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Hoffart will Zwang leiden.


1.

Ein klarer Abendhimmel spannte sich über die Landschaft. Die Sonne war schon geraume Zeit unter den Horizont gesunken; die Wolkenlage, welche ihr Scheiden verschleiert hatte, glomm noch an den Rändern, und die Luft darüber zeigte jene lichten, gelblich und grünlich spielenden Töne, welche nach der anderen Himmelshälfte zu rasch in das mit den ersten Sternen gestickte Stahlgrau der beginnenden Dunkelheit überzugehen pflegen.

Die weithingestreckte, ebene Flur träumte sich bereits in den Schlaf hinüber. Wohin das Auge schweifen mochte – alles fleißig bestellter Fruchtacker im Frühsommerschmuck. Nur die Linien von Chausseebaumkronen erhoben sich daraus hervor, und hier und da die Silhouetten von Dörfern.

Eines lag ganz nahe vor den Augen des Wanderers, der auf einem breiten grünen Rain zwischen Feldern voll blühenden Korns dahinschritt. Hell hob sich der Kirchturm mit dem Schieferhelm vom dunkelnden Himmel ab, aus den schwarzen Schalllöchern in das Land spähend wie ein aufmerksamer Wachtposten über den dürftigen Hütten und stattlicheren Häusern, welche da zwischen Gärten wie zum Schlaf gestreckt lagen. Stimmen von Vieh und ein leises, seltsames Singen schollen herüber.

Der Wanderer war eine stattliche Figur in grauer Jagdjoppe; eine mäßig große Ledertasche hing über der Schulter, ein breitkrämpiger Strohhut saß bequem auf dem schon ergrauten Haar. Er ging langsam und fuhr zuweilen wie streichelnd mit dem dicken spanischen Rohr durch die starre Aehrenwand hin, während er in sichtlichem Behagen die weiche, mit dem feinen Duft der Kornblüte gemischte Luft einsog.

Ein Bauernbursch mit seinem Schatz kam ihm entgegen, und er beschleunigte seinen Schritt.

»Guten Abend!« sagte er mit ruhiger Freundlichkeit, als sie voreinander standen.

»Guten Abend auch!«

»Ist das da Hüttorf?« Und das spanische Rohr zeigte auf den Kirchturm mit dem Schieferhelm.

»Ja wohl,« war die Antwort.

»Lebt dort noch der alte Lehrer Plater?«

»Ja; er ist aber nicht mehr im Amte, sondern hat sich in Ruhestand versetzen lassen.«

»Können Sie mir von hier aus andeuten, wo ich seine Wohnung finde? Oder wohnt er noch im Schulhause?«

»Im Schulhause nicht; der verstorbene Schulze, der sein guter Freund war, hat ihm ein Haus mit einem Garten dran, das er geerbt hatte, auf lebenslang als Wohnung vermacht. Sehen Sie da vorn die zwei Pappeln? – das Haus gleich dahinter ist's.«

»Ob er daheim ist?«

»Das glaube ich wohl.«

Ein Dankeswort, und der Fremde schritt grüßend weiter, noch eine Weile von den neugierigen Blicken des Paares verfolgt. Er trieb sein altes Spiel mit den Aehren und horchte nur zuweilen auf, wenn der Abendhauch das wunderliche Singen deutlicher an sein Ohr trug. War es fernes Grillengezirp? War es der Ton einer Geige? Es kam jedenfalls vom Dorfe herüber.

Plötzlich verstummte es.

Das Haus, welches die beiden Pappeln markierten, lag gleich rechts am Eingange des Dorfes. Der Fremde hatte den niedrigen, weißgetünchten Giebel mit dem altersgrauen Strohdach nur ein paar hundert Schritt weit vor sich, als er aus den Aehren heraustrat; mehr von dem Hause zu sehen, verwehrte ein verwitterter Bretterzaun, der langgestreckt das Grundstück mit seinem alten Obstgarten vom Felde absperrte. Die Hausfront lag gegen die in das Dorf einführende Chaussee zu, auf welche der von dem Wanderer begangene Rain just an der Zaunecke einmündete; auf der Chausseeseite standen auch die beiden Pappeln. Der Fremde schritt weiter, durch Gemüse- und Kartoffelfelder; bald gewahrte er, daß dort am Zaun hin außer einer undurchbrochenen Front von Nesselbüschen auch ein schmaler Fußweg lief. Die Obst- und Nußbäume des Gartens hoben mächtige Kronen über den Zaun.

Eben da der Mann im Begriff war, an der Zaunecke auf die Chaussee überzutreten, vernahm er wieder jenen eigentümlich zirpenden Ton; er kam deutlich von einer Geige. Aber wo befand sich diese Geige? Irgendwo in der Luft – nicht nahe, ein Stück hin, über dem Zaun des Obstgartens; dort, zwischen Himmel und Erde, schwebten diese Perlreihen von Läufern, dieses wilde Kratzen, Schwirren und dieses Flüstern. Ein paar alte Walnußbäume streckten da ihr saftiges Laubdach weit herüber; vielleicht daß in einem davon der wunderliche Musikant seinen Sitz hatte?

Der Fremde hielt mit verwundertem Kopfschütteln an und ging endlich langsam, horchend, den schmalen Fußsteig neben den Brennesselbüschen entlang, die Augen spähend auf die Nußbäume gerichtet.

»Da ist ein gutes Quantum Spielfertigkeit vorhanden,« sprach er halblaut; »was in aller Welt hat dieser Geigenvirtuos in einem Nußbaum zu suchen?«

In der Blätterdämmerung droben hingen von einem Ast zwei Kinderbeine hernieder, und nun gewahrte der Suchende auch die dunkle Gestalt, zu der sie gehörten: ein Knabe saß mit dem Rücken gegen den Stamm gelehnt, regungslos, nur die geigenden Arme bewegten sich. Offenbar merkte er nicht, daß er von unten beobachtet ward.

Ein kurzes Weilchen lauschte der Fremde noch, dann klatschte er lebhaft in die Hände.

»Bravo, mein Junge! Komm doch mal herunter!«

Ein rascher Läufer wurde mitten abgebrochen; dann folgte eine momentane Stille und nun ein hastiges Rascheln: die Gestalt oben kroch mit Katzengeschwindigkeit höher und verschwand auf der Gartenseite völlig im Laubwerk der Nußbaumkrone.

»Gehörst du dem Lehrer Plater, mein Söhnchen?«

Keine Antwort; nur ein paar Blätter raschelten leise.

Der Mann in der grauen Jagdjoppe schüttelte den Kopf und zog ein wenig die Stirne kraus. »Uebermäßig höflich pflegen die Herren Virtuosen auch sonst nicht zu sein,« murmelte er; »dieser aber scheint mir zu den unhöflichsten zu zählen.« Und er wandte sich und ging den schmalen Weg zurück, auf die Chaussee, zu den beiden Pappeln, durch die offenstehende Pforte. Es gab da einen Hofraum vor dem Hause; links ein Stallgebäude, rechts zwischen Zaun und Haus der Garteneingang in einem Gitter aus gekreuzten Latten.

Aus einer Hundehütte bellte ein Spitz, mit der Kette rasselnd. Im nämlichen Augenblick trat ein junges Mädchen aus der Hausthür auf die Steinstufe davor, eine derbe, frische Gestalt mit glattem, strohblondem Haar. Das gesund gefärbte Antlitz, aus dem sich ein Paar ernsthafter grauer Augen fragend auf den Fremden richtete, hatte nichts sonderlich Anziehendes; aber es sprach von einer gewissen Energie, und über der ganzen Erscheinung lag der anmutende Reiz großer Sauberkeit.

»Ist Herr Plater zu Hause?« begann der Ankömmling, höflich den Hut lüftend.

»Ja,« sagte das Mädchen und stellte die frischgescheuerte Bütte nieder, die sie in der Hand gehalten. »Bitte, kommen Sie herein!«

Der Mann folgte ihr auf das Backsteinpflaster der niedrigen Hausflur. Eine Thür wurde geöffnet:

»Vater, hier will jemand zu dir.«

Der Fremde musterte raschen Blicks ein Stübchen mit der einfachsten Ausrüstung: ein Fenster, über dem draußen die Ranken eines Weinstocks sich kreuzten – aber da stand ein alter Flügel, und dort ein Schreibtisch mit einem Bücheraufsatz, und vor dem Schreibtisch saß der Lehrer Plater in einem Schlafrock. Jetzt wandte er sich um und nahm die Pfeife aus dem Munde.

»Grüß dich Gott, Heinrich!« sagte der Fremde und streckte die Hand gegen den Alten aus.

»Mit wem habe ich die Ehre – –?« stammelte dieser fast bestürzt, indem er sich hastig erhob und näher trat.

»Er kennt mich nicht mehr!« meinte der andere lächelnd. »Und doch habe ich mich, wie ich glaube, besser konserviert als du. Ich heiße nämlich Fritz Mosler.«

»Ah – Herr Professor – Herr Geheimrat – –«

»Fritz heiße ich, mein alter Kamerad, sonst hätte ich wohl schwerlich meine Fußwanderung nach Hüttorf herüber gelenkt, um dich aufzusuchen.«

»Maria,« rief der Ueberraschte mit fast schreiender Stimme dem jungen Mädchen zu, »hole Abendbrot, von allem, was da ist – Milch – Bier aus der Schenke –«

»Halt!« fiel der Geheimrat lachend ein, »ich bin mit der Milch ohne Bier zufrieden. Also das ist deine Tochter?«

»Komm her, Maria – das ist der berühmte Rechtsgelehrte, den alle Welt kennt und dessen Hauslehrer auch deinen Vater mit unterrichten mußte, als wir beide noch in Warwitz mit Kitteln herumliefen – ach, Fritz, das vergelte dir Gott, daß du mir die Freude machst –«

Und die beiden Hände des Lehrers Plater umklammerten mit leisem Zittern die dargebotene Rechte des einstigen Spiel- und Lerngenossen, und die kleinen Augen unter den buschigen Brauen zwinkerten, um den Blick von den feuchten Schleiern frei zu machen, welche ihn an der Musterung des stattlichen Mannes hinderten.

»Nun aber nimm deine Pfeife wieder, Heinrich – und du, reich mir die Hand, Maria – was für ein schmuckes Kind du hast, Heinrich! Ich bin noch immer der alte Junggesell –« Er schlug dem errötenden Mädchen leicht auf die volle Wange und wandte sich dann wieder zu Plater: »Sag mal, kannst du mich die Nacht bei dir unterbringen, Freundchen?«

Das Antlitz Platers zeigte ein wenig Verlegenheit.

»Wenn du mit mir und Erich die Kammer teilen willst –? Viel Raum hat das Haus nicht –«

»Natürlich will ich das. – Erich, wer ist das – – ah! wahrscheinlich der Teufelsjunge, der in Nußbäumen geigt.«

»Ja,« sagte der Lehrer, und über das gealterte, kränkliche Gesicht flog es wie Sonnenschein. »Also du hast ihn schon gesehen? – schon geigen hören? Aber ich schwatze da – leg ab, Fritz – –«

Ein paar Minuten später saß der Gast auf dem altmodisch harten, kattunbezogenen »Kanapee« und sah behaglich plaudernd zu, wie Maria in ihrer stillen ernsthaften Weise das reinliche Tuch über den Tisch vor ihm deckte und das ländliche Abendbrot auftrug – Brot, Butter, Eier und was der Rauchfang hergab, dazu ein Glas schäumende frische Milch.

Er erzählte von den tapferen Fußtouren, die er noch alljährlich ein paar Wochen hindurch hie und da im Lande mache, anspruchslos und mutterseelenallein. Und dann begann Plater von seinem Schicksal zu berichten, von seiner verstorbenen ersten Frau, der Maria Mutter, und dann von dem fremden, wunderlichen Mädchen, welches eine eilig durchreisende Familie eines Abends krank im Wirtshaus zurückgelassen hatte, so krank, daß er, Plater, mit dem Pfarrer zu ihm geholt worden, um ihm das Abendmahl zu reichen, und welches dann doch gesund und seine zweite Frau geworden war. Er erzählte mit flüsternder Stimme von ihr, wie von einem Geisterwesen, einer Offenbarung aus einer fremden Welt; und er brach stets sofort ab, wenn Maria hereintrat, welche mit der derben Frische ihrer Erscheinung allerdings die volle Erdengesundheit war.

»Geh in den Garten, Maria – Erich soll hereinkommen!« sagte er, als das Mädchen mit Auftragen fertig war.

Erich war der Sohn jener merkwürdigen Frau, seine Geburt aber hatte der jungen Mutter das Leben gekostet.

