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Im Hochsommer 1656 hatte Spinoza Amsterdam verlassen, für immer aus der Gemeinschaft scheidend, der er durch Abstammung und entsprechende Beziehungen angehört hatte. Die ihn aus ihrer Mitte gestoßen und vielleicht geglaubt ihm damit das schwerste Lebensloos bereitet zu haben, ahnten nicht, daß ihm dadurch vielmehr die Bahn zum Weltruhm eröffnet ward. Schwerlich wäre ihm dieser zugefallen, wenn er dem Drängen der Gemeindeglieder und den von Kindheit auf an ihn gestellten Forderungen nachgegeben hätte.
Ganz auf sich allein angewiesen, war er, noch keine vierundzwanzig Jahr alt, fest entschlossen, das unentwegte Ergründen der Wahrheit zu seinem Beruf zu machen. Von all den bedeutenden Persönlichkeiten, mit denen ihn die Ausübung desselben in unmittelbare oder geistige Verbindung bringen sollte, weilte sein Landsmann, der Physiker Christian Huygens, drei Jahre vor ihm geboren und schon eine Berühmtheit, um eben die Zeit wissenschaftlicher Zwecke halber in Paris, nachdem er kurz zuvor an der protestantischen Universität zu Angers den Doktorgrad beider Rechte erworben hatte. Der um einige Jahre ältere Arnold Geulincx, aus Antwerpen gebürtig, zählte einunddreißig, hatte jedoch schon fünf Jahre ein Katheder in Löwen innegehabt, wo er für die Philosophie Descartes' wirkte. Von dieser hatte der am Oratoire zu Paris Theologie studierende Nicolas Malebranche, eben achtzehn geworden, keine Ahnung, wiewohl er durch Weiterführung derselben die nächste Vorstufe in der Entwickelungsreihe bis Spinoza bilden und sein hierauf bezügliches Werk sogar drei Jahre vor dessen Hauptwerk veröffentlichen sollte. Indessen waren zwei weitere Denkergrößen, von denen späterhin der eine ihn persönlich aufgesucht, der andere die ersten Lebensnachrichten über ihn mitgeteilt hat, beide noch Schulknaben: der zehnjährige Leibniz an der Nicolaischule zu Leipzig, der neunjährige Pierre Bayle an der protestantischen Gemeindeschule seiner Geburtsstadt Carlat in der Auvergne. Die Landschaft selbst war noch verschont von den königlichen Bekehrungsmetzeleien, die ein frömmlerischer Glaubenseifer über sie verhängen sollte; deren künftiger Urheber, damals nahe an achtzehn, hielt die Zügel der Regierung noch nicht in Händen, hatte aber schon Zeichen seiner despotischen Herrscherlaune wahrnehmen lassen. Sein glorreicher Feldherr, der große Condé, der durch sein Interesse für den nachmals berühmt gewordenen Spinoza diesem nicht geringe Ungelegenheiten bereitet hat, hielt sich um die Zeit, schon ein Mann in der Mitte der dreißig, nach seiner Beteiligung an den Unruhen der Fronde als Flüchtling in Spanien auf, während Kurfürst Karl Ludwig von der Pfalz, an dessen Andenken die Nachwelt auch den Namen Spinozas knüpft, damals schon ein Vierziger, seit acht Jahren für die Wiederaufrichtung seiner im dreißigjährigen Kriege verwüsteten Lande mit Erfolg gewirkt hatte.
Bevor jedoch Spinoza durch seine reiferen Leistungen auf die Höhe der Bildung seines Zeitalters gehoben ward, hatte er bereits durch die Anfänge seiner philosophischen Thätigkeit, wie wir wissen, auch einen Kreis von Gesinnungsgenossen um sich gezogen, bei denen er nicht nur Übereinstimmung im Denken, sondern auch förderlichen Anteil an seinem Geschick finden sollte.
So sehr sein Gemüt zu stiller Einsamkeit neigte und volle Befriedigung in emsigen Studien und ruhsamer Denkarbeit fand, hat er echte Freundschaft zu wecken und zu erhalten und als reingeistiges, über Neid und Eifersucht, über Kleinlichkeit und Eigennutz erhabenes Lebensgut zu schätzen und zu genießen verstanden. Dieses nur sittlich lauteren und selbständigen Charakteren zugängliche Glück fiel ihm mit dem Streben nach Wahrheit zusammen. Unter allem was nicht in meiner Macht ist, schrieb er einmal, Brief an W. Blyenbergh. (Nr. 32 in Auerb. Übers. Bd. 2, S. 323). stelle ich nichts höher, als mit aufrichtigen Wahrheitsfreunden Freundschaft zu schließen, weil ich glaube, daß wir nichts in der Welt, so weit es außer dem Bereich unseres Könnens liegt, ruhiger lieben können, als solche Menschen; ihre auf Wahrheitserkenntnis begründete Liebe zu einander aufzulösen ist ebenso unmöglich, wie es unmöglich ist, die einmal erfaßte Wahrheit selbst nicht festzuhalten. In Spinozas Auffassung der Freundschaft trat somit das reinpersönliche Element vor dem Interesse des Erkennens zurück. Wie viel aber seine eigene Persönlichkeit an den ihm vergönnten freundschaftlichen Beziehungen beteiligt war, sagt uns einer seiner aufrichtigsten Verehrer, indem er erklärt: Oldenburgs erster Brief. gediegenes Wissen, verbunden mit Menschenfreundlichkeit und feiner Sitte, Vorzüge, mit denen allen Natur und eigenes Streben in vollstem Maße ihn ausgestattet, gaben ihm solchen Reiz, daß sie alle wohlgesinnten und wohlerzogenen Menschen nötigten ihn zu lieben.
