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Einige Wochen vergingen. Pauline wurde jetzt sehr eifrig von den beiden Waldenburgs umworben. Der Major a. D. kam in das Haus zu Frau Norden, deren Mann eine zwar nicht ansehnliche und einkömmliche, aber doch geachtete Beamtenstellung innegehabt hatte. Er überschüttete Pauline mit kleinen Geschenken und Aufmerksamkeiten und hielt sich dabei doch streng in den Schranken der Sitte.
Der kleine Kommis war heftig eifersüchtig, und in dieser Gemütsstimmung fest entschlossen, Pauline zu heiraten. Die Mutter neigte aber schließlich doch zum Major; wenn dieser Ernst machen wollte, so wurde Pauline eine Dame der großen Gesellschaft und hatte ein sorgenfreies Leben. Oskar von Waldenburg paßte freilich besser dem Alter nach für sie, aber er war Kommis; das stellte doch keine gesellschaftliche Stellung dar, sondern nur eine kümmerliche Existenz. Das brachte sie täglich ihrer Tochter vor.
»Ich liebe keinen von beiden,« sagte Pauline mürrisch; »mir sind beide ganz gleichgiltig, bisweilen unangenehm. Wenn ich heirate, so tue ich es Deinetwegen, und wenn Du den Major vorziehst, so kann auch er es sein. Warte aber nur noch ab, ob es ihm Ernst ist, ob er mir nicht nur den Hof macht. Noch hat er ja keinen Antrag gemacht.«
Die Mutter glaubte ihrer Sache sicher zu sein, der förmliche Antrag des Majors konnte nicht ausbleiben. – –
Wieder war es abends, als Oskar von Waldenburg mit allen Zeichen großer Aufregung zu den beiden Damen hereinstürzte. Natürlich war es wieder um die Zeit des Abendbrotes.
»Ich bitte Sie, Frau Norden,« rief er, »ich muß Sie und Fräulein Pauline sprechen, ganz ungestört; schicken Sie doch einmal die Jungen hinaus!« –
Die drei Knaben wurden also mit ihren Butterbroten fortgeschickt, hinaus in die Küche, auf die Straße, wohin sie wollten. Der Aelteste, der kein Kind mehr war, fühlte sich zwar beleidigt, aber man nahm keine Rücksicht auf seine Gemütsstimmung.
»Frau Norden, Fräulein Pauline,« sagte Oskar von Waldenburg feierlich. Er hatte Hunger, aber er rührte doch keine Speise an. »Ich habe heute mittag mit meinem Onkel, dem Major, gesprochen; ich suchte ihn in seinem Restaurant auf, wo ich sicher war, ihn zu treffen. Ich forschte ihn aus, ob er denn wirklich geneigt ist, etwas für mich zu tun, denn, wie Sie wissen, habe ich ernsten Willen. »Lieber Onkel,« sagte ich, »sprich doch einmal frei heraus. Ich möchte mir klar darüber sein, was Du von meiner Zukunft hältst.« Und nun denken Sie, – denken Sie, Fräulein Pauline – denken Sie, Frau Norden – während er sich sein gebratenes Huhn kunstgerecht zerlegte, sprach er zu mir: »Lieber Junge, ich will ja für Deine Zukunft tun, was menschenmöglich ist; aber Fräulein Pauline mußt Du Dir aus dem Sinn schlagen, denn ich will das Mädchen selbst heiraten – natürlich wenn sie will. Gezwungen soll sie nicht dazu werden, auch nicht von ihrer Mutter.«
»Das kann Sie doch nicht überraschen, Herr von Waldenburg,« fiel Frau Norden hier ein. »Sie mußten doch längst gemerkt haben –«
»Ja, ja, ich habe es geahnt,« gab Waldenburg zu, »aber ich hielt es doch nicht recht für möglich bei dem Alter meines Onkels.«
»Seien Sie doch lieber ehrlich,« fiel Pauline ein. »Sie glaubten nicht, daß Ihr Onkel ein armes Mädchen ohne gesellschaftliche Stellung heiraten würde!«
»Nun, ich will es nicht leugnen, daß ich das für unwahrscheinlich hielt,« gab Waldenburg zu. »Aber ich bin jetzt dessen sicher, mein Onkel macht Ernst. Er will mich entschädigen. Wie er mir zugesagt hat, will er mir sofort eine Stellung verschaffen. Er hat nunmehr eine bestimmte Aussicht und zwar in dem Verlage der »Sports-Welt«; meine Kenntnisse reichen dafür aus. Und ach – es ist zum Lachen! – er hat mir sogar eine standesgemäße Partie in Aussicht gestellt, eine wirkliche Baronin mit einem langen altadligen Namen: sie ist – das sollte mich mit der Sache versöhnen – noch kleiner als ich, ich glaube, ein ganz klein wenig verwachsen; aber sie soll sehr liebenswürdig sein, große gesellschaftliche Konnexionen haben, und genug: mein Glück wäre gemacht. – Diese Partie, diese Stellung bedeuten für mich die Rückkehr in die Gesellschaft, in die Kreise, denen ich durch meine Geburt angehöre. Unzertrennlich aber ist davon, daß ich Ihnen entsage, Fräulein Pauline; ich soll das freiwillig tun. Was mein Onkel mir bietet, ist eine Entschädigung, eine Art Kaufpreis für diese meine Entsagung. – »Du hast Dich durch Deine Stellung als Kommis unmöglich gemacht,« – sagte mein Onkel, – »jetzt kannst Du Dich rehabilitieren durch eine standesgemäße Heirat. Du darfst keine Bürgerliche heiraten, sonst bist Du ein- für allemal unmöglich in der aristokratischen Gesellschaft. – So sprach mein Onkel.«