»Und ein paar Jahre nachher hätte er beinahe auch den Vater dazu verloren,« erzählte Plater weiter. »Es war beim Obstpflücken im Garten hinter der Kirche. Die Leiter fiel um, auf der ich gestanden, und ich schlug gegen einen der alten Grabsteine, die dort verstreut im Boden gelassen worden sind. Ich muß wohl bösen Schaden davongetragen haben, denn ich wurde zwar nach einer Weile Liegens vom Tode gerettet; aber es blieb etwas nicht ganz richtig im Leibe, und ich konnte nicht mehr zuverlässig unterrichten. So hat's denn mein Freund, der jetzt verstorbene Schulze, bei der Gemeinde durchgesetzt, daß ich emeritiert wurde, und hat mir dies Grundstück hier, das ihm gehörte, zu lebenslänglicher Wohnung übermacht, was er auch in seinem Testamente bestätigt hat. Für mich wäre damit gesorgt,« schloß er mit einem leisen Seufzer.

»Ich glaube wohl, daß du dir in deiner Stellung keine Schätze hast sammeln können,« sagte der Geheimrat, und sein Auge blitzte lebhaft auf, wie wenn ihm plötzlich ein merkwürdiger Einfall gekommen wäre.

»Das weiß Gott!« versetzte Plater – »aber bist du schon gesättigt? Du hast einen weiten Marsch hinter dir – ja, was ich sagen wollte: es ist nur wegen des Jungen, des Erich –«

Der Geheimrat hatte Messer und Gabel niedergelegt. »Ich bin ein mäßiger Mensch,« meinte er; »was den Jungen betrifft, es ist gut, daß wir darauf kommen: das ist ja ein Tausendsasa mit seiner Geige! Das muß einen Virtuosen geben, wenn er die rechte Ausbildung erhält. Hast du ihm selber dasjenige beigebracht, was er jetzt kann?«

»Nur die Anfangsgründe – er ist mir bald über den Kopf gewachsen. Das ist mir schmerzlich genug, daß er keinen rechten Lehrer hat – mein Nachfolger im Amt versteht auch nicht mehr vom Geigen als ich – Maria, was ist's?« unterbrach er sich, als diese sichtlich aufgeregt hereintrat.

»Der Erich weigert sich, hereinzukommen. Ich hatte ihn glücklich bis zur Thür gebracht, da fällt's ihm ein, durch das Fenster zu gucken, und kaum daß er den fremden Herrn sieht, läuft er davon. Er sitzt schon wieder in irgend einem Baume und geigt.«

Der Geheimrat verzog einen Augenblick den Mund zum Lächeln; als er aber sah, daß Platers Gesicht rot geworden war, schüttelte er ein wenig den Kopf.

»Er ist wohl schwer zu behandeln?«

»Etwas sonderbar ist er,« fiel Plater rasch ein; »etwas eigensinnig – aber denk nur nicht, daß er ein schlechtes Herz hat! Ich hab' ihn wohl etwas verzogen, um seiner Mutter und seiner großen Gabe willen. Zünde Licht an, Maria! – Kommst du noch auf einen Gang mit in den Garten, Fritz?«

Der Geheimrat nickte, und sie gingen beide in die schon ziemlich stark vorgeschrittene Dämmerung hinaus, und um die Hundehütte mit dem knurrenden Spitz herum in den Garten. Am sommerlichen Nachthimmel über ihnen glänzten die Sterne in voller Pracht, durch die Baumwipfel her aber kam ihnen der Ton der Geige entgegen.

Plater war von dem Ungehorsam Erichs merklich gedrückt, und er sprach es auch aus, warum? »Ich hatte so den Einfall, daß du vielleicht für den Jungen etwas thun könntest, Fritz; nun, da du siehst, welche Not man manchmal mit ihm hat, wirst du wenig Lust dazu verspüren. Aber ich versichere dir, es ist unmöglich, ihm böse zu sein; er ist ein Wunderkind und hat so tiefe Augen, wie einst seine Mutter. Und wenn ich mich einmal ernstlich um ihn gräme und wohl einen Tag lang nicht mit ihm spreche, dann kauert er in einem Winkel und sieht mich unverwandt an, daß mir angst und bange wird; und wenn ich ihn endlich frage, warum er mir solchen Kummer mache, dann sagt er so verzweifelt: er könne nicht anders.«

Sie waren in die Nähe der Nußbäume gekommen, und Erich mußte ihr Kommen bemerkt haben. Es war plötzlich ganz still im Garten; nur drüben im Dorfe bellten Hunde, und der Spitz antwortete dann und wann mit einem kurzen Kläffen.

»Steig herunter, Erich! Unser Besuch möchte dich gern einmal sehen, mein Söhnchen. Er kommt aus einer großen Stadt, in der eine Musikschule ist und in der auch große, berühmte Violinspieler wohnen.«

Es blieb mäuschenstill in den Nußbaumwipfeln.

»Vielleicht sorgt er einmal dafür, wenn du artig bist, daß du in diese Musikschule kommst und ein berühmter Geiger wirst. Komm, Erich!«

Wieder blieb die Antwort aus.

»Das ist doch eine ernste Sache,« meinte kopfschüttelnd der Geheimrat. »Wer nicht gehorchen lernt, kommt auch in der Kunst zu nichts Rechtem, lieber Heinrich. Solche Menschenkinder, die sich nur nach ihrem eigenen Kopf bilden wollen, werden meist nur Kuriositäten; um etwas Großes zu leisten, muß man in allen Dingen sich erst das aneignen, was bisher geleistet worden ist, und von da aus weiter bauen. Man kann das wohl auch auf eigene Faust erzielen, aber man braucht dann ein halbes Leben zu dem, was man, der Hand eines Führers gehorchend, in wenig Jahren bewältigt.«

»Hast du's gehört, Erich? Willst du ein großer und berühmter Mann werden, oder bloß eine Kuriosität?«

Einen Augenblick raschelte es droben, und es schien, als wolle der Knabe gehorchen. Aber dann mußte er sich doch eines andern besonnen haben, denn wieder ward es still in den dunkeln Laubmassen.

Plater seufzte. »Wir müssen schon ohne ihn gehen, Fritz,« sagte er.

»Hm!« machte der Geheimrat ein wenig verdrießlich. »Ich werde ihn ja doch nachher sehen, denn er muß wenigstens zum Schlafen hereinkommen.«

»Er hat wohl auch schon im Freien geschlafen,« gestand Plater zögernd, während die beiden Männer wieder dem Hause zuschritten.

»Der tausend! – das ist ja eine wahre Zigeunernatur.«

Keiner der beiden gewahrte, wie es sich plötzlich hinter ihnen im Nußbaum regte und leise wie eine schwarze Raupe den Stamm herunter kroch. Einmal schlug die Geige an, und bei dem hallenden Ton hörte das Klettern einen Moment auf. Aber die Männer hatten offenbar den Klang nicht beachtet. Weiter kroch's, dann ein kurzer Sprung, ein eiliges Huschen über den Rasen des Gartens – da stand's unter einem Fenster an der Rückseite des Hauses. Das Fenster lag niedrig, der geringen Höhe der Wand entsprechend, und die Flügel waren geöffnet; geschmeidig wie eine Katze, fast unhörbar, wand sich die schmächtige Gestalt des Knaben hinein.

Eine Stunde später traten die Männer in das enge, niedrige Schlafzimmerchen, dasselbe Zimmer, zu dem jenes Fenster gehörte. Plater trug ein Licht, stellte es in das Fenstergesims und riegelte Flügel nach Flügel an. Mit einemmal wandte er sich jäh um und spähte nach einer der drei Bettstellen. Zwischen den Kissen glänzte schwarzbraunes lockiges Haar auf.

Ein zischender Laut machte den Geheimrat, der sich zu entkleiden begann, aufmerksam.

»Da ist er!« sagte Plater leise und zeigte nach der Stelle.

Der Geheimrat trat näher und beugte sich über den Kopf des schlafenden Knaben. Aber dieser hatte das Gesicht so tief in die Kissen gedrückt, daß der Spähende trotz dem Leuchten des Lehrers wenig mehr als die braune Wange zu sehen vermochte.

»So macht er's nun,« sprach Plater, indem er sich zurückzog. Das klang zornig, aber in dem Antlitz des Redenden leuchtete eine rührende Zärtlichkeit.

Bald darauf war es still in der kleinen Kammer; nur die Atemzüge der drei Schläfer stiegen und fielen in der Dunkelheit.

Der Geheimrat, vom Marsch des vergangenen Tages ermüdet, schlief prächtig. Nur einmal wachte er flüchtig auf, und es war wie eine Vision, was ihn aufgestört hatte.

Er hörte und sah im Traume musizierende Engel. Die Melodie kam ihm bekannt vor; es war das alte: »Wie schön leucht't uns der Morgenstern«. Allmählich verdämmerte der Traum, aber das Singen und Klingen blieb; er öffnete schlaftrunken einen Augenblick die Lider: da sah er, wie der alte Plater halb aufgerichtet im Bette saß und mit einem Arme den Takt angab, während er gleichzeitig leise jene Melodie sang. Auf dem Boden unten aber kauerte im weißen Hemde Erich und geigte. Die schwarzbraunen Locken hingen ihm wirr um das schmale bräunliche Gesichtchen, in dem zwei große, dunkle Augen unverwandt zum Fenster hinaus starrten; durch das Fenster herein aber fiel strahlendes Morgenrot und verklärte goldig die schmächtige Gestalt des Knaben im weißen Hemde.

Es war ein wundersames Bild – so hätte der Junge ohne weiteres eine Engelfigur im Gemälde abgeben können.

Aber endlich sank der Bogen, und auch die Lider sanken wieder über die Augen des müden Geheimrats; er schlief noch ein paar Stunden. –

Er hatte Erich nicht wiedergesehen, als er bei heller Sonne von der gastlichen Stätte schied, um seine Wanderung fortzusetzen; der launenhafte Knabe war dem Vater nach dem Frühstück wieder unter den Händen verschwunden, trotz der Vorwürfe auf der einen und Verheißungen auf der anderen Seite. Plater war sehr unglücklich darüber gewesen, aber der Geheimrat hatte ihn getröstet: er nehme an, das seien pure Kinderlaunen, die sich verwachsen würden, und wenn der Junge ein wenig verständiger geworden, werde er gern mit Sorge tragen, daß er eine tüchtige Ausbildung erhalte.

Da der Lehrer einmal geklagt hatte, daß ihm das Gehen sauer werde, so litt es der scheidende Freund nicht, daß er ihm das Geleit gab; dafür bat er sich Maria zur Wegweiserin aus. Das frische Mädchen mit seinem geordneten und klaren Wesen hatte sich das herzliche Wohlgefallen des Geheimrats erobert. Während sie beide durch das Dorf hinschritten, dessen Häuser im Glanze der hellen, warmen Vormittagssonne auffallend sauber und anheimelnd aussahen, mußte sie allerlei Fragen beantworten, die sich auf das häusliche Leben Platers, auf die geschwächte Gesundheit desselben, auf das Wesen Erichs bezogen. Endlich waren sie über das jenseitige Ende des Dorfes hinaus gelangt und standen zwischen den ersten Kirschbäumen der Landstraße.

Zögernd ging sie noch ein Stückchen mit, obwohl sie ihrem Begleiter bereits die Dörfer in der Entfernung gezeigt hatte, welche die nächsten Zielpunkte seines Marsches ausmachten.

»Nun kehren Sie um, liebe Maria! Ich will Sie nicht weiter bemühen,« sagte der Geheimrat.

Sie blieb stehen, und plötzlich schoß ein dunkles Rot über ihr Antlitz und sie senkte in Verwirrung das Haupt.

»Ach, Herr Geheimrat,« stammelte sie, indem sie ihm die Hand hinstreckte, »mir liegt der Erich so sehr am Herzen. Seien Sie ihm nicht böse!«

Es zuckte eigen über das kluge Gesicht des Mannes da vor ihr; er nahm die dargebotene Hand mit der Rechten und legt die Linke darüber.

»Vertrauen Sie fest auf mich, meine gute Maria! Ich werde einmal für den Erich und für Sie selber sorgen, wenn Sie es nötig haben werden.«

2.

Der Besuch des Geheimrats, seit Jahren die einzige Abwechslung in dem einförmigen Einerlei des Lebens für das Platersche Haus, bewegte hier die Gemüter noch geraume Zeit auf das lebhafteste. Maria hatte nach dem Abschied von dem freundlichen Gast dem Vater glückselig von dessen Versprechen, im Falle der Not für die beiden Geschwister Sorge tragen zu wollen, Mitteilung gemacht, und der ernste, schweigsame Mann war davon in eine an ihm völlig ungewohnte Aufregung geraten. Er ließ einmal über das andere die geliebte Pfeife ausgehen, stellte sie endlich beiseite und schritt händereibend im Zimmer auf und ab.

