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Aus Schillers liebevollem, weltumflutenden Herzen entsprang Tells beschränktes, häusliches Gemüt und seine kleine enge Tat; die Fehler des Gedichtes sind die Tugenden des Dichters. Wäre es mir auch immer gleichgültig, nur dieses Mal möchte ich nicht mißdeutet sein – ich vermisse, doch ich beklage nicht. Der reiche Schatz der Kunst kann eine Kostbarkeit entbehren, das Seltenste ist ein edler Geist. Dem liebenswürdigen Schiller stehen seine Mängel besser als besseren Dichtern ihre Vorzüge an. Ihm zittert das Herz, ihm zittert die Hand, welche formen soll, und formlos schwanken die Gestalten. Der Frost bildet glänzende Kristalle, bildet schöne Blumen an den Fensterscheiben, der Frühling schmilzt sie weg; das Glas wird leer, doch durchsichtig und zeigt den warmen blauen Himmel; das Auge staunt nicht mehr an, aber es weint.
Es tut mir leid um den guten Tell, aber er ist ein großer Philister. Er wiegt all sein Tun und Reden nach Drachmen ab, als stünde Tod und Leben auf mehr oder weniger. Dieses abgemessene Betragen im Angesichte grenzenlosen Elends und unermeßlicher Berge ist etwas abgeschmackt. Man muß lächeln über die wunderliche Laune des Schicksals, das einen so geringen Mann bei einer fürstlichen Tat Gevatter stehen und durch dessen linkisches Benehmen die ernste Feier lächerlich werden ließ. Tell hat mehr von einem Kleinbürger als von einem schlichten Landmann. Ohne aus seinem Verhältnisse zu treten, sieht er aus seinem Dachfenster über dasselbe hinaus; das macht ihn klug, das macht ihn ängstlich. Als braver Mann hat er sich zwar den Kreis seiner Pflichten nicht zu eng gezogen; doch tut er nur seine Schuldigkeit, nicht mehr und nicht weniger. Er hat eine Art Lebensphilosophie und ist mit Überlegung, was seine Landesleute und Standesgenossen aus bewußtlosem Naturtriebe sind. Er ist ein guter Bürger, ein guter Vater, ein guter Gatte. Es ist sehr komisch, daß er seinen gesunden Bergesknaben, starken Kindern einer rauhen Zeit, eine Art Erziehung gibt, wie sie Salzmann in Schnepfenthal den seidnen Püppchen des 18. Jahrhunderts gab. Er härtet sie ab, sie sollen ausgerüstet werden gegen das Ungemach des Lebens, ja er bemüht sich sogar, ihren Verstand aufzuklären und die abergläubische Wirkung der Ammenmärchen zu zerstören, Tell hat den Mut des Temperaments, den das Bewußtsein körperlicher Kraft gibt; doch nicht den schönen Mut des Herzens, der, selbst unermeßlich, die Gefahr gar nicht berechnet. Er ist mutig mit dem Arm und furchtsam mit der Zunge, er hat eine schnelle Hand und einen langsamen Kopf, und so bringt ihn endlich seine gutmütige Bedenklichkeit dahin, sich hinter den Busch zu stellen und einen schnöden Meuchelmord zu begehen, statt mit edlem Trotze eine schöne Tat zu tun.
Tells Charakter ist die Untertänigkeit. Der Platz, den ihm die Natur, die bürgerliche Gesellschaft und der Zufall angewiesen, den füllt er aus und weiß ihn zu behaupten; das Ganze überblickt er nicht , und er bekümmert sich nicht darum. Wie ein schlechter Arzt sieht er in den Übeln des Landes und seinen eigenen nur die Symptome, und nur diese sucht er zu heilen. Geschickt und bereit, den einzelnen Bedrängten und sich selbst zu helfen in der Not, ist er unfähig und unlustig, für das Allgemeine zu wirken. Als der flüchtige Baumgarten seine Landsleute um Beistand anfleht, denken diese mehr an die Verfolgung als an den Verfolgten, lassen sich erzählen, klagen um das Land und zaudern mit der Hülfe. Tell erscheint, sieht nicht auf die Verfolgung, sondern nur auf den Verfolgten und rettet ihn. Ein solcher Mann kann in einem Schiffbruche als guter Schwimmer vielen Verunglückten Hülfe leisten; doch unfähig, das Steuer zu führen, wird er den Schiffbruch nicht verhüten können. Wenn er nun in einem Sturme den Geängstigten zuruft: fürchtet euch nicht, ich kann schwimmen, ich ziehe euch aus dem Wasser – wird er, wie überall, wo der Charakter mit den Verhältnissen in Widerspruch steht, komisch erscheinen und eine Wirkung hervorbringen, die der ernsten Würde der Tragödie schädlich ist.