Pauline hatte mit leisem, spöttischem Lächeln zugehört. »Und Sie, Herr von Waldenburg, wozu haben Sie sich entschieden?«
»Nach bestem Wissen und Gewissen,« versetzte er feierlich, »ich wähle Sie, Fräulein Pauline. Ich weise alles zurück und entscheide mich für Sie. Gerne will ich in Ihren Kreisen bleiben, wenn Sie nur mein sein wollen.«
»Das klingt sehr großmütig,« entgegnete das junge Mädchen, »und es sollte mich eigentlich rühren. Wenn ich trotzdem kühl dabei bleibe, so werde ich Ihnen gewiß undankbar erscheinen. Aber ich kann nicht gleich Ja sagen. Ich glaube, Sie haben sich doch nicht völlig Rechenschaft abgelegt über das, was Sie mir da erzählen. Wenn Sie reiflich überlegen, so werden Sie sich selbst sagen, daß Sie den Vorschlag Ihres Onkels annehmen müssen. Eine so günstige Gelegenheit kehrt vielleicht für Sie nie wieder, und zwar um so weniger, als Sie im Begriff sind, sich durch die Neigung zu mir, mit Ihrem Onkel zu entzweien. Sie müßten mich auf das tiefste und innigste lieben, um niemals Reue zu empfinden über das Opfer, welches Sie mir heute bringen; und – verzeihen Sie mir! – aber ich glaube, Ihre Liebe ist dazu nicht groß genug.«
Er legte wie beteuernd die Hand auf das Herz. »Wie können Sie das behaupten, Fräulein Pauline! – Habe ich Ihnen nicht meine Liebe bewiesen durch meine Bewerbung?«
»Nein, in meinen Augen nicht,« entgegnete sie mit ruhiger Ueberlegung. Ernstlich bewerben Sie sich nur darum, weil Sie eifersüchtig sind. Die Eifersucht wird verfliegen, und Sie werden mir später das Opfer vorwerfen, welches Sie mir heute bringen wollen. Ich glaube, Sie sind nicht großmütig genug, um mir meine Vergangenheit zu verzeihen.«
Er stand beleidigt aus. »Sagen Sie es doch lieber gerade heraus, Sie ziehen meinen Onkel vor. Er ist Major, ich bin Kommis; er hat ein reichliches, ich ein spärliches Auskommen. Sie sind eben wie andere Mädchen auch, das ist für Sie der entscheidende Punkt. Ich aber hielt Sie für idealer gesinnt, das war ein Irrtum. Sie geben sich an den Zahlungsfähigeren, an den Höhergestellten fort. Gut denn, Sie wollen meinen Onkel heiraten.«
Auch Pauline hatte sich trotzig erhoben. »Ich habe es schon meiner Mutter gesagt,« erklärte sie mit großer Entschiedenheit, »daß mein Herz sich weder Ihnen noch ihm zuneigt; in beiden Fällen wäre es eine Heirat mit einem Ungeliebten. Also die Wahl ist für mich sehr leicht und sehr schwer. Ihr Onkel hat immerhin vor Ihnen voraus, daß er unbedingt bereit war, sich über Standesvorurteile hinwegzusetzen. Ja, ich entscheide mich für Ihren Onkel. – Wenn Sie aber eine Genugtuung dabei haben wollen, so kann ich sie Ihnen geben. Ich nehme ihn ungerne, werde auch mit ihm möglicherweise unglücklich werden, unglücklich bleiben.«
Er hörte kaum den melancholischen Nachsatz. Wütend fuhr er auf: »Mein Onkel kann Sie nicht heiraten, Fräulein Pauline, Sie sollten das einsehen. Er kann nicht!«
»Wieso?« fragte sie scharf, ihn herausfordernd fixierend.
Ein wenig eingeschüchtert, aber doch entschieden, erklärte er: »Mein Onkel ist Offizier gewesen, führt seinen Adelstitel, seine ganze Existenz wurzelt in aristokratischen Kreisen: er verkehrt mit seinesgleichen. Zwar kann er trotzdem ein bürgerliches Mädchen heiraten, aber doch nur ein ganz – unbescholtenes.«
Frau Norden fuhr empört auf: »Herr von Waldenburg, was erfrechen Sie sich in meinem Hause? – Ich darf das nicht dulden – Pauline ist ein unbescholtenes Mädchen.«
»Ereifern Sie sich doch nicht so sehr, Frau Norden,« sagte Waldenburg mürrisch. »Ich weiß ja nun einmal von der Geschichte.«
Die alte Frau blickte erschreckt von einem zum andern. »Von welcher Geschichte? – Was meinen Sie?«
Waldenburg wußte in der Tat nicht, daß Frau Norden keine Ahnung hatte von dem Zwischenfall, welcher Paulinens plötzlichen Austritt aus dem Hilmarschen Geschäft veranlaßt hatte.