Auf mannigfache Weise sollte die Anhänglichkeit seiner Freunde an Spinoza sich bethätigen. Durch ihre stete Vermittelung war ihm nämlich sein Lebensunterhalt gesichert, Colerus u. Lucas. wie er ihn durch Ausübung eines Handwerks selbst bestreiten konnte. Er hatte das Schleifen optischer Gläser erlernt und darin eine so große Geschicklichkeit erworben, daß seine Arbeit sehr geschätzt war und beständige Nachfrage fand. Der Umsatz wurde durch die Freunde besorgt, und da seine Lebensweise eine überaus mäßige war, reichte der Ertrag seiner Arbeit für seine bescheidenen Bedürfnisse völlig aus.
Wohl dieser Beziehungen halber mochte er, als ihm der Aufenthalt in Amsterdam verleidet ward, in Ouwerkerke, Nach v. d. Linde a. a. O., S. X, der diese Schreibweise des Ortsnamens hat. Graetz schreibt Oudekerk, Bd. X, S. 176. einer Ortschaft in dessen Nähe, sich niedergelassen haben. Hierbei könnte noch ein anderer Umstand mitbestimmend gewesen sein. In Ouwerkerke hatten die Arminianer seit der Verurteilung durch die Dortrechter Synode einen ihrer Hauptsitze gehabt und betrieben von hier aus ihre freireligiöse Thätigkeit, auch nachdem ihnen 1625 wiederum volle Duldung gewährt worden war. Mit Leuten dieser Glaubensgenossenschaft hat Spinoza in Verkehr gestanden; vielleicht ward ihm durch sie ein Obdach in jener Ortschaft erboten worden. Allem Anschein nach ist er hier bis etwa 1659 oder ins folgende Jahr hinein verblieben. Hier dürfte auch jener » Traktat« verfaßt worden sein, der uns nunmehr in den zwei holländischen Übertragungen vorliegt, nachdem er zweihundert Jahre verborgen gewesen.
Gleich den eingeschalteten Dialogen, ergeht sich auch diese Jugendarbeit Spinozas in einer entschiedenen Auseinandersetzung mit Descartes, dessen Lehre, im einzelnen vielfach wiederkehrend, in der Hauptsache eine Weiterführung erfährt. Es handelt sich, wie bereits erwähnt, um das richtige Verhältnis der Begriffe Gott und Natur. Für diese beanspruchte Descartes streng gesetzmäßige Ordnung und den Wegfall von Wundern und Zwecken, behielt aber dabei den Begriff der Gottheit als übernatürlichen Wesens bei, wodurch die von der kirchlichen Dogmatik behauptete göttliche Willkür unangetastet bestehen blieb. Gegen diesen Kompromiß mit der Theologie wendet sich der erste Teil des Traktats, wogegen der zweite, der den Menschen und dessen Glückseligkeit zum Gegenstande hat, sich mehr an die Auseinandersetzungen Descartes' über die menschlichen Leidenschaften anschließt, die nach ihrem Wert für und wider das Erringen wahrhafter Erkenntnis oder das Erkennen der Wahrheit als höchstes Gut abgeschätzt werden. Erkenntnis ist ausschließlich durch Vernunft, durch richtiges Schlußverfahren zu gewinnen, also durch ein über Vorurteile und Wahnvorstellungen erhabenes Denken. Die Ursachen, die uns hindern zur Vollkommenheit zu gelangen, liegen in uns selbst, in den uns knechtenden Leidenschaften und den rohen Wahngebilden einer ungezügelten Einbildung. Unter diesen letzteren wird namentlich der Begriff des Teufels, für dessen Beibehaltung die Theologie des XVII. Jahrhunderts bekanntlich eine spezielle Vorliebe hegte, einer besonderen Erörterung unterworfen und in seiner ganzen Nichtigkeit und Willkürlichkeit kurz aber treffend aufgewiesen.
Für den Bedarf des vertrauten Freundeskreises niedergeschrieben, in dessen Mitte die wichtigsten Fragen der Philosophie verhandelt wurden, schließt die Abhandlung mit der ausdrücklichen Anrede an die Freunde: Sigwarts Übersetzung d. neuentdeckten Traktats, S. 147. Vrgl. Anmerk. 18 zu Kap. 1 hier oben. Verwundert euch nicht über diese Neuheiten, denn es ist euch sehr wohl bewußt, wie eine Sache darum nicht aufhört wahr zu sein, weil sie nicht von vielen angenommen ist. Und weil euch auch die Beschaffenheit des Zeitalters, in dem wir leben, nicht unbekannt ist, so will ich euch innigst gebeten haben, ernstliche Sorgfalt hinsichtlich der Mitteilung dieser Dinge an andere zu beobachten. Ich will nicht sagen, daß ihr dieselben durchaus für euch allein behalten sollt, sondern nur, so ihr sie jemandem mitteilt, daß euch keine andere Absicht dabei leite, als allein das Heil eurer Mitmenschen, wobei ihr volle Gewißheit habt, um den Lohn eurer Mühe nicht betrogen zu werden.
Obwohl das Schriftchen offenbar eine noch ungewandte Feder und manche Unreife des Denkens verrät, zeigt es doch bei der Selbständigkeit gegenüber Descartes zugleich, wie früh Spinoza mit einer in jenem Zeitalter nicht hoch genug anzuschlagenden Unbefangenheit den damals noch allgemein herrschenden religiösen Vorstellungen gegenübertrat, vor denen sein großer und von ihm aufrichtig verehrter Vorgänger in ängstlicher Ehrfurcht sich verneigt hatte.
An diesem durch das Jugendwerk vollauf bezeugten Umstand erweist sich auch hinlänglich, wie ungegründet ein von der Stammesgenossenschaft befürchteter Übertritt Spinozas zum Christentume war. Mit seiner Lossagung von der älteren Religionsform hatte er auch die Befangenheit der aus ihr hervorgegangenen späteren durchschaut, denn schon für ihn war die christliche Dogmatik nichts als ein dem fruchtlosen Warten auf den Messias enthobenes Judentum, das seinen reiferen Anforderungen an ein vernünftiges Denken nicht genügte.
