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17. Lorens Petersen Hahns letzte Fahrten

Solange die Sylter Seeleute auch schon auf Grönland fuhren, nie wäre einer darauf verfallen, von einem Engländer Heuer zu nehmen. Mit Holländern, Hamburgern, Bremern fuhren die Sylter auf Part, das heißt: sie bekamen als Kommandeur, Steuermann und Harpunier von jedem Fisch einen Anteil. Die englischen Reedereien hingegen gaben ihren Grönlandfahrern ein festes Gehalt für die ganze Reise, mochte sie gut oder schlecht ausfallen. Das paßte den Syltern nicht. Dabei fehlte ihnen die Spannung, der Reiz des großen Spieles. Daß sie in schlechten Jahren beim festen Gehalt besser abgeschnitten hätten, als bei der Partnerschaft, änderte an ihrer Stellung nichts; sie hofften eben jedesmal bei der Ausreise auf ein märchenhaftes Glück. Die englischen Reedereien fuhren bei diesem System aber auch nicht gut. Sie bekamen nur schlappes, unlustiges Schiffsvolk, das gleichgültig zusah, wenn ein Fisch unters Eis lief. Man bekam sein Geld für die Reise, ob man viel oder wenig Fische fing; weshalb sollte man sich also anstrengen?

Bald nach dem Frieden von Utrecht kam ein Bremer nach London, der hieß Henrich Eelking. Er sah sich die große Stadt an, und da er mit Walfischspeck und Tran groß geworden war, blieb er bei den Grönlandfahrern hängen und saß tagelang bei ihnen in Lloyds Kaffeehaus. Da wurde ihm bald klar, daß die feste Gage es war, die das Schiffsvolk so unhandlich machte wie ein Tau ohne Knoten. Es glitt den Unternehmern nur so durch die Finger, ohne daß sie es irgendwo anpacken konnten. Henrich Eelking war nicht dumm, und was er sich auf Bremer Platt ausdachte, konnte er wohl auf Englisch zu Papier bringen. So sammelte er in Lloyds Kaffeehaus auf, was er von Seeleuten und Reedern über die englischen Grönlandfahrten nur erfragen konnte – von Holland, Hamburg und Bremen wußte er selbst genug – setzte sich hin und schrieb einen Aufsatz darüber, den die »Times« abdruckten. Einen halben Monat später nahm die »Südseekompagnie« den Walfang unter neuen Gesichtspunkten in ihr Unternehmen auf. Henrich Eelking wurde unter schmeichelhaften Bedingungen zum Direktor gewählt und zwölf neue Schiffe auf einmal wurden nach seinen Angaben gebaut und mit dem Besten ausgerüstet, was englisches Geld beschaffen konnte. Henrich Eelking aber war nicht dumm. Er wußte, daß gutes Schiff und beste Ausrüstung tote Ware sind ohne das Schiffsvolk, das diese lebendig macht. So setzte er nicht einen Agenten zu Lloyds, um das Schiffsvolk anzumustern, sondern er schickte ihn mit einer guten Schmack nach Föhr und Sylt. Dort sollte er anwerben, was ihm nur unter die Finger kam, vom Kommandeur bis Kajütswächter. Wenn einer auf der Welt, dann konnten die Sylter und Föhrer Grönlandfahrer das neue Unternehmen hochbringen. Deshalb ließ er ihnen Anerbietungen machen, daß seiner Meinung nach jeder Mann mit beiden Händen zugreifen mußte.

Es war aber gerade die Höhe der gebotenen Anteile, die die Föhrer stutzig machte, so daß der Agent kaum die Hälfte der Zusicherungen erhielt, auf die er bestimmt gerechnet hatte. Auf seine Bitte schickte der Landvogt eine Anfrage nach Sylt, ob es lohnen würde, hinüber zu kommen. Der Landvogt wandte sich an Lorens Hahn, von dem sein verstorbener Vater, der glückliche Matthis, noch mit besonderer Anerkennung gesprochen hatte, und Lorens lud den Agenten zu sich zu Gaste. Als am Abend Stube und Pesel voll von Lernenden waren, saß der Agent mitten zwischen ihnen und sprach ihnen von der Grönlandabteilung der Südsee-Kompagnie in London. Die Augen der Männer wurden blank, als er die Anteile nannte, die Kommandeur und Offiziere bekommen sollten, aber sie ließen die Lider über die Augen sinken und rauchten gleichgültig weiter.

