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Für den Fall seines Ablebens hatte Spinoza verordnet, daß sein Schreibepult mit den darin befindlichen Briefen und Handschriften unverzüglich nach Amsterdam zu dem ihm befreundeten Buchdrucker Jan Rieuwertz befördert werde. Gewissenhaft ward dieser Auftrag durch den Hauswirt van der Spyk vollzogen, und schon am 25. März 1677 benachrichtigte ihn der Empfänger, daß die Schiffersleute, denen die Sendung anvertraut gewesen, dieselbe pünktlich bei ihm abgeliefert hätten. Colerus, ed. Saisset p. XXIV.
Gemeinschaftlich mit den übrigen vertrauten Freunden hatte der genannte Buchdrucker noch vor Ablauf eben des Jahres, in welchem Spinoza aus dem Leben geschieden, dessen hinterlassene Schriften veröffentlicht. Der mäßige Quartband enthielt nur eine vollendete Arbeit, die mehrfach erwähnte Ethik, die uns hier beschäftigen wird. An diese schlossen sich drei Fragmente, deren wir ebenfalls zu gedenken hatten: die Abhandlung über Politik, die über die Berichtigung des Verstandes, und die Elemente einer hebräischen Sprachlehre. Außerdem brachte der Band noch eine Reihe von Briefen und Antworten, eigens zur Erläuterung der Lehre Spinozas ausgewählt. Eine längere Vorrede, mutmaßlich die gemeinsame Arbeit mehrerer Freunde, eröffnet das Buch, welches, dem ausdrücklichen Wunsche des Autors gemäß, ohne seinen Namen erscheinen sollte. Man erlaubte sich jedoch dessen Anfangsbuchstaben – B. d. S. – auf das Titelblatt zu setzen, dagegen aber die Angabe des Druckorts wie des Verlegers wegzulassen. Saisset, Notice bibl. p. LIX.
Die Pietät der Freunde ließ es aber nicht bei dieser Veröffentlichung allein bewenden. Auf Betrieb von Jarrig Jellis, jenes mennonitischen Freundes, dessen schon mehrfach gedacht wurde, kam auch eine holländische Ausgabe des Nachlasses zustande und zeugt wohl hinlänglich für das Ansehen, zu welchem Spinoza bei seinen Landsleuten inzwischen gelangt war, wiewohl auch diese Übersetzung, genau wie die Originalausgabe, nur mit den Anfangsbuchstaben seines Namens versehen war und fast gleichzeitig mit dieser herausgegeben wurde. Auerbach, biogr. Einleitung z. s. Übers. d. Werke, Bd. 1, S. LXIII.
Mit der Veröffentlichung des Nachlasses brach auch jener Sturm der theologischen und philosophischen Entrüstung los, wodurch dem Wirken Spinozas für langehin jegliches Verständnis entzogen wurde. Dies entsprach so sehr dem allgemeinen Zeitbewußtsein, daß auch Leute, die damals schon einen unbeengteren Standpunkt innehatten und bei den Theologen nicht zum besten angeschrieben waren, wie namentlich der überaus freisinnige Pierre Bayle, eine eben so aggressive wie leichtfertige Kritik der Lehre Spinozas sich erlauben konnten. Feuerbach, Werke Bd. 6, S. 224 f.
Bei Spinoza handelte es sich um eine Leistung, die sein eigentliches Lebenswerk ausmachte. Seine Ethik, die eine einsichtsvollere Zeit als die reifste Frucht der Philosophie des XVII. Jahrhunderts erkennen sollte, war das Ergebnis seiner ganzen Denkthätigkeit, deren Bereich aber schon beim Erwachen seiner selbständigen Überzeugung deutlich abgesteckt war. Was in dem Nachlaßwerk nach mehrfach stattgehabter Bearbeitung vorliegt, stimmt dem Hauptinhalte nach mit den Betrachtungen überein, die er beim Scheiden von den amsterdamer Freunden in dem ihnen als Vermächtnis zurückgelassenen Jugendwerk niedergelegt hatte. Was ihm damals aus Studien und eigenem Nachdenken sich als unabweisbare Wahrheit erwiesen hatte, erhielt später, selbstverständliche Berichtigungen und eingehendere Behandlung mit einbegriffen, eine mehr das Formelle bezweckende Ausgestaltung, die er für einleuchtender und überzeugender hielt. Indirekt hatte er schon bei seiner Darstellung der Lehre Descartes', die so großen Beifall gehabt, diese seine Ansichten zu erkennen gegeben, und im theologisch-politischen Traktat, der allerdings eben so viel Widerspruch wie Zustimmung gefunden, war ein wesentlicher Bestandteil seiner eigenen Lehre mit eingewebt. Ihm selbst und der kleinen Zahl seiner nächsten Anhänger hatte sie für den Inbegriff der Wahrheit gegolten, und in dieser Zuversicht war deren von ihm versuchte aber erst von den Freunden bewerkstelligte Veröffentlichung erfolgt.
Ethik hatte Spinoza seine Schrift benannt. Damit ist ihre Aufgabe deutlich kundgegeben: es handelt sich um Anweisung derjenigen Lebensführung, die zur Tugend, als dem höchsten und einzig wahrhaften Gut, gelangen läßt. Wie sie zu verstehen und worin sie eigentlich bestehe, darüber soll das Buch belehren. Er selbst war sich bewußt, dieses höchsten Gutes teilhaft gewesen zu sein, hatte darin sein Glück gehabt und genossen, und auch andere daran teil haben zu lassen war der Zweck jener mit so viel Liebe und Sorgfalt ein ganzes Lebensalter hindurch gehegten und überarbeiteten Schrift. Vrgl. Eth. IV, Prop. 36 u. Schol. Prop. 37.
Für die Darstellung seiner Ethik hat Spinoza, wie bereits mehrfach erwähnt, die sogenannte geometrische Methode gewählt. Genau wie dies bei den Elementen des Euklides geschieht, werden die Hauptpunkte der Lehre in einzelnen kurzen Sätzen entwickelt und durch Beweise erhärtet, die sich auf vorher gegebene Definitionen und Axiome, dann auch auf bereits bewiesene Sätze berufen, alles in einer streng gegliederten Kette logischer Abfolge, wobei jedoch stellenweise auch Erläuterungen und Anmerkungen angefügt werden. Dies Verfahren hat nicht nur die Bedeutung eines Tributs an das überwiegende Ansehen der Mathematik, die damals in höchster Blüte stand und neben der auf ihren Grundlagen aufgebauten Physik und Astronomie eben so erfolgreich wie unbefangen gepflegt ward; Spinoza verband damit auch einen für seine Philosophie besonders förderlichen Zweck. Die von ihm verkündete Wahrheit sollte in eben der Thatsächlichkeit und unantastbaren Gewißheit sich kundgeben, wie sie den in der Mathematik gewonnenen Einsichten zukommt. Vrgl. Wahle, die geometr. Methode d. Spinoza. Wiener Sitzungsberichte, Phil. histor. Klasse, Bd. 116. Wie hier alles auf unbedingt feststehende und in sich selbst bestimmte, vom menschlichen Belieben durchaus unabhängige Verhältnisse und Beziehungen hinausläuft, so sollten auch die Dinge, über die er Belehrung gab, mit der ihnen zukommenden Bestimmtheit erfaßt und erkannt werden, da nur eine so geartete Einsicht vor Täuschung und Irrtum bewahrt. Bei der Ethik, beim Ergründen der Bedingungen, die das Erreichen des höchsten Gutes ermöglichen, ist eine solche unbefangene Einsicht überaus belangvoll, und so erachte er es für durchaus richtig, alle hierher gehörenden Dinge so zu betrachten, als wenn von Linien, Flächen und Körpern die Rede wäre.
Außer der mathematischen Beweisführung ist der Ethik Spinozas aber auch die Ausdrucksweise der ihr voraufgegangenen Philosophie Descartes' eigentümlich, die ihrerseits hierfür die Scholastik stark besteuert hatte. Einen wie mäßigen Gebrauch Spinoza auch davon macht, wirkt doch diese Terminologie und die ihr entsprechende Denkart auf heutige Leser nicht minder befremdend als die Anwendung der euklidischen Methode auf reingedankliche Probleme, denen die bei den geometrischen Demonstrationen vorausgesetzte Anschaulichkeit abgeht. Denn es handelt sich dabei zunächst um eine Berichtigung der Metaphysik Descartes' und im Anschlusse hieran um die Grundlinien einer Kosmologie und Erkenntnislehre, welches alles der Ethik Spinozas zur Unterlage dient. Auch diese Hilfsmittel, gleich der daraus hergeleiteten Psychologie Spinozas, muten uns nunmehr fremdartig an, da sie dem Stande der gegenwärtigen Einsichten nicht mehr entsprechen. Zudem hat die geometrische Beweismethode das Mißliche an sich, daß sie bei aller Strenge des Verfahrens eine gewisse Willkür in der Vorführung des Darzustellenden gestattet, indem gar häufig, um die Voraussetzungen zu spätern Lehrsätzen zu sichern, Gegenstände herangezogen werden, die einer andern Gedankenreihe angehören, worauf dann etliches sich als eine bereits erwiesene und festgestellte Wahrheit darbietet, was erst einer genaueren Darlegung bedürfte. So entstehen Widersprüche und Lücken innerhalb der Lehre selbst, und gar manches, das einer eingehenden Deduktion bedürfte, bleibt lediglich Behauptung, verschiedene Inkonsequenzen und Unerklärtheiten auch dem Blicke des Darstellers selbst verhüllend. Vrgl. Th. Camerer, Die Lehre Spinozas, Stuttgart 1877, der beste und zuverlässigste Kommentar zur Philosophie Spinozas, unerreicht in der Sinntreue und dem objektiven Verständnis bei der Wiedergabe und Beurteilung der Werke.
Über alle diese Mängel kann hinweggesehen werden, wo es gilt das Lebenswerk Spinozas in seiner bleibenden Bedeutung zu würdigen. Denn allein was er gewollt und erreicht, nicht wie er dabei zu Werke gegangen, darauf kommt es hier an. Und so sei denn eine dem entsprechende Wiedergabe seiner Ethik versucht.