»Siehst du, Maria, jetzt kann ich ruhig sterben, und du glaubst nicht, was das nach so vielen Jahren der Sorge sagen will.«

»Sprich nicht vom Sterben, Väterchen!«

»Nein, nein, ich will auch noch nicht sterben. Man gewinnt das Leben doppelt lieb, wenn man die Gewißheit hat, ruhig sterben zu können. Jetzt werde ich erst recht gesund werden! Und für den Erich will er sich auch bemühen, daß er ein großer Meister wird – und das wird er sicher einmal. Man wird einst nach seinem alten Vater fragen in der Welt um des Sohnes willen. Der Mosler wird's nicht bereuen, ich sag's dir, Maria!«

Und der Erregte begann zu erzählen, von seiner Jugend, von der stolzen Laufbahn des Freundes, von all den Ehren, die man ihm erzeigt, und wie er der Ratgeber von Fürsten und Ländern geworden.

»Der Erich wird auch gefeiert werden, und du wirst deinen Teil von dem Glück abbekommen, Maria! Ach – nur seine Mutter ist tot und hört ihn nicht mehr und sieht ihn nicht mehr! Aber vielleicht erfährt sie auch im Himmel davon. Man kann freilich im Himmel nicht noch glücklicher werden, als man schon ist,« schloß er vor sich hinmurmelnd.

Ein Brief vom Geheimrat kam wie ein Siegel unter diese schwellenden Hoffnungen. »Er überlasse es dem Freunde,« schrieb Mosler, »ihm Erich zu senden, wann er wolle. Vielleicht sei es das beste, wenn es bald geschehe, denn unter fremden Leuten werde derselbe sein sonderbares Wesen leichter abstreifen, als daheim, und es werde gut sein, dies zu bewirken, bevor das junge Pflänzchen allzu hart geworden sei.«

Der Geheimrat hatte ganz recht mit seiner Ansicht; es war das allerbeste, wenn Erichs Sachen so schnell wie möglich gepackt wurden und Vater Plater sich mit ihm aufmachte, um ihn dem Freunde in der Hauptstadt zuzuführen. Das versicherte Plater selber der Maria wiederholt und beriet auch mit ihr, wie Erich ausgerüstet werden solle. Und als die beiden nun ganz einig miteinander waren – unterblieb schließlich doch alles.

Der kränkliche Mann zögerte und zögerte, und am Ende wurde er ganz ungeduldig, wenn Maria mahnte, bis diese nichts mehr zu sagen wagte. Er brachte es eben doch nicht über das Herz, sich von dem Lieblingskinde zu trennen; im Hintergrunde seines Herzens lag der Gedanke, er könne einmal sehr rasch sterben, und dann müßte er es, ohne den Jungen noch einmal zu sehen! Diese Vorstellung war ihm unerträglich. Ueberhaupt – die paar Jahre, die er seiner Meinung nach höchstens noch zu leben hatte: wie leer und schal würden sie ihm verstreichen, wenn nicht das kleine, schmale, trotzige Gesichtchen mit den großen braunen Augen seinen Sonnenschein hinein würfe!

Die Eigenheiten würde Erich später wohl auch noch ablegen. Waren sie denn wirklich so schlimm? Der Junge spielte freilich nicht mit den Dorfkindern; er erklärte sie für dumm. Aber, meinte der Vater, war er denn nicht wirklich von ganz anderer Art wie sie? Wenn er einst mit den klugen Leuten in der Stadt zusammenkäme, die so gottbegnadigt waren wie er, da würde er von selbst bescheidener werden. Er war wohl eigensinnig, sehr eigensinnig; er that nur, was ihm gefiel, nicht was ihm geheißen wurde. Aber war das nicht auch ein Zeichen von Willensfestigkeit, durch die man allein es zu etwas bringt in der Welt? Was jetzt als kindischer Trotz aussah, offenbarte sich später wohl als die Gabe, sich die Ellenbogen freizuhalten, um unaufgehalten seinem großen Ziele zuzueilen.

Es war am Ende doch nicht nötig, sich so rasch von dem Erich zu trennen.

Anfangs hatte Plater die Absicht, in diesem Sinne an den Geheimrat zu schreiben; aber er kam nicht recht dazu; er schämte sich, daß er nach dem freundlichen Briefe des Jugendfreundes schon so viel Zeit hatte verstreichen lassen, ohne geantwortet zu haben. Und so beschloß er endlich, es ganz zu unterlassen. Wenn er nicht mit Erich ankam, so war das ja am Ende Antwort genug; Mosler war sicher nicht der Mann, darum gleich zu zürnen.

So blieb denn alles beim alten. Die Jahre verstrichen, und einmal kam ein Osterfest, an welchem Erich konfirmiert wurde. Mit stolzen Empfindungen wohnte Plater der feierlichen Handlung bei. Wie vornehm und bedeutend sah der Junge, der indessen ziemlich gewachsen war, neben den Mitkonfirmanden aus! Er stand auch an erster Stelle. Der Spruch, den der Geistliche ihm mitgab, enthielt freilich eine ziemlich deutliche Mahnung. »Sirach 3, 20: Je höher du bist, je mehr dich demütige; so wird dir der Herr hold sein« – nun, schaden konnte diese Mitgabe immerhin nichts. Ein Sichdemütigen in dem Sinne, daß Erich so schüchtern und devot wie die Bauernjungen neben ihm hätte werden sollen, das wäre natürlich eine abgeschmackte Forderung gewesen. Dann wäre der Junge eben nicht mehr Erich geblieben. So dachte Plater im stillen. Er überlegte in diesem Augenblicke auch mit Freuden, daß der Knabe sich doch seither schon sehr zu seinem Vorteil verändert habe. Er war nicht mehr die wilde Katze von ehedem; besonders nicht mehr so scheu; er sprach mit den Leuten, am liebsten freilich mit denen, die ihn bewunderten, und was er gar nicht ertragen konnte, war, wenn ihn jemand so wie einen beliebigen Jungen behandelte, oder wenn ihn gar jemand tadelte. Er hatte erst vor kurzem einem fremden musikkundigen Geistlichen in der Kirche etwas vorspielen müssen, und als dieser ihm ein freundliches, aber nur mäßiges Lob gespendet, da war er zornig herausgefahren: ein Geistlicher könne jeder werden, aber nicht jeder Geistliche ein tüchtiger Musiker. Damit war er davongelaufen. Das war natürlich sehr ungezogen; aber Erich war einmal ein so leidenschaftlicher und absonderlicher Junge; man mußte Geduld mit ihm haben.

Und nun war er konfirmiert, und es war das die rechte Zeit, daß er in die Hauptstadt kam.

Vielleicht hätte Plater diese Uebersiedelung noch weiter hingezögert – da geschah etwas, das jeder Verzögerung ein Ende machte.

Wie im Traum war es Maria in der Nacht auf den zweiten Ostertag gewesen, als habe sie den Vater in seiner Kammer stöhnen hören. Am Morgen kam er nicht zum Frühstück, wie sie auch wartete, und als sie in die Kammer ging, um nach ihm zu schauen, da war er tot. Erich, der in aller Morgenfrühe schon ins Freie gegangen, mußte weder des Nachts, noch beim Ankleiden etwas davon gemerkt haben.

Das war ein großer Jammer! Maria lief zum Geistlichen – die Nachricht verbreitete sich blitzschnell durch das Dorf, und die Leute strömten noch vor der Frühkirche in das stille Häuschen am Dorfende. Auch Erich kam endlich, blaß wie Wachs; man hatte ihm unterwegs Mitteilung von dem Verlust gemacht. Maria wollte ihn zu der Leiche führen – aber keine Macht der Erde hätte ihn dorthin gebracht. Er saß dumpf und verstört in einer Ecke des Wohnzimmers, vor sich hinstarrend, und wie es ihm auch zuweilen um Mund und Augen zuckte – er vergoß keine Thräne und sprach kein Wort. Aber als die Leute beim Hall der Osterglocken das Haus verlassen, nahm er seine Geige und schlich sich hinaus. Im Dunkel des Holzstalles, dessen Thür er hinter sich zugeklinkt, saß er auf einem Klotz und spielte, geheimnisvoll leise Töne, welche wie das Weinen eines Kindes klangen.

Nach einer Weile hörte er auf und starrte, die Geige über den Knieen, nachdenklich vor sich hin; endlich erhob er sich und ging festen Schrittes auf den Hof hinaus. Dort traf er Maria, welche eine Bütte weißen Sandes geholt hatte, um den Raum vor dem Hause damit zu bestreuen. Er blickte ihr mit selbstbewußter Zuversicht in die rotgeweinten Augen und legte ihr die feine, schmale Hand auf die Schulter, während die Linke Geige und Bogen zusammenfaßte.

»Du brauchst dich nicht zu bekümmern, Maria, was aus uns wird. Ich werde für uns beide sorgen,« sagte er sehr bestimmt.

Das Mädchen maß unwillkürlich die schmächtige Gestalt vor ihr mit den Augen. Die Art, wie er das sagte, so überzeugt von seinem Werte, so gönnerhaft, hatte eher etwas Komisches als Rührendes. Es klang, als wäre ihm viel mehr daran gelegen, zu beweisen, was er vermöchte, denn als ob brüderliche Liebe ihm die Aeußerung auf die Lippen gelegt. Und er sah doch dabei so knabenhaft aus – recht wie ein halbwüchsiger, hochmütiger Junge.

»Du wirst das hoffentlich nicht nötig haben, Erich,« entgegnete sie. »Der Herr Geheimrat, der vor ein paar Jahren hier war und der den seligen Vater immer gebeten, dich zu ihm zu schicken, hat ihm und auch mir selber versprochen, daß er sich nach Vaters Tode unser annehmen wolle.«

»Das ist Bettelbrot,« fuhr Erich heraus.

»Du kannst ihm ja später zurückzahlen, was wir ihm jetzt kosten werden,« meinte sie ruhig. »Es wird doch besser sein, du lernst erst alles, was du irgend lernen kannst. Du willst ja ein berühmter Mann werden.«

»Das wird so viel nicht sein, was sie mich lehren können,« warf der Junge blitzenden Auges hin; aber er drehte sich doch um und ging nachdenklich dem Garten zu.

»Ich schreibe nachher an den Geheimrat,« rief ihm Maria nach. »Du solltest ein paar Zeilen dazu schreiben.«

Erich schüttelte nur den Kopf.

Das Begräbnis kam, und es war sehr feierlich und stattlich. Der alte Plater hatte ja das halbe Dorf zu Schülern gehabt. Erich und Maria gingen hinter dem Sarge, die letztere wieder in Thränen aufgelöst, Erich finster, die schmalen Lippen fest zusammengepreßt. Der Pastor hielt eine schöne Rede – dann kollerten die harten kalten Erdschollen polternd auf den Sarg nieder, und der Totengräber that das übrige.

Ehe sie heimgingen, stand der Geistliche noch ein paar Augenblicke bei dem Geschwisterpaar; aber er sprach fast nur mit Maria. Es lag ein so trotziges Abwehren in dem Antlitz des Knaben. Der Pastor hatte sich einen Plan zurecht gelegt, um für die Zukunft der Waisen zu sorgen, und Maria dankte ihm, aber sie verschwieg ihm nicht, daß sie schon den versprochenen Beistand Moslers angerufen.

»Der Narr,« sagte Erich hart, als sie heimkehrten. »Er wollte mir die Wahl lassen, ob ich Schulmeister oder Schreiber werden solle. Es wäre ihm natürlich schrecklich, wenn ich einmal in der Welt mehr zu bedeuten hätte, als er.«

»Versündige dich nicht, Erich!« entgegnete Maria, welche beständig mit ihren Thränen kämpfte. »Er hat es gewiß gut gemeint. Undankbarkeit ist kein schöner Kranz für das Grab unseres Vaters.«

Erich biß sich auf die Lippen und schwieg verstimmt.