Hierüber mochte er sich bereits bei seinem Austritt aus der mosaischen Gemeinde klar gewesen sein, wie er es, allerdings in einer späteren Schrift, mit unverkennbarer Deutlichkeit ausgesprochen. Zur Glückseligkeit, heißt es da, Tract. theolog. polit. Kap. 5 (Auerb. Übers. Bd. 1, S. 216). tragen die Ceremonien garnichts bei: die des alten Testaments zielen auf das ehemalige Reich der Hebräer und mithin nur auf leibliche Vorteile, und was die christlichen Ceremonien betrifft, nämlich Taufe, Abendmahl, gewisse Feste und Gebete, so sind sie, wenn sie jemals von Christus oder den Aposteln eingesetzt worden – was jedoch keineswegs feststeht – nur äußerliche Zeichen der allgemeinen Kirche, belanglos für wahre Glückseligkeit und ohne etwas an sich Heiliges zu enthalten. Wenn auch nicht, wie die mosaischen, mit Rücksicht auf einen besonderen Staat, sind sie doch nur in Rücksicht auf die gläubige Gesamtheit eingesetzt; deshalb ist derjenige, der allein lebt, durchaus nicht an sie gebunden.
Etwa um 1660 dürfte Spinoza von Ouwerkerke nach Rhynsburg, einem Dorfe bei Leyden, übergesiedelt sein. Rhynsburg soll heute noch sein damaliges Gepräge tragen. Mit Kanälen durchzogen und zahlreichen kleinen Brücken versehen, zeigt es eine erstaunlich üppige Fruchtbarkeit, die der Boden durch den ausgebaggerten Kanalschlamm für seine ausgedehnte Zwiebelzucht gewinnt. Ein nunmehr nach Spinoza benanntes Gäßchen enthält das wohlerhaltene Haus, das er vier Jahre hindurch bewohnt hat. Wie alle Häuser dort einstöckig und aus bewurflosen Ziegeln, stößt es an wohlgepflegte Nutzgärten, über die hinweg der Blick auf die Dünen von Katwyk sich ausdehnt. Echt holländisch ist auch das Innere des Hauses, von einer musterhaften Sauberkeit und Wohlordnung, die Stube besonders anmutend durch die Bodenbelegung mit roten, schwarzen und gelben Fliesen. Nach Auerbachs Briefwechsel, Bd. 2, S. 365. Hierher soll Spinoza durch seine Verbindungen zu Mitgliedern der nach dem Ort benannten freisinnigen Gemeinde der Rhynsburger gekommen sein, einer Fraktion der Arminianer, die sich durch strengsittlichen Lebenswandel auszeichnete, keinen besonderen Lehrstand duldete und ihre Andachtsübungen nicht in gewöhnlicher gottesdienstlicher Form, sondern in freien Vorträgen über die Schrift abzuhalten pflegte. Die Sekte soll bis gegen Ende des vorigen Jahrhunderts noch bestanden haben. In einem ihr einst gehörenden Waisenhause wurden die seitdem durch van Vloten veröffentlichten Briefe und Handschriften entdeckt.
Ob auch die Nähe der Universität Leyden, als eine der Hauptstätten für die Pflege der Philosophie Descartes', bei der Wahl von Rhynsburg mitgewirkt, läßt sich schwer ermitteln. Von irgend welchen Beziehungen Spinozas zu akademischen Vertretern dieser Lehre ist nichts bekannt und deren Vorhandensein um so zweifelhafter als er, seinerseits ihr völlig unabhängig gegenüber stehend, im Begriffe war derselben eine eigene Weiterführung zu geben.
Nach dem ersten Anlauf dazu in dem mehrerwähnten Jugendwerke scheint Spinoza an eine grundlegende Schrift gedacht zu haben, um sich das Interesse eines weiteren Leserkreises zu sichern. Als eine solche Arbeit haben wir das nach seinem Tode veröffentlichte Fragment » Über die Berichtigung des Verstandes« anzusehen. Es ist keine Theorie der Erkenntnis, wie etwa der Titel vermuten ließe, sondern etwas wie eine »Anweisung zum seligen Leben«, um es mit einer uns geläufigen Bezeichnung der dem Anfang unseres Jahrhunderts angehörenden Schrift von Johann Gottlieb Fichte zu verdeutlichen. Auch jenes Fragment will den Verstand von dem Trachten nach irdischen und vergänglichen Dingen, dem Ruhm, dem Reichtum und den sinnlichen Freuden hinweg dem Ewigen und Unendlichen zuwenden, welches allein Ruhe und Glückseligkeit gewährt. Worin diese besteht und wodurch sie zu gewinnen ist, hat Spinoza in der Ethik ausführlich entwickelt. Zu dieser sollte wohl jene Abhandlung eine Propädeutik bilden, um gleichsam an dem Beispiel des Autors die Methode einer richtigen Anwendung des Verstandes für eine über alle Eitelkeit und alle Enttäuschung erhobene Existenz zu veranschaulichen. Ähnlich wie in Descartes' epochemachender » Erörterung über die Methode« Discours de la méthode, von Descartes selbst französisch verfaßt und 1637 herausgegeben, später auch lateinisch. ist auch hier die Bekenntnisform angewandt. Leicht möglich, daß gerade diese Wiederkehr zu einem Verfahren Descartes' die Arbeit ihrem Urheber allgemach verleidete, da jene Beschäftigung mit sich selbst, wie mit persönlichen Dingen überhaupt, ihm entschieden widerstrebte. Statt einer Darlegung des Weges, der ihn zu der seines Erachtens wahrhaften Erkenntnis geführt, mochte es ihm wichtiger geschienen haben, den Ertrag dessen, was ihm für richtig galt, zunächst gehörig festzustellen. Laut Angabe der Herausgeber seines Nachlasses ein Jugendwerk, dessen weitere Ausführung oft geplant, aber stets verschoben ward.
Und damit war er noch weit von einer ihn befriedigenden Fassung, wiewohl der Hauptinhalt in der den Freunden übergebenen Schrift vorläufig niedergelegt war. Dieser selbst finden sich nunmehr zwei kürzere Abschnitte angehängt, sicherlich späteren Ursprungs als der Traktat selbst. Mit ihnen dürfte es eine eigene Bewandtnis haben.
