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Helle Frühlingssonne lachte durch das Gitterfenster in die Zelle hinein, als Gerold mit seiner Reisetoilette fertig war. –

Der Aufseher hatte ihm alle seine Sachen gebracht – bis auf das Geld natürlich, das man für ihn in Verwahrung hatte. –

Da es eine ansehnliche Summe war, hatte die Gefängnisverwaltung es für ratsam gehalten, sie direkt an die Berliner Behörde zu senden, statt sie dem Transporteur mitzugeben.

Sonst aber hatte Gerold heute früh wieder einmal alles, was er auf Reisen gebrauchte.

Er konnte sich wieder mit seiner Seife waschen, sich mit seinem Kamm frisieren, sein Rasierzeug benützen – mit einem Wort, er hätte glauben können, er befände sich auf der Reise, sei in einem Dorfwirtshaus abgestiegen, das solche Gitterfenster hatte ... Daß er überdies ein wirkliches Goldstück in der Tasche führte, steigerte seine Stimmung nicht wenig.

Der brave Aufseher hatte ihn orientiert, wie die Sache zu behandeln sei, ohne daß der Transporteur sich direkt einer Pflichtverletzung schuldig machte.

Etwas unzeitgemäß würde sich der Pelz ausnehmen an diesem herrlichen Frühlingstage.

Aber man fuhr ja bis in den Spätnachmittag hinein und dann – nun dann kam der Pelz wieder in Verwahrung, wie so manches andere auch.

Nun rief man ihn hinunter.

Er empfahl sich mit herzlichem Dank dem Aufseher, der ihm noch zuflüsterte: »Lassen Sie sich's gut schmecken!« dann warf er den Pelz über die Schulter, nahm Tasche und Stock und zog beinahe fröhlich, als ging es in die Freiheit, von dannen.

Unten übergab der Inspektor ihn einem bärtigen Manne, der gleichwohl gar nichts Furchterweckendes an sich hatte. Auf den ersten Blick als das zu erkennen, was er war, als ein kleiner, rechtschaffener Handwerker, dem man vertraute, und der sich einen Nebenverdienst nicht entgehen lassen mochte.

Auch der Inspektor hatte noch ein paar freundliche Worte für den Gefangenen.

Er hätte den Transporteur noch besonders instruiert – die Reise würde Herrn Gerold nicht schwer gemacht werden.

Ein Eisengitter schloß sich hinter ihnen; sie schritten über den Hof.

Dicht vor der Pforte befand sich das Militärwachthäuschen.

Dem diensthabenden Gefreiten mußte erst der Ausgangspaß präsentiert werden, bevor er das Außentor öffnete.

Nun standen sie auf der Straße.

Meister Reinecke hatte schon bemerkt, wie es mit dem rechten Fuße Gerolds stand.

»Wir haben Zeit, mein Herr,« meinte er, »Sie brauchen sich nicht anzustrengen. 's ist auch gar nicht weit zur Bahn.«

Gerold war mit sich einig: das war der rechte Mann; mit dem konnte man, was die Verpflegung betraf, ganz offen reden. Und er wollte das sofort tun.

»Ich habe noch etwas Geld bei mir,« begann er ohne weiteres, »noch gerade zwanzig Mark. Die werd' ich Ihnen übergeben, damit Sie bezahlen können, was wir unterwegs verzehren. Es könnte sonst irgendwer, der Sie kennt und Ihren Auftrag vermutet, sehen, daß ich zahle, und das darf nicht sein.«

»Nein, das darf nicht sein,« bestätigte der Meister.

»Wir können die ganzen zwanzig Mark verbrauchen,« fuhr Gerold fort, »in Berlin kann mir ja der Rest nichts nützen. Aber ich möchte Sie bitten, daß Sie drei Mark davon zur Seite stecken und sie, wenn Sie hierher zurückkehren, an den Aufseher des Polizei-Gewahrsams ausfolgen – mit einem schönen Gruß von mir.«

»An den alten Hollmann?«

»Ganz recht. Und wenn wir sonst etwas übrig behalten sollten – nun – da wird sich ja wohl ein Bedürftiger finden, dem Sie's geben können.«

»Das ist ein feiner Mann,« dachte Meister Reinecke. »O – die verstehen es, die feinen Leute! Nur, wie er es anstellen will, siebzehn Mark zu verzehren bis heute nachmittag – darauf bin ich denn doch neugierig.«

Er selber, Reinecke, hatte ja ein umfangreiches Paket mit Butterbroten bei sich, auch ein Stück Wurst und überdies eine Flasche Milch, in die Minna, die das alles zurecht gemacht, einige Teelöffel voll Rum gemischt hatte, er selbst also war versorgt!

Da mußte für den »Bedürftigen« ein gut Stück Geld übrig bleiben.

Und von seinen Diäten wollte er auch so wenig als möglich ausgeben.

Je mehr Geld er mit nach Berlin brachte, um so weniger würde er sich von dem Stiefbruder über's Ohr hauen lassen ...

Da wurde eben ein Zigarrenladen aufgemacht.

»Nehmen Sie doch da, bitte recht sehr, ein paar Zigarren für mich mit,« bat Gerold, »das Stück zu vierzig oder fünfzig Pfennig!«

Reinecke erschrak.

»Wieviel Stück für vierzig Pfennig?«

Lächelnd wiederholte Gerold seinen Auftrag, und mit einem Seufzer trat Reinecke, dem Gefangenen den Vortritt lassend, in den Laden.

Glücklicherweise führte man hier gar keine Zigarren teurer als zwanzig Pfennig.

Davon kaufte Meister Reinecke zwei Stück.

Er hatte Tabak für seine kurze Pfeife in der Tasche.

Auch die Zwanzig-Pfennig-Zigarre bereitete dem Exkonsul einen wirklichen Genuß. –

Reinecke löste die Fahrkarten; für sich eine Rückfahrkarte, was nun wieder Gerold seufzen machte.

Dann betraten sie gemeinsam den Wartesaal dritter Klasse. –

Vergebens schaute Gerold nach Egbert aus, der wiederum nicht daran dachte, jenen im Wartesaal dritter Klasse zu suchen.

Man war hier noch ein wenig geniert, da die Leute den Schuster kannten, und sich wohl Gedanken machten über den eleganten Herrn, in dessen Begleitung er war und für den er den Kaffee bezahlte.

Aber sobald man nur erst im Wagen saß, war auch das vorüber.

Dann würde niemand mehr wissen, in welchem Verhältnis der Schuster mit seiner besten Krawatte und der feine Herr zueinander standen.

Da fuhr der Zug ein.

Auf dem Bahnsteig war auch Egbert, der sich aber fern hielt; er bedeutete Gerold, daß er erst auf einer späteren Station sich zu ihm setzen wollte.

Zunächst war es Gerold nicht unangenehm, mit dem Meister allein zu bleiben, dessen Gegenwart ihn gar nicht genierte.

Er konnte, in den herrlichen Frühlingsmorgen hinausblickend, seinen Gedanken nachhängen.

Merkwürdig, welch tiefen Einfluß die Natur auf unsere Gemütsverfassung ausübt.

Dieselbe Fahrt an einem rauhen Herbsttage würde wahrscheinlich die bittersten Empfindungen ausgelöst haben.

Allerlei finstere Fluchtpläne hätten dann wohl das Hirn des Gefangenen erfüllt, und die unfriedliche, freudlose Natur hätte ihn an die eigene Friedlosigkeit, an das eigene Leid gemahnt.

So wenigstens war es an jenem eisigen Märztage gewesen, als man ihn von Wien wegbrachte.

Wenn die Fahrt sich einen Moment verlangsamte, gleich stieg es in ihm auf, mit schneller Bewegung die Wagentür zu öffnen und hinauszuspringen, in das Dickicht der Fichtenschonung zu entkommen.

