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Kaum führte zwei Monate Fritz Schröter den Scepter über Waldhofen, als die ortsvorständliche Fürsorge ausgedehnt wurde auf die Bewohner des Schlößchens.
Der Millionär kam ungewöhnlich frühe nach Waldhofen; denn es blühten im Thale noch die Schlüsselblumen, die Kirschenbäume prangten duftend um den Ort, der Mandelbaum hatte eben die welken Blüthen abgeworfen und trieb zwischen länglich schmalen Blättern ein winziges, weiß sammtnes Ding hervor, die künftige Mandelhülse. Das kaum geschnittene Rebholz weinte hingegen noch helle Thränen und arbeitete an hochaufgeschwollenen Knospen. Ungewöhnlich war auch, daß der Millionär fast regelmäßig seinen Ferdinand auf Spaziergängen begleitete, daß sie oft Ruhepausen machten und zuweilen Arm in Arm gingen. Offenbar stützte der väterliche Arm den hin siechenden jungen Menschen, von der letzten Mannheimer »Wintersaison« schrecklich mitgenommen. Es schien sehr fraglich, ob die »Landluftsaison« diesmal ihre Heilkraft bewähren konnte; denn das Aussehen des Gläubigen moderner Kunstreligion war jammervoll. Die Augen lagen tief, der Nacken krümmte sich, die Beine schlotterten, die Brust peinigte ein hartnäckiger Husten, die Kleider hingen um abgezehrte Gebeine, das grämlich verzogene Gesicht war ohne Lebensfrische.
»Der Blendung ist auch wieder da mit seinem Sohn',« erzählte Mühsam dem Schmiedhannes. »Du lieber Gott, wie elend der junge Mensch aussieht! Einen Bock könnt' er ganz gut zwischen den Hörnern küssen. Paff' aus, der Ferdinand wird begraben, eh' vier Wochen vergeh'n.«
»Ist nichts verloren!« antwortete kurz der Schmied.
Einige Wochen später, nach dem Schluffe der Vesper, öffnete sich die Hofthüre des alten Hauses. Heraus trat Knapper, von Hänschen geführt, einige Schritte hinter ihnen Helena und Heinrich. Ueber dem Gesichte des Blinden lag stille Heiterkeit. Tausend Fragen des kindlichen Führers in Geduld beantwortend, lauschte er zugleich auf das Gespräch der Nachfolgenden, das sich um die nahe Hochzeitsfeier drehte, zu der bereits großartige Vorbereitungen getroffen wurden.
Nachdem Fritz Schröter von Heinrichs, durchgreifender Umkehr überzeugt worden, dessen solides Betragen einen christlichen Gatten und verständige Thätigkeit einen tüchtigen Landwirth versprachen, beschleunigte er selbst den raschen Gang zum glücklichen Abschlusse. Knappers Vergangenheit kam hiebei nicht in Erwägung; denn Schröter konnte, in gerechter Ueberlegung, unmöglich den Sohn für den Vater büßen lassen, – obschon der gestrenge Herr des alten Hauses einen »Schwäher« gewünscht hätte, dessen vergangenes Leben düstere Schatten nicht aufwies. Nicht minder bestimmte Helena's Lebensglück den klar denkenden Vater. Heirathen nach genauer Abwägung gegenseitiger Vermögensverhältnisse, ohne alle Rücksicht auf persönliche Neigung, verdammte Schröter.
»Es ist unverantwortlich,« sagte er zuweilen, »daß Eltern nicht ihre Kinder, sondern ihre Aecker verheirathen. Hiebei kann selten etwas Gutes herauskommen.«
Blieb auch Heinrichs Vermögen hinter Helena's Mitgift zurück, so hob, in Schröters Urtheil, die erprobte und innige Liebe der Verlobten diese Ungleichheit auf.
Dem Blinden gewährte die Verbindung vielen Trost und Freude. Helena's Ruf war fleckenlos, ihre häusliche Emsigkeit verbürgte eine Hausfrau, deren Gediegenheit selbst Frau Margareth herausforderte, – und Helena war das reichste Mädchen der Umgegend. Und wenn Knapper mit Ergebung sein Unglück ertrug, das er als strenge Buße für alte Schulden zu betrachten sich gewöhnte, so freute es ihn doch, durch den Sohn in enger Verbindung mit dem Bürgermeisteramte zu bleiben; denn er gehörte wenigstens zur bürgermeisterlichen Familie.
