel, direct im Goethe'schen Geist hat wirken wollen, und da er die Gabe besass, seine Ansichten und Sympathien der ganzen hauptstädtischen Intelligenz mitzutheilen, da er sein Mannesalter hindurch der Abgott der Gebildeten und der absolute Oberrichter in der Litteratur war, hat er auch zu seiner Zeit das, was er von Goethe erfasst und in sich aufgenommen hatte, zum geistigen Eigenthum der höheren Klassen gemacht und dadurch sowohl der Einsicht in Goethe's Kunst wie der Befestigung der rein äusserlichen Autorität von dessen Namen den grössten Vorschub geleistet.
J. L. Heiberg (1791-1860) ist unstreitig eine der hervorragendsten Persönlichkeiten der dänischen Litteratur im 19. Jahrhundert. Als romantischer Lyriker und witziger, glänzender Lustspieldichter beliebt, ja populär, als Einführer und talentvoller Verfechter der Hegel'schen Philosophie von massgebendem Einfluss, sogar nachdem diese Philosophie ausserhalb Dänemarks ihre herrschende Stellung verloren hatte, als Kritiker und Aesthetiker endlich buchstäblich ein Erzieher seines Volkes, hat er ungefähr von (1824-1842) eine im Wesentlichen erspriessliche und civilisatorische Geistesherrschaft ausgeübt. Was ihm hauptsächlich fehlte, war ein voller originaler Naturton; Primitivität hatte er nur in seinem Witz. In der Dichtkunst gruppirte sich um ihn eine feine, reflectirende, nicht sehr naturwüchsige Formschule (Henrik Hertz, Frederik Paludan-Müller u. a.). Gegen die fünfziger Jahre wurde jedoch ein bei ihm stets vorhandener Hang zum Schematismus und zur Sophistik im Denken, zum leeren Formalismus in der Kunst und Kritik so stark, dass er als Kritiker, Theaterdirektor und Politiker fast nur ein Hemmniss der Entwicklung wurde.
Es lag in seinem Wesen etwas von der olympischen Ueberlegenheit, der göttlich heitern Ironie, der diplomatischen Selbstbeherrschung, die er bei Goethe verstanden hatte. Die unerschöpfliche Naturfülle, die ewige Frische des Goethe'schen Wesens besass er nicht. Seine Jugend hatte nie die leidenschaftliche Gluth gehabt, die bei Goethe hinreisst, sein Alter hatte auch die hohe Weisheit nicht, die bei Goethe erquickt. Nicht dass er der Natur und dem Naturstudium fremd war. Im Gegentheil er war von frühster Jugend ab eifriger Naturforscher, besonders Entomolog, und er betrieb bis in seine letzten Lebensjahre mit wahrer Leidenschaft astronomische Forschungen; seine letzten Schriften sind optische und akustische Monographien. Das naturwissenschaftliche Gebiet des Goethe'schen Wissens war ihm also keineswegs unbekannt; er war sogar wie sein deutscher Meister ein Feind der empirischen und experimentellen Richtung und wie die meisten Hegelianer ein Anhänger von Goethe's Farbenlehre. Aber er hatte nichts von dem weltumspannenden Entdeckergeist, dem grossen naturalistischen Pantheismus, der Goethe mit den Ahnen der Philosophie, einem Thales, einem Heraklit in Verwandtschaft bringt. Er war kein Urmensch.
Heiberg war, ungefähr 30 Jahr alt, von Hegels Philosophie mächtig ergriffen worden, war 1824 in Berlin mit Hegel selbst in Verkehr getreten und betrachtete es von jetzt ab als eine seiner wesentlichsten Lebensaufgaben, der Hegel'schen Philosophie Eingang in Dänemark zu verschaffen. Aber für ihn wie für nicht wenige der Hegelianer der ersten Zeit war die Hegel'sche Philosophie nicht von der Dichtung Goethe's zu trennen. Sie waren ihnen zwei Formen desselben geistigen Inhalts. Mit Heibergs Auftreten fängt daher eine Periode in dem dänischen Geistesleben an, in welcher man Goethe so auffasste, wie er sich durch Hegel'sche Brillen ausnahm, und ihn nicht so sehr um seiner selbst willen wie als dichterische Illustration der metaphysischen und ästhetischen Theorien Hegels bewunderte. Es versteht sich von selbst, dass Heiberg mit seiner lebhaften poetischen Empfindung sich diesen Verirrungen fern hielt. Mit all seiner Goethebewunderung scheint er indessen bis zu seinem Tode nie geahnt zu haben, von wie kurzer Dauer die Weltherrschaft seines Lieblingsphilosophen in Vergleich mit derjenigen seines Lieblingsdichters werden würde.
