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Francis saß in Gerolds Schreibsessel in dem Resedazimmer und erwartete in einer ihr selbst unerklärlichen Spannung die Rückkehr der so plötzlich in die Stadt gerufenen Mutter.

Das Telegramm Egberts hatte merkwürdig dringlich gelautet.

Es war an sich schon auffällig, daß der Bruder die alte Frau zu seinem Empfang zur Bahn bemühte.

Vielleicht aber wußte er von ihrer, Francis, Anwesenheit, von ihrer Krankheit und wollte ihr eine schmerzliche Begegnung ersparen.

Denn im Grunde war sie eine Schiffbrüchige, die Steuer und Ruder verloren hatte draußen auf dem wilden Meere des Lebens, und die nun gedrückt, beschämt Unterschlupf suchte – in ihrem eigenen Hause.

Da ging man nun zart und rücksichtsvoll mit ihr zu Werke.

Sie selbst hatte den Bruder nicht wiedergesehen, seit er ihr hier, an dieser Stelle, gesagt, daß er den »schönen bunten Rock« ausziehen müsse.

Und noch deutlicher stand er vor ihr, da sie ihn vorher in seiner Wohnung aufgesucht hatte.

Damals erschien er ihr wie ein Verworfener, Verlorener. Sein Tod wäre nur ein pflichtgemäßes Opfer für die Ehre der Engern gewesen.

Aber er hatte einen andern Weg gefunden, diese Ehre reinzuwaschen: er war ein tüchtiger, strebsamer Mann geworden.

Mit dem heißen Ungestüm eines Jünglings hatte der Dreißigjährige sich damals das Mädchen seiner Liebe geholt, nachdem sie, Francis, ihm den Weg zu ihr wieder frei gemacht.

Auf seinen Armen, sozusagen, hatte er die Geliebte heimgetragen – der Glückliche, der Beneidenswerte!

Er besaß jetzt, wie sie von der Mutter wußte, das unbedingte Vertrauen seines Herrn, füllte eine verantwortliche Stellung aus, hatte entschieden abgelehnt, irgend welche Hilfe von der jetzt im Ueberfluß lebenden Mutter anzunehmen, verwendete seine Ersparnisse, um alte Schulden zu tilgen ... War das nicht eine Sühne, segensvoller als der Selbstmord? Und nützlicher, moralischer, als eine Gefängnisstrafe?

Sie seufzte schmerzlich in sich hinein.

Nicht zum ersten Male geschah es, daß ihr Zweifel aufstiegen, ob denn die überlieferten Begriffe von Ehre und Pflicht wirklich so unwandelbar seien, wie sie ihrem Vater und ihr von jeher erschienen? Ob sie nicht vielmehr von jeder Generation neu geprägt werden, wie jeder Regent neue Münzen prägen läßt?

Jahrzehnte lang, vielleicht Jahrhunderte hindurch, ist die neue Münze der alten ähnlich oder gar gleich; bis eines Tages ein neuer Wert, ein neuer Name sogar für diese bisher ungekannte Münze erscheint.

Die älteren Leute erlernen es nicht mehr, sich mit der neuen Rechnung zu befreunden; auch die jüngeren hängen noch eine Zeitlang an der alten Gewöhnung – bald aber ist von den längst ungiltigen Prägungen nichts mehr übrig geblieben, als hier und da ein Stück im Besitze der Kuriositätenhändler.

Wenn sie damals Egberts Schuld abwog gegen die jenes anderen Mannes, der sie so unendlich geliebt hatte, meinte sie sich des Bruders schämen zu müssen.

Es gab keine Rechtfertigung für das, was er getan – nur um des Wohllebens willen, und um die Ausschreitungen seines Standes mitmachen zu können.

Erziehung und Vorbild mußten ihn davor schützen, bis zum Handlanger für zweifelhafte Geschäfte herabzusinken.

Mehr noch, als jene, die diese Geschäfte machten, gehörte Egbert auf die Anklagebank.

In Wirklichkeit hatte die Furcht, neben ihrem Gatten auch den Bruder in ein schimpfliches Strafverfahren verwickelt zu sehen, nicht wenig dazu beigetragen, daß sie damals in jäher Flucht Berlin verließ.

Aber nicht einmal Egberts Name war in dem Prozesse genannt worden, vermutlich, weil Gerold ihn diskret verschwiegen hatte.

So konnte jener, den sie selbst für den Schuldigeren hielt, frei ausgehen, konnte sich aufraffen zur Begründung einer neuen, ehrenvollen Existenz, während er, für den heute in ihrem Herzen tausend Rechtfertigungsgründe sprachen, zerschellen mußte an den Klippen einer Moralauffassung, die ihr damals als ein unverletzliches Heiligtum galten.

Längst sah sie die Dinge in anderem Lichte.

Man muß erst hinausgetreten sein aus seinem engen Kreise, um ein Urteil zu haben über die Menschen und die Triebfedern ihres Tuns.