Sie zerfällt in fünf Abschnitte, von denen die beiden ersten grundlegend verfahren, die drei übrigen der eigentlichen Ethik gehören. Der erste Hauptteil handelt von Gott und enthält die Metaphysik Spinozas, an diejenige Descartes' anknüpfend und sie folgerichtig weiterführend in ihrer unvermeidlichen Abweichung von der kirchlichen Fassung des gedachten Problems. Im zweiten Teil entwickelt Spinoza seine Theorie des Wissens im Hinblick auf das zu erkennende Weltall und das Verhältnis zwischen dem Wissen und seinem Gegenstande. Dem dritten Teile ist die Darstellung der menschlichen Leidenschaften zugewiesen, die zunächst in ihrer Thatsächlichkeit aufgesucht und erklärt werden. Der vierte Teil handelt von der Macht der Leidenschaften und von den Mitteln ihnen entgegen zu wirken, worauf dann der letzte Teil die Möglichkeit der menschlichen Freiheit in der Ausübung der wahrhaften Tugend als höchstes Lebensziel erörtert.
Wiewohl unsere Wiedergabe selbstverständlich die von Spinoza behandelten Probleme zu berücksichtigen hat, sei es uns gestattet, die von ihm dabei gewählte Reihenfolge nicht einzuhalten. Für ihn selbst war es durchaus unerläßlich mit der Frage nach der Gottheit zu beginnen. Indem hierüber auf dem Standpunkte der Philosophie eine von den dogmatischen Vorstellungen der Theologie gänzlich verschiedene Ansicht zu vertreten war, sollte schon durch das Voranstellen dieses Problems dessen Wichtigkeit deutlich gemacht werden. Bereits in seiner die Ethik ihren Hauptzügen nach enthaltenden Jugendschrift begann Spinoza mit dem Gottesbegriff, lediglich um zweifellos festzustellen, daß Gott ist, wiewohl man ihn anders zu denken habe als es die Kirche lehrt. Ob diese selbst und ihr Anhang damit einverstanden oder nicht, Spinoza bleibt in seinem guten Recht, wenn er die Beschuldigung des Atheismus von sich abweist So namentl. im Tract. theol. polit cap. 2 u. 5 und auch sonst noch mehrfach; außerdem in dem bekannten Antwortschreiben (Br. 49 bei Auerb. Bd. 2, S. 398) an Isaak Orobio.: ihm war die Gottheit der Hauptgedanke seiner Lehre, und nur kirchliche Befangenheit kann es übersehen, weil ihr jegliches Verständnis für das Erhabene und Folgerichtige seiner Denkart abgeht. Mit dem Gottesbegriff anhebend, hat Spinoza, um bis zu der die menschlichen Beziehungen als solche betreffenden Ethik selbst zu gelangen, eine Reihe von Zwischengliedern nötig, eben die vorhin gedachten kosmologischen und erkenntnistheoretischen Erörterungen. Sowohl diese wie seine Lehre über die Gottheit sollen, so weit es für unsern Zweck erforderlich, herangezogen werden. Zuvor beginnen wir jedoch mit dem von Spinoza empfohlenen Tugendweg und nehmen mithin den Menschen zu unserm Ausgangspunkt.
Als allgemein eingesehen und zugegeben ist die Thatsache zu betrachten, daß jedes Ding in der Welt, und namentlich der mit Geist ausgestattete Mensch, so viel an ihm liegt, in seinem Sein zu beharren strebt. Bewußte Selbsterhaltung bildet das Wesen des Geistes, ist die ihm ursprünglich einwohnende Kraft, die ihn dazu treibt, sich nach Möglichkeit in unbegrenzter Dauer als seiend zu erhalten. Mittelpunkt des ethischen Lebens kann also nur die Selbsterhaltung sein. Was sie fördert, ist gut und gewährt Befriedigung, was sie hemmt und behindert, gilt als schlecht und böse, erweckt Mißbehagen und wird nach Möglichkeit bekämpft und gemieden. Eth. III, Prop. 6, 7, 9.
Dies festgestellt, kann es bei einer ethisch geordneten Lebensführung sich nur um wirkliche Durchführung der Selbsterhaltung handeln, nur um Anleitung zu dem Verhalten, welches wahrhafte Befriedigung und Glückseligkeit gewährt. Im Strudel der zahllosen Dinge und Verhältnisse, von denen das Menschenleben abhängig und beeinflußt ist, im Gewirr der eigenen Gefühle, Begierden und Denkgebilde, die das Gemüt beständig umwogen und bedrängen, hält es schwer dies wichtige Ziel mit Sicherheit zu erreichen. Die dazu nötigen Bedingungen liegen aber im Wesen des aufs Selbstbeharren gerichteten Geistes: nur durch sich selbst, weil es ja sein eigenes Beharren gilt, gelangt er zur Glückseligkeit; nur was die eigene Kraft ihm erwirbt, hat er als höchstes Gut zu erkennen und zu erstreben. Eth. IV, Def. 8, Prop. 20. Dem.
Worin besteht nun diese für seine Selbsterhaltung so wichtige Thätigkeit? – Nur in dem, was ihm allein angehört, was ihm nicht durch anderes gegeben oder entzogen werden kann, worin er anderm gegenüber sich als ein Selbst behauptet, ohne eines andern irgendwie zu bedürfen, also von dessen Vorhandensein beglückt und erfreut, von dessen Abwesenheit verstimmt und betrübt zu werden. Denn ist Selbsterhaltung auf Befriedigung angewiesen, so kann solche nur in voller, ungetrübter Freude liegen, und muß jegliches, was diese beeinträchtigt, als schlecht und verwerflich gemieden werden. Das einzige nun, worin der Geist sein wahrhaftes Selbst erweist, ist Denken oder die in Begriffen und Ideen bestehende Thätigkeit der Vernunft. Ihr alleiniges Ziel ist Wahrheit, und indem der Geist sein Streben nur auf sie gerichtet hält, wahrt er seine Glückseligkeit. Denn die Wahrheit ist ewig, kann also nie und nimmer aufhören ihn zu beglücken; indem er ihr entgegenstrebt, lebt er in ihr, und es ist ihm die einzig dauernde und nie versiegende Freude für immerdar gesichert, und in einer Weise, daß sie in eben dem Maße zunimmt wie er durch redliches Bemühen ihr immer näher zu kommen sucht. Je mehr der Geist in dieser Richtung thätig ist, desto umfassender, dauernder ist seine Selbsterhaltung, desto mehr genießt er sein wirkliches Dasein oder behauptet es mit einer um so größeren Wirklichkeit. Dies allein ist Glückseligkeit und als solche leicht ersichtlich, da ja Befriedigung nur im Fernsein aller die Selbsterhaltung behindernden Hemmnisse liegt, diese aber nur von auswärts kommen können. Eth. III, Prop. 11, 37 und Schlußbetrachtung zu Ende des Teils.
Besteht die der Selbsterhaltung des Geistes entsprechende Thätigkeit in der wahrhaften Erkenntnis, so kann der entgegengesetzte Zustand nur sein Unvermögen dazu sein. Wo dies obwaltet, giebt es mangelhaftes Dasein, und solches ist lediglich durch das Vorherrschen auswärtiger Einwirkungen bedingt; denn von sich aus ist der Geist auf Thätigkeit beanlagt. Wo diese gehemmt wird, giebt es Leiden, und die hierdurch herbeigeführten Geisteszustände werden Leidenschaften genannt. Eth. III, Schlußbetrachtung u. IV, Einleitung.
Man pflegt an diesen Erscheinungen seinen Witz zu üben, wenn man sie nicht beklagt oder seinen Unwillen an ihnen ausläßt, statt sie zu verstehen. Die Fehler und Thorheiten der Menschen sind aber zunächst nichts als thatsächliche Vorgänge, die in ihrer eigenen Bestimmtheit und in den sie bedingenden Verhältnissen erkannt sein wollen. Auch sie gehören zur allumfassenden Natur, deren Macht und Wirkungskraft immer und überall nur eine, deren Gesetze und Regeln, nach denen alles entsteht und wechselt, überall und immer die nämlichen sind; wie alle übrigen Einzeldinge in der Natur, folgen auch die verschiedenen Zustände des menschlichen Geistes aus bestimmten Ursachen, mittels deren sie verstanden werden können, und haben bestimmte Eigenschaften, die unserer Erkenntnis eben so wert sind wie die Eigenschaften irgend welcher anderer für unsere Beobachtung wichtiger Dinge. Eth. III, Einleitung.
Alle Leidenschaften lassen sich auf die Abhängigkeit des Geistes von auswärtigen Dingen und auf Minderung seiner Selbstthätigkeit zurückführen. Von den gemeinsten Leidenschaften ist das leicht zugegeben. Gefallsucht, Üppigkeit, Trunksucht, Geiz, Wollust sind unbedingt als Äußerungen wehrloser Ergebung unter die Gewalt der nichtigsten und vergänglichsten Dinge kenntlich, die eine nur flüchtige und von stetem Widerwillen gefolgte Befriedigung gewähren. Aber auch wo der Geist sein Streben, statt es dem Ewigen und Wandellosen zuzuwenden, auf solches richtet, das vielen Wechselfällen unterliegt und daher nie eigentlich besessen werden kann, ist Leiden unvermeidlich. So nur entstehen Feindschaften, Beleidigungen und Argwohn, so nur Neid, Eifersucht, Zorn und Erbitterung, so nur Reue, Rachsucht und Verzweiflung und was es sonst noch an Mißstimmung und Betrübnis geben mag, die zu Klagen über das Weltelend und des Lebens Eitelkeit Anlaß geben. Leiden wird aber auch dem nicht erspart, dessen Streben eine edlere Richtung nimmt, jedoch an Vergängliches und den endlosen Gefahren der äußeren Verhältnisse Ausgesetztes sich knüpft: auch da unterliegt der Geist einer ihn beeinträchtigenden Abhängigkeit durch Furcht und Hoffnung, durch Angst und Sehnsucht, durch Freudentaumel und Niedergeschlagenheit und wie alle die vielfältigen Erscheinungen des Seelenlebens heißen mögen, die den Geist im Banne jener Trübung und Hemmung seiner Thätigkeit erhalten, so lange er diese nicht in der Behauptung seiner Selbstheit sucht und geltend macht. Eth. III, Prop. 56, Schol.