»Tun Sie doch nicht so, Frau Norden, als wüßten Sie selber nichts,« entgegnete er ungläubig, »die Sache ist ja schließlich unter uns geblieben; so viel ich weiß, hat Herr Hilmar reinen Mund gehalten, aber mitschuldig an dem Diebstahl Karls ist sie doch. An der Tatsache ist nichts zu ändern! Es ist meine Pflicht, meinem Onkel davon mitzuteilen, umsomehr, als ich ihm immer von Paulinen so viel vorgeschwärmt habe.«
Frau Norden stand ganz starr. Pauline sah mit Schrecken ein, wie töricht sie damals gewesen war, ohne äußere Notwendigkeit Waldenburg in ihr Geheimnis einzuweihen. Er kehrte jetzt den Spieß gegen sie. Bei der Strenge und Aengstlichkeit ihrer Mutter konnte die Enthüllung entscheidend werden für Paulinens Bleiben im Hause. Dennoch faßte sich das junge Mädchen rasch.
»Meine Mutter weiß nichts,« sagte sie. »Uebrigens, Herr von Waldenburg, Sie sind im Irrtum begriffen, oder vielmehr, ich habe Ihnen ein Märchen aufgebunden. Ich habe nicht gestohlen, bin nicht Karls Mitschuldige. Allerdings, da ich mich selbst beschuldigte, wird es mir weder jetzt noch später irgend jemand glauben. Sagen Sie Ihrem Onkel, dem Major, was Sie wollen. Gerade weil mein Gewissen rein ist, habe ich an die Notwendigkeit dieser Mitteilung gar nicht gedacht. Nun aber bitte ich Sie darum – ja, ich fordere von Ihnen, Herr von Waldenburg, das zu tun, was Sie für Ihre Pflicht halten. Wenn er es ehrlich mit mir meint, wenn er mich wirklich lieb hat, so wird er begreifen, daß ich keiner wirklich unehrenhaften Handlung fähig bin. In Wahrheit und Wirklichkeit bin ich ohne Makel und gänzlich unbescholten; wer es aber nicht glaubt, dem kann ich eben nicht helfen!«
In ruhiger, würdevoller Haltung verließ Pauline die Stube. Die Mutter schluchzte. Pauline hatte immer verhehlt, warum sie so plötzlich aus dem Geschäfte geschieden sei – das also war's! – Ihr Kind war des Diebstahls beschuldigt worden, und sie hatte – ob mit Recht oder Unrecht – aber sie hatte ein Zugeständnis gemacht. Das war entsetzlich: es war etwas Erdrückendes für die alte Frau! –
»Na denn, ich werde es meinem Onkel nicht sagen,« versuchte Waldenburg Frau Norden zu trösten. »Der Karl ist auch schuld an allem! Der hat Paulinen zu irgend einer Niederträchtigkeit verführt und ist dann auf und davongegangen!«
»Er hat's ja gebüßt,« seufzte Frau Norden.
»Wer weiß, ob er wirklich tot ist! Aber wenn er lebt, so wird ihn sein Verhängnis ereilen!«
Die alte Frau achtete nicht auf seine Worte, sondern kam auf den Ausgangspunkt des Gesprächs zurück.
»Das gebe ich nicht zu,« rief sie, »daß es Ihrem Onkel verhehlt wird; Pauline hat recht: sei es eine Torheit, ein Fehltritt oder ein Verbrechen, was sie begangen, er muß es erfahren. Und wenn Sie es ihm nicht sagen, so wird Pauline selbst, oder ich werde es ihm mitteilen. Verlassen Sie sich darauf! – Wenn ich mich nicht täusche, so wird Ihr Onkel deshalb von Paulinen nicht lassen.«
Waldenburg stand auf. »Mein Onkel wird morgen kommen und um Fräulein Pauline werben – tun Sie, was Sie wollen. Ich werde Paulinens Glück nicht im Wege stehen; ich meinerseits gebe ihr mein Wort, daß ich schweigen werde; ich habe mich übereilt mit meiner Drohung.«
Und er ging. – Pauline mußte jetzt noch den endlosen Fragen und Klagen der Mutter stand halten. Sie verweigerte jedoch eine nähere Erklärung, wie die Sache bei Hilmar zugegangen.
»Sei ruhig, liebe Mutter, von morgen an wird es anders. – Ich werde mein Herz bezwingen und den Major heiraten oder sonst etwas tun, was Dich von mir entlastet. Mehr kann ich Dir nicht sagen. Ich bitte Dich, quäle mich nicht, gib Dich damit zufrieden!«
Die Mutter verstummte vor der unbegreiflichen Willensstärke des jungen Mädchens.
»Wenn Du mir doch nur sagen wolltest –« stammelte sie.
»Du würdest mich doch nicht verstehen, Mutter. Ich bin einer Eingebung gefolgt; ich konnte nicht anders, ich bereue auch nicht, was ich getan habe, denn ich mußte es eben.«
*
Als Frau Norden am folgenden Morgen ziemlich früh vom Markte zurückkam, wo sie Einkäufe für den Mittag gemacht hatte, fand sie Pauline sonntäglich gekleidet mit offener, strahlender Miene. Das konnte nur ein gutes Zeichen sein, eine bräutliche Stimmung.