Nachher saßen sie mit den Häuptern der Bauernschaft bei Kaffee und Kuchen – so wollte es die Sitte – in der Wohnstube des verwaisten Hauses. Die Leute waren alle voll gutherziger Teilnahme. Die Erben des Schulzen hatten zwar schon anderweit über das Haus verfügt; aber sie wollten die Geschwister so lange drin wohnen lassen, bis sie sonst eine gute Unterkunft gefunden. Während sie sprachen, traf die Antwort Moslers ein, ein rührender Trostbrief, welcher die Geschwister einlud, unverzüglich nach der Hauptstadt zu kommen. Maria war in Thränen glücklich und erzählte von des Geheimrats Ruhm und Reichtum, was sie so reichlich noch aus des Vaters Munde gehört; und die Bauern stellten ihr sofort ein Fuhrwerk zur Verfügung, damit sie und Erich zur Stadt führen, und für später ein zweites zur Uebersiedelung der Möbel und anderer Habseligkeiten – denn zuerst sollten die Geschwister in Moslers Hause als Gäste einquartiert werden, bis derselbe ein passendes Logis für sie gemietet haben würde. Das alles war so viel Glück im Unglück!

Maria umarmte den Bruder, als sie allein waren.

»Sei recht freundlich gegen den Geheimrat,« sagte sie mit sanfter Mahnung. »Du bist immer so trotzig und verschlossen, und manchmal auffahrend und hochmütig. Ihm gegenüber darfst du bescheiden sein; denn er steht so berühmt und groß da, daß du nicht höher wirst steigen können, als er gestiegen ist. Und wie freundlich und bescheiden ist er selber!«

Erich sträubte sich nicht; es kam etwas wie eine weiche Stimmung über ihn.

»Ich kann mich ja nicht anders machen, als ich bin, Maria,« sagte er. »Wenn mich die Menschen so wie einen dummen Jungen behandeln, von denen zwölf auf ein Dutzend gehen, und dabei thun, als erzeigten sie mir eine Gnade, wenn sie überhaupt mit mir reden und mich anhören, dann steigt's in mir auf, als müßte ich ihnen in das Gesicht springen. Denn ich weiß, was ich kann, Maria; und ich will's ihnen zeigen – ja, sie sollen noch einmal den Tag im Kalender rot anstreichen, an dem ich mit ihnen reden werde. Lieber eine Kugel vor den Kopf, als so ein Stück von der großen Herde bleiben –«

Maria hielt ihm erschrocken den Mund zu. »Erich, wo hast du die entsetzlichen Reden her – du bist ja kaum konfirmiert – –«

Er entwand sich ihr. »Ich weiß nicht, wie mir das so kommt. Aber ich glaube, wenn ich einmal berühmt sein werde, dann werde ich auch bescheiden sein; denn gegen Leute, die etwas von mir halten, bin ich gar nicht so trotzig –«

»Ich bin doch neugierig, was ich in der Stadt noch lernen werde,« schloß er nach kurzer Pause.

Maria war inzwischen zum Tisch gegangen und hatte den Brief des Geheimrats ergriffen. Jetzt saß sie damit am Fenster und las ihn zum viertenmal. Dabei fiel ihr Blick auf das Datum über den Zeilen, und sie dachte einen Augenblick nach. »Schloß Bilstein« stand dort. Der Geheimrat hatte also nicht von der Hauptstadt aus geschrieben, sondern von einem Schlosse aus, dessen Lage sie nicht kannte. Wahrscheinlich war er also gerade von Hause abwesend gewesen, als Marias Brief ihn getroffen – in Geschäften, oder zum Besuch; der Brief war ihm wohl nachgeschickt worden. Es war dumm, daß er gar nicht mitgeteilt hatte, wann er wieder daheim sein würde. Sie hätte es doch gern gesehen, wenn der Geheimrat selber sie beide empfangen hätte. Indes sagte sich das praktische Mädchen auf der anderen Seite, daß er wohl eben darum über jenen Punkt geschwiegen, weil seine Abwesenheit nur kurze Zeit in Anspruch nahm, und weil er also in jedem Falle erwarten konnte, zu rechter Zeit wieder in seiner Wohnung einzutreffen, um die Waisen in Empfang zu nehmen, gleichviel wie zeitig sie auch ankamen.

Morgen wollte sie noch auf das Ordnen und Packen im Hause verwenden; übermorgen früh konnte sie dann der Wagen des Gastwirts nach der Hauptstadt bringen.

Es war doch ein Gefühl bänglicher Erwartung, mit dem das Mädchen kämpfte, als die Geschwister nun in dem Gefährt, mit den zwei dicken Braunen des Wirts davor, sich der Großstadt näherten. Diese Fahrt sollte sie von ihrer Jugend und ihrer Heimat trennen – es war das erste Mal, daß sie ihr Heimatdorf verließ. Aus der friedlich einsamen Dorfidylle mit dem Gartengrün, den weiten Feldern, dem bäuerlichen Arbeitskreise und den bekannten Gesichtern, aus alledem, was bis heute ihre Welt gewesen, der Sprung in die große Hauptstadt! Und was sie hinter sich gelassen, das schloß zudem ein frisches Grab ein, in welchem das Teuerste schlummerte, was sie auf Erden besessen.

Sie hatte nichts mitnehmen können, als den Koffer da, der die Gegenstände des täglichen Gebrauchs für die Geschwister barg, und den Geigenkasten mit Erichs geliebtem Instrumente.

Aber sie hatte ja Erich selber neben sich; und Erich bedeutete ihre Zukunft. Sie wäre selbst schwerlich in die Stadt gezogen; um Erichs willen hatte sie es gethan. Sie wußte, wie das Herz des verstorbenen Vaters an ihm gehangen, und es war ihr, als müsse sie nun sorgen, daß ihm nichts Uebles geschehe, daß er das Ziel erreiche, an welchem ihn der Vater in seiner Phantasie mit so glücklichem Stolze schon angekommen gesehen. Die ruhige Zuversichtlichkeit, mit welcher der Junge neben ihr saß, war in diesem Augenblick ihre einzige Stütze.

»Es wird schon alles gut werden,« sagte sie sich, wenn sie ihn ansah, und dann blickte auch ihr Auge zuversichtlich, und die schwankenden Nebel der Bangnis in ihrer Brust zerrissen wie von einem frischen Windhauche.

Der Staub der Landstraße flog um die alte Kalesche, die Räder rasselten und die Hufe schlugen in regelmäßigem Takt. Der Knecht auf dem Bocke, welcher in der Hauptstadt als Soldat gedient hatte, drehte sich dann und wann herum und nannte die Namen von Ortschaften, welche sichtbar wurden.

Allmählich ward die Straße belebter. Ein paar Omnibusse, vollgestopft mit singenden und jubelnden Insassen, fuhren einen Augenblick neben ihnen; dann und wann überholten sie größere oder kleinere Menschentruppen – Residenzler, welche Landpartien gemacht hatten, wie der Knecht erklärte. Man kehrte in die Stadt zurück, denn der schöne sonnige Maitag neigte sich seinem Ende zu; es ward kühler, und die singenden Lerchen ließen sich eine nach der anderen in das Feld hinab.

Als die Geschwister in das Gewühl der Vorstadt einbogen, flimmerten bereits die Sterne, und die Gaslaternen brannten. Wie betäubt starrten sie beide in das Lichtermeer und das ameisenhafte Treiben um sie herum. Immer hastiger jagten sich Wagen und Karossen, immer straffer mußte der Knecht vor ihnen die Zügel fassen.

»Ich fahre gleich in die Friedensstraße vor das Haus des Herrn Geheimrats!« sagte er einmal und bog sich flüchtig in den Wagen zurück.

Maria nickte bloß.

Und weiter ging's, und endlich war das Ziel erreicht.

Ein villenartiges Haus mit einem Vorgärtchen. »Ein Palast!« flüsterte Maria zu Erich hin; aber es war keine Zeit mehr zu flüstern. Der Knecht war hinabgestiegen, hatte eine Klingel gezogen und ein paar Worte mit einem Diener gesprochen. Dann schafften die beiden den Koffer in die Hausflur – den Geigenkasten nahm Erich selber im Aussteigen.

»Na, laßt's euch gut gehen,« sagte der Knecht treuherzig. »Vielleicht frage ich einmal nach; ich komme schon dann und wann in die Stadt her.«

»Grüße alles,« nickte Maria mit erstickter Stimme und schüttelte ihm die Hand. Auch Erich that es. Noch ein Winken mit der Peitsche im Fortfahren – nun waren sie ganz der großen Stadt verfallen.

Sie traten in die Hausflur, wo der Diener neben dem Koffer stand.

»Ist der Herr Geheimrat zu Hause?« fragte Maria etwas zaghaft.

»Thut mir leid, er ist schon seit ein paar Tagen verreist. Aber ich will Sie hinauf führen; er wird wohl der Frau Schneider, der Wirtschafterin, Bescheid gesagt oder geschrieben haben.«

Maria erblaßte. Es wäre doch fatal, wenn die Frau von gar nichts wüßte. Aber – »ich habe ja zum Glück den Brief des Herrn Geheimrats im Koffer.«

Sie stiegen treppauf; der Diener trug den Koffer auf der Schulter. Er klingelte vor einem geschlossenen Korridor.

»Es ist prächtig hier,« sagte Erich unwillkürlich, und seine Blicke glitten von dem Stuck des Plafonds zu den farbigen Streifenmustern an den Wänden hin, und seine eine freie Hand streichelte das schön gearbeitete eiserne Treppengeländer mit den Goldlinien im Ornament.

»Ja, der Herr Geheimrat sind sehr reich,« lächelte der Diener.

Schlürfende Schritte nahten im Innern; die Thür sprang auf.

»Hier ist Besuch angekommen, Frau Schneider,« sagte der Diener.

Das kluge alte Gesicht mit der weißen Haube auf dem grauen, glattgescheitelten Haar sah halb verblüfft, halb mißtrauisch durch die vorsichtig geöffnete Thür und musterte unentschlossen die ländlich einfache Kleidung, das kernige, ehrliche, aber so wenig zu der vornehm städtischen Geheimratswohnung passende Gesicht des jungen Mädchens und die schmächtige Gestalt Erichs, dessen Augen immer finsterer und ungeduldiger dreinblickten, je länger die Prüfung währte.

»Nun?« fragte er endlich gereizt, »wollen Sie uns nicht gefälligst hereinlassen, oder sollen wir vielleicht hier stehen, bis der Herr Geheimrat von der Reise wiederkommt?«

Der alten Frau stieg ein jähes Rot in das Gesicht, während ihre Gestalt voll in die Thür trat.

»Sehen Sie mal da, Jüngelchen,« sprach sie, indes ihre Hände sich in die Seiten stemmten; »Sie scheinen mir ein heimlicher Prinz oder etwas Aehnliches zu sein. Denken Sie, daß ich jedes solche Bürschchen, das mit einem Wimmerkasten, oder was Sie da unterm Arm haben, in unsere Wohnung will, ohne weiteres hereinlasse?«

»Beruhigen Sie sich, gute Frau,« fiel Maria erschrocken ein; »wir kommen auf eine Einladung des Herrn Geheimrats. – Sei doch nicht so heftig, Erich!«

»Ich will mich nicht wie einen Spitzbuben und Vagabunden behandeln lassen,« sagte Erich feindselig und stampfte mit dem Fuße auf. »Entweder wir kommen jetzt hinein, oder ich gehe lieber auf die Straße als mit einem Schritt in diese Wohnung.«

»Das können Sie halten, wie Sie wollen, mein Kleiner! Ich weiß von Ihrem Besuche nichts; ich weiß nicht, wer Sie sind. Es hat sich in unserer Stadt schon mancher liebe Vetter vom Lande einquartiert und ist am nächsten Morgen mit vollen Taschen durchs Fenster gegangen.«

»Aber Frau Schneider,« begütigte der Diener, »wenn nun doch der Geheimrat – Sie kommen ja ins Teufels Küche – –«

»Frau Schneider hin, Frau Schneider her – ich werde doch wahrhaftig noch das Recht haben, zuzusehen, wen ich dahier nachts in unsere Wohnung aufnehme, und mir nicht von so einem halbschürigen Jungen – –«

Sie vollendete nicht. Erich, der noch ein paar Augenblicke, hochrot im Gesicht, an der Unterlippe genagt hatte, war plötzlich mit einem Sprung auf der Treppe.

»Komm, Maria!« sagte er verbissen.

»Ums Himmels willen, Erich, wohin willst du – du bist ja ganz fremd in der Stadt – –«

»Komm,« wiederholte er – »sonst gehe ich allein – –«

»Ich bitte dich, so bleib doch – die Frau wird ja ruhig werden, wenn ich ihr den Brief des Geheimrats zeige – Erich! Erich! –«

Fort war er; man hörte ihn mit polternden Sprüngen die letzten Stufen hinabsetzen – jetzt riß er unten die Thür auf und schlug sie krachend hinter sich zu.

Maria stand vor dem Diener, welcher den Koffer niedergesetzt hatte, und rang die Hände.