»Jee, Lorens, was meinst du?«

»Ich fahre als Kommandeur der›Hope‹, das ist fest,« sagte er ruhig; »und ich meine, wer nicht fährt, wenn Segelwind weht, muß warten, bis Segelwind wiederkommt; vielleicht aber muß er bis zum Nimmermehrstag warten.«

Das entschied; als einen Monat später die zwölf neuen Grönlandfahrer der Londoner Südsee-Kompagnie aus der Themse liefen, standen sie sämtlich unter dem Kommando der Inselfriesen, und auch das Schiffsvolk stammte in überwiegender Mehrheit von Sylt, Föhr und den Halligen. Lorens hatte seinen Bruder Niggels als ersten Steuermann neben sich. Er nahm ihn scharf heran, denn Henrich Eelking hatte ihm gewinkt, daß er zwölf weitere Schiffe im Bau hätte. Dafür brauchte er auch zwölf weitere Kommandeure, und Lorens war fest entschlossen, Niggels zu einem zu machen. Niggels aber war selbst begierig darauf, denn endlich war er auch an ein Mädchen geraten, mit dem zu hausen ihm nicht uneben dünkte.

So kam es, daß Niggels Augen und Ohren aufsperrte und Lorens ihm ohne Sorge das ganze Schiff hätte anvertrauen können. Er überließ ihm auch manches, was sonst Sache des Kommandeurs war, saß viel unten in der Kajüte über Karten und Berechnungen, und wenn er an Deck kam, sah er über das Schiff hinaus auf See und Himmel. Da sah er, was er nie bisher gesehen hatte: daß See und Himmel oft in leuchtendem Grün standen, und er mußte an Gottfried Köhler denken. Sie kamen nach Spitzbergen, und auch hier sah er, was er nie zuvor gesehen hatte: daß der Fuß dieser Berge anzusehen war wie Feuer; die Spitzen der Berge aber waren mit Nebel bedeckt, und der gemarmelte Schnee lag wie die Äste eines Baumes über sie gebreitet und gab einen hellen Schein, als schiene die Sonne, und war doch ein grauer Tag.

Sie segelten weiter an den sieben Eisbergen vorüber, die man so nennt, ob sie gleich nicht auf See schwimmen, sondern auf festem Lande stehen, und Lorens sah, was er nie zuvor gesehen hatte, wie an der Mitte der Berge der Schnee finster war von den Schatten der Nebelwolken, die darüber hinschwebten; über den untersten Wolken aber war der Schnee ganz licht, und die Sonne schien bleich daran. Andern Tages war das Eis, das vorn gegen das Wasser abgebrochen war, schön blau von Farbe, zierlich mit dunkleren Ritzen; die Klippen, die davor aus der See ragten, schienen feurig rot, und oben von den Bergen aus sandte der Schnee einen hellen Widerschein in die graue Luft hinauf.

Das alles sah Lorens der Hahn und noch viel mehr, wenn er oben im Krähennest saß, um nach Walfischen auszuschauen, und er wunderte sich, daß er es früher nicht gesehen hatte. Er sah aber auch das trostlose Grau schwerer Nebeltage, das die Seele dessen zusammenpreßt, der es sieht, und er begriff nicht mehr, wie seine Stimmung in früheren Jahren nur nach dem Fisch gegangen war.

»Ich werde alt,« dachte er, wenn ihm so das schwere Grau übers Herz kroch, aber wenn dann ein weißer Vogel heranschwebte und ihn mit blanken Augen fragte:

»Wann fischt Ihr wieder, daß ich mich sattfressen kann?« dann lachte er ihn doch an, und ganz leise regte sich wohl eine Sehnsucht – »ach, Merret, du liebes Seelchen.« Denn die feine kleine Merret mit den grauen Augen war und blieb sein Liebling unter seinen vier Töchtern. –

Sie hatten aber guten Fang in diesem ersten Jahr der Grönlandkompagnie und sperrten ihre Säcke wohl auf, als im Herbst ihnen die reichen Anteile hineinflossen.

»Nun, was sagt Ihr?« fragte Henrich Eelking mit stolzem Lachen, und Lorens Hahn antwortete für alle andern: »Jee, was gibt es da viel zu sagen? Leicht ist es, mit silberner Angel zu fischen.« –

Jahr für Jahr kamen die Grönlandfahrer von London mit dickem Geldsack heim, aber wunderlich war's, daß es den Syltern doch nicht so ganz munden wollte.

»Die hohen Anteile werden den Nutzen fressen, den die Gesellschaft haben könnte, so wird sie nicht lange bestehen können,« meinte Lorens. »Wer in Hamburg seinen Platz findet, sollte lieber dort wieder Heuer nehmen Heuer nehmen = anheuern = anmustern = sich für eine Schiffsreise vermieten oder anwerben lassen.. Mir lohnt es nicht, noch einmal zu wechseln. Nicht lange, so muß ich mich ganz für die See bedanken; das Reißen nimmt mich, gerade wenn ein Fisch in Sicht kommt.«

In jedem Herbst dachte Lorens, nun wollte und müßte er ganz daheim bleiben, aber wenn das Frühjahr kam, packte ihn doch immer wieder das Hinausfieber. Was sollte er im Sommer mit sich anfangen? Die Töchter wuchsen heran und halfen Inge, nahmen ihr mehr als die Hälfte ihrer Arbeit ab; seine Hilfe brauchte sie nicht. Und auf der Insel ging es friedlich zu, seit der König den Herzog unterm Daumen hielt, und seit sich den Sylter Seeleuten auf Grönlandfahrern und Kauffahrteischiffen immer bessere Erwerbsmöglichkeiten boten.