Von denen also, die im Getriebe der Welt ihr wahrhaftes Selbst nicht behaupten können, gilt für Spinoza: daß sie nicht wissen, was sie thun. Wüßten sie es wirklich, so müßten sie anders handeln; denn wer von wahrhafter Einsicht durchdrungen ist, kann nicht anders als sittlich handeln. Auch wo das Thun der Menschen, wie es in geordneten Verhältnissen der Fall, im allgemeinen den Anforderungen des sittlichen Verhaltens entspricht, hierbei aber Furcht vor Strafe oder Hoffnung auf Lohn allein bestimmend wirken, beharrt die nämliche Abhängigkeit von den Außendingen, die den Geist in seinem Eigenwirken beeinträchtigt und ihn den Leidenschaften unterworfen zeigt. Wo diese vorwalten, besteht Knechtschaft des Geistes, bei der es nichts als Mißmut und Unzufriedenheit geben kann. Eth. IV, Prop. 63 u. Schol. 2.
Bedingung eines sittlichen, wahrhafte Befriedigung gewährenden Verhaltens ist allein das Vermögen ungetrübter und ungehemmter Geistesthätigkeit. Wo diese ausfällt, giebt es für Spinoza nur Unvermögen, Unfähigkeit, und nur hierin besteht für ihn der Gegensatz zur Tugend und Tüchtigkeit. Die landläufige Gegenüberstellung von Tugend und Laster ist ihm bedeutungslos, wie denn bei ihm nirgends davon die Rede ist.
Hiermit übereinstimmend hat das Böse keine positive Bedeutung in der Ethik Spinozas. Es hängt ihm lediglich mit der unklaren, verworrenen Auffassung der Dinge und Verhältnisse, also mit mangelhafter und ungenügender Erkenntnis zusammen und hat, weil der Wahrheit als dem allein wirklich Vorhandenen nicht entsprechend, eben so wenig reellen Wert wie etwa der Schatten, der Widerschein, die Spiegelung, die Finsternis und andere Vorkommnisse und Erscheinungen, die allerdings vorhanden, aber ohne jegliche Eigenbedeutung sind. Wo statt der Sache selbst der Schein obwaltet, entsteht manches Ungemach; so auch kann Bosheit allerdings viel Schaden anrichten, im Grunde jedoch ist sie sich selber feindlich: dem Bösen wird immer ein dessen Vernichtung abzielender Widerstand entgegengesetzt. In diesem Antagonismus zeigt sich die Nichtigkeit des Bösen, denn es äußert sich stets als Verleugnung des dem Geiste ursprünglichen Grundtriebes der Selbsterhaltung. Wie gewaltsam auch das Böse durch das Ungestüm der Leidenschaften sich äußern mag, es bleibt immerhin nur eine Äußerung der geistigen Ohnmacht und verzehrt sich in der all sein Thun und Streben stets begleitenden Mißstimmung und Ruhelosigkeit, welche nur einer vollen und wahren Erkenntnis, einer ungetrübten Thätigkeit des Geistes weichen, weil sie allein vor Irrtum und übereilter, ungenauer Auffassung der Dinge und Menschen bewahrt. So leuchtet auch der Sinn eines häufig angeführten Ausspruches bei Spinoza ein: Wille und Verstand sind ein und dasselbe. Falsches und Irrtümliches giebt es lediglich bei verstümmeltem und verworrenem Denken oder Vorstellen, dieses aber äußert sich in den Leidenschaften, die den Verstand fesseln, seine Erkenntnisthätigkeit beeinträchtigen. So weit dies obwaltet, haben wir nur den Tummelplatz der Begierden, keine reine, von Gewißheit erfüllte Verstandsthätigkeit; erst diese, welche genau zwischen dem Richtigen und Falschen unterscheidet und danach ihre Zustimmung erteilt oder weigert, giebt einen wahrhaften Willen. Eth. IV, Prop, 64, 66, 67; Eth. II, Prop. 49 u. Corrol. m. Schol.
Mag auch psychologisch eine solche Identifizierung von Verstand und Wille anfechtbar sein, dem Denkverfahren Spinozas darf man hier die Anerkennung des Tiefsinns nicht versagen, und daß er dem entsprechend in jedem Bösen und Schlechten nur einen durch Herrschaft der Begierden und Leidenschaften irrenden und willenlosen Schwächling sehen will, giebt seiner Ethik das Gepräge eines hohen Gesinnungsadels.
Unter der Herrschaft der Begierden und Leidenschaften lebt die Mehrzahl der Menschen, und von Natur stehen sie einander feindlich gegenüber. Ihr Dasein wäre das erbärmlichste, wenn sie in ihrer ursprünglichen Vereinzelung, der schrankenlosen Gewalt der Leidenschaften unterworfen, verbleiben würden. Die Vorteile gegenseitiger Unterstützung und eines einträchtigen Zusammenlebens sind daher schon frühe eingesehen worden, und haben die Einführung eines geordneten Gemeinlebens veranlaßt. Auf den Gebrauch der Außendinge und auf gegenseitige Hilfeleistung angewiesen, können die Menschen zu ihrer Selbsterhaltung kein vorzüglicher geeignetes Mittel sich wünschen als eine solche Übereinstimmung, daß sie geistig und körperlich zusammen gleichsam einen einzigen Geist und einen einzigen Körper bilden und alle zumal mit allen ihren Kräften ihre Selbsterhaltung anstreben und den allen gemeinsamen Nutzen suchen. Die hierzu nötige Einsicht wird durch die Vernunft vermittelt, und soweit die Menschen sich durch diese leiten lassen, stimmen sie in ihrem Denken und in ihren Strebungen überein; denn Vernunft ist Ausdruck der allein richtigen Selbsterhaltung und führt notwendig zur Beseitigung oder Hemmung der alle wahrhafte Einsicht beeinträchtigenden Leidenschaften, die sowohl den von ihnen Beherrschten wie auch seine Nebenmenschen schädigen. Im allgemeinen herrschen die Begierden und Leidenschaften vor, aber so viel Einsicht dringt auch bei den weniger von der Vernunft Geleiteten durch, daß jeder aus Furcht vor einem größeren Schaden, den er erleiden könnte, sich abhalten läßt einem andern derlei zuzufügen. Hiernach wird das gemeinsame Leben eingerichtet, das den Zweck hat Friede und Sicherheit unter seinen Teilhabern aufrecht zu halten, indem eine dazu erforderliche Ordnung vorgeschrieben und festgestellt und durch Drohung und gewaltsames Einschreiten gegen solche, die ihren Leidenschaften erliegend andern gefährlich sind, zu unbedingter Geltung gebracht wird. Eine solche Gemeinschaft heißt Staat, und diejenige Staatsverfassung ist die beste, bei welcher die Menschen ihr Leben in Eintracht hinbringen und deren Recht unverletzt aufrecht erhalten wird. Eth. IV, Prop. 18, 35, 37. Tract. polit. V. cap. § 2.
Nur als besondere Einrichtung für solche, die es benötigen, und durchaus dem Staate untergeordnet, läßt Spinoza die Kirche gelten, unter deren Leitung unmündige Gemüter auf die Bahn des Rechts und der Rücksicht auf ihre Nebenmenschen gelenkt werden können. Das hierbei erzielte Thun und Verhalten ist aber ethisch von untergeordnetem Wert, weil blinde Leidenschaft und nicht Tugend die treibende Kraft ist. Die Abergläubigen – heißt es wörtlich mit unverkennbarem Hinweis auf einen gewissen Beruf – die besser Fehler zu tadeln als Tugend zu lehren verstehen und die Menschen nicht durch Vernunft zu leiten, sondern vielmehr durch Furcht so in Zaum zu halten streben, damit sie mehr das Böse fliehen als die Tugend lieben, bezwecken nichts als daß die Übrigen eben so elend werden wie sie selbst. Eth. IV, Prop. 63, Schol. 1.
Jedes rechtschaffene Thun, das im Staatsleben durch die auf Zähmung der Leidenschaften abzielenden Einrichtungen erzwungen wird, ergiebt sich ganz von selbst bei denen, die nach der Leitung der Vernunft leben. Vernunftgemäß handeln ist nichts anderes als das thun, was aus der Notwendigkeit unserer Natur, diese für sich allein betrachtet, folgt und die eigene Selbsterhaltung am sichersten fördert. Je mehr einer seinen Nutzen zu suchen, nämlich sich in seinem Sein zu erhalten bestrebt und fähig ist, destomehr ist er mit Tugend ausgerüstet. Es kann keine Tugend geben, welche dem Streben der Selbsterhaltung vorhergehen würde; der Selbsterhaltungstrieb ist die erste und einzige Grundlage der Tugend. In der Befriedigung dieses Triebes besteht das Glück, und daher ist die Tugend um ihrer selbst willen zu begehren, da es nichts giebt, das vortrefflicher als sie oder nützlicher für uns wäre. Wie nun jeder bei richtiger Selbsterhaltung ganz von selbst, ohne daß es ihm befohlen zu werden brauchte oder sonst fremden Einflusses benötigte, der Schwelgerei die Mäßigkeit, der Trunksucht die Nüchternheit, der Wollust die Keuschheit, dem Zorn die Besonnenheit, der Ruhmsucht einsichtige Selbstschätzung entgegensetzt, indem er darin die Kraft seines Geistes gegen den Ansturm der entsprechenden Leidenschaften behauptet: so auch ist es ihm Bedürfnis, sich seinen Mitmenschen hilfreich zu erweisen und sie sich durch Freundschaft zu verbinden, denen mit Liebe und Edelmut zu begegnen, die sich durch Haß und Böswilligkeit an ihm vergangen und niemals wieder mit böser Hinterlist, sondern stets mit Aufrichtigkeit zu handeln. Eben dieses Beruhen auf dem eigenen Selbst, das Beharren im vernunftgemäßen Thun und Streben bewirkt mit der Befreiung aus der Gewalt der Leidenschaften auch den großen Vorteil, daß der nach der Leitung der Vernunft lebende Mensch im Staate freier ist als in völliger Abgeschiedenheit, indem er, in seiner äußeren Selbsterhaltung gesichert und die staatlich gebotene Ordnung ganz von selbst einhaltend, der Pflege seines Geistes sich hingeben kann. Eth. IV, Prop. 59, 20, 22, 18, 56 Schol., 46, 70, 72, 73.