»Gehen Sie ihm nach – holen Sie ihn wieder her! Er weiß keinen Bescheid hier – er ist niemals in der Stadt gewesen und kennt keine Seele –«

»Das ist eine schlimme Geschichte,« meinte der Diener und kraute sich am Kopfe. »Er rennt ja wohl vor Wut Gott weiß wohin? Versuchen will ich's, meinethalben. – Sehen Sie, Frau Schneider, das haben Sie nun davon!«

Und er ging rasch die Treppe hinab auf die Straße.

Die Wirtschafterin sah ihm mit ziemlich verstörtem Gesicht nach. Die sonst gutmütige Frau hatte sich vom Jähzorn des Jungen anstecken lassen; nun kam das Gefühl, daß sie zu weit gegangen, bitter und ängstlich genug hinterher. Sie wagte kaum, Maria wieder anzusehen, und bewegte noch eine Weile murmelnd ihre Lippen, ehe sie einen scheuen Blick hinüberwarf und dazu halblaut sagte:

»Ist mir so etwas in meinem Leben passiert!«

»Ich will Ihnen den Brief des Herrn Geheimrats zeigen,« sprach Maria schüchtern; aber da erstickte ihre Stimme und sie brach in plötzliches Schluchzen aus.

»Mein Gott, der Erich!« sagte sie für sich.

»Nun, nun, Fräulein,« meinte die Wirtschafterin beklommen, »es wird ihm schon nichts geschehen. Es thut mir wahrhaftig in der Seele leid – eine dumme Geschichte das –! Der junge Mensch ist wohl sehr empfindlich und hitzig? Ich muß doch auch hier nach dem Rechten sehen. – Lassen Sie nur den Koffer! Gott – ich glaube ja gern, daß Sie der Herr eingeladen hat – wenn er mir nur ein Wort davon geschrieben hätte! Er ist schuld an der ganzen Geschichte; ja, er ganz allein, das will ich ihm ins Gesicht sagen.«

Fritz Bergen

Hoffart will Zwang leiden.
Lith. Anst. v. A. Gatternicht, Stuttgart.

Der Gedanke schien sie sehr zu trösten, denn ihre Stimme klang sofort wieder hell, als sie in den Korridor hinein rief: »Sophie!«

Ein Mädchen erschien, so schnell, daß die Vermutung nahe lag, sie habe in nächster Nähe gehorcht. Frau Schneider gab ihr Anweisung, den Koffer in das kleine Fremdenzimmer zu schaffen, und wehrte sogar ab, als Maria mit Hand anlegen wollte. Sie werde doch nicht einen Gast des Herrn Geheimrats seine Sachen selber herein tragen lassen, meinte sie. Ihre anfängliche Zurückhaltung wich immer mehr einer Dienstbeflissenheit, welcher sichtlich das Bedürfnis zu Grunde lag, zu versöhnen und wieder gut zu machen. Sie half Maria die Sachen auspacken und unterbringen; sie ordnete eigenhändig alles, damit diese etwas Toilette machen und die Spuren der Reise im Landstraßenstaube verwischen konnte. Und sie ging ihr auch dann nicht von der Seite, im Eßzimmer, unter der mit allen Flammen brennenden Gaskrone, wo die rasch in Thätigkeit gesetzte Theemaschine summte und Sophie herbeitrug, was die Vorratskammer geborgen, und dann in dem eleganten Salon mit dem Palisanderflügel und dem dicken Smyrnateppich, dem Marmorkamin und den zierlich geschnitzten und gemusterten Möbeln.

Sie hatte es nötig, denn Maria war in fieberhafter Unruhe, die sich an dem starken, kräftigen Mädchen fast seltsam ausnahm. Sie war kaum im stande, etwas zu essen; ohne Aufmerksamkeit glitten ihre Blicke an den ungewohnten Herrlichkeiten um sie vorüber, für die ihr keineswegs der Sinn mangelte; ihre ganze geistige Kraft lag im Ohr und lauschte, ob sie nicht die Korridorklingel hören möchte, und immer wieder hatte die alte Frau Not, ihr auszureden, daß sie nicht selbst auf die Straße hinausging und nach Erich suchend in das Straßenlabyrinth sich verlor.

»Wenn er ihn nicht findet, fragen wir morgen auf der Polizei nach. Hier geht kein Mensch verloren,« tröstete die Alte. »Und dann will ich's ihm schon abbitten, daß er sich beruhigt.«

Und die Korridorklingel erscholl endlich, und Maria lief aufspringend mit der Wirtschafterin hinaus – aber es war nur der Telegraphenbote, welcher draußen stand und ein Telegramm an die Frau Schneider abzugeben hatte.

»Gott sei Dank!« sagte diese freudig, unter der Korridorflamme lesend, »der Herr Geheimrat kommt morgen früh. Nun hat's einmal gar keine Not.«

Das war in der That ein Trost, auch für Maria. Aber als später endlich der Diener zurückkehrte, und ohne Erich, da konnte sie doch die Thränen nicht ganz zurückdrängen, und der Schlaf, der in ihrem hübschen Stübchen erst durchaus nicht kommen wollte, war am Ende doch nur ein Fieberschlaf.

Der trotzige Junge! Er hatte bald genug für sein hochfahrendes Aufbrausen zu büßen.

Er war voll tiefgekränkter Eitelkeit auf die Straße hinausgestürzt. Schon daß ihn die Frau im Verdacht haben konnte, er sei möglicherweise ein jugendlicher Herumstreicher, Dieb oder Aehnliches, empörte ihn. Aber wie er geartet war, galt ihm das nicht einmal als das Schlimmste. Wie ein unreifer Junge war er behandelt worden, er, der zukünftige berühmte Geiger! – so sagte er sich ungefähr. »Bürschchen« und »Jüngelchen« hatte diese Frau ihn genannt – sah er denn wirklich nicht anders aus, wie der erste beste, eben der Konfirmation entlaufene Junge? Er wenigstens hatte ein Gefühl, als ob er ganz ungemein respekteinflößend aussehen müsse.

»Lieber die ganze Nacht auf der Straße herumlaufen, als sich das gefallen lassen!« dachte er. Und er lief, den Geigenkasten fest im Arm, von einer Straße in die andere, bis er endlich etwas von der ersten Bitterkeit überwunden und das Gefühl befriedigten Stolzes die Oberhand gewonnen hatte. Da verlangsamte er den Schritt und begann sich umzuschauen. Er stand vor Schauläden still, wo hinter leuchtenden Spiegelfenstern begehrenswerte Dinge aller Art in verführerischer Aufstellung ihn anlachten. Er sah die hohen, schönen Häuser hinauf, deren Formen und Schmuckwerk im Gaslichtdämmer mit besonderem Reiz sich andeuteten. Ein lebhaftes Menschentreiben strich hin und her bei ihm vorüber, und es reizte ihn, hier und da sich eine Gruppe genauer zu betrachten oder in einen rasch dahinrollenden Wagen einen Blick zu werfen. Wohl traf ihn zuweilen der Stoß eines Ellenbogens, oder einer und der andere schob ihn auf die Seite – aber in diesem Gewühl erschien ihm das unvermeidlich und verdroß ihn nicht weiter.

Ein Glück, daß er bei der Herfahrt noch in der Nähe der Stadt den mitgenommenen Vorräten zugesprochen hatte! So hatte er jetzt vom Hunger nichts zu leiden. Nur sein Violinkasten wurde ihm doch zuletzt lästig – da half eben nichts, er mußte ihn weiterschleppen.

Allmählich verdunkelten sich die Läden: da und dort klirrte eine Eisenstange oder rasselte schnarrend ein Holzrouleau hernieder; die Straßen vereinsamten mehr und mehr; auch die Laternen wurden zum Teil ausgelöscht. Immer müder irrte Erich umher. Er sah weite Plätze, Straßen mit Baumreihen und kleinen Vorgärtchen; er kam über eine Brücke, unter der mit schwachem Aufglitzern ein dunkles Wasser strömte.

Er fing an zu träumen. Er träumte, wie er sich allein helfen wollte. Die Musikschule morgen zu finden, das war gewiß nichts Schweres, und wenn die Lehrer ihn dort einmal spielen hörten, nahmen sie sich bestimmt seiner an. Er konnte sich auch schon Geld genug mit seinem Geigenspiel verdienen – daran zweifelte er nicht. Die Leute würden sich drängen, um ihn zu hören, meinte er. Er konnte sich aus Büchern, die er gelesen, einen Begriff machen, wie herrlich das sein mußte.

Seine Gedanken gingen immer langsamer und verworrener, und seine Füße taumelten. Glocken schlugen die Stunde; aber er hörte die Schläge nur traumhaft, ohne sie zu zählen.

Die Häuser um ihn waren niedrig geworden und sahen recht alt aus, fast wie Dorfhäuser. Da lag eines mit einem Schilde und einem großen Thorweg, und davor stand ein Wagen ohne Pferde. Eine Halbchaise war es. Sie stand wie im Schlafe, die leere Deichsel starr vor sich hin haltend.

In dieser Chaise mußte man schlafen können.

Das war der Gedanke, der plötzlich wie ein Lichtschein durch Erichs Kopf fuhr. Es schadete ja weder dem Wagen etwas, noch irgend einem Menschen, wenn jemand die Nacht über da auf dem Polster oder unter der Lederdecke Platz nahm.

Erich riß die Augen auf und spähte um sich – er sah niemand. Er ging zu dem Wagen und hakte die Decke auf, und als er hineinkroch, fühlte er weichere Decken unter sich. Nun lag der Violinkasten auf dem Wagenpolster und Erich auf den weichen Decken; nicht eine Minute dauerte es, da schlief er.

Nach einer Weile aber hatte er ein dunkles Gefühl, daß ihn etwas schüttele und daß über oder neben ihm gesprochen wurde. Lange genug dauerte es, bis er sich ermunterte – erst als er deutlich spürte, daß man ihn aus dem Wagen herauszog. Jetzt ergriff ihn eine plötzliche Angst um seinen Violinkasten, und mit einemmal stand er fest auf seinen Füßen und sah einen Mann mit blinkenden Knöpfen auf seinem Mantel, der ihn derb am Arm gepackt hielt.

»He, mein Bursch, wir werden mitkommen, werden mitkommen,« sagte der Mann brummend. »Sollen ein besseres Quartier kriegen – schönes Quartierchen mit einer guten Matratze zum Ausschlafen. Allons, vorwärts!«

»Ich will aber durchaus kein besseres Quartier,« erwiderte Erich ärgerlich.

»Nutzt nichts, junger Herr! Hier ist keine Schlafstelle.«

»Lassen Sie mich doch los!« rief Erich und versuchte, seinen Arm frei zu bekommen. Aber die Faust des Alten umschloß denselben wie mit eisernen Klammern.

»Nur nicht sperren, nicht sperren – alles im guten abmachen, sonst pfeife ich, und da kommt Hilfe. Mitkommen, marsch!«

In Erich dämmerte eine Ahnung auf, daß er es mit der Polizei zu thun habe.

»Meine Violine!« rief er angstvoll, während der Mann ihn vorwärts schob.

»So? Ist das junge Herrchen ein Musikant? Na, wo ist denn die Fidel?«

Erich deutete auf den Wagen, und der Mann geleitete ihn zurück und ließ ihn den Kasten vom Wagensitz herabnehmen.

»Ich gehe schon allein,« meinte der Junge als letzten Versuch, sein Selbstgefühl geltend zu machen.

»Kennen das!« antwortete die Brummstimme an seiner Seite; »ist besser so, besser so!«

Erich war zu müde zu weiterem Widerstand; er taumelte vorwärts, ein ziemliches Stück Weges – ein Thorweg öffnete sich, Stimmen sprachen, dann fand er sich auf einer Matratze; er fühlte zur Seite und war beruhigt, als da der Violinkasten stand. Im Einschlafen hatte er einen triumphierenden Gedanken: die Haushälterin war schuld daran, daß er, der Gast des Geheimrats, hier in irgend einem Polizeigefängnis die Nacht zubringen mußte. Wenn der Geheimrat das erfuhr, so mußte die Person mindestens aus dem Hause.

Dann war er gerächt!

3.

Eine Genugthuung wenigstens war Erich geworden: am Morgen nach seiner unfreiwilligen Bekanntschaft mit den nächtlichen Zwangsquartieren der hauptstädtischen Polizei war er durch den Geheimrat in Person erlöst worden. Er war erfreut genug gewesen, als das vornehme, freundliche Gesicht des stattlichen alten Herrn hinter dem respektvoll die Thür öffnenden Beamten erschienen war – er konnte nur vermuten, daß er es mit seinem väterlichen Beschützer zu thun hatte; denn von dem flüchtigen Besuch desselben in Hüttorf her besaß er keine Erinnerung mehr an sein Aeußeres.