In dem Aufsatz »Ueber die Bedeutung der Philosophie« (1833) findet sich die Grundansicht Heibergs von Goethe: Was Goethe von allen zeitgenössischen Dichtern unterscheide, sei dasselbe, was Dante und Calderon so sehr über ihre Zeitgenossen erhebe; er stelle die Philosophie seines Zeitalters dar, er sei ein speculativer Dichter gewesen. Heiberg spricht sich in Folge dieser Auffassung mit starker Einseitigkeit gegen den in Dänemark mit gutem Grund herrschenden Shakespeare-Cultus aus: Shakespeare sei kein ähnlicher poetischer Vertreter der Menschheit. Shakespeare, der einem Lande gehöre, das stets in lauter endlichen Bestrebungen befangen gewesen, sei allzu national um nicht Realist zu sein. Interessante Charakterschilderungen, psychologische und historische Memorabilien seien die Gegenstände, in die er sich vertiefe, aber nie spüre man ein Bewusstsein davon, dass dieselben als endliche und vergängliche Seiten sowohl des Lebens wie der Dichtkunst in der Anschauung des Unendlichen sich verlieren. Die übertriebene Bewunderung Shakespeare's sei lächerlich und unverzeihlich in einem Zeitalter, das einen weit grössern Dichter besitze. Goethe stehe durchaus nicht in Liebe zu den Einzelnheiten der Natur und des Menschenlebens hinter Shakespeare zurück; im Gegentheil er übertreffe ihn auch in der liebevollen Vertiefung in's Endliche, nur seien sowohl die Begebenheiten als die Charaktere von ihm als untergeordnete Momente der ideellen Einheit gehalten. Wie er in Tasso weder den Dichter noch den Staatsmann vorziehe, so wolle er uns überhaupt nie für einen Helden oder einen Liebenden begeistern, sondern für die nicht individuell und persönlich begrenzten Ideen. Heiberg zeigt, wie diese doppelte Eigentümlichkeit und Grösse Goethe's die irrthümlichen Ansichten über ihn erklären: »Die, welche sich nur an seine überraschende Liebe zum Endlichen halten, nennen ihn sinnlich und materiell; die, welche nur das entgegengesetzte Moment aufgefasst haben, finden ihn ohne Wärme und Begeisterung, sagen, dass es ihm mit keiner Sache Ernst sei. Und beide Klassen von Gegnern werden dann leicht zu den weiteren Beschuldigungen getrieben: dass er unmoralisch sei, weil er die moralischen Pflicht-Bestimmungen, an die sich die Menge wie an feste Haltpunkte klammert, in ihrer Endlichkeit darstellt und ihnen die vermeintliche absolute Gültigkeit raubt; dass er irreligiös sei, weil seine Poesie, anstatt sich unter die Religion zu stellen, durch ihre Verschmelzung mit der Philosophie im Gegentheil den religiösen Standpunkt in seinen eigenen Umfang aufgenommen hat. In beiden Hinsichten hat Goethe indessen nichts anderes gethan, als uns unsere eigenen Gedanken zum Bewusstsein zu bringen; das aber ist es eben, was Viele übel aufnehmen. Niemand lässt in seinen Handlungen die isolirten Pflichtbestimmungen als unbedingt gelten; aber man will sich einbilden, dass man es thut. Ebenfalls ist, was den religiösen Punkt betrifft, die Welt darüber ziemlich einig, die Hierarchie weder im Allgemeinen noch in dem Individuellen ertragen zu wollen; nicht desto weniger beugt man sich davor, indem man Goethe irreligiös nennt, weil er jenen unseren ernsten Gedanken uns zum Bewusstsein erhebt.«
Diese Worte, die den Nagel auf den Kopf treffen und ohne Zweifel die wahrste und tiefste Ansicht von Goethe enthalten, die bis dahin in Dänemark ausgesprochen worden, sind von einer den Nicht-Dänen kaum recht fassbaren Kühnheit. Sie sprachen in einem orthodoxen Lande ein neues Princip aus; sie enthielten einen directen, bewussten, entschiedenen Angriff auf die alles überfluthende officielle theologische Gesinnung, die man überall mit den Lippen bekannte, während die Meisten in einem schlaffen Halbbewusstsein von einer ganz verschiedenen Weltanschauung hinlebten. Diese Worte waren so kühn, dass Heiberg selbst in seinen älteren Jahren den Standpunkt, den sie bezeichneten, aufgab, und, als die theologische Reaction in den vierziger Jahren ihren Aufschwung nahm, vom Pantheismus zur speculativen Dogmatik zurückzukehren schien.