»Nun, ich sehe, Du bist doch ein vernünftiges Kind – nicht wahr, Paulinchen, Du bist bereit, den Major zu empfangen? Wir können ihm ja alles sagen und die Sache so drehen, daß er Dich nimmt.«
»Liebe Mutter,« sagte Pauline mit einem schwachen Seufzer, »wie gern würde ich es Dir recht machen, aber es wird nicht gehen. Du mußt mich schon meine eigenen Wege gehen lassen; es sind absonderliche Wege – ich weiß es selbst nicht, wie ich auf dieselben gelangt bin – aber ich kann jetzt ebensowenig zurück, wie ein Alpenkletterer, der sich verstiegen hat.« .
Frau Norden konnte diese Reden nicht recht begreifen, nicht recht einsehen, warum Paulinens Wangen so fieberhaft glühten. Ihr ganzes Wesen war eigentümlich exaltiert. Die Mutter hatte keine Ahnung, daß während ihrer Abwesenheit ein Bote der Stadtpost für Pauline einen kleinen Brief gebracht hatte.
Pauline rüstete sich jetzt zum Fortgehen. »Ich habe einen Gang zu machen, Mutter,« sagte sie. »Es ist ja kaum zehn Uhr; sollte Herr von Waldenburg wirklich kommen, so wird es doch nicht vor zwölf Uhr geschehen. Dann bin ich längst zurück.«
Frau Norden sträubte sich hastig gegen Paulinens Ausgang. Ihr war unheimlich zu Mute bei dem geheimnisvollen Tun des Mädchens.
»Ich muß wissen, wo Du hingehst!« versuchte die Mutter mit Strenge zu sagen.
»Ich gebe Dir mein Wort, daß Du rechtzeitig alles erfahren wirst,« entgegnete Pauline, und fort war sie.
»Ein schreckliches Kind!« dachte Frau Norden. »Ich weiß gar nicht, woher sie dieses absonderliche Wesen hat. – Vielleicht aber hat es sein Gutes, wenn ich selbst den Major empfange und ihn auf die dumme Enthüllung vorbereite.«
*
Es war an demselben Morgen gewesen, etwa eine Stunde früher, als Hilmar in seinem Comptoir die Post empfing und in erstauntem Tone zu Armin sagte: »Woher haben wir denn fünftausend Mark zu bekommen? Da kommt mir ein Geldbrief von dieser Summe zu.«
»Fünftausend Mark?« fragte Armin nachdenklich. »Daß ich nicht wüßte! – Woher kommt der Brief?«
»Aus München,« versetzte der Prinzipal.
»Aus München?« wiederholte der Buchhalter. »Dort haben wir keinen solchen Ausstand. Man wird Ihnen vielleicht eine Kommission, einen Auftrag geben oder sonst das Geld zu irgend einem Zweck einschicken. Ein ausstehender Posten kann es kaum sein.«
»Nun, wir wollen ja gleich sehen,« sagte Hilmar und öffnete mit der gewohnten Vorsicht das Kuvert des Geldbriefes. Derselbe enthielt fünf Tausendmarknoten, welche in ein weißes Blatt Papier eingehüllt waren. Kein Wort dabei, keine Zeile, kein Absender genannt – nichts.
»So etwas ist mir doch noch nicht vorgekommen!« rief Hilmar. »Die Sache ist ganz unerklärlich – da, sehen Sie her! Die Adresse stimmt, es ist unsere Firma, es fehlt kein Punkt. Aber nicht ein Wort der Aufklärung – ja, wahrhaftig, nicht ein Wort!«
Bode war herangetreten und starrte den Briefumschlag und das Geld an.
»Was ist Ihnen denn, Armin? Sie sind ja ganz bleich geworden,« versetzte Hilmar.
Auf einmal stieß Bode hervor: »Das Geld ist von ihm!«
»Von wem denn?« entgegnete Hilmar erstaunt. Er begriff gar nicht, was jener meinte.
»Das Geld ist von Karl Hilmar, es kann nur von ihm sein,« stammelte Bode.
»Von Karl? Sie phantasieren! Karl ist jetzt dreiviertel Jahr tot, oder noch länger.«
»Nein, nein – er lebt!« stieß Armin hervor. »Ich habe die feste Ueberzeugung, daß er lebt.«
Nun wurde Hilmar selbst bestürzt und verwirrt. »Welche Idee von Ihnen, haben Sie mir nicht selber gesagt, daß Sie selbst ihn hätten sterben sehen?«
»Weiß ich's denn gewiß?« flüsterte Armin Bode, fast zusammenbrechend. »Er hatte einen Revolverschuß auf sich abgefeuert und verlor bereits Sprache und Bewußtsein, ich meinte, er sei tot. Ich verließ ihn einen Augenblick, – kehrte nach einer Weile wieder nach der Stelle zurück, – da war er fort! – Man konnte inzwischen seinen Leichnam fortgetragen haben, aber das hätten wir doch erfahren müssen, glaube also, er lebt.«
Hilmar schlug die Hände zusammen. »Warum, um Gottes willen, sagen Sie mir denn das erst heute?«
Armin atmete schwer auf. »Ich glaubte zuerst wirklich, er sei tot. Aber schon neulich hat mich ein Erlebnis, das ich Ihnen verschwiegen habe, auf den Gedanken gebracht, daß er leben könne. – Wieviel Geld haben Sie damals vermißt – Sie oder Frau Hilmar?«
»Genau fünftausend Mark – fünf Tausender, wie diese. Aber wir wissen ja, daß Pauline Norden das Geld entwendet hat.«
»Sagten Sie nicht damals selbst,« fuhr Armin fort, »Paulinens Diebstahl sei unglaubwürdig, unwahrscheinlich in jedem Sinne, hinsichtlich der Absicht und der Ausführung?«
»Ja, das sagte ich allerdings,« versetzte Hilmar nachdenklich. »Pauline aber ist ein blutarmes Mädchen, woher hätte sie das Geld haben sollen, wenn nicht aus unserer Kasse? – Es ist ganz undenkbar, daß sie es wo anders her hatte, bei sich trug, gleich im Augenblick zur Verfügung hatte. Sie muß es genommen haben, darüber bin ich mir damals klar geworden. Karl konnte nicht der Dieb sein.«
»Woher denn aber diese Sendung?« und Bode wies auf die Banknoten.