Im vierten Jahr der englischen Grönlandkompagnie kam Henrich Eelking den Kommandeuren mit einer wunderlichen Neuigkeit. Er hatte eine Harpune herstellen lassen, die nicht von der Schaluppe aus mit der Hand geworfen, sondern vom Schiff aus mit einer Kanone auf den Fisch geschossen wurde. Die anderen Kommandeure verweigerten das Ding: die Leute müßten ganz neu darauf eingelernt werden, und würden faul werden, wenn sie nicht hinter dem Fisch dreinrudern müßten. Endlich fand Lorens sich bereit, die Schießharpune praktisch zu erproben. Er hatte auf Eelkings Bitte immer mehr Engländer unter sein Schiffsvolk aufgenommen, und es war ihm gleichgültig, welche Art von Fang diese Leute lernten. Außerdem reizte ihn selbst auch diese neue Erfindung, und als er erst draußen war und an das Wild herankam, da merkte er gar bald den großen Vorteil. Mit vierzehn Fischen im Bauch kam die »Hope« im Spätsommer die Themse wieder hinauf, und Lorens mußte sich einen zweiten Geldsack anschaffen, um das Erworbene heimzubringen.

Auch im nächsten Frühjahr zog der Reiz des Neuen Lorens noch einmal hinaus, aber mitten im Sommer überfiel ihn plötzlich der Ekel. Er dachte daran zurück, wie er selbst in jungen Jahren als Harpunier die Waffe geworfen hatte. Ja, das war ein ehrlicher Kampf gewesen, wo die Geschicklichkeit des kleinen Menschen die Kraft des gewaltigen Tieres besiegt hatte. Aber dieser Schuß aus einem toten Werkzeug auf das lebendige Tier gefiel ihm nicht. Er beobachtete sein Schiffsvolk; auch unter den Offizieren hatte er nun schon mehrere Engländer. Was sahen diese Leute denn in dem Fisch? Doch nicht mehr das Wild, das lebendige Geschöpf, sondern nur noch den Marktwert. Sie zielten nicht auf den Gegner, sondern auf Pfund, Schilling und Pence; und wenn ihre Hand zitterte beim Abdrücken, so war es nicht mehr die Jagdleidenschaft, die sie unsicher machte, sondern die Geldgier. Und der Ekel würgte Lorens in der Kehle.

Eines Nachts saß er allein in seiner Kajüte. Sie hatten guten Fang gehabt und viel Arbeit, aber immer mehr Schiffe hatten sich dann in ihre Nähe gezogen, und immer weniger Fische waren in der Gegend geblieben, denn der Fisch hatte in den letzten Jahrzehnten auch allerlei gelernt. Nachdem sie nun ihre Fische bis zum letzten Brocken abgespeckt hatten, wollte Lorens neue Jagdgründe suchen, aber vorher noch seinem Schiffsvolk eine ruhige Nacht gönnen. Sie hatten an einem schwimmenden Eisberge festgemacht und lagen seit Tagen schon hinter dem Winde. Alles war still ringsum, nur die Möwen kreischten in einiger Entfernung über einem andern Schiff, dessen Volk beim Bearbeiten eines Fisches war. Eine bleiche Nachtsonne stand tief am Himmel, und in den langsam ziehenden Nebelwolken zeigte sich eine matte Nebensonne – blau-gelb-rot – in seltsam unwirklichem Farbenspiel.

Lorens sah und hörte nichts von dem, was draußen war. Er saß allein für sich in der Kajüte und starrte mit müden Augen in das flackernde Licht. Vor ihm lag das Schiffsjournal, und die Feder hielt er noch in der Hand; er hatte lange über seinen Schreibereien gesessen, wollte alles klar haben, ehe er neue Jagdgründe suchen ging. Als das Licht sich verdunkelte, hob er gedankenlos die Hand, um es zu putzen, aber er hatte vergessen, daß eine Feder keine Lichtschneuze ist; der Bart der Feder sprühte auf, brannte und stank. Das weckte ihn, und er mußte lachen.

»Ich werde alt,« sagte er zu sich selbst, indem er nun die richtige Lichtputzschere nahm und die Kerze schneuzte. »Mich freut das alles nicht mehr recht, und wenn wir noch so viel Fische bekommen. Ja, wie alt bin ich denn eigentlich?«

Er fing an zu rechnen und kritzelte die Zahlen auf das Klackspapier, das zwischen den Seiten des Journales lag. Da zählte er denn alles in allem fast fünfzig Jahre zusammen und schüttelte über sich selbst den Kopf.

»Ein halbes Jahrhundert – ja, dann ist es freilich an der Zeit, abzudanken. Länger als bis zum Vierzigsten ist der Seemann nicht jung, dazu ist das Leben zu hart und die Arbeit zu schwer. Ein alter Seemann aber – puh, für den haben alle Winde wohl Gegenwinde!«


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