»Du bist ja verzweifelt energisch, lieber Erich,« hatte er mit wohlwollendem Lächeln gesagt. »Ich bin ordentlich in Sorgen, wie wir beide miteinander auskommen werden.«

Und dann waren sie in des Geheimrats Wagen nach der Villa desselben gefahren, und Erich hatte unterwegs noch mit nachträglicher Erbitterung erzählt, wie man ihn behandelt. Von Maria hatte er gar nicht gesprochen, nur von sich. Aber wenn er gehofft, den Geheimrat sehr zornig auf die Wirtschafterin zu finden, so war er seines Irrtums bald gewahr geworden.

»Du kennst die Verhältnisse der Großstadt nicht, mein Junge,« hatte der alte Herr geantwortet. »Auf mich mußt du schelten, daß ich euch bei der Frau Schneider nicht zuvor angemeldet, weil ich vor euch heimzukehren erwartete. – Du wirst noch viel Lehrgeld hier geben müssen, ehe du dich an die neuen Verhältnisse gewöhnt haben wirst,« hatte er mit feinem Lächeln hinzugesetzt und Erich vertraulich die Hand auf die Schulter gelegt.

Erich war verstimmt gewesen, und er wurde es noch mehr, als der Geheimrat die Abbitte der verlegenen Frau Schneider kurz abschnitt: sie hätte keine besondere Entschuldigung nötig, die Schuld trügen zufällige Umstände – sie würde schon gut Freund mit Erich werden.

Und das war die ganze Genugthuung, die er erhielt! Er konnte sich eines plötzlich aufquellenden Grolls gegen seinen freundlichen Wirt nicht erwehren, und er klagte bitter gegen Maria, als er mit der nun von aller Sorge freien und überglücklichen Schwester allein war. Aber er fand auch hier kein Entgegenkommen – Maria hatte nur Worte innigster Liebe und Verehrung für den großmütigen Wohlthäter.

»Ich will froh sein, wenn wir erst aus dem Hause hier sind und für uns leben!« hatte Erich endlich leidenschaftlich ausgerufen, und zu der ernsten Strafpredigt, die ihm Maria dann gehalten, hatte er zum Fenster hinaus geblickt und auf den Scheiben getrommelt.

Sein Wunsch aber war bald in Erfüllung gegangen. Der Geheimrat hatte den Geschwistern eine freundliche Vorstadtwohnung gemietet, in einem Häuschen, das mitten im Garten lag. Sie sollten es ähnlich haben, wie daheim in Hüttorf, hatte der Geheimrat gesagt. Da waren denn eines Tages die väterlichen Möbel von Hüttorf angelangt, und der Knecht des Wirtes, welcher Grüße aus dem Dorfe mitgebracht, nebst den beiden Gärtnersleuten, denen das Haus gehörte, hatten einräumen helfen. Der Geheimrat hatte alles inspiciert und eine Tasse Kaffee, welche Maria bereitet, mit den Geschwistern getrunken. Er hatte eine »unausstehliche« Vorliebe für Maria, wie Erich sich innerlich sagte. Und am nächsten Tage waren eine ganze Anzahl neuer Möbel und Sachen gekommen »zur Vervollständigung der Wirtschaft«, wie ein Briefchen des Geheimrats erklärte, darunter sogar ein wunderschöner Teppich.

Auch die Aufnahme Erichs in das Konservatorium, die musikalische Lehranstalt, war erfolgt. Und gerade hier, wo Erich seinen größten Triumph zu feiern gedachte, war ihm das Schwerste geschehen. Der Geheimrat hatte ihn persönlich im Wagen zu seinem künftigen Lehrer geleitet, und droben in der Stube des gefeierten Meisters, eines kleinen, gar nicht sonderlich würdevoll aussehenden Mannes, mit durchdringenden Augen in dem dicken Kopfe und einer wahren Löwenmähne, da hatte Erich so siegesgewiß seine geliebte Geige angelegt und, wie er meinte, sein Bestes gegeben. Was war das Urteil?

»Miserabler Kratzkasten,« hatte der weltberühmte Geiger gesagt. »Müssen erst mal ein anderes Instrument kaufen, Herr Geheimrat. Ist eigentlich schade, daß der Junge schon so viel gespielt hat. Mit dieser verwünschten Schulmeistertechnik kann's nichts werden; der junge Mensch muß ganz von vorn anfangen. Werde ihn erst ein halbes Jahr zum Doktor Meyer geben.«

Was der Meister da heimlich in der Ecke zum Geheimrat sprach, das konnte Erich nicht hören: daß er ein »Phänomen«, ein »ganz merkwürdig fein angelegter Bursche« sei, und daß man einmal von ihm viel reden werde, wenn ihn die liebe Eitelkeit nicht vor der Zeit verdürbe. Er saß, die geschmähte Violine auf den Knieen, mit trotzig gesenkten Blicken auf dem Sammetfauteuil, und ein paar schwere Thränen zorniger Enttäuschung quollen ihm unter den langen schwarzen Wimpern hervor und rannen ihm langsam über die schmalen, blassen, bräunlichen Wangen.

»Na, nur nicht verzagt, Junge!« rief plötzlich der Meister vom Fenster her; »wird schon werden! Immer tapfer vorwärts arbeiten! Hör mal zu!«

Und er nahm eine Violine aus einem schwarzen Kasten mit schwerem Silberbeschlag und fing nach kurzem Stimmen zu geigen an – ja, das war freilich ein wundervoller Ton, tief wie eine Orgel und wieder süß und zart wie ein Hauch, und das arbeitete durcheinander, als ob ein halbdutzend Violinen auf einmal ein Concert gäben. Aber das war eben ein ganz besonderes, gewiß ungeheuer teures Instrument, und was das Spiel betrifft, so hatte Erich ein Gefühl, als müsse er ähnlich auch spielen können, als hätte er nur bisher nicht daran gedacht, daß man so etwas überhaupt auf einer Violine wagen könne. Daß er so wenig leisten solle, daß er ganz von vorn anfangen müsse, daß seine geliebte Violine so ganz unbedeutend sei – alles dies wollte ihn wie eine grobe, kränkende Uebertreibung bedünken. Und mitten im Spiel des Meisters raffte er seinen Stolz zusammen, wischte sich hastig die Thränennässe vom Gesicht und saß steif und trotzig, zuletzt mit einem hochmütigen Lächeln da.

»Wieviel Zeit werde ich nötig haben, um so spielen zu lernen?« sagte er ruhig, als der Meister die Geige sinken ließ.

Dieser sah ihn einen Augenblick verblüfft an und stieß dann ein helles Lachen aus.

»Ein Mordsjunge!« meinte er, zum Geheimrat gewendet. »An Selbstbewußtsein und Selbstvertrauen wenigstens scheint's ihm nicht zu fehlen. Na – das ist auch zu etwas gut. – Kennst du die Geschichte von dem Wanderer, der einen Mann fragte, wie weit es bis zur nächsten Stadt sei, Junge? Geh! antwortete der Mann; und als der Frager endlich ärgerlich ging, da erst sagte er hinterdrein: Eine halbe Stunde! Er mußte nämlich zuvor wissen, wie rasch der gute Wandersmann vom Fleck kam. Nur recht fleißig sein – darauf wird's ankommen, mein Sohn!«

Der Geheimrat empfahl sich; aber als der Meister Erich die Hand reichte, mußte der sich sicherlich überwinden, um einzuschlagen. Draußen im Wagen sagte ihm der Geheimrat doch, daß der künftige Lehrer sehr hoch von dem Talent des neuen Schülers dächte, sonst würde er ihn schon gar nicht als Schüler angenommen haben. Der alte Herr mochte wohl fühlen, daß es not thue, den gesunkenen Mut des Knaben etwas aufzurichten.

Er wollte ihm auch eine andere Genugthuung geben.

Ein paar Tage später brachte der Diener ein Briefchen, worin der Geheimrat Maria und Erich aufforderte, sich für den Abend bereit zu halten: er werde eine kleine Gesellschaft haben, welche neugierig sei, Erich spielen zu hören. Der Wagen werde kommen und die Geschwister holen.

Maria empfand etwas Bangen. Sie war ja keine Stadtdame, wenn sie auch durch die Fürsorge des väterlichen Beschützers in Kleidern erscheinen konnte, wie sie dieselben so elegant nie besessen. Allein schon ihr blühendes, derbes Gesicht paßte so wenig in die gewiß vornehme Gesellschaft, welche der Geheimrat geladen hatte, und von all der Gelehrsamkeit und hochgebildeten Art zu reden, welche da sicherlich Brauch war, brachte sie so erschrecklich wenig mit!

Aber was schadet das! Um sie würde sich doch niemand kümmern: die Hauptperson war ja Erich, und der hatte nicht die geringste Bangnis, der war im Gegenteil voll froher Zuversicht und brennender Erwartung; und der hatte auch in der ganzen Art, sich zu bewegen, etwas, das vollkommen mit dem städtischen Wesen im Einklang stand. Was war an ihr gelegen, wenn nur Erich seinem Stern entgegenging! Sie wollte gern seine Magd sein, wie wenig liebevoll er selber sie auch behandelte.

Der Abend kam, und endlich hielt auch der Wagen draußen vor dem hölzernen Gitterthor des Gartens. Erich hatte schon eine Weile am Fenster gestanden, im tadellosen schwarzen Anzug, die Hände mit den Glacéhandschuhen so steif haltend, als seien die Handschuhe von Glas und müßten springen, sobald er die Finger bewegte; und er ließ sich's jetzt sogar gefallen, daß Maria seine Geige nahm und mit sich in den Wagen trug. Aber es lag ihm auch gar nicht so viel mehr an dem Instrument; das abfällige Urteil seines künftigen Lehrers hatte die Liebe zu dem väterlichen Vermächtnis doch im Innersten gelockert. Nun fuhren sie durch den kühlen Abend, und als sie vor der Villa des Geheimrats hielten, strahlte ihnen das Licht aus allen Fenstern entgegen; vor dem Korridor empfing sie ein livrierter Diener, den sie noch nie gesehen, und im Korridor selber ein zweiter, der die Geige und den Hut Erichs in Verwahrung nahm, während Frau Schneider sich um Maria bemühte – es war zum Beängstigen feierlich.

»Das geschieht alles deinetwegen,« sagte es stolz in Erich, und er richtete sich noch straffer auf, als er sich sonst hielt. Er sah ungeduldig aus, ob Maria aus den ordnenden Händen der Frau Schneider noch nicht entlassen würde – endlich, endlich kam sie, und der Diener schlug die Portièren zurück, hinter denen plaudernde und lachende Stimmen schon eine Weile Erichs Neugier gereizt hatten.

»Ach, da kommt ja wohl unser junger Virtuose,« sagte lebhaft eine korpulente Dame mit rotem, vollem Gesicht und schoß mit einer Geschwindigkeit auf Erich zu, daß sie selbst dem nahe beim Eingang stehenden Geheimrat zuvorkam. »So also sieht der künftige Paganini aus! Nun, wir sind Ihnen schon zum voraus dankbar für den Genuß, den Sie uns bereiten wollen, Herr – wie heißt der junge Mann doch, lieber Geheimrat?«

»Plater, Erich Plater, wertgeschätzte Frau Professorin,« ergänzte der Geheimrat, welcher lächelnd zu Erich getreten war. »Wollen Sie mir meinen Schützling gleich mit den ersten Worten eitel machen? – Das also sind die Kinder meines verstorbenen Jugendfreundes: Fräulein Maria Plater und Erich. Und diese Dame, lieber Erich, die dich so bereitwillig unter ihre mächtige Protektion nimmt, ist Frau Professor Zipser, in deren Musiksalon alle jungen Musiker der Residenz ihre ersten Lorbeeren sammeln. Dort steht der Herr Professor« – ein kleiner Mann mit spärlichem Haarkranz um den sonst kahlen Scheitel näherte sich – »und hier – –« nun folgten eine Reihe Namen, mit einem Direktor oder Professor oder Bankier und wie sonst die Titel heißen, davor, von denen allen weder Erich noch Maria einen einzigen behielt. Maria machte etwas verlegene Verneigungen; die Gesichter schwammen ihr vor den Augen zu buntem Wirrwarr zusammen, während der Junge sich ziemlich ungeniert mit seinen großen dunklen Augen prüfend umsah.