Der alte Hilmar stöhnte auf: »O, mein armer Kopf! – Wie soll man sich in diesem Wirrsal zurecht finden? – Es ist ja mehr, als ein Mensch, der in ruhigen, geordneten Verhältnissen grau geworden ist, ertragen kann. Das ist ja schauderhaft, noch gar nicht dagewesen! – Ist mein Neffe, den wir für tot hielten, der amtlich für tot erklärt wurde, am Leben oder nicht? Hat er gestohlen oder nicht? War Pauline die Diebin oder nicht? Woher kommt dieses Geld?«
Und ganz verwirrt starrte der alte Mann die Banknoten an.
»Pauline ist vielleicht die Hauptschuldige, Karl der Mitwisser oder mitschuldig,« sagte Bode jetzt; »Karl hat keine Ahnung davon, daß die arme Kassiererin das Geld zurückerstattet hat; so macht er jetzt einen Versuch, Sie zu entschädigen. Vielleicht auch will er Pauline Norden damit entlasten. So wird die Sache liegen.«
Hilmar rang noch immer die Hände. »So hätte ich zwei Diebe in meinem ehrenhaften Hause gehabt – ich, dem zeitlebens Vertrauen und Rechtlichkeit über alles ging!«
Bode vermochte es nicht, ihn zu trösten, zu beruhigen. Auch ihm schwindelte, es war zu viel, was auf ihn einstürmte. Zum Greifen nahe schien ihm das größte Erdenglück, er stand nur wenige Wochen vor der Hochzeit; Josepha, seine Braut, erfreute sich eines ungetrübten Glückes, wie eine Rose war sie aufgeblüht; für sie war Karl tot und verschmerzt. Bereits war das erste Aufgebot des Paares erfolgt, aber je heiterer, je lebenslustiger Josepha sich zeigte, desto bedrückter fühlte sich Armin. Sein zartes Gewissen regte sich von neuem und immer von neuem, und während die Aussteuer für Josepha angefertigt, eine Wohnung gemietet wurde und Frau Hilmar unermüdlich im Interesse des jungen Paares anordnete und wirtschaftete, senkte es sich wie eine düstere Ahnung auf Armins Gemüt. Er mußte unaufhörlich an jenen fremden bärtigen jungen Mann denken, der ihn damals wegen des Ringes ausgefragt hatte; wer mochte das wohl gewesen sein? – War es Karl selbst gewesen? – Alle Wahrscheinlichkeit sprach dafür. – Aber wenn dem so war, warum gab er denn seither kein ferneres Lebenszeichen? – Entsetzlich war es Armin, diese unaufhörliche Ungewißheit, diese Angst vor etwas Unfaßbarem, gleichsam in der Luft Schwebendem! Unaufhörlich stand der geheimnisvolle Fremde zwischen ihm und seiner schönen Braut. Jener andere hatte ja Josepha noch nicht freigegeben: wenn er lebte, war sie im Grunde noch immer verlobt. Jene kleine Perle, welche Armin in den Türkisenring hatte einsetzen lassen, diese kleine Perle hatte Armin damals sicher gemacht. Aber wenn jener Fremde Karl selbst gewesen war, würde er dann nicht unfehlbar wieder auftauchen, nicht zwischen Armin und Josepha in dem Augenblicke treten, wenn sie zum Altar schritten? – Oder vielleicht auch noch später, wenn sie bereits verheiratet waren? –
Allerdings, Armin sagte sich immer wieder, daß das anhaltende Schweigen und Verschollensein Karls Josepha nicht nur rechtlich, sondern auch moralisch die Freiheit gegeben habe, über ihre Hand verfügen zu dürfen.
Aber nun diese Geldsendung heute war ein neues Symptom der furchtbaren Nähe des fälschlich Totgeglaubten; er war unerreichbar und doch immer nahe, wie ein Gespenst, das sich nicht verbannen läßt. Wenn er nun wirklich wiederkäme, würde dann Josephas Herz sich ihm nicht von neuem zuwenden? –
Von wem konnte das Geld herrühren? Wer schickte gleich aus Zufall runde fünftausend Mark, genau die fragliche Summe, ohne nähere Angabe, ohne nähere Adresse? – Wie ließ sich hier ein Mißverständnis, ein Irrtum erklären?
Ja, Karl lebte! Er hatte jetzt gebüßt, gesühnt, und konnte jeden Tag wiederkommen. Und was würde dann geschehen? Hatte er sich nicht unter dem Vorwande in das Haus eingeführt, daß jener nicht am Leben sei?