In der Form erweisen sich jene beiden Abschnitte als der erste Versuch, die sogenannte geometrische Methode, welche bekanntlich die Ethik Spinozas kennzeichnet, auf die Darstellung der Philosophie anzuwenden. Einen Teil der hier im Anhang entwickelten Axiome und Lehrsätze hat man mit Recht in den Briefen wiedererkannt, Vrgl. Chr. Sigwart: Über Spinozas neuentdeckten Traktat etc. Gotha 1866, S. 136 f. die den langjährigen Schriftverkehr Spinozas mit dem vorhin gedachten Verehrer, dem schon zu Cromwells Zeiten als diplomatischer Vertreter des sogenannten niedersächsischen Kreises des damaligen deutschen Reiches in London ansässigen Heinrich Oldenburg, Über diesen langjährigen Freund Spinozas, der fast mit allen Notabilitäten unter den Gelehrten seiner Zeit in regem Briefwechsel gestanden, waren die Lebensnachrichten bisher nur spärlich und unzuverlässig. Den ausdauernden Bemühungen Frdr. Althaus' ist es gelungen, vielfache Aufklärungen darin zu bringen. Wir verweisen auf seine hierauf bezügl. Artikel im Sommer 1888 u. 89 in der wissenschf. Beilage zur »Allgem. Zeitung«. Nunmehr ist ermittelt, daß Oldenburg etwa 17 Jahre älter als Spinoza gewesen, ihn aber nur um einige Monate überlebt hat. Er starb im Sept. 1677, mutmaßlich zu Charlton bei Greenwich. Über ihr beiderseitiges Verhältnis hat Althaus leider nichts mehr in Erfahrung gebracht, als was seit den Veröffentlichungen van Vlotens bereits bekannt geworden. eröffnen. Dieser hatte, vielleicht auf Grund einer vorhergegangenen Begegnung in Amsterdam, den jungen Denker im Frühling oder Sommer 1661 eigens in Rhynsburg aufgesucht, wo sie eine Unterredung über die Grundfragen der Philosophie Descartes' gepflogen haben. Seine eigene Auffassung derselben gab Spinoza brieflich in der »geometrischen« Form, und was an Oldenburg in Bruchstücken gelangte, mag wohl ausführlicher den Freunden in Amsterdam mitgeteilt und sodann von ihnen dem Traktat angehängt worden sein. Vrgl. Anmerk. 17 zu Kap. 1.
Gerade um die Zeit war Spinoza aufs neue in das Studium Descartes' versenkt, um die eigenen Anschauungen fester und bestimmter auszuarbeiten, und zwar im Hinblick auf die von ihm bevorzugte Methode, deren Ergebnisse er den Freunden von Zeit zu Zeit zukommen ließ. Denn schon während seines Aufenthaltes in Rhynsburg gelangten sie in den Besitz einer in geometrischer Form gehaltenen Darstellung der ihnen durch den Traktat dem Hauptinhalte nach bekannten Gedanken.
Daraufhin heißt es in einem über die Beschäftigung mit einer solchen Handschrift berichtenden Briefe von Simon van Vries: Schon längst habe ich einmal bei Ihnen zu sein gewünscht, aber die Zeitumstände und der harte Winter haben es vereitelt. Mitunter klage ich über mein Schicksal, daß uns eine so weite Strecke von einander trennt. Glücklich, ja höchst glücklich Ihr Hausgenosse, der mit Ihnen unter demselben Dache weilend, beim Frühstück, Mittagsmahl und beim Spaziergang die wichtigsten Dinge mit Ihnen besprechen kann. Sim. v. Vries' erster Brief. (Nr. 26 in Auerb. Übers. Bd. 2, S. 304). Spinoza antwortete ihm hierauf: Für Ihren längst ersehnten Brief wie für Ihre Liebe gegen mich meinen besten Dank. Nicht weniger als Ihnen ist mir die Trennung peinlich, doch freut es mich, daß meine kleinen Arbeiten Ihnen und den Freunden von Nutzen sind: so rede ich abwesend in Ihrer Abwesenheit mit Ihnen. Meinen Hausgenossen zu beneiden ist kein Grund, denn niemand ist mir unleidlicher und niemand, vor dem ich mich mehr in Acht nehmen müßte; daher ich Sie und alle Bekannte ersucht haben will, ihm meine Ansichten nicht eher mitzuteilen, als er zu einem reiferen Alter gekommen. Noch ist er zu kindisch und unbeständig und mehr Liebhaber des Neuen als des Wahren. Diese kindischen Fehler wird er hoffentlich nach einigen Jahren ablegen; soweit ich aus seinem Naturell schließen kann, halte ich es fast für sicher, daher fordern seine Anlagen mich wieder auf, ihn lieb zu haben. Auerb. Übers. Bd. 2, S. 307.
Es wird angenommen, daß dieser Hausgenosse Albert Burgh geheißen habe, Sohn einer begüterten Kaufmannsfamilie in Amsterdam war und von dort zu Spinoza nach Rhynsburg gezogen, um unter dessen Leitung zu studieren. Mit ihm hatte Spinoza den zweiten Teil der » Principia philiosophiae« Descartes' durchgenommen und zwar dieselben ihm in geometrischer Form diktierend. Mit Ausnahme einer Kap. 4 zu berührenden Thatsache ist sonst nichts näheres über diesen Schüler Spinozas bisher ermittelt. Auerbach irrt offenbar, Biogr. Spin. Bd. 1 d. Übersetz. S. XXXVI, wenn er annimmt, die Darstellung der Princ. philos. sei für Simon van Vries verfaßt worden. Im Frühling 1663 auf Besuch bei den Freunden in Amsterdam weilend, ließ sich Spinoza von ihnen überreden, dieser Darstellung des zweiten Teils eine gleichartige des ersten beizufügen. Um dem Wunsche meiner Freunde nicht entgegen zu sein, so schrieb hierauf Spinoza an Oldenburg, Brief 9 bei Auerb. Bd. 2 d. Übers. S. 267 widerlegt dessen vorhin erwähnte Annahme. machte ich mich sofort an diese Ausarbeitung, die ich in zwei Wochen fertig brachte und ihnen zur Veröffentlichung übergab, mit der Bedingung, daß einer von ihnen den Stil ein wenig nachfeile und eine kleine Vorrede schreibe, um die Leser wissen zu lassen, daß keineswegs alles in der Schrift enthaltene meinen eigenen Ansichten entspreche, die mehrfach von dem dort behaupteten abweichen.