Wie viel Lüge und Schlechtigkeit, wieviel Heuchelei und Gemeinheit hatte sie gesehen, seit sie ihr Brot an fremder Leute Tisch aß. Und was ihr hätte Schutz sein sollen gegen die Gelüste einer erbärmlichen Gesellschaft: daß sie allein stand und freiwillig das Joch der Dienstbarkeit auf sich genommen hatte, – daraus schmiedete man Waffen gegen sie. »Einen jungen Mann hätte sie nicht verlassen,« sagten die einen, und andere meinten: »Sie ging, weil sie ihn vor seinem Untergange sah.« Und deshalb glaubte jedermann ein Recht auf sie zu haben.

Nicht zur Arbeit erzogen, in der Ehe über alle Maßen verwöhnt, war sie zunächst fast unfähig, etwas zu leisten. Die Söhne, die Männer ihrer Herrinnen, wollten sich dafür schadlos halten.

Wie ein gehetztes Tier flog sie von Stellung zu Stellung – gab es doch kein Zurück für sie.

Aber sie lernte arbeiten, gehorchen, sich fügen, hielt es schließlich an einem Platze aus, um den sich längst niemand mehr bemühte, bei der jähzornigen, rücksichtslosen Gräfin Reventlow.

Länger als ein Jahr hatte sie es heldenhaft getragen; da kam ein Tag, an dem sie glaubte, etwas von ihrer Brotherrin fordern zu dürfen, das über Lohn und Kost hinausging: ein wenig menschliche Teilnahme. Und da gab man ihr den Laufpaß ...

Sie hatte ihn wiedergesehen. Von den Fenstern der Villa Habsburg in Abbazia aus sah sie, wie er an dem gegenübergelegenen Halteplatz einer Dame in den Wagen half, wie er zu ihr einstieg, sorglich die Decke über sie breitete und in angelegentlichem Geplauder mit ihr davonfuhr.

Wie gern sie sich auch überredet hätte, daß es ein Irrtum gewesen – sie hatte ihn nur zu gut erkannt, obwohl sie erschrocken war, wie sehr er gealtert hatte in kaum drei Jahren. –

Es war, als ob ein Dolchstoß sie getroffen hätte. Alles Blut strömte ihr zum Herzen, die Füße schwankten unter ihr – sie sank bleischwer zu Boden. Und die Gräfin stand neben ihr und schalt.

Sie könne kein hysterisches Frauenzimmer um sich leiden. Das fehlte noch, daß sie die Krankenwärterin spiele. Sie schickte eines der Dienstmädchen herein, das sich alle Mühe gab, Francis wieder zu sich zu bringen.

Es war über die junge Frau gekommen, wie ein Strafgericht.

Die einfachsten Vorgänge, die natürlichsten Erscheinungen nehmen unter Umständen einen bedeutsamen, tief geheimnisvollen Charakter an.

Die Gräfin hatte schon gestern reisen wollen, aber ihre Gesellschaftsdame befand sich nicht ganz wohl und widerwillig fügte sich die heftig und wenig zartfühlende Frau darein, noch eine Woche hier zu verweilen.

»Wenn man so gegen seinen Willen aufgehalten wird,« raisonnierte die Gräfin, »so ist das immer nur die Einleitung zu weiteren, schlimmeren Zwischenfällen!«

Francis hatte dazu gelächelt, trotz ihres Unbehagens – nun war ihr das Lachen völlig vergangen.

Hätte sie sich doch gestern überwunden, so wäre ihr das Furchtbare erspart geblieben.

Es war wohl nicht Schreck allein, was sie empfand, als sie den früh Ergrauten so plötzlich in Rufnähe vor sich auftauchen sah; auch nicht nur Eifersucht, was ihr das Herz stocken machte, während er dort drüben einer anderen alle die ritterliche Artigkeiten, all' die zärtliche Besorgnis erwies, die sie, Francis, als etwas Selbstverständliches von ihm hingenommen hatte – noch ein anderes, bitteres Gefühl kam hinzu: sie schämte sich, sie klagte sich an, daß sie selbst verschuldet hatte, was sie nun so ganz aus der Fassung brachte.

Hatte er sie nicht gerufen, gebeten, sie angefleht, ihn zu hören?

Hatte er nicht mit unermüdlicher Geduld von neuem um sie geworben, sie gesucht, war er ihr nicht gefolgt auf eine bloße Spur hin – hatte er sich nicht ihrem harten Spruche fügen wollen?

Und sie hatte sich gepanzert mit Unnahbarkeit, hatte gleichsam sich eingehüllt in ihren Stolz, wie in eine Wolke, die sie seinem sehnenden Blicke entzog.

Bis er glauben mußte, sie sei ihm auf immer verloren.

Er war unabhängig, reich, ein Mann von Geist und Bildung, auch nicht mehr von Geschäften bedrängt – war es ein Wunder, daß er Anwort fand in einem neuen Kreise, den er sich erschlossen hatte? Und war jene nicht zu beneiden um diesen Mann, den Francis in lächerlicher Selbstüberhebung freigegeben hatte?

Dürfte Francis auch nur den Versuch wagen, ihn ihr streitig zu machen?