Die Gesellschaft wandelte durch die Fluren, Hänschen und der Geführte eine Strecke voraus. Lerchen und munteres Finkengeschlecht sangen um die Wette, aus fernen Gebüschen klang sogar der süße Schlag der Nachtigall herüber. Von allen Seiten trug linde Frühlingsluft Blumen- und Blüthenduft herbei, die Sonne zündete die prachtvoll wechselnden Lichter des Rheinthales an, welche entzückend leuchteten zu einem herrlichen Auferstehungstage der Natur.
Die Verlobten führten sich an den Händen, blieben oft stehen, schauten sich einander an, und redeten klug über die Gestaltung naher Selbstständigkeit.
»Vor der Hand nehmen wir nur einen Knecht und eine Magd,« rieth Helena. »Wir sind kräftig und müssen selbst wacker zugreifen. Besser, man fängt klein an und kommt vorwärts, als man fängt's groß an und geht zurück.«
»Du hast Recht, Lenchen! Den vorläufigen Ackerbau von dreißig Morgen kann ich mit einem Knecht im Bau bewältigen. Zur Aerntezeit nehmen wir Taglöhner. Aber nach einem Jahre dürfte zur Magd noch ein zweites Mädchen nothwendig sein. Du sollst Dich über Deine Kräfte nicht anstrengen.«
Sie verstand die Bedeutung des zweiten Mädchens und lächelte erröthend.
»Ich muß Dir doch ein Gelöbniß offenbaren, das ich gemacht habe,« fuhr er fort. »Auch Dir wird die Wallfahrt nach der Gnadenkapelle unvergeßlich sein. Die Mutter Gottes hat mich sichtbar beschützt und gerettet. Ohne höhere Hilfe wäre ich zu Grunde gegangen. Man darf nicht undankbar sein. Darum habe ich gelobt, jedes Jahr, so lange ich lebe, auf den Tag zu wallfahrten nach der Gnadenkapelle, und jedes Jahr hier in die Kirche an den Muttergottes-Altar eine zehnpfündige Kerze zu opfern, damit sie dort brenne zur Ehre meiner Helferin.«
»Das ist schön von Dir, Heinrich!« sprach sie mit leuchtenden Augen. »Wir werden immer zusammen wallfahrten. – Sieh', wer kommt dort? Wahrhaftig – der böse Ferdinand! Wollen wir nicht umkehren?«
»Dazu ist kein Grund, Helena!« sprach er sanft. »Jenem Menschen kann ich offen in das Gesicht sehen, – er aber nicht uns.«
»Trage ihm nichts nach, Heinrich!«
»Gewiß nicht! Eben darum weichen wir ihm auch nicht aus.«
»Ach, – wie er daher schwankt, die Beine tragen ihn kaum!« sprach sie mitleidig. »Man meint, er sei ein Greis von achtzig Jahren, – so gebeugt, so hinfällig.«
»Da kommt der Blendung!« offenbarte Hänschen dem Blinden.
»Der Junge oder der Alte?« frug Knapper.
»Der Junge, – aber noch älter sieht er aus, als der Alte.«
»Bst, – still', Kind, still', – daß er nix hört!« mahnte der Blinde.
Ferdinand schlich mühevoll einher, den Kopf herab gebeugt, die Unterstützung des Stockes bei jedem Schritte fordernd, ohne die Entgegenkommenden zu bemerken. Hänschens helle Stimme, die einen Kukuck nachahmte, veranlaßte ihn, aufzusehen, und nicht ohne Bewegung erkannte er den Blinden. Wie hatte sich der stramme, vormals herrisch einherschreitende Mann verändert! Die letzte Spur übermüthigen Trotzes war verweht, die Gluth des Gesichtes verschwunden, und der rothe Häuptling, Kirche und Schule heftig bekämpfend, bedurfte jetzt der Führung eines Kindes! Beinahe überkam Ferdinand eine Ahnung von dem Walten einer Vorsehung. Allein der Keim dieser Ahnung starb sogleich; denn er fand in der Seele des Ungläubigen keinen Boden.