Ueberall in Heibergs Werken finden sich zerstreute Beiträge zur Aesthetik der Goethe'schen Dichtung. Er war der unermüdliche Verfechter der von Goethe ausgesprochenen, streng künstlerischen Ansicht der Poesie. Er gab einen Auszug des Briefwechsels zwischen Schiller und Goethe mit Noten heraus, und wenn er in seiner scharfen, bisweilen sophistischen Polemik gegen Hebbel als Verfasser der Dramen »Judith« und »Genoveva« und des Aufsatzes »Ein Wort über das Drama« (1843) dem viel jüngern deutschen Dichter so hart zusetzte, hatte es hauptsächlich darin seinen Grund, dass er bei Hebbel (wie bei Gutzkow) keine neue über Goethe hinausführende Richtung zu erkennen vermochte, sondern nur einen Rückfall in die von Goethe längst überwundenen Einseitigkeiten oder Trivialitäten fand. Man sehe Heiberg: Prosaiske Skrifter I., 416-430, III., 256, 348 ff., IV., 443, 471, V., 215 ff., 353 ff. Wenn Emil Kuh in seiner Biographie Hebbels sich durch die Begeisterung für seinen Gegenstand hinreissen lässt, Heiberg als einen hegelianisch angehauchten Gottsched zu stempeln, so lässt dieses sich nur durch die Unkenntniss der dänischen Sprache erklären, in welcher dieser übrigens so schätzenswerthe Litteratur-Historiker sich befand.
Heiberg selbst und fast noch mehr sein treuer poetischer Bundesgenosse Henrik Hertz, der sich nie bei Einer Dichtart, Einer Gruppe von Stoffen, oder Einer Behandlungsweise beruhigte, sondern sein Talent in immer neuen Varietäten offenbarte, fussen als Dichter durchaus in Goethe's Erdreich. In ihren guten Dichtungen athmet man Goethe'sche Luft, leider sehr verdünnt. Diese Geister hatten mit Goethe nur das Aristokratische, Verfeinerte gemeinsam; ihnen fehlte das eminent Menschliche und deshalb grossartig Volkstümliche, das in Goethe's Naturgrund lag. Heiberg hatte, wie schon berührt, viel von dem alten Goethe, nichts von dem jungen. Hertz, der in dem Drama »Hundert Jahre« dem Ultra-Dänenthum Grundtvig's gegenüber sein poetisches Streben direct auf Goethe zurückführt (»Wir haben aus einem Born geschöpft, der in Weimar entsprang«), ist sowohl in seiner lyrischen Form wie in seiner Prosa von Goethe's Kunst beeinflusst. Frau Gyllembourg, die Mutter J. L. Heiberg's, die in Dänemark die Humanitätsmoral des achtzehnten Jahrhunderts vertritt, ist als Schriftstellerin zwar am nächsten die Schülerin ihres Sohnes, doch Goethe's zugleich. Ihre Lebensansicht war ursprünglich der Naturglaube und Freiheitsglaube der Revolutionsperiode. Sie scheint zuerst mit Rousseau gefühlt zu haben. Daran hat sich – wahrscheinlich durch den Sohn – der Einfluss Goethe's natürlich angeschlossen. Ihr Bildungsideal ist das Goethe'sche, doch nach und nach wie die Jahre gingen und die theologische Reaction zunahm, durch den Zusatz traditioneller Elemente stark geändert. Bisweilen, wie in dem Schauspiel »Die Fregatte Der Schwan« greift sie bis auf »Stella« zurück.
Paludan-Müller hat in seinem Hauptwerke »Adam Homo« nicht nur von Byron, auch von Goethe gelernt. Solche Einzelnheiten wie der Maskenball und die Erlösung Adams durch Alma haben directe Analogien in der Mummenschanz und in der Apotheose Gretchens im zweiten Theil des »Faust«. Der Erzählerstil in Prosa ist bei Paludan-Müller, wie bei Heiberg, Frau Gyllembourg, Hertz, Chr. Winther, H. P. Holst insofern von Goethe beeinflusst wie der Stil in Einer Sprache von der Darstellungsart in einer anderen beeinflusst sein kann.