Nur der Tugendhafte ist frei und ist es lediglich dadurch, daß er von der Vernunft geleitet wird, nämlich zum Handeln nur aus Ursachen bestimmt wird, die ausschließlich in ihm selbst liegen, seine eigene Kraftäußerung voraussetzen. Tract. polit. II. cap. § 11. Es dürfte zur Genüge einleuchten, daß Spinoza durchaus nicht den bloßen Egoismus, die nackte animalische Selbstsucht, das Selbstbehaupten um jeden Preis zum Kennzeichen ethischen Verhaltens macht. Gut sein, sich und andern, ist dazu erforderlich, und wer dies einmal als richtig erfaßt hat und davon wahrhaft durchdrungen ist, kann nie anders als, frei von jeglicher Furcht vor Strafe, immerdar das Rechte thun oder wenigstens sich dessen befleißigen, weil ein gegenteiliges Verhalten seiner Natur, seinem innersten Wesen durchaus widerstreitet. Brief an Blyenbergh (34 b. Auerb. Bd. 2 der Übers. S. 349).
Hier eben zeigt sich auch die Rechtmäßigkeit der von Spinoza im theologisch-politischen Traktat begründeten Forderung einer uneingeschränkten Geistesfreiheit für den, der einer ihr entsprechenden Thätigkeit ergeben vor den Anmaßungen priesterlicher Bevormundung geschützt sein soll, da er ohne derartigen Einfluß von selbst die Erfordernisse eines friedlichen Gemeinwesens gewissenhaft beobachtet.
Dem Weltgetriebe und seinen Eitelkeiten und Mißlichkeiten abgekehrt, sucht der vernunftgemäß Lebende sein Glück in der Erkenntnis. Wie sie, der wahre Ausdruck seiner freien Selbsterhaltung, völlige Unabhängigkeit von den Fesseln der Leidenschaft unbedingt voraussetzt, ist sie auch eben so wenig in der unmittelbaren Berührung mit den Außendingen und ihrem mannigfachen Wechselspiel endloser Zufälligkeiten der sinnlichen Auffassung allein erreichbar. Diese selbst reicht wohl für den Bedarf der bloß animalischen Selbsterhaltung aus; aber wahrhafte Erkenntnis, wie sie der Vernunft allein zugänglich, giebt sie nicht. Auf Grund des Sinnenzeugnisses hält man die Erde für eine stillstehende Fläche, die Sonne für einen beweglichen Körper von mäßiger Größe wie etwa den Mond und in ziemlich gleicher Entfernung mit ihm von der Erde befindlich. Den Sinnen nach berühren sich Himmel und Erde am Horizont, wie die parallelen Grenzlinien eines geraden Weges in äußerster Sehferne in einem Punkte zusammenlaufen. Viele Dinge zeigen sich unmittelbar nur als Wirkungen flüchtigster Art, ohne daß die Kette der sie bedingenden Erscheinungen und Vorgänge den Sinnen faßbar wäre. Verschiedene Wirkungen sind häufig auf eine und dieselbe Verursachung zurückführbar, doch können verschiedene Ursachen bisweilen Gleichartiges bewirken: Härte zum Beispiel entsteht sowohl durch Wärme wie durch Kälte, das Sonnenlicht bleicht und schwärzt, erweicht und härtet und was dergleichen Erscheinungen mehr vorkommen mögen. Dazu kommt noch, daß alle Beobachtungen der Art flüchtig und unvollständig sind, wie denn überhaupt der Geist von sich selbst wie von den ihm durch die Sinne zugänglichen Dingen nur eine verworrene Erkenntnis hat, so oft er so, wie es aus dem gemeinen Naturverlauf sich ergiebt, die Dinge wahrnimmt, nämlich so oft er von außen, je nachdem die Dinge zufällig auf ihn treffen, bestimmt wird dieses oder jenes anzuschauen. Eth. II, Prop. 29, 40.
Außer der Täuschung und Unzulänglichkeit der Sinnenauffassung hat der Geist aber auch eine ihm selbst eigentümliche Trübung der Denkthätigkeit zu meiden, die ebenfalls, wo sie obwaltet, keine richtige Erkenntnis aufkommen läßt. Es ist die Einbildung, die in harmloser Form bei den Erzeugnissen der Kunst und Dichtung ihre wohlberechtigte Geltung hat, auf dem Gebiete der Erkenntnis aber ihr gefährliches Spiel als Vorurteil und Aberglaube treibt und wahre Einsichten unmöglich macht. Auf diesem Standpunkt wird das eigene Behagen zum Maßstab der Dinge genommen, und so werden sie als schön und häßlich, als wohlthätig und schädlich, als heilsam und nachteilig, als schmackhaft und ekelhaft, als harmonisch und mißtönend unterschieden. Auch dann noch giebt es die mannigfachsten Abstufungen und Gegensätze, da dem einen oft das zusagend und angenehm erscheint, was dem andern Abscheu erregt, und so beständiger Streit unter ihnen obwaltet, wie das eben bei verworrenen Vorstellungen und Begriffen nicht anders sein kann. Stehen nun die Menschen hinsichtlich ihrer Vorurteile so feindlich einander gegenüber wie unter der Gewalt der Leidenschaften, so giebt es wohl eine gewisse Einmütigkeit unter ihnen im Punkte des Aberglaubens, der aber nichts destoweniger einer verworrenen Auffassung der Dinge entspringt. Aller Aberglaube gipfelt in der typischen Vorstellung, daß die ganze Welt des Menschen wegen gemacht sei und alle Dinge in ihr einer danach eingerichteten Zweckmäßigkeit gehorchen. Wie jeder selbst die einzelnen Dinge zu seinem Nutzen verwendet und danach abschätzt, so auch solle alles in der Natur bloß Mittel zum Nutzen der Menschen sein, und zwar von einem oder einigen übermenschlich gearteten Wesen erzeugt und gefertigt, denen sie dafür besondere Verehrung schuldig seien. Bei solcher Denkart wird nach End- oder Zweckursachen geforscht, und weil gar vieles in der Natur dieser dem Menschenwohl gemäßen Vorstellung zuwiderläuft, behilft man sich damit, alles Schädliche und Furchtbare, wie Krankheiten, Stürme, Erdbeben und dergleichen als Strafen und Zuchtmittel eben jener Wesen zu betrachten, deren Gunst man sorgfältig zu erstreben habe, damit sie nicht nur Gefahren abwenden, sondern unter Umständen, den Naturlauf unterbrechend, den Einzelnen durch besondere Wunderthaten eigens auszeichnen. Zugleich aber wird der Weg zu jeglicher Einsicht in den Naturverlauf durch die Behauptung abgeschnitten, daß die Ratschlüsse jener höheren Mächte die menschliche Fassungskraft übersteigen, was den eingewurzelten Vorurteilen unbedingt Vorschub leistet. Eth. I, Anhang.
Die Wahrheit wäre der Menschheit in Ewigkeit verborgen geblieben, wenn nicht die Mathematik, die sich nicht mit Zwecken, sondern nur mit dem Wesentlichen und den Eigenschaften der Gestalten befaßt, uns eine andere Richtschnur der Wahrheit gezeigt hätte. Was sie lehrt, hat unbedingte Giltigkeit, ohne daß dabei gefragt würde ob es gut oder schlecht, angenehm oder ärgerlich oder irgend jemandem zum Vorteil gereiche: ihre Wahrheiten sind ewig und unantastbar und jeglicher Willkür entzogen. Eth. I, Anhang.
Genau so verhält es sich auch bei allen Einsichten. Die Dinge in ihrer Bedeutung und in ihrem Zusammenhang müssen, ganz abgesehen von menschlichem Belieben und Behagen, auch abgetrennt von allen Zufälligkeiten und dem bunten Wechsel der Sinnenerkenntnis erfaßt werden. So einleuchtend und sicher wie in der Mathematik das Verhältnis der Dreiecke zu einander, das Ergebnis ihrer Winkelsumme, die Beziehungen der Linien und Winkel im Kreise und dergleichen mehr: ebenso einleuchtend und überzeugend sind auch die Wesenheiten und Eigenschaften der Dinge überhaupt, wenn wir sie in Begriffe fassen, durch die sie in ihrer Notwendigkeit gesetzt und bestimmt und ohne die sie nicht gedacht werden können. Denn wie die Dinge in einer bestimmten Ordnung und Verknüpfung für immerdar gegeben sind, in eben der Ordnung und Verknüpfung stehen auch die richtig gebildeten Begriffe und Vorstellungen von ihnen. Falschheit und Irrtum hierbei entspringt nur aus unzulänglicher, ungenügender, verworrener Auffassung; diese giebt keine Gewißheit, sondern kann höchstens mit jener Gelassenheit gehegt werden, die das Nichtvorhandensein eines Zweifels anzeigt. Eine so geartete Einsicht ist also, weil mangelhaft, einfach negativ, wertlos. Alles richtige Wissen ist positiv, wirklich und den Dingen genau entsprechend und schließt daher auch die höchste Gewißheit in sich. Die wahre Vorstellung ist das Verstehen selbst, und jeder, der eine wahre Vorstellung hat, weiß sie als solche; denn wie das Licht sich selbst und die Finsternis offenbart, ebenso ist die Wahrheit die Richtschnur ihrer selbst und des Falschen. Es kann nichts Deutlicheres und Gewisseres geben als die richtige Vorstellung. Eth. II, Prop. 7, 35, 43.
Über die Unsicherheit und Verworrenheit der sinnlichen Auffassung und dem auf sie gestützten Meinen und Phantasieren erhaben ist aber die Vernunfterkenntnis. Sie bleibt nicht an dem Einzelnen und Vergänglichen haften, sondern sucht das allen Dingen Gemeinsame und Bleibende auf, und in dem Maße, wie sie in diesen Einsichten fortschreitet, erwirbt sie wahre Vorstellungen. Denn es liegt in der Natur der Vernunft die Dinge nicht als zufällige, sondern als notwendige zu betrachten und sie demnach unter der Form der Ewigkeit aufzufassen. Eth. II, Prop. 29, Corrol., Prop. 44.