So entsetzlich rächte sich an ihm das kleine Vergehen, jenen einzigen Umstand verschwiegen zu haben! Schon sah er sich im Geiste das Haus wieder verlassen, sah er sein Liebesglück, seine Zukunft vernichtet – alles dahin, alles verloren! Ach, und wie teuer war ihm dieses Haus geworden, wie fest wurzelte er hier mit jeder Faser seines Lebens! –
Welch' ein elender Feigling war er doch damals gewesen, daß er über Karl nicht die volle Wahrheit gesagt hatte. Ja, ein Feigling war er gewesen, aber das rächte sich auch gar zu schwer! –
Er bat jetzt: »Lassen Sie doch wenigstens einmal Pauline Norden rufen. Waldenburg weiß ihre Adresse, denn er wohnt bei ihrer Mutter. Vielleicht weiß sie uns irgend etwas zu sagen, was Klarheit in die Sache zu bringen vermag.«
Hilmar schrieb sofort die folgenden Zeilen:
»Ich bitte Sie, geehrtes Fräulein, mich in Angelegenheit jener fünftausend Mark, die Sie mir damals zurückerstatteten, sogleich zu besuchen. Es ist ein unerwarteter Lichtstrahl auf die Sache gefallen. Kommen Sie sofort, auf der Stelle, ich bitte Sie in Ihrem eigenen Interesse.«
Das war der Brief, welchen Pauline an jenem Morgen erhalten hatte.
»Wir wollen meiner Frau und Josepha nichts sagen,« bemerkte der alte Herr, nachdem der Brief durch einen besonderen Boten abgesandt worden war. »Erst wenn wir selbst irgendwelche Klarheit erlangt haben, wollen wir zu ihnen darüber sprechen.«
Das war ganz Armins Wunsch. Ach, Klarheit – Klarheit! Welche Klarheit für ihn würde das sein? –
Es blieb noch die Hoffnung, daß Pauline etwas aussagen würde, was Erlösung brachte. – Was aber konnte sie sagen?
Ueberraschend schnell, kaum eine halbe Stunde später, erschien Pauline Norden bereits in dem kleinen Comptoir. Man war draußen in dem Hilmarschen Geschäfte nicht wenig erstaunt gewesen, sie wieder erscheinen und so geraden Wegs zu dem Chef eintreten zu sehen.
Sehr freundlich wandte Herr Hilmar sich an das junge Mädchen mit den Worten: »Ich habe Sie bitten lassen, zu mir zu kommen, Fräulein Pauline, um die Angelegenheit von damals, Ihren angeblichen Diebstahl, noch einmal zu erörtern. Sie hatten sich damals freiwillig gemeldet, sich des Diebstahls ganz aus eigenem Antriebe beschuldigt; die Sache schien mir unglaublich, ich mußte Ihnen aber dennoch glauben; sie legten mir ja das Geld auf den Tisch. Nun sehen Sie aber einmal: hier liegt es jetzt nochmals auf dem Tische. – Heute erhielt ich nämlich einen anonymen Geldbrief, ebenfalls fünftausend Mark enthaltend.«
Er zeigte den Briefumschlag, in dem die Summe, die damals gefehlt hatte, ohne nähere Angabe enthalten war.
»Jemand anders hat das Geld entwendet also, und nicht Sie. Jener andere zahlt jetzt die Summe an mich zurück. Ich muß Sie also bitten, Ihr Geld zurückzunehmen, das Sie mir damals gaben.«
»Sie wissen nicht, wer Ihnen dies Geld geschickt hat, Herr Hilmar?« entgegnete Pauline ausweichend.
»Nein, ich habe keine Ahnung davon, wer es sein kann, ich muß aber annehmen, daß es der wirkliche Dieb sei.«
»Sie wissen nicht wer?« versetzte sie scharf. »Das heißt, Sie verdächtigen Herrn Karl Hilmar?«
»Ich habe den Namen meines Neffen nicht genannt,« versetzte der Alte. »Aber ich kann allerdings vermuten, daß Karl lebt, daß er mir das Geld geschickt hat.«
Bode konnte sich nicht länger beherrschen. »Nein, nein, er ist sicherlich nicht tot!« rief er. »Um Gottes willen, Fräulein Pauline, sagen Sie die Wahrheit – sagen Sie, was Sie wissen! Die Ungewißheit ist nicht zu ertragen; das ist ja um wahnsinnig zu werden!«
Bei seiner heftigen Beteuerung: »Er ist nicht tot!« hatte sich ihr Gesicht verklärt, es nahm fast einen visionären Ausdruck an. Das Mädchen schien größer zu werden, sie richtete sich auf; fast schien es, als wolle sie emporschweben.
»Nein, nein, Herr Karl Hilmar darf nicht verdächtigt werden,« sagte sie lächelnd. »Ich habe das Geld genommen: gewiß – ich kann es nicht anders sagen. Bedenken Sie doch, Herr Hilmar: ich gab es Ihnen zurück! Woher hätte ich es sonst nehmen sollen?«
»Aber dieses Geld – dieses?« rief der alte Mann, von neuem die Banknoten anstarrend.