Die unter den jüngeren dänischen Dichtern der damaligen Zeit, welche weniger formalistisch und reflektirend als Heiberg, Oehlenschläger näher als ihm standen, Poul Möller, Chr. Winther, Emil Aarestrup verdanken als Lyriker Goethe wenig, wenn überhaupt etwas. Winther und Aarestrup übersetzen ihn bisweilen, sind aber beide weit eher von Heine als von ihm beeinflusst. Poul Möller fühlte sich von dem Unwillen der Goethe'schen Schule gegen die politische Opposition angezogen, jedoch von ihrer Geringschätzung der praktischen Lebensziele zurückgestossen, die sie als »Interesse für das Zeitliche« verwarf.
Die Schule ging in Formalismus zu Grunde. Deswegen sind Heiberg und seine nächsten Freunde oder Schüler auf der jetzigen Entwickelungsstufe des dänischen Geisteslebens so vollständig zur Seite geschoben worden, dass sie, die so kürzlich Gestorbenen (Heiberg starb 1860, Hertz 1870), fast wie vergessen sind. Man hat aus ihnen Alles gelernt, was von ihnen zu lernen war. Sie haben schon zu ihren Lebzeiten ihren Lohn vorweggenommen. Die junge Generation findet unter ihnen keinen zu bekämpfenden Gegner, keinen Führer und kein Vorbild.
Auf Heiberg folgt in dem geistigen Leben Dänemarks das Zeitalter des constitutionellen Liberalismus und der besonders durch Sören Kierkegaard (1813-1855) Gestalt und Eigenthümlichkeit gewinnenden religiösen Reaction. Weder der politische Liberalismus noch der theologische Rückschlag war dem sympathischen und eindringlichen Verständniss Goethe's günstig.
Von der Seite der den Absolutismus bekämpfenden Politiker kam in Dänemark, wie in Deutschland, eine Auffassung Goethe's zum Vorschein, die ihn wesentlich als indifferenten Olympier oder epikuräischen Hellenen charakterisirt. Unter den Schriftstellern, die ursprünglich dieser Gruppe angehörten, ist der Journalist, Novellen- und Romandichter M. Goldschmidt unstreitig der talentvollste. Seine romantische Religiosität war ausserdem der Naturfrommheit Goethe's abhold. Man findet ringsum in Goldschmidt's Werken Andeutungen einer in Deutschland am nächsten von Heine vertretenen bewundernden Abneigung gegen Goethe. Er hebt besonders den politischen Indifferentismus Goethe's wie Schiller's hervor. Doch war er weit davon entfernt, den ehrlichen, brennenden, dummen Hass eines Börne zu fühlen, noch ferner davon in das Schimpfen und das Zornesgebrüll eines Menzel einzustimmen. In einem Artikel über »Lyrische Poesie« sagt er 1857 sehr richtig: Goethe war ein Hellener oder Heide, der vom Christenthum all das aufgenommen hat, das nicht durch Schwärmerei oder Hang zum Uebernatürlichen seine Harmonie stören konnte. – Er nimmt Aergerniss von der Aeusserung Goethe's, dass das Religiöse auf der feinsten Verwechselung des Subjectiven und des Objectiven beruhe, und nicht weniger von einem Wunsch, den Schiller für Goethe's Nächte ausspricht, »und das während Bonaparte u. s. w.«. »Durch beide« (Goethe und Schiller), sagt Goldschmidt, »war eine eigenthümliche Gleichgültigkeit, ein egoistisches Streben danach, in Genuss und Wohlgefallen sich ausserhalb des Allgemeinen zu stellen, in deutsche Gemüther eingezogen«. Im Allgemeinen kann man sagen, dass die Antipathie, welche die Mehrzahl der liberalen Politiker gegen Heiberg und seinen Einfluss hegte, den von Heiberg immer gepriesenen Goethe ihnen gewissermassen einfach als den nur viel grössern Heiberg Deutschlands erscheinen liess. Als solcher wurde er von ihnen bekämpft.
Ganz anders gestaltete sich die von Kierkegaard ausgehende Reaction gegen Goethe. Für Kierkegaard mit seinem christlichen Pathos, seiner brennenden Leidenschaftlichkeit, seiner ethischen Begeisterung und seiner Ueberzeugung, dass Märtyrerthum das Loos jedes wahren Geisteshelden hier auf Erden sei, war das Lebenswerk und die Lebensführung Goethe's nothwendig ein Aergerniss. Ihm, dem es ausserdem zum Dogma geworden, dass man nur Ein Mal liebt, und der mit so unverbrüchlicher Treue an der einzigen Liebesneigung seines Lebens festgehalten hatte, musste das Verhältniss Goethe's zu den Frauen und der Liebe ein Stein des Anstosses sein.