Aber er war gelähmt, war kein Jüngling mehr. Auch wenn er mit heilen Gliedern die Böschung erreichte – eine Flintenkugel würde ihn niederstrecken wie ein flüchtiges Tier. –

Oder wieder schoß es ihm durch den Kopf: der Mann, der mich hier festhält, der kaum einen Blick von mir verwendet, er ist doch auch nur ein Mensch – wie leicht kann ihm etwas zustoßen, ein Unfall, eine Ohnmacht, ein Schlaganfall. Dann wär' ich frei! Aber nicht doch! Dann wär' ich noch genau so unfrei, wie zuvor! In seiner Tasche befindet sich meine Fahrkarte, ohne die ich nicht einmal den Bahnsteig verlassen dürfte.

Und ich bin ohne einen Heller Geld – ich käme gewiß nicht weit.

Das müssen andere Naturen sein, die dergleichen wagen. Entweder todesmutig und tollkühn oder gedankenlos, nur vom Instinkt getrieben.

Aber er haderte doch damals mit dem Staat, mit dem Recht, mit seinem Schicksal.

Solch eine Erbschaftskanzlei sollte geheiligter Boden sein, ähnlich wie in mittelalterlichen Zeiten die Kirche auch dem Verbrecher unbedingten Schutz bot.

Dort sollte Asyl sein auch für den Landesflüchtigen.

Dann wieder flogen seine grollenden Gedanken zurück nach Abbazia, zu dieser großherzigen Kitty! So edel war sie, daß sie ihn in sein Verderben schickte!

Wenn sie schon den Mut gefunden hatte, gewissermaßen um ihn zu werben – und das hatte sie durchaus nicht übel gekleidet! – so mußte sie auch stark genug sein, das Sentiment zu bezwingen, das der Schatten einer Francis in ihr wachrief.

Sie hätte nur kräftig wollen müssen, dann flöge er jetzt an Bord der »Mayflower« mit ihr über den Ozean, statt nun von dem Vizefeldwebel der österreichischen Justiz in einem Bummelzuge an die preußische Grenze geschleppt zu werden ...

Wie ganz anders sah er diese Dinge heute an, wo er von eben aufblühenden Obstbäumen, an grünenden Fluren und sprossendem Walde vorüberfuhr.

Kein Gedanke an Flucht!

Und wenn dem braven Manne da, der ihm gegenüber saß und, behaglich sein Pfeifchen rauchend, zum Fenster hinausschaute, wenn dem etwas zugestoßen wäre, er, Gerold, wäre ihm mit Gefahr seines Lebens beigesprungen.

Auch über die deutsche Botschaft urteilte er heute milder.

Ein Kriminalbeamter ist heutzutage sogar in der Kirche keine überflüssige Persönlichkeit, wenn er auch nur die Taschendiebe in heilsamer Furcht erhielte.

Auf der Botschaft aber soll man sicher sein vor zweifelhaften Elementen.

Deshalb war der scharf auslugende Beamte dort wohl am Platze, und er tat nichts als seine Pflicht, wenn er seiner Behörde meldete: Dieser nach Recht und Gesetz zu Gefängnisstrafe verurteilte und flüchtige Gerold hat die Unverschämtheit, dem höchsten Repräsentanten des Deutschen Reiches auf fremdem Boden direkt ins Haus zu stürmen, als wolle er die Macht seines Vaterlandes verhöhnen! –

Und auch Kittys Verhalten erschien ihm jetzt so ganz anders, so wirklich groß und stark und mädchenhaft, daß er ihr im Geiste Abbitte tat.

Nein, sie wollte ihn nicht, so lange noch eine andere Frau Rechte an ihn hatte – so lange er selbst diese Rechtsansprüche nicht zurückzuweisen den Mut fand.

Entweder liebte er jene Francis noch immer, und dann konnte die freie, stolze Tochter Amerikas eher ihr Herz überwinden, als sich in dem seinen einen zweiten Platz einräumen zu lassen.

Oder er wurde innerlich und äußerlich frei von seiner Vergangenheit! Dann würde sich die gewaltige, verjüngende Kraft Amerikas, von der sie so begeistert gesprochen, an ihm und seiner zweiten Ehe betätigen.

Auch an Francis dachte Gerold. Immer wieder tauchte ihr Profil vor ihm auf.

Aber es war Ruhe in seine Sehnsucht gekommen. Jetzt, wo er sich ihr in jedem Sinne näher wußte, als seit Jahr und Tag, jetzt schwieg beinahe das stürmische Verlangen.

Er konnte sich vorstellen, daß sie jetzt neben ihm säße, zu ihm spräche, ihn ansah aus diesen schönen stählernen Augen und ihm wurde nicht mehr heiß dabei.

Er bewunderte ihren stolzen, unbeugsamen Charakter, er würdigte mehr als je die loyale Lauterkeit ihrer Gesinnung – er stand auch noch vollkommen im Banne ihrer persönlichen Reize, wie die Schilderung der Wirtin von der Villa Habsburg sie ihm wachgerufen hatte.

Nur die heiße, unstillbare Leidenschaft schien verflogen.

Francis mußte, ebenso wie Egbert, wenn nicht noch früher, von seiner Verhaftung erfahren haben.

Dann mußte sie auch wissen, daß er sich in Gefahr begeben hatte, um sie zu finden.

Wo aber blieb ein Lebenszeichen von ihr, die ihn nun doch »büßend« wußte? Hielt sie sich wirklich an das Wort, an den Buchstaben, ihn erst, wenn er das Gefängnis verließ, wiedersehen zu wollen? Dann war sie ein Bild ohne Gnade.

Oder kam sie der Wirklichkeit nahe – vermutete sie, daß er ahnungslos in eine Falle geraten war, gegen seinen Willen zur »Buße« gezwungen und galt ihr das nicht als »Buße«?

Nein, nein – so weit konnte sie sich in den Gedanken nicht verbohrt haben, daß er aus innerstem Triebe, aus freiestem Wollen sein Haupt dem Joche des Gesetzes darzubieten hatte.

Ein anderes, Schlimmeres lag näher: sie dachte nicht mehr an ihn! Sie hatte ihn aufgegeben!

An die Tretmühle harten Frondienstes gekettet, hatte sie die Schwungkraft verloren, die uns auch über Zeit und Raum mit jenem vereint, den wir lieben.

So klagte er sie bald an, bald verteidigte er sie wieder; aber sie war nicht mehr unumstritten seine Herrin.

Die Frühlingsluft macht müde, und Gerold hätte ganz gern ein halbes Stündchen geschlummert.

Inzwischen aber hatte sein Coupégenosse sich genug getan an schweigsamer Naturbetrachtung und beschaulichem Pfeifenrauchen.

Er wollte plaudern.

War ihm doch das Herz übervoll von der Bedeutsamkeit dieser Reise.

Er wollte es nur auf gute Art machen – seine Beamtenqualität dem Arrestanten gegenüber nicht aufs Spiel setzen. So begann er, seiner Meinung nach sehr geschickt:

»Sie wissen doch, daß ich Sie nach Tegel bringe?«

Gerold raffte sich aus tiefem Sinnen auf.

Er wußte weder, was jener fragte, noch daß es in Tegel überhaupt ein Gefängnis gab.

Aber es mußte wohl so sein.

»Tegel – das kann nicht so weit sein von Berlin,« meinte Meister Reinecke. »Ich soll nämlich mit der elektrischen Bahn dorthinfahren ... Na, Sie wissen ja wohl Bescheid in Berlin ... ich bin eigentlich noch nicht dagewesen.«

Gerold beruhigte den Mann, man werde sich »eigentlich« schon zurecht finden. Man käme ja inmitten der Stadt an, auf dem Bahnhofe Friedrichstraße, und von da aus gäbe es überall hin gute Verbindungen.

»Wenn nur mein Stiefbruder da ist,« stieß Reinecke besorgt hervor, gar nicht bedenkend, daß er schon auf dem besten Wege war, dem Gefangenen seine Privatangelegenheiten zu verraten.

Gerold, nun einmal seinen Träumereien entrissen, durchschaute die Sache schon einigermaßen.

Die gute Gelegenheit, billig nach Berlin zu kommen, wurde benutzt, um die Verwandtschaft zu besuchen.

»Sie haben ihn wohl lange nicht gesehen – den Stiefbruder?« fragte er anteilsvoll.