Noch im nämlichen Jahre erschien diese Schrift unter dem Titel: Renati Des Cartes Principia Philosophiae more geometrico demonstrata per Benedictum de Spinoza, Amstelodamensem. Eine kurze Einleitung orientiert vortrefflich über die Denkweise Descartes', dessen Lehre alsdann in der angegebenen Weise entwickelt wird. Sie gilt, auch bei Gegnern Spinozas, Bouillier, Hist. philos. Cartés. Vol. 1, S. 307. Beiläufig sei hier bemerkt, daß Bouillier hinsichtlich Spinozas eigener Lehre kein unbefangener Beurteiler ist. für die beste und gründlichste Darstellung der Philosophie Descartes', dessen eigene beiläufig gegebene Anwendung des geometrischen Verfahrens Die Verwendung dieser Partien Descartes' bei Spinoza wird im Vorwort des Herausgebers ausdrücklich hervorgehoben. beinahe wörtlich in Spinozas Schrift aufgenommen ward. Ein besonderer Anhang, »metaphysische Gedanken enthaltend« – wie es auf dem Titelblatt heißt – sollte vorläufig die wichtigsten Ansichten des Autors über alle Probleme kundgeben, in denen er nicht mit Descartes übereinstimmte. Diese Auseinandersetzungen sind nicht in geometrischer Form gehalten, sondern ergehen sich in zwei Abschnitten, von denen der eine, sechs längere Kapitel umfassend, die allgemeinen Grundbegriffe der Metaphysik über wirkliches Sein und bloße Einbildung, über Wesenheit, Dasein und Möglichkeit, über das Notwendige und Zufällige, über Ewigkeit, Dauer und Zeit, über Ordnung und Einheit, sowie über das Wahre und Gute erörtert; der zweite Abschnitt, aus zwölf Kapiteln bestehend, gehört dem Gottesbegriffe an, der mit Bezug auf Ewigkeit, Unendlichkeit und andere damit zusammenhängende Fragen in Betracht gezogen wird.
Wie diese Schrift die erste der von Spinoza veröffentlichten, war sie auch die einzige, wo er sich als Verfasser genannt,und zwar mit dem fortan für ihn allgemein bräuchlich gebliebenen Benedictus, einer wörtlichen Wiedergabe des ihm von seinen Eltern gegebenen Namens Baruch, der Gesegnete. Die Schrift verschaffte ihm, nach Vollendung seines dreißigsten Jahres, alsbald auch einen Namen in der gelehrten Welt und einen Schwarm von Bewunderern und neugierigen Bekanntschaften, die ihm, wie er häufig genug klagte, Lucas giebt als Grund der Vorliebe für ländliche Zurückgezogenheit die Sicherheit vor Übermaß unnötiger Besuche an. viel Zeit raubten und seine Geduld namentlich für eine ziemlich weitläufige Korrespondenz auf keine geringe Probe stellten.
Immerhin war es ein Zeichen des regen Interesses für philosophische Gegenstände, und der Erfolg, der ihm nun zu teil geworden, hätte ihm eine nicht minder lebhafte Empfänglichkeit für seine eigenen Ansichten verbürgen müssen. Eine solche Erwartung hegte Spinoza selbst. Als er nämlich das Erscheinen jener Schrift über Descartes an Oldenburg meldete, Der oben Anmerk. 17 angegebene Brief. erklärte er: ich lasse sie veröffentlichen, weil bei dieser Gelegenheit sich vielleicht einige hochstehende Männer meines Vaterlandes finden, die das übrige, was ich geschrieben habe und als das meinige erkenne, zu sehen wünschen und also dafür sorgen werden, daß ich es ohne alle Gefahr einer Unannehmlichkeit veröffentlichen könne. Sollte dies wirklich zutreffen, so soll alsbald einiges erscheinen; wo nicht, so werde ich lieber schweigen, als meine Ansichten den Menschen gegen den Willen des Vaterlandes aufdringen und sie mir zu Feinden machen.
Einstweilen war er bemüht, auch bei seinen noch unedierten Untersuchungen die »geometrische« Methode durchzuführen, die sich bei jener ersten Druckschrift als überaus brauchbar bewährt hatte. In der hierzu verfaßten Vorrede hatte Ludwig Meyer die Methode der Mathematik als den besten und sichersten Weg bezeichnet, die Wahrheit sowohl zu erforschen als zu lehren, wiewohl diese Methode, die mathematischen Wissenschaften ausgenommen, bei keiner andern Wissenschaft bisher zur Anwendung gekommen, als wäre sie bei diesen unzulässig, während doch, wie schon das Beispiel des großen Descartes zeige, der selbst in der Mathematik vieles ans Licht zog, was den Alten verborgen gewesen, gerade auf diesem Wege die unerschütterlichen Grundlagen der Philosophie gefunden worden, auf denen man die meisten Wahrheiten mit mathematischer Ordnung und Gewißheit aufbauen könne. Nichts in der That konnte zeitgemäßer sein als die Berufung Meyers auf die Mathematik, als der vorzugsweise damals gepflegten und gewürdigten und auch am weitesten entwickelten Wissenschaft. Was mit mathematischer Evidenz sich geltend machen konnte, war mit der Vorstellung unabwendbarer Notwendigkeit verknüpft. Die gleiche Notwendigkeit wie in der Mathematik herrschte auch, wie man meinte, in der auf ihren Wahrheiten begründeten Naturerkenntnis, und so müsse, wie die Gewißheit der Mathematik aus der Notwendigkeit ihrer Folgerungen, auch die Gewißheit der Philosophie, welche die Welt in ihrer Gesamtheit zu fassen habe, bei der mathematischen Darstellung ihrer Einsichten von selbst einleuchten. Was also mit mathematischer Notwendigkeit sich ergab, mußte auch als unanfechtbare Wahrheit erkannt werden, und eben das wollte Spinoza an seiner Lehre darthun.