Seine ausführlichste Auseinandersetzung mit Goethe findet sich in dem zweiten Theil des Werkes »Stadien auf dem Lebenswege« in dem Aufsatze des Assessors über die Ehe. Der Assessor geht mit dem Helden der Goethe'schen Selbstbiographie streng und spöttisch ins Gericht wegen seines Benehmens Friederike gegenüber: »Wenn die kleine Dorfschönheit so unglücklich gewesen, Seine Excellenz nicht recht zu verstehen, sich jedoch treu bleibt, so ist sie, wenn ich mich nicht irre, aus der Idylle zur Tragödie avancirt; wenn dagegen Seine Excellenz so unglücklich gewesen ist, mit sich selbst in Missverständniss zu gerathen, und ferner in der Weise, wie er es wieder gut machen will, äusserst unglücklich ist, so ist er, wenn ich mich nicht irre, aus dem Drama verabschiedet und in dem Vaudeville ansässig.« Er, der sonst so umsichtige und tiefe Psycholog, betrachtet in diesem Fall das Herzensverhältniss zwischen Mann und Weib ganz als sei von einem äusserlichen Schuldenverhältniss, das durch Bezahlung geordnet werden muss, die Rede. Er nennt es ein Falsum, »dass nicht jedes Mädchen, wenn es gegeben ist, dass der Mann die Verpflichtung kontrahirt hat, eine unabweisbare Gläubigerin sein solle«.
Es liegt ausserhalb meiner Absicht, mich zum Vertheidiger Goethe's in diesen verwickelten Fragen aufzuwerfen; es ist aber leicht, die äusserst schwachen Punkte in dem Angriff Kierkegaards zu entdecken. Nirgends spürt man bei ihm ein Bewusstsein der Schwierigkeit, die Grenze anzugeben, wo »es gegeben ist, dass der Mann die Verpflichtung kontrahirt hat« im Gegensatz zu jener Konstellation der Herzen, wo die Verpflichtung noch nicht eingetreten ist. Nirgends stellt und beantwortet er die Frage, ob und wann der Mann gegen seinen Wunsch trotz warnender Ahnungen, ausschliesslich um sein Wort einzulösen, sich und sein ganzes Leben als Geschenk geben darf, ob das sich auch thun lässt, ob es nicht in vielen Fällen ein Verrath gegen das liebende Weib sein würde – lauter Fragen, Gedanken und Zweifel, mit denen Kierkegaard wie Wenige vertraut gewesen sein muss. Interessant ist dieser Angriff, besonders, weil er von einem Manne herrührt, der mit unendlichem Aufwand der Reflexion und mit erdrückender Empfindung der Verantwortung sein einem jungen Mädchen gegebenes Wort zurückgenommen hatte, um danach sein Leben lang über diesen Bruch und dessen Folgen zu brüten.
Kierkegaard meint, in »Dichtung und Wahrheit« die Erklärung dafür zu finden, dass Pathos dasjenige sei, was man bei Goethe am meisten vermisse. Es sei in seiner Dichtung ausgeblieben, weil es in seinem Leben sich nicht fand. Er findet ferner darin die Ursache, weshalb seine vorzüglichsten Gestalten, die weiblichen, – vermeintlich – immer in einer Beleuchtung erscheinen, in welcher die überlegene Verständigkeit, die zu gemessen und sich zu entfernen wisse, als berechtigt oder wenigstens als entschuldbar dastehe. An »Clavigo« oder »Faust« kann er mit dieser Behauptung doch kaum gedacht haben. Bitter verspottet er die kriechende Bewunderung der Goethe'schen Fähigkeit, ein Lebensverhältniss, das ihn zu überwältigen drohte, dadurch zu entfernen, dass er es dichtete. Denn was sei diese Natureigenthümlichkeit anderes als die Parade des natürlichen und lüsternen Menschen gegen das Ethische? Das verstehe sich, dass nicht Jeder, der »dichtet«, Meisterwerke hervorbringe, aber was thue dies mit Rücksicht auf das Ethische zur Sache? Auch dieser Vorwurf ist besonders deswegen interessant, weil er aus der Feder eines Schriftstellers stammt, der die Hauptqual seines Jugendlebens eben nur durch immer und immer erneuerte dichterische Darstellungen derselben überwand.