Gegenstand der so gearteten Vernunfterkenntnis ist die Natur. Aller richtigen Vernunfterkenntnis liegt die Einsicht der durchgängigen Ursächlichkeit und des Zusammenhangs der unserer Auffassung sich darbietenden Dinge zu Grunde. Körperlich sind wir einer Unzahl von Einwirkungen der an uns herantretenden Dinge ausgesetzt, und wo diese Eindrücke überwiegen, ist eine richtige Erkenntnis unmöglich. Es kommt nur zu Einbildungen, die eben so sehr den ursächlichen Zusammenhang der Dinge wie die natürliche Abhängigkeit des Menschen übersehen. Ihm wird ein freier Wille angedichtet, weil jeder seines Wollens und Triebes bewußt, aber der Ursachen unkundig ist, von denen er veranlaßt wird etwas zu begehren und zu wollen. Und in ähnlicher Willkür wird die Natur vorgestellt, als sei sie der Spielball einer unsinnigen Laune und als könne unter gegebenen Verhältnissen ein Ding ebenso gut wie ein anderes bewirkt werden. Notwendigkeit, nämlich unbedingte Gesetzmäßigkeit und Ordnung, gilt sowohl hier wie dort, und wiewohl der Mensch als beschränktes endliches Wesen nicht den ganzen Naturzusammenhang zu durchschauen vermag, da für seinen Verstand jede einzelne Ursache von einer endlosen Reihe anderer Ursachen determiniert ist und jede einzelne Wirkung mithin endlos viele Ursachen hat, so ist ihm doch so viel über den Naturzusammenhang klar und zweifellos, daß alles darin schlechthin notwendig ist und geschieht. Die Vernunft belehrt ihn, daß aus einer bestimmten gegebenen Ursache eine Wirkung notwendig folge, und umgekehrt, wo keine bestimmte Ursache gegeben, unmöglich eine Wirkung folgen könne. Ebenso bringt ihn Vernunft zu der Einsicht, daß die Erkenntnis der Wirkung von der Erkenntnis der Ursache abhänge und jene in sich schließe, alles Erkennen mithin das Aufsuchen der Ursachen erfordere. Eth. V, Prop. 6, Dem. u. Prop. 29 Corrol.
Die vernunftgemäße Betrachtung des ursächlichen Zusammenhangs in der Natur führt schließlich zu der durchaus deutlichen und unabweisbaren Erkenntnis einer schlechthin ersten Ursache, die allein in sich selbst besteht, ihre Existenz in sich und nicht in etwas anderem hat und deren Wesen garnicht anders als schlechthin und immerdar existierend gedacht werden kann. Als die wirkende Ursache aller Dinge ist sie notwendig und ewig, durch nichts beschränkt oder in ihrem Wirken behindert, und weil alle Dinge von ihr abhängig und sie mithin das Gemeinsame an allen Dingen ist, muß sich die Einsicht eines solchen ewig und unendlich Seienden dem Bewußtsein aller Menschen aufdrängen. Eth. IV, Einl.
Es geschieht dies in der allgemein verbreiteten Idee, die man Gott nennt. So geläufig sie auch den Menschen ist, verbinden sie damit zumeist die abenteuerlichsten und verworrensten Vorstellungen. Alle sehen ein, daß Gott die einzige Ursache aller Dinge, sowohl ihrer Wesenheit wie ihres Daseins ist, aber denken sich dabei seine Macht und seine Thätigkeit wie etwa die der Könige, also in ganz menschlicher Weise; oder es wird auch seine Macht in einer so überschwänglich sinnlosen Weise gefaßt, als könne er mit schrankenloser Willkür handeln, habe ein Recht auf alles und könne nach Belieben alles zerstören und in nichts verwandeln, wie er alles aus dem Nichts ins Dasein gerufen habe. Eth. II, Prop. 8, 10.
Unwürdiger und thörichter kann über Gott nicht gedacht werden, als indem man die Notwendigkeit, die unbedingte Folgerichtigkeit und Widerspruchslosigkeit des Seins und Geschehens, von ihm hinwegdenkt. Richtig allein ist es, ihn als das schlechthin unendlich Seiende zu fassen, dessen Macht und Thätigkeit derart über alles menschliche Thun und Verlangen steht, daß es, aller Widersprüche und aller Launenhaftigkeit bar, alle Dinge in einer über allen Zweifel und alles Schwanken erhabenen Bestimmtheit und Gewißheit, die eben das Wesen der Notwendigkeit und Ewigkeit ist, auffaßt und in ihrem Sein erhält. Während der vulgären Vorstellung die Allmacht Gottes darin besteht, daß die Dinge bald so, bald anders hätten sein können, oder um es an einem Beispiel zu verdeutlichen, daß es durchaus dem Belieben Gottes anheimfiele, ob die Winkelsumme eines Dreiecks zwei Rechte betrüge und die Radien im Kreise durchaus gleich seien oder nicht, ist vielmehr die einzig richtige und seiner Macht und Vollkommenheit allein würdige Auffassung die, daß alle Dinge, wie ja zugegeben wird, von seinem Ratschluß abhängend, auf keine andere Weise und in keiner andern Ordnung haben erschaffen werden können als sie sind und bestehen. Im Ewigen giebt es kein Wann, kein Vorher und Nachher, und darin eben besteht die Vollkommenheit Gottes, daß er nie etwas anderes beschließen kann oder je können hat als sich in seinem ewigen Wirken offenbart. Die Macht Gottes ist seine Wesenheit selbst, und alles, von dem wir begreifen, daß es in Gottes Macht stehe, ist notwendig; aber ebenso haben wir alles davon auszuschließen, was mit dieser Macht und Wesenheit, in ihrer wahrhaften Bedeutung gefaßt, unvereinbar ist. Eth. II, Prop. 14, 15; – I, Prop. 33, 34.
Widerstreitet es nun Gottes wahrhaftem Wesen, ihn irgendwie nach menschlicher Weise zu fassen, so darf ihm auch dasjenige, was bei uns Wille und Verstand heißt, nicht zuerkannt werden. Freilich meinen viele, zu Gottes Natur gehöre der höchste Verstand und ein durchaus freier, schrankenloser Wille, weil sie wähnen, ihm nichts Vollkommeneres zuschreiben zu können, als was bei uns die höchste Vollkommenheit ist. Allein dies zugegeben, müßten Wille und Verstand bei ihm himmelweit von unserm Willen und Verstande verschieden sein und könnten nur dem Namen nach damit übereinkommen. Wille und Verstand bei uns haben die Gegenstände sich gegenüber und haben sich, bei endlosen Irrtümern und Fehlgriffen, an ihnen zu entwickeln; derlei giebt es aber nicht für Gott, der die Ursache aller Dinge ist, sowohl ihrer Wesenheit wie ihrem Dasein nach. Von ihm haben wir unsern Verstand und Willen, und da zwischen dem Geschaffenen und dem Schaffenden unzweifelhaft ein wesentlicher Unterschied ist, muß auch sein Verstand und Willen von dem unsern durchaus verschieden sein. Unser Verstand erstrebt und erwirbt Einsichten, unser Wille äußert sich in Entschlüssen. Für Gott giebt es kein Entschließen, denn seine Macht ist von Ewigkeit wirklich und wird in Ewigkeit in derselben Wirklichkeit beharren, und eines Verstehens bedarf es bei ihm nicht, weil er die wahre Vernunft selbst ist, sein Denken im unmittelbaren, allumfassenden Wissen besteht. Eth. I, Prop. 17, Schol. Vrgl. Feuerbach, Werke Bd. 5, S. 114, Bd. 6, S. 44.
Bei der Gestaltung seines Gottesbegriffes hält sich Spinoza, wie leicht ersichtlich, genau an die ihm aus der angestammten Glaubenslehre beigebrachte Vorstellung, die von Gott »kein Bildnis oder Gleichnis« zu machen gestattet. Er nimmt die von da aus weiter ausgebildete christliche Theologie streng beim Wort und denkt ihre Lehre von der Allmacht, Ewigkeit und Allwissenheit der Gottheit mit unfehlbarer Folgerichtigkeit zu Ende. Soll Gott weit mehr und durchaus anders als der Mensch sein, so kann er nicht anders als in der Auffassung Spinozas gedacht werden.
Hat man Gott als die allwirkende Ursache des Daseins und der Wesenheit aller Dinge und zugleich als das schlechthin unendlich Seiende zu fassen, so muß alles was ist, in Gott sein, und nichts kann ohne Gott sein oder begriffen werden. Er ist mithin unbedingt als die allem Sein und Geschehen innewohnende, nicht aber als eine ihnen außerhalb gegenüberstehende Ursache zu denken. Die Gesamtheit der unserem Verständnis sich darbietenden, durch Gott in ihrem Sein und Wesen bewirkten Dinge heißt Natur. Haben wir sie als das durch Gottes ewige Thätigkeit Bewirkte zu erkennen und ihn als die allem vorausgesetzte aber einheitlich damit verbundene Ursache, so fällt Gottes Dasein mit seinem Wirken zusammen. Eth. I, Prop. 15. Ein geläuterter, alles Menschlichen als einer Beschränkung entkleideter Gottesbegriff, der gleichwohl in wesentlichem Zusammenhang mit dem Weltganzen gedacht werden soll, ist nur als die unerschöpfliche, allüberall und immerdar wirkende Urkraft zu fassen, von der alles Lebendige und Daseiende abhängt. Und so ergiebt sich die für die Lehre Spinozas charakteristische Formel Gott oder Natur.
In ihrer Notwendigkeit und Wahrheit so einleuchtend wie irgend eine mathematische Einsicht, kann aber die Idee der Gottheit nicht so anschaulich gemacht werden wie etwa das Verhältnis der Winkel in einem Dreieck oder der Dreiecke unter einander. Wohl aber ist es der Vernunft vergönnt, einige wesentliche Eigenschaften der Gottheit zu erkennen, wiewohl ihr eine Menge anderer zukommen, die unserer Auffassung verborgen bleiben. Eth. I, Prop. 21-25, Anhang u. Brief 60 (Auerb. Bd. 2, S. 424).