»Was weiß ich!« sagte Pauline achselzuckend. »Die Sendung beruht auf einem Irrtum, einem Zufall, der sich später schon aufklären wird. Das Leben ist ja reich an ganz unglaublichen Zufällen; wer wüßte nicht davon zu erzählen?«
Ihr ganzes Betragen war doch recht sonderbar, und Hilmar sagte streng: »Nehmen Sie Ihr Geld zurück, Pauline, Sie hatten es nicht entwendet!«
Sie antwortete nicht gleich. Dann sagte sie: »Sie wissen doch etwas von Herrn Karl, Sie sagen es mir nur nicht. – Hat er den Diebstahl bekannt?«
»Mein Wort darauf, nein!« entgegnete Hilmar. »Ich weiß weiter nichts. Aber das Geld kann ja nur von ihm herrühren. Besinnen Sie sich doch, Mädchen! Ich gebe Ihnen zum letzten Male Gelegenheit, Ihr Geständnis von damals zurückzunehmen. Weisen Sie nicht ein kleines Vermögen zurück, um einen schweren Makel auf sich zu laden!«
Das junge Mädchen fühlte sich von den widerstrebendsten Empfindungen bewegt. Aber in dem Augenblick, wo ihre Hoffnung, Karl sei noch am Leben, zum ersten Male einen tatsächlichen Hintergrund erhielt, fühlte sie sich auch dazu gedrängt, bei der Selbstaufopferung, die sie aus schwärmerischer Liebe zu ihm damals vollzogen hatte, zu beharren.
Mit einer entschiedenen Handbewegung schob sie die Banknoten zurück. »Nein, Herr Hilmar, das Geld kommt mir nicht zu. Ich hatte es wirklich damals entwendet – ich, nicht Karl. Glauben Sie mir, es ist mein letztes Wort.«
»Pauline,« mahnte Hilmar nochmals, »Sie sind doch gar zu sonderbar! – Wir haben nur schwache Vermutungen, wir hofften einen Ausschluß von Ihnen, eine zuverlässige Mitteilung.«
»Auch ich weiß nichts von Herrn Karl,« versetzte Pauline, »ich weiß nur das, was Sie schon wissen: ich habe das Geld genommen. Ich danke Ihnen, Herr Hilmar, daß Sie sich meiner so teilnehmend erinnerten, aber ich kann Ihnen nicht weiter dienen.«
Damit ging sie.
Bode folgte ihr, draußen auf der Straße holte er sie ein, trat neben sie und flüsterte ihr zu: »Wir müssen Klarheit gewinnen, was aus Karl Hilmar geworden ist.«
»Ja, das müssen wir,« versetzte Pauline.
Keines von ihnen kannte die Beweggründe des andern, aber sie verstanden sich trotzdem.
»Gehen Sie nach der Villa Brennus auf dem Kurfürstendamme,« sagte Bode energisch; »suchen Sie hineinzugelangen und den jungen Brennus zu sprechen. Gelingt es Ihnen nicht, so suchen Sie zu erforschen, wo er sich aufhält. Der junge Brennus ist im Besitz des Geheimnisses, ich weiß es ganz genau. Mich aber ließ man nicht vor, es war mir unmöglich, etwas zu erfahren. Vielleicht wird man gegen eine Dame nachgiebiger sein.«
Ihre Augen leuchteten auf: das war ja in der Tat eine Hoffnung!
»Ich danke, Herr Bode, ich will's versuchen, auf der Stelle; und dann gebe ich Ihnen auch Nachricht.«
Sie verabschiedeten sich rasch.
Pauline nahm sofort die erste beste Droschke und fuhr hinaus nach der bezeichneten Adresse. Sie klingelte an der verschlossenen schmiedeeisernen Tür, und auch diesmal erschien der alte, weißhaarige Diener. Auch ihr gab er dieselbe Auskunft: der junge Herr Brennus sei gar nicht hier und infolgedessen auch nicht zu sprechen.
Aber es mochte etwas im Ton, im Blick, im Wesen des jungen Mädchens liegen, was den Alten milder stimmte. Er zwinkerte verständnisinnig mit den Augen und flüsterte: »Zwar ist es gegen meine Pflicht, aber ich will's Ihnen verraten: Herr Brennus ist zu erfragen oder ein Brief erreicht ihn unter der Adresse: München, Akademie der Künste, Akademiestraße.«
Pauline dankte und stieg wieder in ihre Droschke. Sie fühlte sich beglückt, dieses wenige erfahren zu haben. Auch jener Geldbrief war aus München abgesandt worden. Karl schien in irgend einer Weise mit dem jungen Brennus befreundet oder verbündet zu sein, und beide weilten zusammen in München, das war kein Hirngespinst, sondern durfte jetzt als wahrscheinlich gelten.
Sie begab sich nach Hause. Richtig, der Major war bereits erschienen; fein gekleidet, einen prachtvollen Blumenstrauß in der Hand, so saß er neben der Mutter auf dem Sofa, und beide waren in ein eifriges Gespräch vertieft. Am Fenster stand, sehr verdrossen dreinschauend, Oskar von Waldenburg. Er hatte sich auf eine Stunde frei gemacht, angeblich, um Paulinen zu gratulieren.
Frau Norden nahm die Hand ihrer Tochter und hätte sie beinahe in die des Majors gelegt.
»Ich habe Herrn Major von Waldenburg alles gesagt: daß Du zwar mit einem Skandal aus dem Hilmarschen Geschäft geschieden bist, daß Du aber ganz unschuldig gewesen seiest. Er glaubte mir und stößt sich nicht weiter daran.«
Pauline löste ihre Hand aus der der Mutter. Sie trat vor den Major hin und sagte gerade und ehrlich: »Ich habe ein schweres Unrecht an Ihnen begangen, Herr Major, indem ich Sie so lange glauben ließ, daß ich Ihre Frau werden könnte. Das war wirklich sehr schlecht von mir, und ich bitte Sie, mir zu verzeihen. Aber gerade jetzt, im entscheidenden Augenblick ist es mir ganz klar geworden, daß ich Ihnen nicht angehören kann. Ich kann nicht, – bitte, glauben Sie es mir.«
»Sie lieben meinen Neffen?« meinte der Major, sichtlich enttäuscht.