Hierin bestand unzweifelhaft seine vornehmste Beschäftigung während des Aufenthaltes in Rhynsburg. Außer den Schwierigkeiten seiner Aufgabe hatte er aber auch die Ungelegenheiten seiner schwächlichen Gesundheit zu bekämpfen. Rücksichten dieser Art mögen es gewesen sein, die einen Wechsel des Wohnortes ratsam erscheinen ließen. Nachdem er vier Jahre in jenem Dorfe bei Leyden zugebracht, zwischendurch kleinere Besuchsreisen nach Amsterdam unternehmend, finden wir ihn im Sommer 1664 in Voorburg, einer Ortschaft beim Haag, wo er bessere Luft und dabei die nötige Ruhe und Unabhängigkeit zu finden hoffte. Auch diese Mitteilung nach Lucas.
Mutmaßlich bot Voorburg schon damals den Anblick, der heute seine Besucher anmutet. Der Weg dorthin vom Haag aus führt an vornehmen Landhäusern mit prächtigen Gärten in dem nachmals als französisch bezeichneten Geschmack vorbei, der den Großmachtszeiten der freien Niederlande angehört. Voorburg selbst hat eben so prächtigen Baumwuchs und zeichnet sich durch Sauberkeit und schlichte Schönheit aus. An Spinoza selbst, der hier sechs Jahre zugebracht, giebt es nunmehr keine andere Erinnerung als die Straße, in der er gewohnt haben soll. Vrgl. Auerbach, Briefwechsel Bd. 2, S. 366, Scheveningen 6. Sptb. 1878.
Seinem nunmehrigen Aufenthaltsorte verdankt Spinoza auch die persönliche Bekanntschaft mit Christian Huygens. Dieser war etwa um die Zeit, als jener in Voorburg sich niederließ, von seinen längeren Studienreisen – zuletzt aus London – heimgekehrt, wo er Mitglied der kurz zuvor gegründeten Societät der Wissenschaften und dadurch auch mit Spinozas Freunde Oldenburg bekannt geworden, der ihr erster Sekretär war und als solcher eine Reihe von Jahren Herausgeber ihrer » Acta«. Huygens wird damals im Haag, bei seinem noch in Staatsdiensten unter den Oraniern thätigen Vater, der auch ein prächtiges Landhaus in der Nähe von Voorburg besaß, Das in eben dem Brief (Anm. 23) gemeinte Landhaus war unzweifelhaft die Besitzung von Chr. Huygens' Vater, nicht die des Mathematikers, wie Auerb. hier vermutet. Der ehemalige Staatsmann hat Spinoza um 10 Jahre überlebt, sein Sohn, seit 1666 in Paris wohnhaft, hat seine Heimat 1670 u. 1675 zeitweilig besucht und siedelte erst 1681 wieder ganz dorthin über, durch die Vorwehen der Aufhebung des Ediktes von Nantes dazu veranlaßt. geweilt haben. Zunächst waren es physikalische und namentlich optische Interessen, welche Spinoza mit dem weltberühmten Naturforscher zusammengeführt, zumal dieser selbst, bei sonstigen mechanischen Fertigkeiten, auch ein großes Geschick im Schleifen optischer Gläser besaß, die er für eigenen Bedarf und zum Verschenken an verschiedene wissenschaftliche Anstalten seiner Zeit fertigte. Außer Fragen auf dem Gebiete der exakten Forschung dürfte wohl auch Philosophisches im Verkehr zwischen dem jungen Huygens und Spinoza erörtert worden sein, da Huygens in der Lehre Descartes' wohl bewandert war. Es läßt sich dies wenigstens aus den in Spinozas Briefwechsel aufgenommenen Zuschriften aus dem Jahre 1666 erschließen, von denen angenommen wird, daß sie an Huygens gerichtet gewesen, nachdem dieser, von Colbert an die von ihm eben gegründete Akademie der Wissenschaften berufen, seinen dauernden Aufenthalt in Paris genommen hatte, wodurch der persönliche Verkehr mit Spinoza wieder gelöst wurde.
Wie diesen neuen Freund durch Trennung, verlor Spinoza etwa um die gleiche Zeit einen langjährigen und vertrauteren durch den Tod. Es war der mehrfach erwähnte Simon van Vries. Freilich sind uns keine genauen Angaben über sein Ableben erhalten. Man weiß nur, daß er durch eine heftige Krankheit etliche Jahre vor Spinoza dahingerafft wurde, nachdem er ihn, wie es heißt, zu seinem Universalerben habe einsetzen wollen. Diesem sowohl wie einem früher angetragenen Geschenk von einigen tausend Gulden, die van Vries ihm zuzuwenden gedachte, Bericht des Colerus. widersetzte sich Spinoza aufs Entschiedenste, da der Freund, wiewohl selber alleinstehend, seinen nächsten Erben an einem in Schiedam wohnenden Bruder hatte. Wohl auf Betrieb dieses Letzteren, bei dem Spinoza, wie aus seinen eigenen Briefen ersichtlich, auch eine zeitlang in Schiedam sich aufgehalten, Spinozas erster Brief an Wm. v. Blyenbergh, Nr. 32 d. Auerb. Übers. Bd. 2, S. 322 f. muß es doch zu einer ihm regelmäßig ausgezahlten Jahresrente gekommen sein; testamentarisch war sie auf fünfhundert Gulden festgesetzt, wurde aber von dem uneigennützigen und in seinen Ansprüchen überaus bescheidenen Spinoza auf dreihundert eingeschränkt. Auf die hierüber gepflogenen Unterhandlungen dürften wohl die »Sorgen« zu beziehen sein, deren Spinoza brieflich gegen einen nicht näher bekannten Amsterdamer Freund um 1666 gedenkt; Brief vom 10. Juni 1666 aus Voorburg, Nr. 42 b. Auerb. Bd. 2, S. 372. und solchenfalls wäre der Tod seines edelmütigen Freundes van Vries in das eben genannte Jahr zu setzen.