Sie betrat den Salon nicht mehr, um jene beiden nicht mehr zu sehen.

Aber die Hinterzimmer der Villa blickten auf den Kurpark, auf die Strandpromenade hinaus, und dort verbrachte die Gesellschaft, in der Gerold sich befand, ganze Stunden des Tages.

Wäre sie, Francis, nicht eine Sklavin gewesen, sie hätte schon an jenem ersten Tage die Flucht ergriffen.

Dann aber wollte es ihr scheinen, daß nicht Gerold der werbende Teil des Paares wäre – das Auge der Eifersucht erfaßt Dinge, die sich jedem sonst entziehen.

Und ganz leise regte sich's in ihr, als ob die Stunde gekommen sei, wo sie ihren Stolz von sich schütteln, wo sie vor ihren Gatten hintreten mußte, ihm Versöhnung anzutragen.

Aber der geschäftige Klatsch legte sich wie Meltau auf die milden Regungen ihrer Seele.

Wirtin und Dienstpersonal der Villa schienen gar nichts weiter zu tun zu haben, als der armen Francis die interessante Geschichte von dem reichen, in Nizza wohnenden Privatmann zu erzählen, der im Begriffe stehe, mit der noch viel reicheren Amerikanerin in deren Heimat abzudampfen.

Bis in alle Einzelheiten kannte man in dem müßigen Kurstädtchen die ganze Entwicklung dieser »Jachtpartie«. Und wie vergiftete Nadelstiche peinigten alle diese Zuträgereien die wehrlose junge Frau.

Verzweifelt wandte Francis sich an die Gräfin, vertraute dieser, um sich's nur einmal vom Herzen zu reden, ihr Geheimnis an und bat um Rat und Hilfe.

Aber die hartgesottene Egoistin hatte kein Verständnis für die Leiden anderer.

»Sie sehen doch, es ist zu spät,« fuhr sie die junge Frau an. »Oder bilden Sie sich etwa ein, er werde jetzt die Millionärin ziehen lassen, um Ihre Postfestum-Verzeihung zu erbetteln? Lächerlich! Es geschieht Ihnen schon recht: warum laufen Sie Ihrem Manne davon?«

Francis antwortete gereizt, die Gräfin machte kurzen Prozeß und löste das »Dienstverhältnis«. Sie wollte ohnehin sich nach einer »Person« umsehen, die weniger anfällig wäre, als die hyperempfindliche Francis, die eben die Nase zu hoch trug.

Sie zahlte ihr einen Monatsgehalt aus – Reisekosten waren nicht vereinbart – und so besaß Francis, da sie zum Sparen nie gekommen, gerade so viel, um ihren müden Leib bis zur Mutter zu schleppen.

Ihre Widerstandskraft war gebrochen.

Mit welchen Empfindungen sie dieses Haus, dieses Zimmer betreten – wie oft sie in den kurzen Wochen, seit sie hier war, gewünscht hatte, die letzten drei Jahre auslöschen zu können aus ihrem Leben! Aber allmählich war doch Ruhe über sie gekommen – stille, kühle Ruhe.

Sie saß hier, wo sie einst sieben Wochen lang fast ununterbrochen Tag und Nacht gesessen hatte – sie las seine Bücher, sie fing an, sich seiner Großmut zu freuen, aber sein Bild begann ihr zu entgleiten ...

»Du wirst Dich jetzt sehr zusammenraffen müssen, Francis,« begann die Mutter, »Du wirst die Summe von alledem ziehen müssen, was Du erlebt hast, wenn Du nicht in der nächsten Viertelstunde zum zweiten Male Dein Glück verscherzen willst!«

Mit heißen, weit aufgerissenen Augen hing Francis an den Lippen der Mutter.

Sie hatte ein Gefühl, nach dem sie nun schon jahrelang gelechzt hatte – sie, die »Richterin« von einst, sie verlangte nichts sehnlicher, als nun vor ihn hintreten zu dürfen, wie vor eine höhere Instanz, frei ihr Verschulden zu bekennen und dann in Fassung seinen Spruch hinzunehmen.

Nein – sie würde nichts verscherzen.

Mit bebendem Munde stammelte sie:

»Mutter ...«

»Gerold ist hier,« sagte Mama in weichstem, liebevollstem Tone und nahm beide Hände Francis' in die ihren, »er wird Dich aufsuchen – er will Dir alles vergeben – er ist ein guter Mensch!«

Aufschreiend stürzte Francis der alten Frau zu Füßen.

»Mutter,« schluchzte sie, »das hab' ich nicht verdient!«

Mühsam zog die alte Frau ihr Kind zu sich empor, um ihr kurz und hastig, wie die Zeit es gebot, klar zu machen, wie die Dinge standen.

»Er hat nie aufgehört, Dir von Herzen gut zu sein,« schloß Frau von Engern; »das allein legt Dir die heiligsten Pflichten auf. Nicht jedem ist es vergönnt, ein verlorenes Glück von neuem aufrichten zu können. Wenn Dir jetzt solche Gnade wird, so zeige Dich ihrer würdig.«

*


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