»O, über fünfzehn Jahre muß das schon her sein, daß er nach Berlin ging; ich war noch in der Lehre damals.«

Und, erst einmal in Fluß gekommen, erzählte der Meister nur zu gern, wie sehr und weshalb er sich auf den Stiefbruder freue.

Die rührend einfache Geschichte seiner Liebe, seiner Sorge, seiner Hoffnung.

Und wie es ihm gerade wie vom Himmel hergekommen, daß er nun nach Berlin reisen könne, um dort das Geld zu holen, mit dem er seiner Minna ein dauerndes Glück begründen wollte.«

Was war es nur, was den reichen, lebenserfahrenen Mann so sehr ergriff an dieser alltäglichen Geschichte? Gab es irgend eine Beziehung zwischen seinen eigenen Erlebnissen und den Wünschen und Träumen, den Gebeten und Befürchtungen dieses Proletariers?

Wie wenig brauchte jener zu seinem Glück! Und doch – wie hart und schwer mochte er um dies wenige gekämpft haben! –

An welch' blindem Zufall hing seine Zukunft und mit welcher kindlichen Naivetät glaubte er an die Güte einer höheren Macht, die gerade für ihn einen Gefangenen nach X geführt, nur seinetwegen diesen Mann nach Berlin transportieren ließ – nur damit er endlich dem Stiefbruder die kleine Erbschaft abfordern und seiner Minna den Tempel ihres Glückes errichten konnte!

Er dagegen, Gerold, im Reichtum geboren, fast jenem Mann im Märchen vergleichbar, der »das Wünschen nie gekannt,« denn alle seine Wünsche erfüllten sich von selbst; unabhängig und vom Erfolg gesegnet, im Genusse aller Ehren, die er nur erstreben konnte, und endlich im Besitze einer Frau, die auch heute noch, trotz alledem, ihm vor jeder anderen besitzenswert erschien, – wie ruchlos undankbar war er gewesen, daß er nicht zu erhalten trachtete, was ihm, dem Glückbeladenen, die blinde Göttin in den Schoß geworfen hatte!

Und wie viel größer, menschenwürdiger erschien ihm jener da, der geduldig kämpfte und harrte, der entsagungsvoll verzichtete, weil er's nun doch nicht erzwingen konnte, nicht mit unrechtem Tun erzwingen wollte, was er zu seinem Glücke nötig hatte.

Dort, bei dem armen Schuster, stiller, kindlicher Gehorsam.

Kein Murren gegen Gott und Welt – ein fromm ergebenes Warten.

Hier, bei ihm, ein frecher Uebermut, ein waghalsiges Trotzbieten allen Schranken, die schließlich hier für jeden aufgerichtet sind.

Der Schuster harrte demütig, weil er seiner Frau noch nicht das Allernotwendigste zu bieten imstande war; der Millionär war im Besitze der Geliebten, konnte sie mit alledem umgeben, was sie nur erträumen mochte – nur Zufriedenheit fehlte in dem reichen Gabenstrauß, der schon in seiner Wiege lag. –

Am liebsten hätte Gerold Papier und Füllfeder hervorgezogen, um dem Schuster eine Anweisung über fünfhundert Mark auszuschreiben.

Er war solcher extravaganten Freigebigkeit fähig.

Aber er mußte fürchten, der Mann könne ihn mißverstehen, könne sein Benehmen gegen ihn ändern.

Auch schien er ja mit voller Sicherheit auf den Stiefbruder und die Erbschaft zu hoffen.

So ließ er ihn denn weiter plaudern, Luftschlösser bauen, von seiner Minna schwärmen, bis man nach Breslau kam, wo dieser Personenzug einen längeren Aufenthalt hatte. Hier stellte sich auch Egbert ein.

Mit Geschick heuchelte er Ueberraschung, seinen Schwager hier zu sehen, den er in Berlin in Haft glaubte.

So wollte er die Zeitungsnotizen verstanden haben.

Er lud den Schwager und seinen Begleiter ein, mit ihm zu frühstücken.

Reinecke sah, daß hier nichts zu befürchten war. Wenn man mit solcher Offenheit von den Dingen spricht, hat man sich mit ihnen abgefunden.

Daneben wirkte freilich auch die Aussicht, daß der Herr Schwager womöglich alle Kosten während der Reise tragen würde. Dann blieb ihm, Reinecke, ja ein kleines Vermögen übrig. –

Egbert, dem man den früheren Offizier sofort anmerkte, hatte seinerseits auf den ersten Blick erkannt, daß Reinecke Soldat gewesen.

Zwei Fragen hin und her und es ergab sich, daß der Kompagniechef Reineckes ein spezieller Freund und Kriegsschulkamerad von Egbert gewesen. Und von nun an übernahm Egbert in aller Form das Kommando.

»Wann müssen Sie spätestens in Tegel sein?« fragte er.

»Um sieben Uhr, Herr Hauptmann« – es war dem Schuster etwas Neues, mit einem Hauptmann an einem Tische zu sitzen.

»Dann schlag ich vor, wir benutzen von hier aus den Kurierzug, der um reichlich zwei Stunden früher in Berlin ist, als jener schauderhafte Bummelzug. Damit gewinnen wir Zeit für meinen Schwager, dort noch einmal ordentlich zu essen. Sie wissen ja, wie sehr ihm das not tut. Geben Sie Ihre Karten her, ich werde Zuschlagbillets lösen.«

Widerspruchslos gehorchte Reinecke.

Gerold, der nun seit langer Zeit zum ersten Male wieder mit Appetit aß, nahm an, der Schwager wolle ihm nur die Möglichkeit bieten, zweiter Klasse zu fahren. Auch sehnte er sich nach weiteren Nachrichten; er hatte Egbert ja kaum fünf Minuten gesprochen.

Da war der Hauptmann; er beglich schnell die Frühstücksrechnung und beorderte einen Träger, das Gepäck der Herren in den eben einfahrenden Kurierzug zu schaffen, wobei Reinecke ängstlich darauf sah, daß auch sein Konvolut von Butterbroten mitkäme.

So war es dem Schuster all sein Lebtag noch nicht geboten worden.

Er saß jetzt in einem weichgepolsterten Coupé, mit den beiden Herren allein (der Hauptmann wußte seine Trinkgelder an der rechten Stelle zu verwenden), rauchte eine großartige Zigarre dazu und wurde von dem Hauptmann behandelt, wie seinesgleichen.

Gerold kam zunächst gar nicht dazu, den Schwager über so manches zu befragen; jener war zu intim geworden mit dem Schuster.

Es dauerte denn auch gar nicht lange, bis Reinecke dem Hauptmann genau so ausführlich und umständlich den »eigentlichen« Nebenzweck seiner Reise schilderte, wie er's zuvor Gerold getan.

Aufmerksam, wenn auch mit ganz anderen Empfindungen, hörte Egbert das mit an.

Er verfolgte, seit er den Transporteur kennen gelernt, einen ganz bestimmten Zweck, auf den er planmäßig hinarbeitete.

»Sie erheben wohl da ein schönes Stück Geld?« fragte er jetzt den Meister.

»Nun, es sollten eigentlich gegen vierhundert Mark sein, mit allen Zinsen.«

»Und das würde für Ihren neuen Haushalt ausreichen?«

»Ueber und über!«

Geduldig ließ der Hauptmann es über sich ergehen, wie jener an den breiten, schwarzen Fingern herzählte, was mit vierhundert Mark alles zu bewerkstelligen war.

»Sie müssen doch auch sonst ein gutes Einkommen haben, wenn Sie neben Ihrem Handwerk noch ein Amt bei der Polizeibehörde bekleiden.«

»Ja – ein Amt ist es eigentlich nicht ...«

»Also Sie sind nicht beeidigt?«

»Gott bewahre! Nein!«

»Da ist es doch geradezu merkwürdig, daß man Ihnen einen so verantwortungsvollen Auftrag gibt – finden Sie nicht auch, Schwager?«

»Ich meine, das ist Vertrauenssache,« sagte Gerold arglos... »Es ist wohl in allen kleineren Städten ebenso.«

»Jawohl, Vertrauenssache,« bestätigte nicht ohne Selbstgefälligkeit der Schuster.