Auf dem Rütli, wo die Besten des Landes zusammenkommen, fehlte Tells Schwur; er hatte nicht den Mut, sich zu verschwören. Wenn er sagt:
Der Starke ist am mächtigsten allein –
so ist das nur die Philosophie der Schwäche. Wer freilich nur so viel Kraft hat, grade mit sich selbst fertig zu werden, der ist am stärksten allein; wem aber nach der Selbstbeherrschung noch ein Überschuß davon bleibt, der wird auch andere beherrschen und mächtiger werden durch die Verbindung. Tell versagt dem Hute auf der Stange seinen Gruß; doch man ärgert sich darüber. Es ist nicht der edle Trotz der Freiheit, dem schnöden Trotze der Gewalt entgegengesetzt: es ist nur Philisterstolz, der nicht Stich hält. Tell hat Ehre im Leibe, er hat aber auch Furcht im Leibe. Um die Ehre mit der Furcht zu vereinigen, geht er mit niedergeschlagenen Augen an der Stange vorüber, damit er sagen könne, er habe den Hut nicht gesehen, das Gebot nicht übertreten. Als ihn Geßler wegen seines Ungehorsams zur Rede stellt, ist er demütig, so demütig, daß man sich seiner schämt. Er sagt, aus Unachtsamkeit habe er es unterlassen, es solle nicht mehr geschehen – und wahrlich, hier ist Tell der Mann, Wort zu halten.
Der Apfelschuß war mir immer ein Rätsel, ja mehr ein Wunder. Er soll geschehen sein, man glaubt daran, gleichviel. Die Natur ist oft unnatürlich, sie schafft Mißgestalten, und die Geschichte ist oft undramatisch; aber man muß das liegen lassen. Ein Vater kann alles wagen um das Leben seines Kindes, doch nicht dieses Leben selbst. Tell hätte nicht schießen dürfen, und wäre darüber aus der ganzen schweizerischen Freiheit nichts geworden. Man frage nur die Zeugen der Tat, man höre, was sie sagen, beobachte die Schweigenden – sie alle haben sie verdammt. Ja die gelungene Tat ist noch ganz so häßlich, als es die gewagte war; das Entsetzen bleibt, und die Furcht, der Vater hätte sein Kind treffen können, ist größer, als die frühere war, er könnte es treffen. War Geßlers Gebot so ungeheuer, daß es einen Vater ganz aus der Natur werfen konnte und er nicht mehr bedachte, was er tat: so hätte auch Tell, ohne Bedacht, dem Befehle nicht gehorchen oder den Tyrannen erlegen sollen. Aber er war doch besonnen genug, wie ein Weib zu bitten, und sein lieber Herr, lieber Herr zu sagen, wofür der bange Mann Ohrfeigen verdient hätte. Daß er dem Landvogt tollkühn eingestand, was er mit dem zweiten Pfeile im Sinne geführt, das war auch wieder Philisterei; die ehrliche Haut kann nicht lügen. Dieses ängstliche Wesen, diese Unbeholfenheit des guten Tell entsprang aber nicht aus Scheu des Untertanen vor seinem Herrn – dieses Gefühl, wie er später gezeigt, konnte er überwinden – nein, es war die Scheu des Bürgers dem Edelmanne gegenüber. Ganz anders betrug sich der Ritter Rudenz. Das ist es aber eben, und das hätte der Dichter bedenken sollen. Man muß das Bürgervolk nur immer in Masse kämpfen lassen; man darf keinen Helden aus seiner Mitte an seine Spitze stellen. Der schönste Kampf kommt in Gefahr, dadurch lächerlich zu werden.