Knapper grüßte freundlich. Blendung dankte kurz und ging vorüber.
»Beim Teufel, – aus dem Saulus ist ein Paulus geworden!« murmelte er spöttisch. »Blind, – hm! Ein schlagendes Beispiel aus dem Leben für einen bigotten Pfaffen, zum Beweise, daß der Christengott die Zuchtruthe noch nicht aus der Hand gelegt.«
Mit dem letzten Worte blieb Ferdinand steif stehen: – Heinrich und Helena traten hinter dem blühenden Schleedorn am Wege hervor. Sie hielten sich noch an den Händen. Ueber Beiden flatterte, jedem Geisterseher leicht erkennbar, der holde Amor, – jedoch ohne Pfeil und Bogen, weil der Scharfschütze, in vorliegendem Falle, keinen Einzigen mehr zu versenden hatte.
Ferdinands Füße wurzelten am Boden, ihm sehr peinlich; denn er hätte vorgezogen, diesem Begegnen zu entfliehen. Den Verhaßten mußte er sehen an der Seite einer in seltener Schönheit strahlenden Braut, ihn selbst voll Glück und Lebenskraft. Hochauf schlugen die Flammen des Hasses und des Neides in der Seele des Schwindsüchtigen. Die Augen verschwanden unter zusammengezogenen Brauen und glichen, giftig funkelnd, tödtlichen Basiliskenblicken. Die farblosen Lippen dräueten zusammengekniffen, jede Linie des fahlen Gesichtes grinste abstoßend und häßlich. So stand, im Anblicke der Glücklichen, Ferdinand, wie Lots Weib vor Sodoma, in eine Säule verwandelt.
Helena betrachtete erschreckt die unbegriffene Erscheinung. Die Rosen ihrer Wangen erbleichten zu Lilien, sie ergriff den Arm des Bräutigams und schmiegte sich ängstlich an ihn.
Nicht so unbegreiflich war für Heinrich die Erscheinung. Er las verständig in Ferdinands Seele, gewahrte deutlich die finsteren Mächte, in deren Bann erstarrt der Unglückliche vor ihm stand, grüßte ernst und nickte ohne Bitterkeit hinüber. Ferdinand bewegte geisterhaft das Haupt nach den Vorüberwandelnden, stand noch eine Weile in nervöser Erschütterung und wankte vorwärts. Und sogleich brachen die Nachwehen des Geistessturmes über den Hinfälligen herein. Die straff gespannten Muskeln erschlafften, Schwindel und namenlose Mattigkeit ergriffen ihn. Er setzte sich erschöpft auf einen Stein am Wege, begann zu husten und Blut auszuwerfen. Dann erhob er sich und lenkte gebrochen nach der Villa.
In derselben Nacht schloß Ferdinand kein Auge. Rasende Schmerzen zerrissen ihm die Brust, und kam der Husten, so krümmte sich der Elende unter gräßlichen Peinen. Obwohl todtkrank, verließ er dennoch am Morgen das Zimmer, die stärkende Luft im Garten zu genießen. Von Waldhofen herauf krachten in kurzen Pausen Gewehrschüsse.
»Was hat das Schießen zu bedeuten?« frug er den Gärtner.
»Die Burschen putzen ihre Flinten aus für morgen,« antwortete der Mann. »Morgen ist nämlich eine Hochzeit, wie seit Menschengedenken keine gewesen ist. Knappers Heinrich heirathet Bürgermeisters Lenchen, ein Mädchen, so hübsch, wie man's gar nicht schöner malen kann. Und weil Beide gut gelitten sind im Dorf', darum gibt's ein schrecklich Schießen und Spektakel. Der Schröterfritz läßt sich's auch was kosten. Einen fetten Ochs' hat er geschlachtet, und davon kriegt jeder Arme im Dorf' seinen Theil. In Schröters Hof wird ein großer Tisch gedeckt, daran sollen alle arme Leute essen und sich einmal gut thun. Und weil der Heinrich ein braver junger Mensch ist, gar nicht stolz, freundlich gegen das Aermst', fleißig und tüchtig, darum gönnt ihm Jedermann sein Glück.«
Der Mann wurde durch Ferdinands Husten unterbrochen, der sich durch den Garten hinschleppte nach seinem Lieblingsplatze, vor Frau Venus, die er täglich zu betrachten pflegte, bequem ruhend in den Kissen des Sophas.