Die uns kenntlichen Eigenschaften der Gottheit sind zwei: eine geistige oder das Denken, und eine körperliche oder die Ausdehnung. Unter jenem haben wir nicht das allmähliche Ermitteln und Zusammenstellen von Begriffen und ihren Verhältnissen zu verstehen, welches für uns Menschen den Weg zur Wahrheit bildet; sondern die Gesamtheit aller Wahrheit als einem unmittelbaren Wissen in ungetrübter Klarheit und vollkommener Gewißheit, wie es uns nach mühsamer Denkarbeit als unverlierbarer Besitz in ewiger, wandelloser Bedeutung zufällt. Das Wesentliche und durchgängig Gemeinschaftliche in der Ausdehnung ist Ruhe oder Bewegung, und sie selbst haben wir als die unendliche Bedingung zu allem Räumlichen und Körperlichen, nicht aber als dieses in irgend welcher Beschränkung oder Bestimmtheit zu fassen, so daß also bei der Ausdehnung als einer Grundeigenschaft des schlechthin unendlich Seienden jegliche Grenze oder Teilbarkeit entfällt. Ausdehnung als unmittelbare Thätigkeitsäußerung der Gottheit, wie sie dem Vorhandensein körperlicher Dinge vorausgesetzt, ist von diesen selbst durchaus zu unterscheiden. Alles ist wohl in Gott und alles was geschieht, thut er bloß durch die Gesetze seiner unendlichen Natur und erfolgt aus der Notwendigkeit seines Wesens, aber das einzelne Geschehen mit seinem Kommen, seiner Dauer und seinem Vergehen betrifft nicht die Gottheit als solche. Es ist damit, um es durch Spinozas eigenes Beispiel zu verdeutlichen, wie mit dem Wasser, das als ein Element unseres Planeten allerdings erzeugt und zerstört wird, ins Endlose teilbar, in seine Bestandteile zerlegbar und auflösbar ist; als Wasser überhaupt aber, als eine Form und Äußerungsweise der Natur in ihrer ewigen notwendigen Gesetzmäßigkeit, ist das Wasser weder erzeugt noch zerstörbar. Die gesetzmäßige Ordnung und Einheit in allem, was die Ausdehnung betrifft, entspricht genau den ewigen Wahrheiten im Denken und ist nur als ein einziger ewiger einheitlicher Zusammenhang zu fassen, von zwei verschiedenen Seiten betrachtet, etwa wie es bei gewissen mathematischen Gleichungen der Fall ist, die man beliebig geometrisch, arithmetisch oder algebraisch demonstrieren kann, ohne daß es deshalb mehr als eine einzige Wahrheit daraus wird. Eth. I, Prop. 15, Schol.
Das uns verständliche Wirken der Gottheit, wie wir es als unendliche Ausdehnung und unendliches Denken fassen, ist füglich als die wirkende oder schaffende Natur zu bezeichnen. Alles Geschehen ist von der Gottheit gedacht und bestimmt, aber nicht alles ist unmittelbar durch sie bewirkt. Außer dem Unendlichen, das in wandelloser Notwendigkeit beharrt und von Ewigkeit zu Ewigkeit sich in seiner göttlichen Gesetzmäßigkeit geltend macht, giebt es auch Endliches, Wandelbares, Vergängliches, das nur einen mittelbaren Zusammenhang mit dem Ewigen und Unendlichen hat, wenn es auch seinem Wesen nach ewig und als solches allerdings auch unmittelbar von der Gottheit herrührt. Denn jedes einzelne oder jedes Ding, welches endlich ist und ein bestimmtes Dasein hat, kann nicht da sein oder zum Wirken bestimmt werden, ohne dazu von einer andern Ursache bestimmt zu sein, welche auch endlich ist und ein bestimmtes Dasein hat. Ihrerseits ist diese Ursache selbst wiederum von einer andern, welche ebenfalls endlich ist und ein bestimmtes Dasein hat, zum Dasein und Wirken bestimmt, und so fort ins Unendliche. Diese Verkettung der einzelnen Verursachungen und Wirkungen, wo Bewirktes und Wirkendes einander stetig ablösen, wie es uns tausendfältig in den auf einander folgenden Geschlechtern als Lebendiges, in dem Wechselspiel des Überganges gewisser physischer Erscheinungen in einander – Wasser als Dampf, Nebel, Wolke, Regen, Schnee, Eis und so fort – entgegentritt, hat man als die geschaffene oder bewirkte von der wirkenden und schaffenden Natur zu unterscheiden. Eth. I, Prop. 28.
Die bewirkte Natur mit ihrer bunten Mannigfaltigkeit des Entstehens und Vergehens, der Dauer und der Wandlung endlicher Dinge, die in der endlosen Verflechtung gegenseitiger Verursachung und Hemmung nicht zur vollen Entfaltung ihres Wesens gelangen, ist der Tummelplatz der Leidenschaften und zugleich die von zeitlicher Beschränkung und zufälliger ungenügender Auffassung bedingte Welt der Einbildung. Aus der sich hierbei ergebenden verworrenen Denkweise ist uns eine Erhebung zu wahrhaftem Erkennen gestattet durch die unserem Geist angehörende Thätigkeit, die Dinge in ihrer Notwendigkeit und Gesetzmäßigkeit zu betrachten, unser Streben also auf Unvergängliches, von keinem Wechsel, keiner Enttäuschung Betroffenes gerichtet zu halten, wie dies in dem göttlichen Denken in ewiger Vollkommenheit enthalten ist. Eth. II, Prop. 30, 32, 36.
Ermöglicht ist solches dadurch, daß der Mensch, körperlich und geistig ein Teil der Natur, mit an der unendlichen Denkkraft beteiligt ist, welche die gesamte Natur in ihrer Wesenheit und notwendigen Gesetzmäßigkeit in sich faßt. Insofern unser Denken wahr und der ewigen Wesenheit der Dinge entsprechend, fällt es mit dem Denken eben dieser unendlichen Vernunft zusammen, von der es selbst ein Teil ist. Weil aber unsere Vernunft nur einen Teil davon bildet, erfaßt sie die Welt nicht in ihrer Gesamtheit, und weil unser körperliches Dasein uns an die Verkettung der äußeren und zufälligen Dinge und Erscheinungen fesselt, sind wir dem Irrtum und der verworrenen Erkenntnis der Dinge ausgesetzt. In dem Maße aber, wie wir den Verlauf und den Zusammenhang der Dinge ihrer im göttlichen Denken enthaltenen ewigen und gesetzmäßigen Wesenheit nach zu erfassen und zu erkennen vermögen, gelangen wir zur vollen und uneingeschränkten Befriedigung unseres Selbst, welche uns, in der Abkehr von dem flüchtigen Gewirr des Endlichen und aller damit verbundenen Irrtümer und Thorheiten, den wahren Seelenfrieden gewährt. In der solcherart erstrebten und gewonnenen Einheit mit dem unendlichen göttlichen Denken liegt die einzige uns erreichbare Glückseligkeit, die auch, weil in einer Hingebung an das ewig schaffende Göttliche bestehend, als die geistige oder verstandesmäßige Liebe zu Gott bezeichnet werden kann. Eth. II, Prop. 11, 40. Brief 15 an Oldenburg (Auerb. Bd. 2, S. 287).
Weil das Wesen unseres Geistes in der Erkenntnis besteht, deren Uranfang und Grundlage Gott ist, so findet die Selbstbehauptung oder Freiheit unserer Seele ihre wahrhafte Befriedigung, indem alles Verlangen in ihr auf Gott oder den Geist bezogen ist. Dem Ewigen zugewandt, bleibt diese Liebe ohne Erwiderung, aber auch dem Neide wie der Eifersucht unerreichbar, denn sie wird um so mehr genährt, je mehr Menschen wir uns durch dasselbe Band der Liebe mit Gott vereinigt vorstellen. Diese in der ungehemmten und ungetrübten Entfaltung unseres Selbst uns gewährte Glückseligkeit ist die Tugend als solche, nicht deren Lohn, denn indem sie uns wahre Erkenntnis sichert, giebt sie uns auch die zur Bekämpfung der Leidenschaften nötige Gewalt; nicht weil wir diese zu bekämpfen fähig sind, genießen wir Glückseligkeit, sondern weil wir im Besitz derselben sind, können wir den Reizen und Lockungen der Leidenschaften widerstehen. Eth. V, Prop. 36 Schol., Prop. 20, 42.
Diesem freilich steht die gewöhnliche Ansicht durchaus entgegen, nach welcher das zügellose Waltenlassen der Lüste und Leidenschaften für Freiheit, das Einhalten eines gesitteten Lebenswandels für eine Einschränkung derselben gilt, die durchaus belohnt werden müsse. In der Hoffnung, daß solches nach dem Tode nicht ausbleiben werde, und in der Furcht, etwaige Übertretungen durch Strafen im Jenseits abbüßen zu müssen, werden viele, so weit es ihre Beschränktheit und Geistesschwäche erlaubt, dahin gebracht, nach den Vorschriften der göttlichen Vernunft zu leben. Diese Furcht und Hoffnung steht bei manchen in so hohem Ansehen, daß sie meinen, die Menschen würden blindlings ihren Gelüsten folgen, wenn sie die Gewißheit hätten, daß mit dem Tode alles für sie zu Ende sei. Solches dünkt mich ebenso widersinnig, bemerkt Spinoza ausdrücklich, als wenn jemand, weil er weiß, daß gute Nahrungsmittel seinen Leib nicht in alle Ewigkeit erhalten können, sich lieber mit Gift und tötlichen Sachen sättigen wollte, oder, weil er sieht, daß die Seele nicht ewig und unsterblich ist, lieber verrückt sein und ohne Verstand leben wollte. Eth. V, Prop. 41 Dem. u. Schol.
Von wahrhafter Erkenntnis geleitet und so seiner Selbsterhaltung in einem durchaus vernunftgemäßen Leben nachstrebend, ist der freie Mensch von Todesfurcht unberührt, und seine Weisheit ist nicht eine Betrachtung des Todes, sondern des Lebens, dessen Wert für ihn in der Tugend, in der Macht über die Leidenschaften liegt. Irgend welche Vergeltung dafür zu erwarten, liegt ihm fern, denn in der Tugend, die mit der Weisheit Eins ist, besteht sein ganzes Glück. Eth. IV, Prop. 67.
Während der Thor ein Spielball äußerer Ursachen ist und nie zu wahrer innerer Befriedigung gelangt, wird der Weise kaum in seinem Innern beunruhigt. Seiner selbst und Gottes und der Dinge in ihrer ewigen Notwendigkeit bewußt, ist er immer im Besitz wahrer, innerer Befriedigung. Der Weg, der zu diesem Ziele führt, ist allerdings schwierig, kann aber dennoch gefunden werden. Schwierig muß ja gewiß sein, was so gar selten gefunden wird. Denn wie wäre es möglich, wenn das Heil so nahe läge und ohne große Anstrengung zu finden wäre, daß die meisten dagegen gleichgiltig sind? Aber alles Vorzügliche ist eben so schwer wie selten.
Mit diesen Worten schließt Spinozas Ethik. Die darin niedergelegte Gesinnung, die der Leitstern seines Lebens gewesen und die er auch in den von ihm selbst herausgegebenen Schriften redlich ausgesprochen, hat ihn in den Verruf des Atheismus und der Auflösung jeglicher Religion und Sittlichkeit gebracht. Aus unserer Darstellung dürfte zur Genüge einleuchten, wie unbegründet diese Beschuldigungen sind.