»Was geschieht denn aber, wenn Ihnen nun so ein Gefangener durchbrennt?«

»Was denken der Herr Hauptmann wohl – da würde ich schwer bestraft werden!«

»Mit Gefängnis?«

»Das eigentlich nicht! Es ist neulich mal einem bei uns passiert: dem sind zwei Kerle davongelaufen, trotzdem er sie aneinander festgeschlossen hatte! Und den haben sie gleich in sechzig Mark Geldstrafe genommen.«

»Sechzig Mark,« meinte der Hauptmann, »keine Kleinigkeit!«

»Und er kriegt doch auch nie wieder einen Transport, wobei er doch immer mehr verdient, als man so gewöhnlich verdienen kann –: vier Mark fünfzig den Tag und freie Fahrt!«

»Da wird sich freilich jeder in acht nehmen,« resümierte der Hauptmann. »Uebrigens, da fällt nur ein stand bei Ihrer Kompagnie nicht auch der Premierleutnant von Treskow?« –

»Treskow eigentlich nicht, aber Herr von Puttlitz hieß er, wenn Herr Hauptmann den vielleicht auch gekannt haben.«

»Gewiß, wenn auch nur flüchtig.«

Aber auch das genügte, um das Gespräch nun wieder auf erquicklichere Dinge als Gefangenen-Transport und Flucht und Bestrafungen zu lenken.

Man sprach von militärischen Erinnerungen.

Es ist ganz merkwürdig, was sich so zwei alte Soldaten alles zu erzählen haben, auch wenn der Rangunterschied zwischen ihnen so groß ist wie hier, und wenn man nicht einmal bei demselben Truppenteil gedient hat ...

Ganz nebenher warf der Hauptmann, an Gerold gewendet, hin:

»Ich habe meiner Mutter depeschiert – sie wird ohne Zweifel am Bahnhofe sein, und wir werden dann gemeinsam speisen gehen.«

Ein freudiger, ahnungsvoller Schreck durchzuckte Gerold – vielleicht würde er noch heute Näheres über Francis erfahren.

Denn er übersah nun ganz klar, daß Egbert durchaus planvoll handelte.

»Weiß sie auch, daß ich mit Ihnen komme?«

Egbert verneinte; man mußte mit Rücksicht auf Francis, die ja doch vielleicht bei der Mutter sein konnte, sehr vorsichtig sein.

Gerold drückte ihm stumm die Hand.

»Nur ein Versuch, einen winzigen Teil meiner Schuld an Sie abzutragen,« wehrte Egbert ab.

Der brave Meister Reinecke war erschrocken.

Ihm war bei der Erwähnung der am Bahnhofe wartenden Mutter des Hauptmannes eingefallen, daß auch sein Stiefbruder dort sein würde, »eigentlich« erst um halb sechs Uhr. Und er würde doch bald nach drei Uhr dort eintreffen. Sehr beklommen trug er dem Hauptmann seinen Kummer vor. –

»Habe schon daran gedacht, mein Lieber,« versicherte dieser wohlwollend. »Wir schicken sofort einen Dienstmann zu Ihrem Bruder – Sie haben doch die Adresse? – lassen ihn dort hinkommen, wo wir speisen. Und käme er nicht, so müssen wir natürlich Punkt halb sechs wieder auf dem Bahnhofe sein, um ihn nicht zu verfehlen.«

Reineckes Gesicht strahlte schon wieder.

So ein preußischer Offizier weiß doch in allem und jedem Bescheid! Und Umsicht hat er – es ist gar nicht zu beschreiben.

Was wäre der Soldat, wenn er nicht solche Vorgesetzte hätte!

In so frohen, dankerfüllten Betrachtungen überkam den braven Mann, der ungewohnt gut gegessen und viel mehr als sonst getrunken hatte, dem auf seinem Polstersitz unbeschreiblich wohl war, die Neigung zum Schlummer.

Den beiden Herren da traute er unbedingt – besonders dem Hauptmann.

Sie konnten ja auch nicht aus dem wie dahinsausenden Kurierzuge springen.

Ach – wenn er doch einmal mit Minna so reisen könnte!

»Wie haben Sie sich denn in das Leben auf einem weltfremden Gute gefunden?« fragte Gerold jetzt den Schwager.

»Vortrefflich. Meine Frau und meine beiden Jungen.

»Was?« rief Gerold erstaunt aus: »Verheiratet?«

»O – davon wissen Sie noch gar nicht? Lassen Sie sich's erzählen! Das ist ein Heldenstück von Francis!«

Gerold fühlte es warm durch seinen Körper rieseln.

In dem Tone, in dem Egbert den Namen seiner Schwester genannt hatte, lag etwas wie ehrliche, dankerfüllte Anerkennung.

Und schon das allein genügte, um dem Konsul das Bild seiner Frau wiederum in jenes Licht zu rücken, das kein anderes Bild daneben bestehen ließ.

Seine Liebe für Francis schlummerte nur; der leiseste Anstoß ließ sie erwachen und alle seine Gedanken erfüllen.

In einer Art von Verzückung hörte er jetzt, was Egbert berichtete.

Wenige Wochen, nachdem er, Egbert, des Königs Rock ausgezogen, und auf Empfehlung des Fürsten Rothenstein seine jetzige Stellung erhalten hatte, ging ihm ein Schreiben von Francis zu.

Sie habe Fräulein Sandrock »meine jetzige Frau!« – zu versöhnen gewußt. »Und wenn es mir nun, wo ich den Mut gezeigt hätte, meiner Laufbahn zu entsagen, deren Verlockungen ich nicht gewachsen war, noch Ernst wäre mit dem Mädchen – nun würde sie mich mit offenen Armen empfangen ...«

Ich saß zwei Stunden später im Eisenbahnzuge. Und gerade am achten Tage nach meiner Ankunft in Berlin konnte ich Martha zum Standesamt führen – man hatte es mit einem einmaligen Aufgebot bewenden lassen!«

Nun waren sie seit beinahe zwei Jahren »schauderhaft glücklich« und die beiden Jungen waren ein Paar Prachtkerle, wie Egbert versicherte.

»Das dank' ich Francis!«

Gerold nickte nur immer mit dem Kopfe, als wollte er sagen, daß ihm das alles, alles durchaus einleuchte.

Plötzlich aber packte ihn ein Schluchzen, das beinahe den schlummernden Reinecke geweckt hätte.

Ein unbeschreiblicher Jammer war über ihn gekommen. Er konnte nichts hervorbringen als die Worte:

»Und mir ist sie verloren! Verloren!«

Der Schwager warf einen prüfenden Blick auf Reinecke; der schlief nun wirklich fest.

»Raffen Sie sich zusammen,« flüsterte Egbert französisch, »ich habe einen größeren Betrag bei mir, mit dem ich in Berlin einige alte Schulden decken wollte. Nehmen Sie zunächst einmal diese fünfhundert Mark!«

»Was um Gottes willen haben Sie vor?«

»Still – ganz still! Ich dulde nur in einem einzigen Falle, daß Sie ins Gefängnis gehen –: wenn es Ihnen zuvor möglich wird, sich mit Francis zu verständigen! Besteht sie noch darauf – nun, so habe ich das Meine getan. Ist sie aber, was das Vernünftigste wäre, bereit, mit Ihnen zu gehen, so genügt das Geld, um Sie beide noch heute in Sicherheit zu bringen.

Sind Sie erst einmal auf Schweizer Boden, so kann Ihnen nichts mehr geschehen. Dort sind Sie ja auch jeden Augenblick in der Lage, sich weitere Mittel zu beschaffen. Mit dem Manne hier werde ich fertig! Und er soll nicht schlecht dabei fahren!«

Ein Sturm, ein Wirbel von Empfindungen erfaßte Gerold.

Noch einmal diesem furchtbaren Gefängnis entrinnen und zwar auf immer! Francis sehen und sprechen – vielleicht gar sie nie wieder lassen müssen! Und das stand greifbar nahe vor ihm.