Der Gärtner war thätig um Blumen und Zierpflanzen, hörte das heftige Husten des Millionärs und dann ein schmerzliches Stöhnen, das er nicht beachtete; denn oft pflegte der Kranke in ähnlichen Lauten seinen Schmerz zu äußern. Und als im Dorfe die Glocke eilf Uhr läutete, stellte er die Arbeit ein und verließ die Villa. Im Garten wurde es ruhig und öde, wie auf einem Kirchhofe.
Gegen zwölf Uhr betrat Herr Blendung den Garten. Dort fand er seinen Sohn todt, – zu den Füßen der Venus, von einem Schlage unversehens dahingerafft.
Alle Glocken in Waldhofen klangen zusammen in schöner Harmonie und feierlich froher Stimmung. Dazwischen krachten Flintenschüsse, aus allen Gassen liefen Schaulustige zusammen, unter diesen mit besonderem Eifer die heirathsfähigen Mädchen. Vom alten Hause hernieder stieg ein langer Festzug. Voran die Braut, an Schönheit und Frauenwürde eine Königin, umgeben von einem Kranze züchtiger Jungfrauen in weißen Kleidern und Kränzen auf den Häuptern. Helena erschien etwas angegriffen, aber entzückend schön in dem blendend weißen Kleide, das um die Hüften ein blaues Seidenbaud umfing, dessen Enden lang hinab fielen. Alle Fenster der Straße hatten Theilnehmende besetzt, und aus jedem Munde wurde das Lob vernommen, es sei ein hübscheres Paar nimmer gesehen worden. Heinrich ging zwischen angesehenen Begleitern, in Schwarz gekleidet, an der Brust ein Sträußchen, ernst einherschreitend, wie ein Mann, welcher auf dem Wege ist, schwere Pflichten zu übernehmen. Auch Außerordentliches begab sich: – Die beiden Häuptlinge, der rothe und der schwarze, gingen Arm in Arm durch das Dorf, – so rührend anzusehen, daß junge und alte Weiber Thränen darüber vergossen. Dann kam ein endloser Zug von Frauen und Männern, unter letzteren auch Clemens Schall aus Siebelfingen, nebst anderen Gewaltigen im Streite.
Die Brautleute traten vor den Altar. Das Herrchen erschien, belehrte in ergreifenden Worten, und knüpfte endlich um die Liebenden das heilige Band des Sakramentes, welches nur der Tod lösen soll.
Dann folgte das Hochamt, dem die ganze Gemeinde beiwohnte, wie an Festtagen. Bei der Wandlung donnerten sämmtliche Feuerschlünde in Waldhofen, was sich wiederholte, als der Zug die Kirche verließ.
In Mitte des Dorfes kam ein verschlossener Wagen entgegen. Darin saß Blendung neben der Leiche seines Sohnes, die nach Mannheim gebracht wurde. Als die Schüsse unablässig krachten, mußte der Kutscher herabsteigen und die schnaubenden Pferde festhalten. Durch das Fenster sah Blendung, aus erstorbenen Augen, die festlich gekleideten Menschen vorüber wallen. Dann sah er auf den Todten und verhüllte das Gesicht.
Auch über die Feststimmung zogen trübe Wolken beim Begegnen des Todtenwagens; denn Leiche und Hochzeit sind ergreifende Gegensätze, und die Vergangenheit des Todten bot zur Betrachtung reichen Stoff. Fritz Schröter hob das Auge von dem verschlossenen Wagen zum Himmel, und dort erkannte sein gläubiger Blick die waltende Hand des Herrn.
Auch der alte Mohr sah diese Hand.
»Dem Ferdinand ging's, wie meinem Wilhelm,« sprach der Alte. »Der da droben duldet keine rechte Freiheit. Wer Sein Joch nicht trägt in Gehorsam, der muß sterben vor der Zeit.«
Das blieb Mohrs letzte Sentenz. Ländlicher Fortschritt hatte seine Verhältnisse gänzlich zerrüttet. Er brachte das verschuldete Anwesen unter den Hammer und wanderte nach Amerika.