Pauline lachte laut auf. »Nein, nein, Herr von Waldenburg, das ist es nicht. Ich habe keine Neigung für Ihren Herrn Neffen.«
Frau Norden suchte zu vermitteln. »Sie sehen, welch' ein Gänschen Pauline ist. Sie kennt die Liebe nur aus Romanen. Du solltest mit Deinen einundzwanzig Jahren doch wissen, mein Kind, daß man lieben lernt durch sanfte Gewöhnung, besonders bei einem solchen Manne, wie Herr von Waldenburg einer ist.«
»Ich glaube auch, daß ich das könnte,« versetzte Pauline, »wenn – mein Herz frei wäre!«
Sie atmete tief auf.
»Es muß heraus. Ich liebe einen anderen, liebe ihn mit ganzer Seele, liebe ihn bis zur Aufopferung meiner selbst und meiner Existenz. Suchen Sie nicht nach ihm in meiner Umgebung, er ist ferne, vielleicht unerreichbar, aber ich liebe ihn dennoch. – Ich werde alle Hindernisse besiegen oder untergehen. Aber zu einer Vernunftheirat bin ich nicht fähig.«
Die Mutter war ganz verblüfft. Sie wollte scheltend auf das junge Mädchen losfahren, der Major legte sich jedoch beschwichtigend ins Mittel.
»Pauline ist jung, ist exaltiert,« sagte der Major, »sie folgt einer augenblicklichen Erregung. Das alles wird vorübergehen, und Pauline wird vielleicht dann mich und das, was ich ihr biete, anders beurteilen lernen. Bis dahin hoffe ich. Allerdings, ich hoffte heute eine Braut hier zu finden, ich will mich aber vorläufig zufrieden geben, wenn Sie mir eine Freundin bleiben, Fräulein Norden.«
»So sprich doch wenigstens,« drängte die Mutter. »Welcher dummen Einbildung hängst Du denn nach?«
»Ich kann Dir das nicht sagen, Mutter, und auch dem Major nicht. Es ist ganz unnütz, in mich zu dringen.«
»Lassen wir sie,« meinte der Major und versuchte einen unbefangenen Plauderton anzuschlagen, aber es gelang ihm nicht, eine gleichgültige Konversation zu führen. Pauline war zu erregt, ihre Mutter zu ärgerlich, und er selbst doch auch zu tief gekränkt.
Er empfahl sich also und verabschiedete sich von Paulinen wahrhaft herzlich, worauf sie auch einging.
»Mit mir ist nichts zu beginnen,« sagte sie lächelnd. »Sie verlieren auch nichts an mir. Ich bin ein törichtes Ding, und es ist gut, daß Sie nicht alles wissen, was mir durch den Sinn geht.«
Er lächelte. – Wie reizend sie war, wie die offene Sprache sie kleidete. Sie würde eine vollendete Dame sein, geradezu Erfolge in seinen Gesellschaftskreisen haben; und er blieb dabei: »Ich hoffe noch immer.« –
Während Pauline und der Major miteinander sprachen, war der bisher fast unbeachtet gebliebene Oskar von Waldenburg an Frau Norden herangetreten und flüsterte ihr zu: »Der andere ist Karl Hilmar. Kein Zweifel, sie muß eine Gewißheit erhalten haben, daß er lebt. Aber – davon müssen wir sie heilen ... Ich gehe direkt zur Polizei.«
Dann schloß er sich seinem Onkel an.
Pauline ließ beide gehen, von denen jeder im stillen noch hoffte. Fast ohne etwas zu erwidern, ließ sie Zorn und Jammer ihrer Mutter über sich ergehen. Kaum war diese aber in die Küche zurückgegangen, so öffnete sie ihren Schrank, entnahm demselben den von ihrer Tante geerbten Rock und zog aus einer darin verborgen angebrachten Tasche ein kleines Portefeuille, in dem sich zwei Hundertmarknoten befanden. Dieses Geld steckte sie zu sich, dann ging sie zu ihrer Mutter in die Küche.
»Liebe Mutter,« sagte sie, »was ich Dir vorhin verschwieg, war, daß Herr Hilmar mich zu sich beschieden hatte. Du siehst, daß er mir nicht zürnt. Er hat mir eine Empfehlung gegeben an einen Geschäftsfreund, wo ich eine gute, einträgliche Stelle erhalten könnte. Aber er wohnt in München. Ich wollte es Dir nicht gleich sagen, denn Du wirst mir grollen, daß ich Dich verlassen will. Aber es ist besser so, wenn wir uns zeitweilig trennen. Du wirst Dich dann nach und nach darein ergeben, daß ich Deinen Wunsch bezüglich des Majors nicht erfüllt habe. Bitte also, ergieb Dich in das Unvermeidliche und laß mich abreisen.«
Die Mutter widersprach und zankte noch eine Weile, aber sie sah, daß Pauline auch diesmal unerbittlich war.
Und wirklich, noch am selben Abend reiste das junge Mädchen nach München ab.
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