Er überflog noch einmal, was Egbert mit seinem Wächter gesprochen, und er erkannte, daß jener Schritt vor Schritt alles wohl vorbereitet hatte.

Er hatte festgestellt, wie es dem Manne ergehen konnte, wenn er seinen Gefangenen nicht ablieferte; wie groß sein direkter und indirekter Schaden sei – welcher Summe es bedurfte, um ihm zu dauerndem Glück zu verhelfen.

Das alles waren Lappalien, gemessen an der Wohltat, die ihm, Gerold, wurde, wenn er noch heute abend ein freier Mann wäre.

Gewiß, er entzog sich ein zweites Mal, und sogar auf wenig ehrenhafte Weise dem Arme der Justiz. Aber diese Justiz war seiner nur habhaft geworden, weil er sich einen Augenblick lang hatte hinreißen lassen.

War denn jemandem genützt, wenn er sich aufs neue freiwillig in Gefangenschaft begab?

Nicht einmal dem abstrakten Begriff des Rechts geschah ein Dienst damit, denn das Gefängnis würde ihn nicht »bessern«.

Er hatte es nun in verschiedenen Abstufungen kennen gelernt.

Wenn er sich auch sagen mußte, daß es zu überleben war, daß ja ein sechster Teil seiner Strafzeit tatsächlich schon abgelaufen – der heutige Tag hatte es außerordentlich erschwert.

Härter als zuvor würde er morgen, heute nacht schon, es empfinden, was er entbehrte.

Und wenn nun gar Francis seiner Flucht zustimmte, sie mit ihm teilen wollte – wo ist der Sterbliche, der da im Zweifel sein kann?

Mit entschlossener Bewegung steckte er die Banknoten, die Egbert ihm in die Hand gedrückt hatte, in die Tasche.

»Ich danke Ihnen, Schwager! Wir sind reichlich quitt miteinander. Nur bitte ich ...« Sein Blick streifte den schlafenden Wächter.

»Unbesorgt um ihn! Wenn's gar nicht anders geht, so nehme ich ihn und die Minna mitsamt der alten Waschfrau auf unser Gut; da wird sich Brot für sie alle finden.« –

»Noch eins fällt mir ein – der Stiefbruder!«

»Wir werden ja sehen. Aber ich glaube, das gibt eine Enttäuschung für den armen Teufel da.«

»Nun, dann wollen wir ihn schadlos halten.« –

Man weckte den Hüter auf gute Art, um ihm die neuen Bahnhöfe der Stadtbahn zu zeigen.

In Wirklichkeit wollte man sich nur versichern, ob er fest geschlafen hatte.

Er erwachte sehr fidel, nahm lebhaften Anteil an den Neubauten draußen.

Dann entsann er sich, daß der Herr Hauptmann ja den Stiefbruder kommen lassen wollte. Er wohnte weit draußen im Osten; Reinecke gab genau Straße, Hausnummer und das Stockwerk im Hofe an.

Bahnhof Friedrichstraße! Von hier aus hatte Gerold einst die Hochzeitsreise angetreten, nachdem man im Hotel Bristol das Dejeuner eingenommen.

Hierher war er mit Francis zurückgekehrt – weil er sofort nach seiner Ankunft dringlich im Kontor zu tun hatte und die junge Frau dann erst hinausführte in die Grunewald-Villa ... Hier schlug das Herz seiner Vaterstadt, alles Leben in ihr strömte durch diese Ader. Und er näherte sich dieser Stätte als ein Verbannter, als ein Ausgestoßener.

Ob er nun noch im letzten Augenblick das Programm Egberts durchkreuzte und von hier aus den Leidensweg nach Tegel einschlug, oder ob er im Schutze der Nacht, wiederum ein Flüchtling, zum letzten Male die Stufen hinaufstieg, – in dem, wie in jenem Falle war er ein Heimatloser.

Man würde den wegen Wuchers abgestraften, gewaltsam zur Haft gebrachten Mann meiden, trotzdem er seine Schuld »gesühnt« hatte.

Trotz harter Buße würde er doch zum Wanderstabe greifen müssen, wenn nicht auf seine Gattin die Nachwirkung der Strafe fallen sollte.

Francis! Wie konnte sie nur heute noch zweifeln, wenn sie die Wahl hatte, ihm Schmach und Erniedrigung, seelisches und physisches Leiden zu ersparen oder mit ihm irgendwohin zu gehen, wo Freiheit und Glück ihrer harrte?

Nein – Egbert hatte vollkommen recht.

Ein Zufall hatte ihn neuerdings in Gefahr gebracht – man durfte, mußte den Zufall, der ihn noch einmal retten konnte, skrupellos benutzen. –

»Nicht wahr, die Herren wollen mir doch keine Unannehmlichkeiten machen,« bat Reinecke, als der Zug einfuhr, – »daß wir nur ja vor sieben Uhr in Tegel sind!«

»Seien Sie ganz beruhigt,« tröstete ihn Egbert und sprang aus dem Wagen, seine alte Mama zu begrüßen.

»Ich komme mit Gerold – sei gefaßt!« flüsterte er ihr in der Umarmung zu; er mußte die zarte, gebrechliche Dame festhalten, damit sie nicht vor Schreck zusammenbrach.

Aber sie hatte sehr bald wieder alle Herrschaft über sich gewonnen.

Hier vor allen Leuten durfte die Baronin Engern weder Schrecken, noch Rührung, weder Neugier, noch Erstaunen zeigen.

Sie begrüßte den Schwiegersohn nicht ohne Herzlichkeit und nahm dann Egberts Arm.

Gerold und Reinecke folgten.

Man gab das Gepäck in Verwahrung und begab sich, eine merkwürdig gemischte Gesellschaft, in das Restaurant des Zentralhotels, um dort zu dinieren.

Seiner Zusage gemäß entsandte der Hauptmann sogleich einen Boten nach der Küstrinerstraße.

Der Stiefbruder möge sich unverzüglich hierher bemühen und nach ihm, Egbert von Engern, fragen. Der Dienstmann bekam sogar Egberts wappengeschmückte Visitenkarte mit, damit der Stiefbruder sehe, daß es sich der Mühe verlohnte.

Mittels der Stadtbahn konnte er in einer Stunde bequem hier sein.

Nun erst konnte Meister Reinecke alle die Pracht, die ihn hier umgab, mit Muße bewundern.

So etwas hätte er nicht für möglich gehalten.

Bei Hofe, beim Kaiser selbst, konnte es auch nicht anders aussehen.

Diese golddurchwirkten Tapeten! Diese Bilder – der Kronleuchter! Und man schritt auf weichen Teppichen daher. Solche Möbel hatte er auch noch nicht gesehen –: weißes, lackiertes Holz! Und gar erst der Tisch! Mit Silberzeug bestellt und in der Mitte ein richtiger Fliederbaum.

Wirklich, er war ja nicht vom Dorfe; auch hatte er in Neiße, wo er als Soldat geständen, manchesmal im Offizierskasino bedienen geholfen – aber solch ein Luxus war ihm denn doch noch nicht vorgekommen.

Was wohl Minna für Augen machen würde, wenn sie an solchem Tische essen sollte! –

Die Kellner nahmen den Mann für einen ländlichen Bediensteten der offenbar guten Kreisen angehörenden Gäste. –

Schon das Menu, das Egbert zusammenstellte, zeigte Geschmack, Verständnis.

Solche Leute werden immer besser bedient, als andere.

Der Hauptmann nahm sich des Meisters bei Tische an. Er legte ihm vor, unterrichtete ihn wohl auch über den Gebrauch der verschiedenen Bestecke und wußte ihn dabei in eine so lebhafte Unterhaltung zu verwickeln, daß Gerold ungestört mit der Baronin sprechen konnte.

Frau von Engern leistete Wunder an Selbstbeherrschung.

Sie hatte freilich in den letzten Jahren mehr gelitten, als eine Durchschnittsnatur zu ertragen vermag; aber gerade die furchtbaren Erschütterungen, die sie durchlebt, hatten ihre Energie in wunderbarer Weise gestählt. –

Das ganze Rechenexempel ihres Lebens war zusammengestürzt bei dem ihr völlig unbegreiflichen Schiffbruch der Geroldschen Ehe.