Den Vorwurf bezüglich der Religion und Sittlichkeit hat Spinoza bei Lebzeiten noch selbst widerlegt. In einem Briefe vom Jahre 1671 auf Anlaß einer Kritik seiner kurz zuvor veröffentlichten theologisch-politischen Abhandlung, stellt er die Frage Brief an I. Orobio (Br. 49 bei Auerb. Bd. 2, S. 399).: ob denn der alle Religion von sich werfe, der den Grundsatz aufstellt, daß Gott als das höchste Gut anerkannt und mit freier Seele als solches geliebt werden müsse, und daß hierin allein unsere höchste Glückseligkeit und unsere wahre Freiheit besteht? Daß ferner der Lohn der Tugend die Tugend selber, die Strafe der Thorheit und Ohnmacht eben die Thorheit sei? Daß endlich jeder seinen Nächsten lieben und der für das friedliche Zusammenleben mit ihm nötigen Ordnung gehorchen müsse? Oder ob der aus Furcht vor Strafe, und nicht aus eigener Kraft sondern widerwillig das Gute thue aber reichliche Vergeltung dafür beanspruche, wahrhaft Religion habe?
Was die Beschuldigung des Atheismus anbelangt, so ist wohl der weit entfernt ein Gottesleugner zu sein, der wie Spinoza erklärt hatte: Alles was ist, ist in Gott, und nichts kann ohne Gott sein und begriffen werden. Eth. I, Prop. 15. Mit äußerster Konsequenz wird gerade dieser Satz in seiner Lehre durchgeführt, die auch deshalb die schulgemäß bräuchliche Bezeichnuug Pantheismus – das Behaupten einer Allgottheit oder Gottallheit – erhalten hat. Jeder unbefangenen Prüfung der Lehre Spinozas, sagt Ludwig Feuerbach, Feuerbach, Werke Bd. 4, S. 375. leuchtet sofort ein, daß keiner mehr Existenz, mehr Realität, mehr Macht Gott eingeräumt hat, als er, und keiner noch Gott so erhaben, so frei, so objektiv, so gereinigt von allen Endlichkeiten, allen Beziehungsschranken und Menschlichkeiten gedacht wie er.
Aber gerade hierauf gründet sich der gegen ihn erhobene Vorwurf, daß nämlich sein Gottesbegriff nicht der kirchlich angenommene ist, der für allein wahr und richtig erklärt wird. Und nach dem hier geltenden edlen Grundsatze – wer nicht für mich ist, ist wider mich – kann eine davon abweichende Auffassung, die ja Spinoza niemals in Abrede gestellt, unmöglich anders als verkehrt und frevelhaft sein. Eben dies bestreitet Spinoza. Ein persönlicher außerweltlicher Gott, der irgendwo außerhalb unseres Planeten dem darauf sich abspielenden Menschengetümmel gemächlich zuschaut und zeitweise durch Wohlthaten oder Strafhandlungen in den Verlauf der sonst an eine gewisse Ordnung gebundenen Dinge nach Willkür und Laune mit einem nachdrücklichen » Quos ego« eingreifend, an seine Allmacht erinnert, erklärt Spinoza, wie wir anläßlich des theologisch-politischen Traktats hervorgehoben, Vrgl. hier oben S. 77 f. seinerseits für eine gotteslästerliche Vorstellung, indem dabei unbedingt Zweifel an der Notwendigkeit und Vernünftigkeit der allgemeinen Naturgesetze entstünden und mit dem Zweifel an Allem, schließlich auch der an der Gottheit selbst unfehlbar sich einstellen müsse. Nur die schamloseste Unwissenheit entgehe diesem, indem sie sich hinter die angeblich unerforschlichen Ratschlüsse Gottes verschanzt. Tract. theol. polit. cap. 6.
Nicht um Leugnung, um Läuterung des Gottesbegriffs war es ihm zu thun, und es ist keine bloße Redensart, keine sogenannte »Verstandeslist«, um die Zeitgenossenschaft nicht kopfscheu zu machen, daß er bei allem Dringen auf die bedingungslose Anerkennung einer ewigen und wandellosen Gesetzmäßigkeit in der Natur diese selbst als Gottheit bezeichnete. Ihm war das, was seines Erachtens alle Menschen unwillkürlich in dem Begriffe Gott, als dem Höchsten und allen Dingen notwendig Vorausgesetzten, sich vorstellen, nur als die unverbrüchliche, in sich selbst notwendige, über jegliche Willkür und Leidenschaft erhabene Ordnung und Einheit, von der Alles und Jedes abhängt, vernunftgemäß denkbar und faßbar.
Dafür den Namen Gott zu brauchen ist sein gutes Recht, und die Zusammenstellung Gott oder Natur kein Euphemismus, keine Erschleichung, sondern ein wohldurchdachter Ausdruck seiner Überzeugung, weil er die Natur unter einem zweifachen Gesichtspunkte auffaßte: dem des Vielfältigen, Wechselvollen, Vergänglichen, und dem des Einheitlichen, Wandellosen, Ewigbestehenden. Eben dieses Unterschiedes wegen, der die Lehre Spinozas besonders kennzeichnet, hat das Beibehalten des Gottesbegriffes bei ihm einen wahrhaften Sinn.
Spinozas Gott ist unzweifelhaft nicht der kirchliche. Während dieser in einen entschiedenen Gegensatz zur Natur als einem durchweg Verderbten und der Vernichtung allein Würdigen hingestellt und alle Vollkommenheit in ein überweltliches Sein verlegt wird, findet Spinoza das Vollkommene in der Natur und deren eben darin bestehenden Einheit mit der Gottheit. Der Zwiespalt, den die Kirche zwischen Gott und Natur behauptet, ist für Spinoza ein eben solcher Aberglaube wie die Gottheit der Dogmatik und die ihr entsprechende Auffassung der Natur, die nur bei gänzlicher Unwissenheit möglich. Er kann seinerseits Gott und Natur nicht getrennt denken, aber eben so wenig die Natur ohne einen Gott, der alle Vollkommenheit der Natur in sich faßt, darin jedoch einen gewissen Gegensatz oder, wenn man lieber will, einen höhern Grad des Vollkommenseins im Vergleich zur flüchtigen Mannigfaltigkeit der vergänglichen Dinge bildet. Bei allem Dringen auf den ausnahmslos bestehenden Kausalzusammenhang in der Natur, gilt ihm doch der Schauplatz der ursächlichen Beziehungen in ihrer sinnlich unmittelbaren Wirklichkeit nur als eine verworrene, ungenügende, mangelhafte Auffassungsform der an und für sich ewig vollkommenen Natur. Wahrheit hat ihm diese, soweit sie Gegenstand des Denkens; als Gegenstand des Verlangens und Nutzens ermangelt sie ihm dieses Wertes. Besonders lehrreich ist in dieser Hinsicht sein eigenes Beispiel vom »Wasser überhaupt« und dem gewöhnlichen uns jederzeit gegenwärtigen Element. So entschieden auch Spinoza die kirchliche Gottvorstellung in ihrer Feindschaft zur Natur bekämpft, kann er doch die von hier stammende Geringschätzung der unmittelbaren Wirklichkeit nicht los werden. Wohl hebt er den dogmatischen Zwiespalt zwischen Gott und Natur auf, aber derselbe kehrt ihm wieder in der doppelten Auffassung der Natur als dem ewig wirkenden Einen und dem bewirkten vermittelten Vielen. Hierin liegt für Spinoza die logische Notwendigkeit an dem Gottesbegriff festzuhalten.
Ganz gewiß handelt es sich hierbei für ihn nicht um ein Kompromiß mit der Theologie, nicht um eine Konzession zu gunsten der Kirche, wie bei Descartes und Leibniz, sondern um einen durchaus unvermeidlichen Tribut an den allgemeinen Bildungsstand seines Jahrhunderts, der einen überwiegend theologischen Charakter hatte. In seinem Kampfe mit der Theologie steht Spinoza selbst noch auf gleichem Boden mit ihr. Der ihm durchaus unentbehrliche, das Zentrum seiner Lehre innehabende Gottesbegriff ist so zu sagen die Nabelschnur, die ihn mit den herrschenden Ansichten seines Zeitalters verbindet.
Treffend sagt Ludwig Feuerbach: Feuerbach, Werke Bd. 2, S. 246. der Spinozismus ist die Überwindung der Theologie auf dem Standpunkte der Theologie. Richtig verstanden bedeutet das: die theologischen Vorurteile gegen die Natur hat Spinoza allerdings überwunden, aber noch nicht die volle Unbefangenheit ihr gegenüber erlangt. Außer dem menschlichen Denken, das die Natur durch wissenschaftliche Thätigkeit bei wenigem erkennt, hat er durchaus noch ein allgemeines, unendliches Denkvermögen nötig, das er im Vollbesitz der ausgemachten Erkenntnis annimmt. Hierin eben besteht das Theologische bei Spinoza, dessen Lehre also ein Übergangsstadium zu einer freien, mit der Sinnenerkenntnis völlig ausgesöhnten Auffassung der Wirklichkeit bildet.
Heute noch ist dies die häufig genug vorkommende Denkweise derer, die den kirchlichen Anschauungen durchaus entwachsen und bei genügender Bildung auch ein Verständnis für Zusammenhang und Gesetzmäßigkeit in der Natur haben, diese selbst jedoch in ihrer spontanen Schaffenskraft und einer dem entsprechenden Selbständigkeit nicht fassen können, ohne sie aus einem ihr vorausgesetzten »Höheren« abzuleiten. Diesen nämlichen Denktypus hat Kant seither als eines der Postulate der reinen Vernunft formuliert. Der Natur als solcher möglichst nahe gedacht und gleichsam die darin waltende Ordnung verbürgend, ist es kein theologisch anthropomorphes Gebilde, wie es noch bei den Deisten des vorigen Jahrhunderts als allein erhaltener Vertreter der allgemach gänzlich aufgelösten Mythologie übrig blieb. Aber auch dieser Begriff, wiewohl aller mythologischen Zuthaten entkleidet, trägt noch, wie jede Gottheit, das Gepräge seines Ursprungs aus dem Gemüte an der Stirn: bei denen, die seiner bedürfen, tritt er in die von dem kirchlichen Gottgebilde zurückgelassene Lücke ein und bietet ihnen einen Anhaltspunkt für die aus der Natur allein nicht ableitbare Giltigkeit des Sittlichen. Bei Spinoza zeigt sich dies deutlich in der Liebe, womit er, obwohl auf alle Gegenliebe verzichtend, sich dem Höchsten zur vollen Befriegigung seiner wahrheitsuchenden Seele zuwendet.