Zu der ethischen Missbilligung Goethe's kam bei Kierkegaard aber noch die religiöse. Und so bildete sich nach und nach vor Kierkegaards Seele ein Zerrbild von Goethe, nicht viel wahrer als das, welches die Welt Wolfgang Menzel verdankt. Dass Goethe die bildlich-mythischen Vorstellungen, die ihm in der Kindheit eingeprägt wurden, nicht bis zu seinem Tode bewahrte, dass er »sich zurückzog, wo es galt, ob auch bis zur Verzweiflung mit Versagen jedes Anspruchs auf das Leben oder auf eine bedeutende Existenz für die Glaubensgemeinschaft mit den Eltern zu kämpfen«, das kann er nicht verzeihen, weil er auf den höchsten Gebieten keine höhere Pflicht als die der Pietät anerkennen will. Er lästert mit Bitterkeit Goethe wegen des vermeintlichen Pflichtbruchs. »Wie die letzte Philosophie es zu einem Schimpfwort gemacht hat, von Kants ehrlichem Weg zu reden, so belächelt Goethe vornehm Klopstock, weil es ihn so sehr beschäftigte, ob Fanny, seine erste Liebe, die sich mit einem Anderen verheirathet hatte, ihm in einem andern Leben angehören würde.« Er wirft Goethe vor, dass er sich nicht, wie er selbst, gegen die ganze moderne Kulturentwickelung gestemmt hat, anstatt ihr vorzüglichster Träger seit den Zeiten der Renaissance zu werden, – er denkt sich die Möglichkeit, dass Goethe sich zu dem, was er wurde, ja zu mehr als was er wurde, hätte entwickeln können, wenn er, statt die ganze Entfaltung des deutschen Geistes in Lessing und Winckelmann, Bürger und Wieland, Herder und Kant zusammenzufassen, anstatt als der alles verdunkelnde Mittelpunkt in dem Sternbild zu strahlen, das von Schiller, Hölderlin, Kleist, Heine und den anderen freigeborenen Dichtergeistern gebildet wird, ein Barde wie Klopstock, ein Magus wie Hamann, ein Heiliger wie Lavater geworden wäre, die alle ihren religiösen Kindheitseindrücken treu blieben, aber deren Werke jetzt nur von Litterarhistorikern als Curiositäten aufgesucht werden. [Georg Brandes: Sören Kierkegaard. Leipzig 1879.]
Nach und nach schmolz sogar für Kierkegaard die hohe Lebensweisheit Goethe's mit der ihm so verhassten feinen Lebensklugheit des Bischofs Mynster zusammen. Er bildet sich ein Wort, ein Compositum, »das Mynster-Goethe'sche«, mit welchem er den feigen Epikuräismus, den er verachtet, stempelt. So heisst es z. B. in seinen »Nachgelassenen Papieren von 1849« von dem von ihm verabscheuten Professor Martensen, Mynsters Nachfolger als Bischof Seelands: »Nimm Martensen. Der ist ein Beispiel des Mynster-Goethe'schen, die Mitwelt zur höchsten Instanz zu machen; nur steht er noch niedriger.« Es liesse sich kaum etwas Ungereimteres über Goethe sagen, als dass er seinen Zeitgenossen um jeden Preis zu gefallen gestrebt habe, und ihn als Typus der Genusssucht zwischen zwei Bischöfe zu placiren, ist eine schreiende Ungerechtigkeit. Diese Auffassung war trotz alledem zur Zeit des Triumphes der Kierkegaard'schen Ideen (etwa 1856-1866) in vielen sonst intelligenten Kreisen Dänemarks die vorherrschende.
Eine Gruppe von Männern gab es jedoch, in der das Genie und die Verdienste Goethe's nie über Rücksichten auf das, was als unbedingte Moral oder unbedingte Glaubensverpflichtung galt, vergessen wurden, die Gruppe weniger freidenkender Philosophen und Naturforscher.
Der (1875 als Professor gestorbene) Philosoph und Geschichtschreiber der Philosophie, Hans Bröchner, der erste entschiedene Freidenker in Dänemark, welcher auf die Jugend einen Einfluss ausübte, ein Metaphysiker, der wie Goethe ein treuer Bewunderer Spinoza's war, ein pantheistisch religiöser Idealist, der Griechenland und Deutschland seine Bildung verdankte, lebte in Goethe. Er war selbst eine Faustische Natur, und Goethe's Faust war selten von seinem Tisch fort und seltener aus seinen Gedanken.