Damals, als Gerold Ernst machte und der erste Widerstand ihrer Tochter gebrochen war, hatte sie sich einen Standpunkt zurecht gelegt, von dem aus diese Verbindung den Engerns zustand, wie ihr gutes Recht.

Fünf Generationen waren sie Soldaten gewesen, viele von ihnen waren mit dem Schwert in der Hand für ihr Vaterland gefallen, die Engern sowohl, wie die Bonin und ihresgleichen.

Nun tat das reiche Bürgertum, zu dessen Schutze jene sich aufgeopfert hatten, auch einmal etwas für eine Engern – das war nun der große Ausgleich, den die höheren Mächte schließlich überall herstellen.

Deshalb auch hatte Frau von Engern unbedenklich die glänzende Sinekure angenommen, die der Schwiegersohn ihr geboten.

Nun freilich, sie hatte gehofft, ihre Tochter würde das alles mit ihr teilen. –

Als Francis damals ihr zum erstenmal davon sprach, ihren Mann zu verlassen, war die Mutter außer sich geraten vor Empörung.

Und sie hatte nicht zurückgehalten mit ihrer Meinung.

»So handelt eine Närrin! Und wenn Du gar nichts für den Mann übrig hättest, der doch allen Anspruch hat auf Deine Dankbarkeit – um Deiner selbst willen müßtest Du zu ihm halten! Du hast die Armut ertragen können, bevor Du Besseres kanntest. Heute wird die Entbehrung, die Not, die Abhängigkeit auf Dir lasten wie schwere Krankheit! In Elend und Schande wird es Dich stürzen, daß Du einem törichten Ehrbegriff, einem Phantom nachgibst. Du gehörst zu Deinem Manne, was immer er auch getan hat, was immer ihm auch geschehen möge.

Man wird Respekt vor Dir haben, wenn Du zu ihm stehst, wird Dich feige und verächtlich finden, wenn Du ihn verläßt, weil er – vielleicht für Dich! – zu weit gegangen ist.« –

Francis hörte wohl die Worte, aber sie schien ihren Sinn nicht erfassen zu können; es war, als ob man in einer fremden Sprache zu ihr redete. Und die Mutter mußte sie ziehen lassen, da sie auch den schwerkranken, besinnungslosen Gerold nicht zu Hilfe rufen konnte.

Seither hatte die innerliche Kluft zwischen Mutter und Tochter sich nur vertieft.

Francis fand keinen Weg, der sie zurückgeführt hätte, und die alte Frau wollte nicht eine sorglose Existenz aufopfern, um einer Narrheit ihrer Tochter willen.

Allerdings – nun war das anders geworden.

Sie konnte es ihrem Sohne nicht genug danken, daß er ihr Gelegenheit gegeben, Gerold gleich heute, überdies auf neutralem Boden, zu sprechen.

»Klügeres konnte Egbert gar nicht tun, als mich hierher zu rufen,« sagte sie, nachdem sie in wenigen Worten ihrer herzlichen Teilnahme für Gerolds Mißgeschick Ausdruck gegeben. »Ich war schon ganz verzweifelt, wie nur wieder an Sie herankommen! Seit reichlich einem halben Jahre haben Sie kein Wort von sich hören lassen und auf drei Briefe, die ich in den letzten Wochen an Sie gerichtet, ließen Sie mich ohne Antwort ...«

»Aber ich war ja im Gefängnis! Wohin haben Sie denn geschrieben? Haben Sie denn keine Zeitung gelesen?«

»Nein – ich mag keine Zeitung mehr sehen. Und ich dachte mir, die Sache sei Ihnen zu heikel, um sie brieflich zu besprechen ... Das ist ja auch wahr – es ist entsetzlich peinlich! Aber eben deshalb müssen wir uns auseinandersetzen.«

Gerold sah sie verständnislos an.

Von welcher heiklen, peinlichen Sache sprach sie, die brieflich nicht zu behandeln gewesen wäre? Was verstand sie unter einer Auseinandersetzung?

Es kam ihm vor, als wisse sie nicht, was sie durcheinander redete.

»Vor allem,« fuhr die Baronin fort, »habe ich nun kein Recht mehr, Ihre Wohltaten anzunehmen, nachdem Francis bei mir ist und sich nach wie vor weigert ...«

Gerold ließ vor Schreck die Gabel fallen.

Ein heißer Strom durchrieselte ihn, die Sinne drohten ihm zu schwinden.

»Francis – bei Ihnen? Ist denn das möglich? Hab' ich denn recht gehört? Meine Frau ist bei Ihnen?«

Die Baronin begriff nicht, was ihn an dieser Tatsache so aufregte.

Es hätte wirklich nicht viel gefehlt, und er wäre der alten Dame um den Hals gefallen.

Hatte er es denn gar so eilig, daß er jede Vereinfachung des einzuleitenden Scheidungsverfahrens für einen Glückstreffer ansah?

»Francis wird natürlich Ihren Wünschen keinerlei Hindernis entgegenstellen. Nur was mich betrifft, so möchte ich Ihnen nahelegen, Herr Gerold ...«

Immer erstaunter, immer fassungsloser gewahrte Gerold, daß es hier irgend etwas gab, wovon er nichts ahnte – eine Lücke, die auch die geschärfteste Aufmerksamkeit nicht auszufüllen vermochte.

»Verzeihen Sie, Mama – woher kennt denn Francis meine Wünsche? Wir sind seit Jahren außer allem Verkehr – was, um Himmels willen, meinen Sie nur?«

»Nun, sprechen wir es doch offen aus: Sie wünschen eine gerichtliche Scheidung!«

Wenn man ihm gesagt hätte, er wünsche hier auf der Stelle enthauptet zu werden, er hätte nicht einfältiger dreinschauen können.

Er war einfach sprachlos, starrte der alten Dame in das feine, von tausend kleinen Linien durchfurchte Gesicht – war er von Sinnen oder war es jene dort?

»Jawohl,« grollte die Baronin, »wir merken oft erst, wie furchtbar die Dinge sind, wenn wir sie mit dem rechten Namen nennen hören! Eine Scheidung ist etwas Entsetzliches – ich kann mir nicht helfen – etwas Unmoralisches! Denn auf mindestens einer Seite muß etwas in Trümmer gehen dabei!«

Er nahm alle seine Willenskraft zusammen – die Zeit drängte; wenn er jetzt nicht Klarheit bekam, würde man ihn in ein Irrenhaus bringen müssen, statt ins Gefängnis.

Tief ausholend, in einem Tone, der den mühevoll verhaltenen Ausbruch verriet und doch wieder wie von flehentlicher Bitte eingegeben schien, sprach er jetzt:

»Wenn ich Ihnen nun sage – wenn ich Ihnen schwöre, daß ich nie, niemals während dieser ganzen furchtbaren Zeit der Verlassenheit – nie auch nur eine Sekunde lang an Scheidung gedacht habe? Das bloße Wort, die entfernte Möglichkeit einer solchen Annahme macht mich hilflos wie ein Kind ... Sie müssen es ja sehen, Mama, – ich bitte Sie – quälen Sie mich nicht weiter! Sagen Sie mir alles!«

Die Baronin richtete sich auf – die Kellner standen zu nahe – man mußte seine Haltung bewahren. Schwer genug war es ja angesichts dieser Verworrenheit!

»Nun also, Herr Gerold,« begann sie sehr gemessen, »wie denken Sie sich die Sache? Sie beabsichtigen doch ohne Zweifel, jener – jener Amerikanerin in die Heimat zu folgen, sobald Sie Ihre Freiheit wiedererlangt haben! Soll meine Tochter trotzdem gesetzlich an Sie gebunden bleiben?«

Sie richtete ihren kalten, strengen Blick auf ihn, als verlange sie eine Rechtfertigung.

Ganz leise, wenn auch noch nebelhaft, begann es in ihm zu dämmern.

Aber es mußte noch viel heller werden, damit er nur einigermaßen klar sähe.