Mittlerweile wird die Ausarbeitung der eigenen Lehre so gut wie zum Abschluß gelangt sein, denn um jene Zeit wurde der größere Teil der Handschrift an die Freunde in Amsterdam übermittelt. Spinoza verhandelte mit ihnen auch wegen einer etwaigen Übersetzung, F28: Einer von den neuentdeckten Briefen, Empfänger unbekannt. Auerb. Übers. Bd. 2, S. 375. mutmaßlich in die Landessprache.
Zudem hatte Oldenburg von 1663 an unablässig ermahnt, die Veröffentlichung dessen, worüber der Freund nachgedacht, der gelehrten Welt nicht vorzuenthalten, da seiner Überzeugung nach wahrhaft gelehrten und scharfsinnigen Männern nichts angenehmer und willkommener sein würde. Das müsse ein Mann von Spinozas Geist und Charakter mehr berücksichtigen, als was der große Haufe der Philosophen und Theologen dagegen schreien oder ihm zur Last legen würde. Bei allen Rechten zur Erweiterung und Verbreitung der Wahrheit beschwor er ihn, alle Furcht vor dem reizbaren Pygmäengeschlecht der Mitzeit zu bannen: lange genug habe man der Unwissenheit und Thorheit Opfer gebracht, fortan müsse man die wahre Wissenschaft die Segel schwellen lassen und den Geheimnissen der Natur tiefer als bisher geschehen nachforschen. All derlei könne doch, meinte der Freund, in der Heimat Spinozas ohne Gefahr gedruckt werden, ohne ein Hindernis bei den Vernünftigen besorgen zu müssen. Wenn Sie also, heißt es zuletzt wörtlich, diese zu Gönnern und Beschützern bekommen, wofür ich durchaus bürgen möchte, brauchen Sie den Spott des unwissenden Haufens nicht zu fürchten. Herrscht doch die größte Freiheit in Ihrem Staate; vollkommen frei muß denn auch in ihm philosophiert werden. Indes wird Ihre eigene Besonnenheit dafür sorgen, Ihre Ansichten und Meinungen in maßvollstem Tone darzustellen und im übrigen dem Schicksale zu vertrauen. Nach Oldenburgs Briefen 7, 8, 10 u. 11.
Gleichwohl kam es noch zu keiner Veröffentlichung, obschon der immer dringender mahnende Freund schließlich riet, es ohne Nennung des Namens zu thun und sich so außer den Bereich der Gefahr zu stellen. Da mit einem Male erfahren wir durch ihn, daß Spinoza inzwischen eine ganz andere Arbeit unter der Feder habe.
Ich sehe, schreibt Oldenburg Ende 1665, daß Sie nicht sowohl Philosophie als sozusagen Theologie treiben, indem Sie Ihre Gedanken über Engel, Prophetentum und Wunder entwickeln, aber Sie thun dies wohl auf philosophische Weise? Wie es auch immer sei, ich bin sicher, daß es ein Ihrer würdiges, mir besonders erwünschtes Werk sein werde. Hierauf heißt es in einem andern Schreiben, antwortlich eines von Spinoza, das uns leider nicht erhalten worden: Die Gründe, die Sie als Veranlassung zur Niederschrift einer Abhandlung über die Bibel angeben, billige ich durchaus und wünsche sehnlichst, daß ich schon lesen könnte, was Sie in Bezug auf jenen Gegenstand bereits niedergeschrieben haben. Oldenburgs Briefe 13a u. 14.
Was mag nun wohl jene von Oldenburg erwähnte Veranlassung gewesen sein, die zum Zurückstellen der von ihm längst erwarteten philosophischen Schrift und dagegen zu einer Untersuchung über biblische Fragen geführt? In Ermangelung der hierüber endgiltig entscheidenden Aufklärungen Spinozas sei uns eine annehmbare Mutmaßung gestattet.
Zur Zeit als Spinoza noch in Rhynsburg lebte, hatte sich eine Begebenheit zugetragen, die damals nicht wenig Aufsehen erregte und zweifellos auch ihm zu Ohren gekommen war. Nach zwölfjähriger Kathederthätigkeit an der mit den belgischen Landschaften noch bei Spanien verbliebenen katholischen Universität Löwen, war Arnold Geulincx ganz plötzlich aus seinem Amte vertrieben worden. Die Ursache ist unschwer gefunden: nach dem Ableben Descartes' war von den Jesuiten aus gegen seine Lehre agitiert worden, der päpstliche Nuntius in Brüssel hatte sie in Rom denunciert und allgemach auch die Aufnahme seiner Schriften in den Index ausgewirkt. Bouillier a. a. O. Bd. 1. S. 454. Auffallend genug ist diesem Autor der Zusammenhang dieser Thatsache mit dem nichtswürdigen Vorgehen gegen Geulincx im Löwen entgangen. Arm und entblößt war Geulincx in Leyden erschienen, wo er unfehlbar verhungert wäre oder auf den Bettel angewiesen gewesen, wenn ihn nicht der warmherzige Beistand eines Mitverehrers der Philosophie Descartes' davor bewahrt hätte. Es war dies der edelmütige Abraham van der Heiden, in der Gelehrtenwelt bekannter unter seinem nach damaligen Brauch latinisierten Namen Heidanus, Dieser treffliche Mann, der stets für das Recht freier Meinungsäußerung gewirkt, stammte aus der Rheinpfalz, woselbst er am 10. August 1597 in Frankenthal geboren war. Als Kind kam er nach Amsterdam, wo sein Vater eine Anstellung an einer dortigen evangelischen Gemeinde erhalten hatte. Er studierte Theologie zu Leyden, besuchte dann einige auswärtige Hochschulen und wurde 1620 Prediger in Nassau. Um 1627 wurde er nach Leyden als Prediger berufen, war von 1648 bis 1676 auch Universitätsprofessor, mußte dies Amt jedoch niederlegen und starb zwei Jahre darauf, bis zu seinem Tode als hochangesehener und beliebter Seelsorger wirkend. Vrgl. Allgem. deutsche Biographie, hrsgb. v. d. Bayer. Akad. d. Wissenschf. seit 1648 Professor der Theologie und Philosophie in Leyden. Als eifriger Anhänger Descartes' für dessen Lehre unverdrossen wirkend, mochte er wohl von früher her mit dem Kollegen zu Löwen in Beziehung gestanden haben. Bei ihm hatte Geulincx zunächst Obdach und liebevolle Pflege gefunden, und lediglich seiner Verwendung hatte er es zu danken, daß er allgemach auch ein Auskommen für die noch übrigen sechs Jahre seines Lebens finden konnte. Nachdem er zur reformierten Kirche übergetreten, ward er zum Erteilen von Unterricht in einem akademischen Hörsaal zugelassen, jedoch nicht als öffentlich angestellter Universitätslehrer. Bouillier a. a. O., S. 252 f. 285 f.