Auch unter den Naturforschern hatte Goethe eine kleine, treue Gemeinde. Es konnte kaum anders sein. Mir wenigstens ist es immer so vorgekommen, als strahle das Genie des Meisters auf keinem Gebiet überraschender und voller, als sei nirgends die geheimnissvolle Verwandtschaft seines Hervorbringens mit der schöpferischen Kraft des Weltalls einleuchtender und mehr ergreifend zu empfinden als in seinen Forschungen zur philosophischen Botanik und Anatomie. Wer fühlt nicht hier, dass Goethe wie sein Faust »die Mütter« geschaut hatte, wer sieht nicht, dass sein Lynceusblick in das grosse Laboratorium der Natur hineindrang!
Ich habe, um diesem Entwurf eine gewisse Vollständigkeit zu geben, einen der ersten dänischen Naturforscher, den Entomologen Schiödte gebeten, mir mit ein Paar Worten anzudeuten, welche Eindrücke er während seiner wissenschaftlichen Laufbahn auf Goethe zurückzuführen vermag. Professor Schiödte schreibt mir u. a.:
»Ich bin durch Goethe in der Arbeitsmethode, in welche ich durch mein Naturell eingeführt wurde, befestigt und darin bestärkt worden, sie unter Ungunst und Widerspruch festzuhalten und zu entwickeln. Sie besteht darin, sich aus der endlosen Mannigfaltigkeit dadurch hinauszuretten, dass man seine Gegenstände symbolisch behandelt, d. h. sie so vollständig und allseitig wie möglich durchdringt und solcherweise die Bearbeitung als ein instar omnium hinstellt, laut der Erkenntniss, dass jeder abgeschlossene Organismus oder jede zusammenhängende Gruppe von Organismen die ganze organische Natur vertritt. Mannigfach bin ich in dieser Bestrebung von Goethe beeinflusst worden, auch mit Rücksicht auf meine Darstellungsweise in morphologischen und systematischen Conspectus, in Abbildungskunst u. dgl. Ueber naturhistorisches Zeichnen hat er Vieles, das mir fruchtbringend war. Mir besonders theure Stellen von Goethe sind: Was ist das Allgemeine? Der einzelne Fall. Was ist das Besondere? Millionen Fälle. – Willst Du Dich am Ganzen erquicken, so musst Du das Ganze im Kleinsten blicken.«
Es scheint mir, dass diese so verschiedenartigen und so ungleich motivirten Zeugnisse der Bewunderung, der Abneigung oder der Dankbarkeit der verschiedensten Männer eines kleinen Volkes besser als die wärmsten Lobreden eine Vorstellung von den nach allen Richtungen hin verbreiteten Anregungen geben, die der Geist Goethe's sonnenartig ausstrahlt.
Was die jüngste, jetzt in dem Mannesalter stehende Generation in Dänemark Goethe verdankt, lässt sich kaum bestimmen oder ermessen. Seine Dichtung, seine Weltansicht, seine Ideen sind vielen so ins Blut übergegangen, sein Einfluss hat durch so viele Kanäle gewirkt, dass nur Wenige mit einiger Genauigkeit ihre Schuld an ihn anzugeben vermögen. Man las in den Jahren, da das jetzt in den Dreissigern stehende Geschlecht aufwuchs, in Dänemark wenig Deutsch. Die Nationalfeindschaft gegen Deutschland, die wir fast Alle als Jünglinge leidenschaftlich theilten und die nach dem Verlust des ganzen Schleswig heftig aufloderte, machte uns die deutsche Litteratur im Ganzen wenig sympathisch. Ueberhaupt ist die deutsche Geistesart den Dänen fremder als man nach der Verwandtschaft der Völker und nach der langen Abhängigkeit von Deutschland glauben sollte, besonders viel fremder als die Deutschen ahnen.
Goethe war aber (mit Heine) einer der wenigen Sterne Deutschlands, die auch zur Zeit, da die nationale Entfremdung von Deutschland am grössten war, ihr Licht über die Grenze sandten. Nicht dass seine Werke in guten, künstlerisch ausgeführten Uebersetzungen vorlagen; die Uebersetzungen, die es von ihnen früher gab, sind fast ohne Ausnahme schlecht, veraltet oder verschollen und sind nie populär gewesen. Wer ihn gelesen hat, las ihn im Original. Noch weniger lernten wir im nationalen Schauspielhaus Goethe kennen. Er ist auf der königlichen Bühne in Kopenhagen so zu sagen nie aufgeführt worden. Man hat in Dänemark Claudine von Villabella drei Mal, Clavigo fünf Mal, Egmont vier Mal, Die Geschwister drei Mal gegeben. Und das ist Alles, was von Goethe gespielt worden ist. Die nicht-dänischen zeitgenössischen Dichter, die auf die Jugend am tiefsten gewirkt haben, die beiden Norweger Björnstjerne Björnson und Henrik Ibsen, haben von Goethe wenig, zu wenig, gelernt und mit ihm nichts gemein. Zwar findet man hier und da eine einzelne, fast äusserliche Beeinflussung wie wenn die Rolle Solvejgs am Schlusse »Peer Gynt«s an das letzte Auftreten Gretchens in »Faust« erinnert. Aber theils ist ein solcher kleiner Zug wohl am wahrscheinlichsten auf zweite Hand – durch Adam Homo als Zwischenglied – hervorgerufen, theils berührt er nur in geringem Grade die Lebensansicht. Die dänischen Dichter der Generation von 1870, H. Drachmann, S. Schandorph, J. P. Jacobsen, E. Skram u. s. w. scheinen von Goethe durchaus nicht unmittelbar beeinflusst.