»Sie sprechen, wenn ich recht verstehe, von Miß Kitty Knox. Nun, was läßt Sie vermuten, daß ich ihr zu folgen und mich ihretwegen von Francis freizumachen wünsche?«

Kopfschüttelnd entschloß die Baronin sich zu antworten.

Im Innersten gab sie ihm ja nicht so sehr unrecht: wie lange sollte er denn dieser einfältigen, verrannten Francis die Treue bewahren – ein moderner Toggenburg, dem überdies nicht einmal »Schwesterliebe« gewidmet wurde? Dennoch, eine breitere Erörterung hätte er taktvollerweise vermeiden sollen.

»Als Francis Sie zum ersten Male in Abbazia mit jener Dame sah, traute sie natürlich ihren Augen nicht. Ich glaube selbst, sie muß entsetzlich gelitten haben an jenem Tage. Bald gab es keinen Zweifel mehr. Die geschwätzige Wirtin trug ihr alle Einzelheiten zu, die in dem gelangweilten Kurstädtchen jedermann wußte.

Sie waren mit den Amerikanern auf deren Jacht in Fiume angekommen. Dort sollte nur das Schiff verproviantiert werden, dann wollten Sie mit der Familie – wie heißt sie doch? – nach Amerika dampfen.

Drüben wußte man ja nichts von Ihrer Ehe, da würde Ihnen nichts im Wege stehen. –

Jetzt erst kam mein armes, unglückliches Kind zur Erkenntnis. Jetzt erst sah sie, was sie auf immer verloren hatte. Es kam wohl wie ein Gericht über sie ...

Zweimal war sie auf dem Wege zu Ihnen; aber der Stolz der Engern riß sie zurück. Sie war wie von Sinnen, war für ihren Posten nicht mehr zu brauchen.

Die empörte Gräfin entließ sie, schickte sie mir nach Berlin, wo sie, die nicht mehr wußte, wohin, sterbensmatt und krank ankam ...

Ihre starke Natur hat es überwunden. Aber Sie sollten ihr das Weitere nicht allzu schwer machen – Sie haben sie ja doch geliebt – mein armes Kind!«

Tränen füllten die Augen der alten Frau und – die Kellner wandten sich ab – Tränen rollten in Gerolds ergrauenden Bart.

Jetzt ergriff er ihre welken Hände, preßte sie in den seinen:

»Mutter,« flüsterte er mit Inbrunst, »Mutter – es ist nicht wahr! Alles nicht wahr! Ich will nicht nach Amerika, will jene nicht heiraten, will mich von Francis nicht trennen! Sehen möcht' ich sie,« brach er schluchzend aus, »nur sehen, um ihr zu sagen, daß dies alles nicht wahr ist!«

Die tausend Runzeln im Gesicht der alten Frau schienen sich mit neuem Licht zu erfüllen.

Zwei, dreimal nickte sie, als wollte sie sagen: Hab' mir's beinah gedacht! Dann gewann sie plötzlich wieder Haltung.

Entschlossen faltete sie die Damast-Serviette zusammen, erhob sich und sagte zu ihrem Sohne:

»Bring' mich, bitte, zu meinem Wagen, Egbert – ich muß nach Hause!«

Und zu Gerold gewendet: »Ich werd' sie vorbereiten, werde ihr sagen, daß Sie kommen!«

Gerold küßte ihr die verschrumpften Hände; er machte Miene, sie zu begleiten.

Da fiel sein Blick auf Reinecke, und er sank schwer auf seinen Sitz zurück.

Er durfte es jetzt nicht wagen, zu gehen – zu entfliehen. Unmöglich, weit zu kommen! Er hätte alles verdorben.

Aber er litt hundertfach alle Qualen der Hölle. Hier in dem prachterfüllten Saale, für die Augen dritter Personen ein freier Mann, und doch mit unsichtbaren Ketten an jenen da festgeschmiedet, den ihm die Justiz zum Hüter bestellt hatte, so erduldete er das demütigende, niederzwingende Bewußtsein der Unfreiheit in einer Minute schmerzvoller, tiefer, schwerer, als ein Verbrecher es in vieljähriger Strafe empfinden kann.

Der Anwalt hatte recht: das gleiche Recht für alle wurde zu schreiendem Unrecht für den einzelnen, der ein feineres Nervensystem besaß.

Reinecke schrieb die ganze Erregung Gerolds dem Umstände zu, daß sein Stündlein ja bald geschlagen hatte.

Er bedauerte ihn auch wohl, aber, lieber Himmel! sieben Monate sind ja keine Ewigkeit! Und waren sie vorüber, so fand der reiche Mann sein Tischlein überall gedeckt, wie hier! Und ein warmes schönes Nest, gewiß mit einer feinen Frau darinnen, würde wohl auch seiner harren.

Er aber, Reinecke, er saß hier wie auf Kohlen.

Ging die Sache schief mit der Erbschaft, dann sollte er nur lieber gar nicht zurückkehren nach seinem Städtchen! Sollte sich lieber in dem Wirrsal des Bahnhofs da drüben auf die Schienen stürzen – das geht am schnellsten ...

Vor ihm stand eine Schale duftiger Erdbeeren – jetzt im April! Mehlsuppe hätte er lieber vor sich stehen gehabt und auf einem Holzschemel gesessen, wenn er mit seiner Minna vereint gewesen wäre.

Das Wiedereintreten des Hauptmanns riß die beiden aus ihren Betrachtungen.

Er wandte sich gleich an Reinecke:

»Er ist da, der Stiefbruder; ich sah unsern Dienstmann draußen mit jemandem kommen. Erkennen wird er Sie ja nicht gleich. Halten Sie sich nur ein bißchen zurück – ich will Ihre Sache schon führen.«

Dankerfüllt fügte sich Reinecke, machte sich nun doch über die Erdbeeren her, während Egbert und Gerold sich durch Blicke verständigten.

Gerade hatte der Hauptmann Platz genommen und die Bock in Brand gesetzt, da brachte der Dienstmann den Stiefbruder heran.

Ein schäbig gekleideter, hagerer Mann von einigen dreißig Jahren, die Haltung unsicher, den Kopf wie immer horchend zur Seite geneigt, die Karte des Hauptmanns in der Hand, so stand er in respektvoller Entfernung da und wartete.

»Ich habe Sie rufen lassen,« begann Egbert, ihn scharf fixierend, »weil ich Interesse nehme an Ihrem Bruder, dem Schuhmacher Wilhelm Reinecke ...«

Der Kopf des Stiefbruders fiel auf die andere Seite. Ein gedehnter, wie pfeifender Laut wurde hörbar.

»Ja – so!« meinte der Stiefbruder in augenscheinlicher Enttäuschung, »weiter war's nichts?«

»Nun – Sie verwalten doch ein kleines Erbe, das ihm zusteht – ist das richtig?«

»Ich – ich werd' mich schon mit ihm auseinandersetzen,« lautete die ausweichende Antwort.

»Das sind Redensarten,« fuhr der Hauptmann ihn an. »Wollen Sie Rechnung ablegen und das Geld an Ihren Bruder zahlen oder nicht?«

Einen Augenblick war der Hagere erschrocken vor dem bestimmten, befehlshaberischen Ton Egberts; dann aber neigte er blinzelnd den Kopf zur Seite und sagte:

»Das ist ja schon eine so alte Geschichte – ist gar nicht mehr wahr! So alte Schulden kann man gar nicht eintreiben!«

»Hier handelt sich's nicht um eine Schuld, sondern um Geld, das Ihnen anvertraut war ...«

»So sagen wir also: eine alte Sünde! Die ist auch schon längst verjährt!« beharrte jener mit Seelenruhe.

»Gar nichts ist verjährt – ein Dieb bist Du, wenn Du mir mein Geld nicht gibst!« schrie jetzt wütend Reinecke, der sich nicht mehr halten konnte. »Auf der Stelle laß' ich Dich verhaften – Dieb, der Du bist!«

Fast wäre er ihm an die Gurgel gesprungen. Der Hauptmann hatte Mühe, den Rasenden zurückzuhalten.