Es ist traurig – ja schlimmer: es ist verdrüßlich, daß Tell in die Lage kommt, um der guten Sache willen schlechte Streiche machen zu müssen. Verrat kann wohl notwendig werden, aber sittlich wird er nie, auch nicht, wenn er an Feinden begangen. Und ist es nicht Verrat, ist es nicht ein schlechter Streich, wenn Tell, als der Landvogt sich auf dem See seiner Hülfe anvertraut – der Feind dem Feinde – dem Schiffe entspringt, es in die Wellen zurückstößt und wieder dem Sturme preisgibt? Tell zeigt sich hier auch wieder als Pedant, als Schulmoralist und buchstäblicher Worthalter. Er glaubt nicht, den Landvogt getäuscht zu haben; er versprach, ihn aus der gegenwärtigen, zehn Schuhe breiten Gefahr zu retten, und dies hat er getan. Dem Schiffer, dem Tell nach seiner Befreiung das Ereignis erzählte, sagt er:
Ich aber sprach: Ja, Herr, mit Gottes Hülfe
Getrau' ich mir's und helf' uns wohl hindannen.
So ward ich meiner Bande los und stand
Am Steuerruder und
fuhr redlich hin;
Das nennt er redlich hinfahren! Wie ist nur der schlichte Mann zu dieser feinen jesuitischen Sinnesdeutung geraten? ... Jetzt kommt Geßlers Mord. Ich begreife nicht, wie man diese Tat je sittlich, je schön finden konnte. Tell verrsteckt sich und tötet ohne Gefahr seinen Feind, der sich ohne Gefahr glaubte. Die Natur mag diese Tat rechtfertigen, so gut es ihr möglich ist, aber die Kunst vermag es nie. Als Tell später mit Johann von Schwaben zusammentrifft und dieser mit dem Mordgesellen Brüderschaft machen will, stößt ihn jener mit Abscheu zurück und, spricht:
Unglücklicher!
Darfst du der Ehrsucht blut'ge Schuld vermengen
Mit der gerechten Notwehr eines Vaters?
Doch Tell irrt. Aus Ehrsucht hat er freilich den Landvogt nicht getötet, doch mit Notwehr – sollte diese ja, gegen eine rechtliche Obrigkeit, je rechtlich stattfinden können – kann er sich nicht entschuldigen. Damals, wenn er, um den Schuß von seinem Kinde abzuwenden, den Bogen nach Geßlers Brust gerichtet hätte, wäre es Notwehr gewesen, später war es nur Rache, wohl auch Feigheit – er hatte nicht den Mut, eine Gefahr, die er schon mit Zittern kennen gelernt, zum zweiten Male abzuwarten.
Sollte ich aber jetzt auf die Frage Antwort geben: wie es denn Schiller anders und besser hätte machen können, wäre ich in großer Verlegenheit. Der dramatische Dichter, der einen geschichtlichen Stoff behandelt, kann eine wahre Geschichte nach seinem Gebrauche ummodeln; denn es schadet der Geschichte nicht, man kennt sie, und sie bleibt doch geschehen, wie sie geschah. Eine geistige Überlieferung aber darf er niemals ändern. Diese besteht nur durch den Glauben und wird zerstört, wenn der Glaube umgeworfen oder anders gerichtet wird. Eine solche Überlieferung ist das Ereignis mit Tell. Aus diesem Zwange aber entsprangen Verhältnisse, mit welchen die Kunst nicht fertig werden konnte. Schiller führte uns mit Bedacht und Geschicklichkeit die Leiden der Schweizer vor Augen; wir sehen, was Baumgarten, Melchthal, Berta und die übrigen dulden und fürchten. Diese Leiden fließen endlich in ein Meer der Not zusammen, das alles bedeckt; diese Klagen bilden endlich eine Vereinigung, die das Land rettet. Tell aber ragt im Tun und Leiden zu monarchisch vor, gehört nicht zu dem topographischen Schicksale der Schweiz und ist übrigens der Mann nicht, eine monarchische Rolle zu spielen. Er ist zu ängstlich, bedenkt zuviel und duckt sich gern. Den Mann mit breiten Schultern füllt nicht ganz seine Seele aus. Warum ihn aber Schiller so behandelt, ist schwer zu erklären. Er hätte ihn können alles tun, alles ertragen lassen, was er getan und ertragen, und ihn dabei trotziger, hochsinniger, gebietender machen können.
Wilhelm Tell bleibt aber doch eines der besten Schauspiele, das die Deutschen haben. Es ist mit Kunstwerken wie mit Menschen: sie können bei den größten Fehlern liebenswürdig sein. Was heißt aber ein liebenswürdiges Schauspiel? Ein liebenswürdiges Schauspiel ist ein Schauspiel, das liebenswürdig ist; die Kritik weiß hierüber nicht mehr als jedes andere Frauenzimmer.