Daß ihm nicht mehr als dies gewährt wurde, hing aber mit der Reaktion gegen die Philosophie Descartes' zusammen, die seit dessen Tode auch an den niederländischen Universitäten sich kundgab. Pfäffische Hetzereien und Verdächtigungen hatten es nämlich dahin gebracht, daß auf der Synode zu Dortrecht 1656 eine strenge Scheidung der Philosophie von der Theologie dekretiert und den Theologen jede Berufung auf Descartes, gleichviel ob in Schriften oder im Lehrstuhl, untersagt wurde. Die Maßregel war aber nur halb, da einstweilen die aufgeklärten Theologen thatsächlich der Lehre Descartes' anhingen und eine Bezugnahme darauf um so weniger zu vermeiden war, als viele angestellte Professoren der Theologie die Philosophie als Nebenfach berufsmäßig ausübten. Gegen diese waren beständige Kabalen im Gange, während Geulincx in Leyden weilte, und auf seinen dortigen Beschützer hatte man es ganz besonders abgesehen. Es handelte sich um nichts Geringeres als einen Antrag bei den städtischen und akademischen Behörden, daß sämtlichen Professoren die Darstellung der Metaphysik Descartes', sei es öffentlich oder privatim, rundweg verboten und jegliche Übertretung durch sofortige Amtsentsetzung gebüßt würde. Von diesem Geschick ward Heidanus schließlich auch betroffen, als die beharrlich vorgeschlagene Verordnung wirklich zur Annahme gelangen sollte und er gegen eine solche Vergewaltigung der Wissenschaft freimütig zu protestieren gewagt hatte. Bouillier a. a. O., S. 268, 252. Die Katastrophe mit Heidanus erfolgte allerdings erst einige Jahre nach Veröffentlichung von Spinozas hier gedachtem Werk. Sie war aber sicherlich vorauszusehen für jeden, der einen Einblick in die Wühlereien der ultrakirchlichen Partei hatte. An der Spitze dieser Bewegung stand, um es nicht unerwähnt zu lassen, der nämliche Gisbert Voëtius zu Utrecht, der schon an der Dortrechter Synode 1619 sich als Führer der Kontraremonstranten hervorgethan und seitdem, immer nur auf die Vorherrschaft des Glaubens bedacht, auch die Intriguen gegen Descartes geleitet hatte. Er war in Nordbrabant 1589 geboren, seit 1634 Professor der oriental. Sprachen und Theologie in Utrecht und starb erst 1676. Spinoza erwähnt seiner Umtriebe gegen Descartes in dem Briefe an Isaak Orobio, Auerb. Übers. Bd. 2, S. 399.
Lag nicht hierin eine gleichsam mit Händen zu greifende Aufforderung, der im Banne kirchlicher Vorstellungen befangenen Zeitgenossenschaft den Unterschied zwischen Theologie und Philosophie, zwischen den Interessen des Glaubens und der Wissenschaft klar zu machen und ihr zu zeigen, daß es zwei durchaus getrennte Gebiete seien und worin das Wesen und die Bedeutung eines jeden von ihnen bestehe?
Das war die Aufgabe, zu deren Lösung Spinoza, der wie Geulincx und dessen Wohlthäter die Gefahren theologischer Anmaßung und Herrschsucht für die freie Denkentfaltung aus eigener Erfahrung kennen gelernt, sich berufen fühlte. Nachdrücklicher und anschaulicher als es durch die anfänglich seinerseits geplante Anleitung »zur Berichtigung des Verstandes« thunlich gewesen wäre, sollte der von ihm erfaßten Wahrheit der Weg gebahnt werden durch eine dem gebildeten Bewußtsein seiner Zeit unmittelbar einleuchtende und dem eigenen Urteil jedes Besonnenen zugängliche Untersuchung über Dinge, vor denen die Wissenschaft bisher scheu ausgewichen war. Hier konnte er seine mühsam erworbenen theologischen Kenntnisse und das Ergebnis seiner stillen Auseinandersetzungen mit ihnen verwerten. Allem Kirchentum als solchem unabhängig gegenüber stehend, war er wie keiner dazu berufen, die Ansprüche des Glaubens vor den Richterstuhl der Vernunft zu fordern. Was ihm unbefangenes Denken und gewissenhafte Prüfung eingegeben, legte er in derjenigen Schrift nieder, die ihm einen dauernden und unbestrittenen Ehrenplatz als Bahnbrecher der neueren Bibelforschung sichern sollte.
Zu dieser wichtigen Arbeit hatte er alle die in Voorburg verlebten Jahre verwandt, und wohl deshalb mußte die von den Freunden dringend gewünschte Veröffentlichung der in geometrischer Form dargestellten eigenen Lehre zurücktreten. Als jene bedeutungsvolle Leistung zum Abschluß gelangt war, siedelte Spinoza, vielleicht um ärztlicher Hilfe für sein Befinden näher zu sein, aus dem ländlichen Voorburg nach dem benachbarten Haag selbst über.