»Still, still, Reinecke! Lassen Sie sich zu keiner Dummheit hinreißen! Haben Sie denn irgendwelche Papiere bei sich, aus denen Ihr Recht hervorgeht?«

Reinecke zog ein zerknittertes, zerlesenes Papier hervor, das sich aber nicht als ein amtliches Schriftstück, sondern als ein vor Jahr und Tag geschriebener Brief des Stiefbruders erwies.

»Komm Du nur einmal nach Berlin, dann wollen wir die Sache in Ordnung bringen.«

Das war alles, was man mit Not entziffern konnte.

»Da steht es schwarz auf weiß,« knirschte Reinecke, »und dieser Dieb, der Betrüger ...«

»Ruhig, Reinecke,« befahl der Hauptmann. Er wußte, daß in diesen Leuten der Geist der Subordination nicht so leicht erstirbt.

»Entweder Sie führen Ihre Sache, oder ich! Sie haben also das Geld nicht mehr?« fragte er in gleich strengem Tone den Hageren.

»'s ist schon zu lange her! Wer soll das heute noch wissen! – Schade um's Reisegeld – recht schade! Tut mir wirklich leid. Und ich habe auch noch Fahrkosten d'rauf gehabt – es ist zu dumm! So eine alte Geschichte!«

Er machte eine Art Verbeugung und ging, achtete gar nicht darauf, daß der Betrogene die Faust hinter ihm ballte und dann schwer auf seinen Stuhl sank.

»Ruhig, ruhig, mein Sohn! Wir werden sehen, was noch zu retten ist. Ich werde die Sache gleich morgen früh meinem Anwalt übertragen – obwohl es ja scheint, als wäre da nichts zu holen ...«

Wie sehr Gerold auch mit sich selbst beschäftigt war, die kleine Tragödie hatte ihn doch merkwürdig ergriffen. Am liebsten hätte er in die Tasche gegriffen, hätte die fünf blauen Scheine auf den Tisch geworfen, um die Qualen des armen Teufels abzukürzen.

»Der Rechtsstaat!« dachte er mit Ingrimm. »Schaffe diesem braven Manne sein Recht gegenüber einem gewissenlosen Lumpen, der sich beinahe sicher weiß! Wenn schon die »Verjährung« ihn nicht schützt, so hilft ihm, daß er nichts hat, nichts ist. Ihn verklagen – Unsinn! Ihn zur Bestrafung bringen? Auch wenn es anginge, zwecklos! In einem wahren Rechtsstaat müßte der Dieb für den Bestohlenen arbeiten, bis er ihn entschädigt hat.

Aber das gäbe nur Prozesse mit realer Grundlage – keine Paragraphen-Prozesse! Er lachte höhnisch auf. Was heute recht ist, wird in hundert Jahren vielleicht wie moralischer Mord erscheinen.

Wir können auch im alten Recht nicht stecken bleiben, trotz Mephistos düsterer Prophezeiung von Gesetz und Rechten, die sich wie eine »ew'ge Krankheit« forterben, sich »von Geschlecht zu Geschlecht fortschleppen!« –

»Wir haben gerade noch Zeit, Kaffee zu trinken,« sagte der Hauptmann, »dann muß ich fort.«

Der völlig geknickte Reinecke besann sich erst jetzt, daß auch er noch ein »Nebengeschäft« abzuwickeln habe.

Soweit sie sich nicht schon verständigt hatten, wurden Egbert und Gerold jetzt miteinander klar, als sie, Reinecke neben sich, durch das Gewühl der Friedrichstraße hinunter schritten bis zu einem neuen, großartigen Café.

Mit Umsicht wählte der Hauptmann den Platz aus – es durfte hier keinerlei Aufsehen geben.

Gerold hatte sich in eine große englische Zeitung vertieft, indes Egbert wieder tröstend auf den verzweifelten Reinecke einsprach.

»Sehen Sie – das ist ein Schuft, dieser Stiefbruder,« sagte er, dicht an ihn heranrückend, »und er wird trotzdem wahrscheinlich frei ausgehen. Andern Leuten – manchmal recht respektablen Menschen, die niemandes Schaden wollten, geht es oft viel übler aus ...«

Meister Reinecke hätte verstanden, wenn auch der Hauptmann nicht durch eine leise Kopfbewegung auf Gerold hingedeutet hätte.

»Ich hab' mir's die ganze Reise lang gedacht,« bekannte Reinecke, »das ist ein feiner, honetter Mann, der Herr Gerold ... 's ist wirklich jammerschade!«

So weit wollte Egbert ihn haben.

Er war jetzt dem Schuster so nahe gerückt, daß ihre Arme sich berührten.

»Mein Schwager,« flüsterte er, »hat mir da etwas für Sie gegeben ... Es wird hinreichen für alles, was Sie brauchen – es sind sechshundert Mark. Da – nehmen Sie!«

Der Schuster wehrte tief betroffen ab, doch Egbert ließ ihn nicht zu Worte kommen – kaum zur Besinnung.

»Und wenn er Ihnen nun,« fuhr er fort, »in dem Menschengewimmel der Friedrichstraße abhanden kommen sollte – mein Himmel! dann haben Sie sich keine, auch nur entfernt so arge Schlechtigkeit zu schulden kommen lassen, als Sie eine von Ihrem eigenen Bruder hinnehmen mußten!«

Ein paarmal während dieser Worte wollte Reinecke heftig auffahren, aber Egbert hielt seinen Arm mit eiserner Faust umspannt, mahnte ihn, der Leute wegen, zur Ruhe.

»Denken Sie doch an sich selber, Reinecke,« redete er ihm zu, »und an Ihr Mädchen. Uebrigens nehmen Sie hier meine Adresse: wenn Sie mich brauchen, ich bin jederzeit für Sie zu haben. Und – stecken Sie das Geld ein!«

Zitternd, nur unter dem zwingenden Einfluß einer weitüberlegenen Persönlichkeit, gehorchte der arme Schuster.

Zu viel war heute in ihm zusammengebrochen – zu schwarz sah er die Zukunft. Seine Widerstandskraft war alledem, was er hier erlebte, nicht gewachsen.

Es ging auch alles so schnell, daß er gar nicht recht zum Nachdenken kam.

Der Hauptmann hatte schon gezahlt – sie schritten schon zu dreien die Friedrichstraße herab, ehe ihm noch recht klar geworden, ob es sich hier nur um eine Versuchung handle oder ob wirklich die Entweichung geplant war.

An der Ecke der Georgenstraße gab es großes Gedränge. Vermutlich ging ein Fernzug ab, während nebenan ein anderer eben eingelaufen schien.

Und während Egbert jetzt den ängstlichen Reinecke zwischen all den Wagen hindurchbugsierte, winkte er dem Schwager rücklings zu, und dieser war im Augenblick verschwunden.

Egbert sah, wie er zur Stadtbahn hinaufeilte.

Nun blieb auch Reinecke stehen und schaute nach seinem Gefangenen aus.

»Es scheint wirklich, er ist fort,« sagte der Hauptmann und schien suchend rückwärts zu blicken – dorthin, wo Gerold gewiß nicht zu finden war. »Ich sehe ihn nicht mehr!«

»Um Gottes willen,« stieß Reinecke entsetzt hervor und machte Kehrt.

Egbert nahm seinen Arm und schritt dicht neben dem jetzt an allen Gliedern zitternden Meister her, bis zu dem Café, das sie eben verlassen hatten.

Von Gerold zeigte sich keine Spur.

Reinecke hatte alle Haltung verloren. Nur mit Mühe schleppte der Hauptmann ihn ein Stückchen westlich die »Linden« hinab.

»Seien Sie vernünftig, Reinecke! Mein Schwager ist morgen mittag schon in der Schweiz. Er ist Ihnen eben wirklich entschlüpft und Sie können nicht dafür! Das ist schon andern passiert, als Ihnen.

Sie werden nun Ihr Brot haben, ohne Gefangene transportieren zu müssen! Das ist kein Geschäft für einen harmlosen Handwerksmann ... Und denken Sie, daß Sie bei mir immer Hilfe finden! Sie haben meine Adresse.«

Er drückte ihm ermutigend die Hand und ließ den noch immer Ratlosen stehen.

*


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