Sie sind es mittelbar, theils durch die litterarische Erbschaft, die sie von ihren Vätern übernommen haben, und theils durch den mächtigen, von Goethe ausgeübten Einfluss auf fast die ganze ausgezeichnete zeitgenössische Litteratur, die in den letzten Jahrzehnten die Gemüther in Dänemark bewegt hat. Am meisten hat vielleicht die grosse französische Kritik, wie sie sich vor 1870 entwickelt hatte, dazu mitgewirkt, uns zu Goethe zurückzuführen. Das Wort, das so oft hingeworfen wird, das, was Europa recht verstehen soll, ihr von Frankreich erklärt werden muss, hat sich für die jüngere Generation in Dänemark in diesem Fall bestätigt. Ich spreche nicht in meinem eigenen Namen. Schon in meinem achtzehnten Jahr machte »Dichtung und Wahrheit« einen Eindruck auf mich, der viele Jahre hindurch für meinen Studienplan entscheidend wirkte. Aber es gab Viele, denen Deutschland fast fremd geworden war und die es nur durch das Medium nationaler Antipathie und früh eingesogener Vorurtheile sahen. Werke, wie die Englische Litteraturgeschichte von Taine, oder wie die Goethe-Biographie von Lewes, die beide im Anfang der siebziger Jahre übersetzt wurden, lehrten uns aufs neue Deutschland zu verstehen und zu würdigen, und Goethe ward uns das ideale Deutschland.
Was unsere Väter am stärksten zu Goethe hinzog, sein erhabenes Gleichgewicht, seine Ruhe, die vollendete Harmonie seines Wesens ist uns Jüngeren nicht das Theuerste an ihm; die Ruhe seines Alters ist uns fast verleidet worden, weil wir sahen, wie das nationale Phlegma unserer Väter sich in ihr spiegelte und aus ihr die Gewissheit seiner Würde und Berechtigung sog. Uns ist Goethe besonders so theuer, weil wir nicht Mächte ausserhalb oder über der Natur anerkennen, und weil Goethe der grosse, wahre, den Kampf entscheidende Protest gegen den Supranaturalismus ist, er, der, wie man von einem Staat im Staate spricht, eine Natur in der Natur genannt werden kann. Uns ist Goethe ferner so theuer, weil wir die Kunst leidenschaftlich lieben und weil Goethe uns auf zwei oder drei Gebieten der Künstler über allen Andern ist. Er, der als Morphologe und Anatom fast ausschliesslich die Form zu definiren suchte, und der die Form als Bildung bestimmte, ein Wort, das den Akt des sich Bildens und das Gebildete zugleich umfasst, er vertritt uns die höchste Form und die höchste Bildung.
Was unsere nationalen Koryphäen uns predigten, war entweder die blinde Hoffnung oder der blinde Glaube oder die blinde Liebe; einige verkündigten das Evangelium des nationalen Selbstgefühls, andere das des unbedingten Versagens, von Goethe kam uns der Zuruf: Verstehe!
Wir sahen andere grosse Geister Europa's in Selbstbespiegelung, Selbstvergötterung, Selbstvernichtung, Selbstbetäubung oder Selbstentäusserung endigen, Goethe wurde uns das grosse Paradigma der Selbstentwickelung. Wir lernten von ihm, dass wer vor Allem daran arbeitet, sich selbst zu entwickeln, am meisten Aussicht hat, in die allgemeine Entwickelung einzugreifen. Die Universalität seines Geistes ist und bleibt ein Ideal; man freut sich ihrer, ohne sie zu begehren; aber von ihr haben wir gelernt, im Einzelnen nie das Ganze aus den Augen zu verlieren.