Die Frau Professor Zipser ließ ihm möglichst wenig Zeit dazu. »Kommen Sie einmal ein wenig zu mir, junger Freund,« sagte sie mit dem schmeichelndsten Lächeln. »Sie müssen mir einiges aus Ihrer Vergangenheit erzählen. Ich weiß schon von unserm lieben Geheimrat, daß Sie ein richtiges Wunderkind seit früher Jugend sind, und ein tüchtiger Kletterer nebenbei. So haben alle großen Künstler angefangen – –« und damit hatte sie Erichs Hand ergriffen und ihn zum Kamin gezogen, wo sie ihm rasch einen Stuhl zurecht rückte.

Der Geheimrat zog die Stirn in Falten und schüttelte leise den Kopf; über ein paar Gesichter in der Gesellschaft flog ein kurzes Lächeln, während die Blicke ein paar Sekunden auf Erich haften blieben. Dann nahmen die unterbrochenen Gespräche ihren Fortgang.

Maria stand noch immer mit niedergeschlagenen Augen neben dem Geheimrat.

»Komm, liebes Kind,« sagte dieser endlich gütig, »du sollst auch ein paar Freundinnen gewinnen!«

Und er führte sie zu drei jungen Mädchen, welche in einer Fensternische beisammensaßen.

Erich schwamm in Glück. Die Sprache der Dame da neben ihm – das war es, wornach er so lange schon sich gesehnt hatte. Was kümmerte es ihn, daß alle die Lobeserhebungen und Zukunftsprophezeiungen der schwärmerischen Frau Professorin offenbar leeres Geschwätz waren, da sie bisher nicht einen Ton von ihm gehört hatte! Wahrscheinlich hatte der Geheimrat oder am Ende gar der berühmte Meister ihr eine so günstige Meinung von ihm beigebracht, erklärte die Eitelkeit in Erich. Und diese Dame hatte etwas zu bedeuten – der Geheimrat hatte es ja selbst gesagt, daß sie einen großen Musiksalon hielt, in welchem alle Musiker der Residenz ihre ersten Lorbeeren sammelten. Er mußte schon darum sehr freundlich mit der Dame sein, damit er auch in diesem Musiksalon auftreten durfte, welcher die erste Staffel zur Berühmtheit bildete.

Diener kamen und trugen Erfrischungen herum – Erich nahm sich kaum Zeit, etwas von all den unbekannten Kostbarkeiten zu genießen, welche ihm verschwenderisch zur Verfügung gestellt wurden. Kam doch jetzt auch der Herr Professor Zipser mit seinem vollen Teller noch zu ihnen; und seine Gattin empfing ihn mit den Worten: »Siehst du, lieber Mann, das ist wirklich ein Schwan, der auf einem Entenhofe ausgebrütet ist! – Im Vertrauen, bester Herr Plater – ich möchte Sie so gern Erich nennen; darf ich?« und auf Erichs Nicken fuhr sie fort: »wenn man Ihre Schwester sieht, so möchte man gar nicht für möglich halten, daß Sie beide Geschwister sind. Sie ist gewiß ein recht gutes Mädchen, aber – nehmen Sie mir die Offenheit nicht übel: sie ist doch das richtige Landmädchen; ich glaube nicht, daß sie sich hier in den gebildeten Kreisen der Residenz wohl fühlen wird. Vielleicht wäre es das beste, sie kehrte einmal wieder auf das Dorf zurück; denn wenn Sie dieselbe immer bei sich haben wollten, würde sie Ihnen doch in manchen Kreisen, in welche Sie jedenfalls kommen werden, ein Hindernis sein.«

»Aber Laura,« sagte kauend der Herr Professor, »du beleidigst den jungen Herrn ja! Das Fräulein unterhält sich dort, wie es scheint, ganz nett mit unserer Selma und den beiden Starkschen Töchtern –«

»Nimm mir's nicht übel, aber dir fehlt der weite Blick für so etwas, lieber Zipser,« fiel ihm die lebhafte Frau ins Wort. »Man darf sich durch Gutmütigkeit nicht verblenden lassen. Offen heraus mit der Wahrheit, das ist immer das beste; ich habe mir einmal vorgenommen, jungen Leuten mit meiner Erfahrung nützlich zu sein.«

Es ging zwar wie ein leiser Stich durch Erichs Herz bei diesen Auseinandersetzungen. Aber die Frau da, welche ihn so außerordentlich hoch schätzte, die erste, die ihm aus ihrem felsenfesten Vertrauen zu seiner großen Zukunft kein Hehl gemacht, hätte ihm alles sagen dürfen. Ja, er war sogar geneigt zu glauben, daß sie hier recht hatte. Zum erstenmal kam ihm der Gedanke, daß Maria doch in die feine Welt nicht passe, daß sie nicht hübsch und in ihren Bewegungen linkisch sei. Es regte sich eine Art inneren Widerspruchs gegen sie, und er fragte sich im Stillen, ob sie, wenn es sein müßte, wohl sich von ihm trennen würde?

Warum nicht? Sie war sehr gutmütig.

So rasch ging die häßliche Saat in dem selbstsüchtig-eitlen Jungen auf!

»Mein Gott aber – bekommen wir denn nicht bald etwas zu hören, liebster Geheimrat?« fuhr die Frau Professorin plötzlich von ihrem Stuhle empor. »Wir essen und plaudern, und die Hauptsache, die Kunstgenüsse, werden immer mehr verkürzt! Wollen wir nicht anfangen?«

»Sogleich, Frau Professorin!« erwiderte der Geheimrat kühl.

Ein Diener erhielt einen Wink, die Stühle wurden gerückt, eine der jungen Damen schlug den Flügel auf und fuhr mit geübten Fingern die Tasten ein paarmal auf und nieder.

Erich hatte doch einen Augenblick Herzklopfen, als der Diener ihm aus dem geöffneten Geigenkasten das Instrument überreichte. Aber auch nur einen Augenblick.

»Ohne Noten?« fragte die Professorin zum Geheimrat, während Erich zum Flügel ging und die Geige stimmte.

»Er ist zu wenig geschult,« war die Antwort. »Wenn er phantasiert, ist er in seinem eigentlichen Elemente, wenigstens für jetzt noch.«

»Prächtig! Im Phantasieren zeigt sich auch das eigentliche Genie. Ich kann mir denken, wie er ordentlich verwachsen ist mit seinem Instrumente, so wie die ungarischen Naturgeiger, die Zigeuner. Natürlich – ich vergaß ja ganz, daß er bisher nur seinen Dorfunterricht genossen hat.«

Erich strich ein paar Töne – allgemeines Schweigen folgte. Und dann begann er zu spielen.

Die Frau Professorin hatte sich nicht in der Erwartung getäuscht, daß der Junge wie mit seinem Instrumente verwachsen sein werde. Durch zehn Jahre war die kleine Geige fast sein einziger Spielkamerad gewesen; er hatte eine Entdeckung nach der andern gemacht, welche wundersamen Töne man aus ihr herauslocken konnte; er hatte versucht, auf ihr zu sprechen und zu singen, in Lust zu fliegen und zu tanzen und in Schmerz zu klagen, und sie war so zu sagen seine Stimme geworden. Als er jetzt über die ersten Töne hinaus war und ein origineller Einfall ihn fesselte, da wußte er nichts mehr von dem, was um ihn her vorging. Er saß wie einst in seinem bergenden Nußbaum und der Wind sang und summte und raschelte um ihn, als habe er etwas zu sagen und könne es nicht recht herausbringen; Erich aber fühlte, was er meinte, und sagte es mit der Geige ihm vor: nicht so – das ist es? Und der Wind pfiff und heulte vor Vergnügen. Was verschlug es, daß manchmal sehr seltsame und ungehörige Töne im Spiel vorkamen, welche dem Musikerohr weh thaten? Es stak doch eine flügelkräftige Phantasie, ein mächtiges Feuer in dem schmächtigen braunen, halbwüchsigen Jungen, der da mit sprühenden Augen und fliegendem Atem die Saiten strich.

Zufällig klirrte irgendwo eine Tasse, an die jemand gestoßen, und das weckte ihn aus dem Traum. Er suchte rasch nach einer Art Schluß, brach endlich doch kurz ab und ließ den Bogen sinken.

Der Beifall, der nun folgte, ließ nichts zu wünschen übrig. Frau Professor Zipser, die in Erichs Nähe gestanden, stürzte auf ihn zu und konnte sich's nicht versagen, ihn mütterlich zu umarmen. »Das ist ein Genie! das gibt einen Virtuosen Nummer eins!« rief sie in die klatschende Gesellschaft hinein. »Mein lieber junger Freund,« wandte sie sich strahlend mit dem geröteten Gesicht herum, »Sie müssen nächstens meinem Salon die Ehre schenken! Hunderttausende von Thalern haben Sie in Ihrem Arm. Aber Sie müssen eine andre Geige haben; die Kinderschuhe haben Sie ja lange ausgezogen, nun müssen Sie auch die Kindervioline ablegen. – Mein liebster Geheimrat, ich binde es Ihnen auf die Seele, daß Sie unserm jungen Virtuosen eine Amati oder Stradivari auftreiben! Sie haben es, Gott sei Dank! dazu.«

Der Geheimrat war herzugetreten. »Sehr hübsch, lieber Erich,« sagte er, diesem freundlich die Hand reichend. »Nur eine tüchtige Schulung noch – laß dich durch unsere wohlwollende Frau Professorin nicht eitel machen: vor die reife Tüchtigkeit setzten die Götter den Schweiß, wie ein alter Grieche sagt. Ein paar Jahre Selbstverleugnung und rastlosen Fleißes, und du wirst Meister sein.«

»Sie Grausamer!« sprach die Frau Professorin schmollend, und ihr Fächer schlug leicht auf die Schulter des Geheimrats. »Wenn man immer an das Höchste denken wollte, käme man zu keiner rechten Freude an der Gegenwart.«

»Aber man kommt eben – zum Höchsten,« entgegnete der Geheimrat nachdrücklich.

Auch andere aus der Gesellschaft traten jetzt herzu, um ein paar Worte mit Erich zu wechseln, der einen Moment die Aeußerungen des Geheimrats wie einen Wermutstropfen empfand, den ein Uebelwollender ihm in den süßen Wein seines Triumphes gegossen. Im nächsten schon sagte er sich: Ah bah – warum sich ärgern, wo ein einziger lästiger Mahner unter so viel Lobspendern sich meldet?

Die Frau Professorin war von ihrer Tochter Selma, einer schlanken Blondine mit schmaler Nase und wasserblauen Augen, zur Seite gezogen worden.

»Wir sollten doch den jungen Menschen zu uns nehmen, Mama! Denke dir nur, welchen Glanz uns das gibt, wenn es heißt, daß er in unserem Hause sein Genie ausgebildet hat, und wenn er später, nachdem er weltberühmt geworden, immer wieder zu uns kommt und bei uns spielt! Ich kann mir das göttlich denken. Der Geheimrat – was versteht der ohnehin von Musik!«

Und das Fräulein riß die großen wasserblauen Augen schwärmerisch weit auf.

»Schweige jetzt nur, Kind!« flüsterte die Mutter. »Wir fallen ja auf. Aber der Einfall ist ganz süperb, liebe Selma; ich werde mir das überlegen. Das Dorfgänschen von Schwester nehme ich natürlich um keinen Preis mit ins Haus.«

»Wo denkst du hin, Mama?« war die halb spöttische, halb verwundert klingende Antwort.

»Im Notfalle könnte sie vielleicht eine Art Zofe für dich abgeben. Uebrigens habe ich dem jungen Manne über diesen Punkt schon Andeutungen gemacht, und es schien mir, als ob ihm an der Schwester gar nicht so viel läge. Ich begreife den Geheimrat nicht, daß er diese Dienstmädchen-Physiognomie in den Salon eingeführt hat. Geh jetzt nur wieder zu ihr, laß dir aber vorläufig nichts anmerken – da kommt sie ja – ach, mein liebes Kind, Sie wollen mir, wie ich sehe, meine Selma wieder entführen! Nun, Sie dürfen stolz sein, einen solchen Bruder zu besitzen.«

Und sie streichelte der arglosen Maria die Wangen, indem sie dieselbe mit gutmütigen Krokodilsaugen ansah. Dann aber schoß sie an ihr vorüber und auf den Geheimrat los.

»Liebster, Bester – lassen Sie unsern jungen Paganini noch einmal spielen! Sie können unmöglich glauben, daß wir mit der ersten Probe genug haben.«

»Die wahre Kunst muß sich rar machen, wertgeschätzte Frau Professorin,« meinte der Geheimrat mit einem Anflug von Spott. »Es könnte Erich sehr in Ihrer Meinung schaden, wenn er jetzt nicht noch besser spielte, als das erste Mal.«

»Sie, Böser!« – und wieder traf ihn ein Fächerschlag – »wie können Sie so grausam sein! Nicht wahr, meine Herrschaften, wir müssen noch etwas hören?« rief sie laut.