Immerhin ist Spinozas Leistung ein glänzender Sieg über die theologische Befangenheit seines Zeitalters. Lebensziel war ihm die Wahrheit als solche, und von ihr erhielt ihm auch die Gottheit ihre Weihe; deren Vollkommenheit war ihm von dem Einssein mit der Wahrheit bedingt, nicht wie bei der Theologie, der eine solche Unterordnung der Gottheit unter die Wahrheit eine Lästerung war. Den eingeschränkten Gesichtskreis der kleinlichen eigensüchtigen Auffassung der Dinge, wie sie mit der biblischen Gottesvorstellung verbunden ist, hat Spinoza gesprengt durch die früh in ihm erwachte Einsicht, daß Wahrheit nur einem leidenschaftslosen Auffassen der Dinge zugänglich, daß aber Furcht und Hoffnung, die Hauptelemente der theologischen Denkweise, eine unbefangene und sichere Erkenntnis nicht aufkommen lassen. Dieses Ideal leuchtete ihm zuerst entgegen, als er sich bewogen fand, seine Beziehungen zu der angestammten Glaubensgenossenschaft zu lösen, er hat es in seinen beiden Jugendwerken, dem an die Freunde übergebenen »kurzen Traktat« und dem Fragment über die Berichtigung des Verstandes vorläufig zu erfassen gesucht, um es in seinem die neuere Bibelkritik begründenden theologisch-politischen Traktat als festes Ziel vor der Welt hinzustellen und in seiner Ethik in philosophischer Weise ausführlich zu erörtern. Die gegen ihn entbrannte Erbitterung, die er selbst verhältnismäßig wenig, sein Andenken jedoch um so nachdrücklicher entgelten mußte, ließ allerdings ein wahres Verständnis seines Wirkens langehin nicht aufkommen, bestätigte aber ihrerseits die Thatsächlichkeit seines Sieges und die Richtigkeit seiner Überzeugung, deren Wert erst ein besonneneres Zeitalter vollauf zu würdigen vermochte.
Spinoza hat eine wahrhaft welthistorische Bedeutung, sagt Ludwig Feuerbach. Feuerbach, Werke Bd. 5, S. 184. Sie liegt darin, daß er eine innerliche Anschauung, die Anschauung der Natur der Dinge an die Stelle der Vorstellung einer vernunftlosen, außerweltlichen, das heißt außerwesentlichen Willensmacht als die wahre, alleingiltige Anschauung setzte, daß er das, worin und wodurch allein ein Denken möglich ist, einen dem Denken selbst immanenten Gegenstand, also das Prinzip des Denkens zum Prinzip der Philosophie machte. Wie vor ihm in der Physik Bacon die teleologische Betrachtungsweise beseitigte, in der Astromonie Copernicus, Bruno, Galilei und Kepler, denen die Erde nicht mehr das alles auf sich beziehende Zentrum sondern nur von einer verächtlichsten Winzigkeit war, so hat Spinoza durch seinen Ansturm gegen die Teleologie der philosophischen Erkenntnis die wichtige Kategorie der Beziehung des Gegenstandes auf sich selbst für immerdar gesichert. Denn alle Philosophie, die auf den Namen wirklich Anspruch machen darf, hat keine andere Aufgabe, keine andere Tendenz, als zu ergründen und zu erforschen, was, um den Ausdruck zu wählen, das Wesen der Dinge, welche uns das Leben nur in Beziehung auf uns als sinnliche und persönlich interessierte Wesen darstellt, an sich oder – es ist dasselbe – in Beziehung auf die Intelligenz, auf den Menschen als denkendes, erkennendes Wesen ist. Wohl hatte Descartes – es ist noch immer Feuerbach, der das Wort hat – den Weg dazu gewiesen, doch ohne sich getreu zu bleiben, da er innerhalb seiner Philosophie zu dem unphilosophischen Prinzip der göttlichen Willkür seine Zuflucht genommen. Spinoza ist der Erlöser der Vernunft der neuern Zeit.
Mit diesem wichtigen Ergebnis war Spinoza seinem Zeitalter weit vorausgeeilt. Er mußte sich begnügen, die Wahrheit für sich selbst gefunden zu haben und genoß, bei seiner wunderbaren Genügsamkeit und seinem stillen, friedfertigen Wesen, in diesem Bewußtsein eine Glückseligkeit, die ihm den Verzicht auf die Zustimmung seiner eigenen Mitwelt wesentlich erleichterte.
Kleinliche Scheelsucht und Nörgelei hat ihm auch diese Befriedigung abstreiten wollen. Seiner Ethik, welche den sittlichen Wert in die Selbstthätigkeit des Individuums verlegt, hat man den Sinn für Thatkraft, Graetz, Gesch. d. Juden, Bd. X, S. 185 f. Graetz vermißt bei Sp. den Sinn für geschichtliche Größe und meint, für ihn gebe es keinen Fortschritt in der Flucht der Zeiten, sondern nur ein ewiges, langweiliges Wiederholen derselben Erscheinungen, einen ewigen Stillstand der Menschheit. Der Verf. übersieht, daß er hiermit an Sp. eine von seinem Standpunkte aus unmögliche Forderung stellt. Sehr richtig sagt daher Feuerbach, Werke Bd. 5, S. 39 ff: Spinozas Philosophie ist die Philosophie der Erhabenheit. Spinoza faßt alles in einen unteilbaren, mit sich harmonischen großen Gedanken zusammen; er ist ein Astronom, der die Sonne der Einheit oder Gottheit mit unverwandten Blicken schaut und, versenkt in diesen majestätischen Anblick, die Erde mit ihren Gegenständen und Interessen als ein Nichts aus dem Gesichte verliert. Er ist der Kopernikus der neuern Philosophie. Die Gottheit ist ihm nicht die Sonne des Ptolemäus, sondern der in sich ruhende Mittelpunkt, um den die Erde selbstlos taumelt, gleich einem Nachtfalter, der, fasciniert und trunken vom Lichtreiz, die brennende Kerze umflattert und endlich in ihre Flamme sich stürzt, als wäre er nur ein Accidenz dieser leuchtenden Substanz. Der Unterschied von Tag und Nacht ist ihm zu relativ, zu kleinlich, als daß er hieraus auf ein eigenes Centrum derselben reflektieren und ihre Bewegung um sich selbst als ein wesentliches und wichtiges Moment hervorheben sollte. ihm selber den Mut des Einstehens für seine Überzeugung abgesprochen, weil er sich mit dem stillen Betrachten dessen begnügte, was ihm als Wahrheit galt, statt es unter den Menschen zur Anerkennung zu bringen. Ant. v. d. Linde, Einleitender Lebensabriß in dessen mehrf. angef. Monographie über Spinoza, S. XXV f. u. XXIX, findet dies viel bewunderte Leben eintönig, farblos, von einer nicht zur Heilung gelangten Zerrissenheit und einer Vereinsamung des Verstoßenen, der sich selbst verstoßen. Das gemahnt an Voltaires Wort: pauvre juif déjudaisé, qui eut le malheur de n'être pas né chrétien. Für gewisse Augen scheint Spinozas Größe unwahrnehmbar, weil sie nicht von der Glut eines Scheiterhaufens beleuchtet wird. An wiederholten Bemühungen dazu hat er es, wie wir wissen, wahrlich nicht fehlen lassen, und der nächste Erfolg, den seine Bücher bei ihrem Erscheinen gehabt, zeigt hinlänglich, daß er von sich aus für die Anerkennung seiner Ansichten nicht mehr thun konnte. Aber was er gewirkt, wenn es auch zunächst sein alleiniger Erwerb bleiben sollte, war eine That, wie sie seinem Berufe als Denker entsprach. Denn welche wirksame Thatkraft kann der Denker geltend machen, als indem er sein Denken in eine für andere faßbare Form bringt?
Was seinerseits dazu nötig war, hat Spinoza redlich geleistet; daß er damit kein so baldiges Verständnis finden sollte, lag nicht an ihm. Die von ihm gebotene Belehrung war jedem erreichbar, der die dazu nötige Kraft besaß, denn Wahrheit – darin birgt seine Lehre einen unverwüstlichen Goldkern – ist nur der Selbstthätigkeit zugänglich und verleiht dem ihr ergebenen Gemüte den sittlichen Adel. Sie gründet sich ausschließlich auf das Recht des eigenen Vernunftgebrauchs. Dieses Recht des Selbstdenkens, diese Mündigkeit zur Wahrheit, die er gegen das gedankenlose Herkommen alt- und neutestamentlicher Weltanschauung mit einem nimmer wankenden Mute bewährte, hat in ihm einen seiner hervorragendsten Vertreter. Für immerdar gebührt ihm der Ruhm, die Giltigkeit der Religion auf die Ausübung von Gerechtigkeit und Nächstenliebe verwiesen und den Bann der Bibelgewalt durchbrochen zu haben. Und wenn auch im übrigen seine eigentliche philosophische Leistung durch spätere Forschungsergebnisse überholt ist, so bleibt er immerhin durch das Pathos seiner Überzeugung, durch sein andauerndes Bemühen um vorurteilsfreies Wissen ein Heros der Gedankenfreiheit.
Deshalb verehren wir in ihm einen der Führer unseres Geschlechts auf dem beschwerlichen Pfade der Erkenntnis, die nur da lebendig, wo sie auf Selbstdenken sich gründet, auf eigenem Urteil ruht, nicht auf hergebrachten Lehrmeinungen. Wie viele hatten vor ihm den eigenen Verstand zu brauchen gewagt, wo es sich um die mit kirchlichen Anschauungen verknüpften Dinge handelte? – Spinoza war, um mit einem hübschen Worte Ludwig Feuerbachs Feuerbach, Werke Bd. 5, S. 12 f. zu schließen, die personifizierte Selbständigkeit und Denkfreiheit, die Descartes für das wahrhafte Erkennen gefordert, aber nicht durchgängig festzuhalten vermocht hatte.
Endnoten als Fußnoten an der verweisenden Textstelle eingepflegt. Re. Für Gutenberg
Druck von Johannes Päßler.
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