»Versteht sich! – Jawohl! – Wir bitten sehr!« tönte es durcheinander.

Erich spielte noch einmal; nicht ganz mit dem Feuer, wie das erste Mal, aber doch zu lebhaftester Befriedigung aller. Dann aber begannen einige Gäste zum Aufbruch zu rüsten, und bald war die Bewegung eine allgemeine. Erich sammelte in stolzer Freude Dankesbezeugungen und Komplimente in Fülle – die arme Maria hier und da ein flüchtiges Neigen des Kopfes; die Frau Professorin vergaß es ganz, ihr Adieu zu sagen.

Maria stand sinnend neben Erich, der seine Geige einpackte, als der Geheimrat von der Begleitung des letzten Gastes in den Salon zurückkehrte.

»Nun, liebe Kinder, das war ja ein schöner Abend,« sagte der väterliche Freund und rieb sich die Hände. »Aber ich habe auch noch eine Ueberraschung in petto, die unserem tapfern Erich gilt.«

Er drückte an einen Knopf in der Wand.

»Tischlein, deck dich!« rief er lächelnd.

Ein paar Sekunden später erschien ein Diener und trug einen wunderschön in ausgelegtem Holze gearbeiteten Kasten herein – einen Geigenkasten! sagte sich Erich, und sein Herz klopfte. Und der Geheimrat öffnete den Kasten – da lag sie.

»Eine Stradivari, mein Junge,« nickte der Spender; »ich habe sie durch einen Zufall aufgetrieben. Sie ist dein – ja, ja, nimm sie nur heraus!«

»O Herr Geheimrat, ich danke!« rief Erich strahlend; »ist das eine solche, wie der berühmte Meister sie spielte?«

»Vielleicht eine Kleinigkeit weniger wertvoll. Und nun, mein Sohn,« fuhr er ernst fort, »laß dir noch etwas Besseres für dich auf den Heimweg mitgeben, als dieses Instrument es ist: die Lehre, jedem zu mißtrauen, der dich lobt, er sei denn ein Meister in deiner Kunst. Glaube nicht eher, daß du es wirklich zu etwas Großem gebracht hast, als bis du von einem den Lorbeerkranz aufgesetzt bekommst, vor dem alle echten Künstler sich neigen; von solchen suche zu lernen und nachzufühlen, worin das Höchste besteht, was ein Geiger zu leisten vermag, und danach miß immer für dich im stillen ab, wie weit du es im Augenblick gebracht hast! Sobald du mit dir zufrieden bist, ist deine Kunst abgeschlossen – sorge, daß dies nicht früher geschieht, als bis du wirklich an der Grenze deiner Ausbildung stehst, über welche du nicht mehr hinaus kannst. Es gibt keine gefährlicheren Feinde deiner Zukunft, als die gute, schwärmerische Frau Professorin, und eben um dir ein abschreckendes Beispiel vorzuführen, habe ich sie heute geladen. Und nun geht, Kinder! der Wagen wartet auf euch. Die Geigen soll der Diener hinunterbringen.«

Der Geheimrat sah die Wirkung nicht, die seine Worte auf Erich machten: sein Auge ruhte fragend auf Maria.

»Was ist Ihnen, meine gute Maria? Sie sehen blaß aus.«

»Ich möchte Sie bitten, mich nicht wieder in solch einen Kreis zu laden. Ich danke Ihnen, daß Sie mich nicht gering achten; aber – ich passe nicht unter diese Leute.«

Das junge Mädchen sagte das mit fester Stimme, durch die doch tiefe innere Erregung zitterte, und als sie die Augen frei zu dem väterlichen Beschützer aufhob, glänzten sie von Thränen.

»Armes Ding, haben sie Ihnen weh gethan?« sprach der Geheimrat rasch, und seine Stirn krauste sich, während er leise über ihr schlichtes blondes Haar und über die vollen, jetzt in der That etwas bleichen Wangen strich. »Ich habe wohl dergleichen gemerkt. Ja, ja – Sie respektieren nur die geschliffenen Steine und wären es auch böhmische oder Kiesel. Nun, lassen Sie's gut sein! Ich werde vorsichtiger sein müssen. Gute Nacht!«

Er schüttelte den beiden die Hände und ging rasch in das Nebenzimmer. Eine Minute später fuhr der Wagen rasselnd dem Gartenhäuschen entgegen.

4.

Es war am Nachmittag des folgenden Tages. Erich, der soeben aus der Unterrichtsstunde vom Doktor Meyer nach Hause gekommen, saß verdrießlichen Gesichts vor einer Tasse Kaffee, während Maria ihren Platz am Fenster hatte und emsig die Nadel mit dem Faden durch eine Stickerei zog. Die Strahlen der sinkenden Sonne fielen vergoldend durch das offene Fenster bis über den Tisch herüber, und der leise Luftzug trug den süßen Duft der Apfelblüte herein.

»Nun, Erich, wie gefällt dir dein Lehrer?« warf die Stickende hin, ohne von der Arbeit aufzusehen.

»O,« sagte der Junge, und es zuckte spöttisch um seine Mundwinkel, »er ist ein sehr reinlicher Herr; ich spiele ihm den Ton nie rein genug. Sein drittes Wort ist immer: sauber.«

»Nun, das wird ja wohl zur richtigen Ausbildung gehören, daß man sehr rein spielt.«

»Und mir kommt das so entsetzlich kleinkrämerig vor, besonders wenn man auf einer Stradivarigeige spielt, wie ich jetzt. Etwas reiner mag der Herr Doktor Meyer vielleicht spielen als ich, aber er hütet sich wohl, es auf eine Probe ankommen zu lassen, wer mehr Herr über seine Geige ist, ich oder er.«

»Erich, du bist jetzt immer in einer abscheulichen Laune; an allem hast du herumzumäkeln und zu verkleinern. Ich bitte dich, denk an das, was dir der gute Geheimrat gestern abend noch gesagt hat!«

Erich setzte klirrend die Tasse nieder. »Eben darum bin ich so, weil sie alle an mir herummäkeln, weil sie alle an mir nur das sehen, was mir etwa noch fehlt, und über das schweigen, was ich zu leisten im stande bin. Und das macht mir den Herrn Geheimrat zuwider, und wenn er mir noch zehn Stradivarigeigen schenkt.«

»Pfui!« sagte Maria; »du bist sicherlich ein sehr undankbarer Junge.«

»Das ist mir ganz gleichgültig. Dir ist freilich der gute Geheimrat tausendmal lieber als ich, das weiß ich; mir aber ist die Frau Professor Zipser zehntausendmal lieber, als dein Geheimrat mit seiner väterlichen Amtsmiene.«

Maria wandte langsam das Gesicht zu dem Bruder herum und sah ihn mit großen Augen an. Dann ließ sie die Nähterei in den Schoß sinken und drehte sich nach dem Fenster zu. Eine ganze Weile, während beide schwiegen, sah sie in die Apfelblüten hinaus. Erich, dessen besseres Teil sich zu regen begann, stand endlich auf und ging ein paarmal in der Stube hin und her, worauf er sich an das andere Fenster setzte und zuweilen einen scheuen Blick nach der Schwester hinüberwarf.

Da wurde seine Aufmerksamkeit abgelenkt. Draußen fuhr eine Equipage vor; der Kutscher sprang vom Bock und riß den Wagenschlag auf, und aus dem Wagenfond stieg die Frau Professor Zipser. Vom Garten aus gewahrte sie die Geschwister und nickte lebhaft zu den Fenstern hinauf.

»Die Frau Professor Zipser! Was mag sie wollen?« sagte Erich halb für sich.

Und bald rauschte es vor der Thür von knisternder Seide, und Maria öffnete – da stand die Frau Professorin und reichte dem jungen Mädchen mit süßem Lächeln die rundliche Hand.

»Schön guten Tag, Kinderchen! Nein, wie nett ihr euch hier eingerichtet habt! Das muß man sagen, der liebe Herr Geheimrat sorgt ordentlich für seine Schützlinge. Nun, mein kleiner Paganini, wie ist Ihnen der gestrige Abend bekommen? Gut, natürlich. Gott, wem es so leicht fällt, wie diesen begnadeten Kunstgrößen! Sie erlauben, liebe Maria, daß ich hier ein wenig Platz nehme?«

Und nun goß sie einen wahren Sturzbach von Geplauder über die beiden aus, bevor Maria zu Worte kommen konnte, um für den freundlichen Besuch zu danken.

»O, mein liebes Kind,« sagte die Frau Professorin, »ich habe noch einen besonderen Zweck, um deswillen ich gekommen bin. Ich habe nämlich mit meinem Manne gesprochen, und unsere Ansichten stimmen ganz merkwürdig überein. Ich möchte Ihnen – erschrecken Sie nicht! – unser Wunderkind, unsern göttlichen Erich da, entführen – ja, ja, ganz entführen. Wir meinen nämlich, er dürfe nicht so in der Stille leben und studieren; glauben Sie nur, da wird ihm ewig der rechte Schwung, die rechte Freudigkeit mangeln! Ein junges Genie muß hören, muß Anregung haben, muß fortwährende Anerkennung finden; die Bewunderung seiner Umgebung ist die Sonnenwärme, unter der es einzig zu rascher, voller Blüte sich entfaltet. Und Sie, mein teures Kind – nehmen Sie mir die offene Sprache nicht übel! – stehen doch der göttlichen Kunst zu fern, als daß Sie der gute Genius für ihren von der Muse geküßten Bruder sein könnten. Bei uns ist immer musikalisches Leben; alle bedeutenden Virtuosen widmen uns wenigstens einen Abend, wenn sie hier sind; wie, wenn Herr Erich so ein hübsches kleines Stübchen bei uns bezöge und uns erlaubte, ihm die Stufen aufzubauen, die er aufwärts zur Unsterblichkeit steigt? Wir haben alles schon hergerichtet und ihm ein paar Instrumente hingehängt, die etwas anderes bedeuten, als das Dingelchen, auf dem er bisher seinen Genius walten lassen mußte – –«

»In dieser Beziehung ist gesorgt, Frau Professorin,« fiel Maria ein, welche bei der langen Rede immer blasser geworden war. »Der Herr Geheimrat hat Erich gestern abend noch eine kostbare Stradivarigeige geschenkt.«

»Ach, wie schade – ich hatte schon gehofft, die unscheinbare Kindergeige, die einst als kostbare Reliquie gelten wird, für eines der schönen Instrumente einzutauschen, welche wir besitzen! – Nun, ich denke, ich werde mir die Reliquie auch auf eine andere Weise verdienen. Was meint ihr zu dem Vorschlag, Kinderchen?«

Die grauen Augen der Dame fuhren, so süß sie auch lächelte, mit lauerndem Ausdruck von einem der Geschwister zum andern.

Erich stand mit glänzenden Augen da; die dick aufgetragenen Schmeicheleien der schwärmerischen Frau, die bei aller Schwärmerei doch sehr gut rechnete, verfehlten ihre Wirkung auf den eitlen Jungen nicht. Dennoch mochte die vorhergegangene Szene mit Maria etwas nachwirken und die Ursache sein, warum er schwieg und halb ängstlich, halb zaghaft fragend zu dieser hinblickte. Und das ernste, bleiche Gesicht der Schwester hob sich mit kühlem Ausdruck, und sie sagte ruhig:

»Da hat wohl in erster Linie unser väterlicher Freund, der Herr Geheimrat mitzusprechen.«

»Wieso?« fragte die Professorin.

»Es ist der Vormund Erichs.«

»Ah – das habe ich gar nicht gewußt. Ich habe gar nicht daran gedacht, daß dieser junge Mann einen Vormund nötig haben könnte. Aber – nun, warum sollte unser lieber Geheimrat nicht einwilligen? Er muß das Gewicht meiner Gründe anerkennen. Hm! – ich werde gleich bei ihm vorfahren. Aber, mein Gott! ich vergesse die Hauptsache: zuerst muß ich doch wissen, ob unser Wunderkind selber damit einverstanden ist? O, Sie sollen eine zärtliche Mutter an mir finden, mein teurer Erich!«

»Ja,« sagte Erich mit trotziger Entschlossenheit. »Wenn der Herr Geheimrat, dem ich mich einmal fügen muß, es zugibt, thue ich es mit Freuden.«

»Sie machen mich glücklich, teuerster, bester Erich – erlauben Sie Ihrer künftigen Mutter – –«

Und die dicke Dame erhob sich, legte den Kopf mit den zur Decke gerichteten Augen gerührt auf die Seite und ging, die Arme ausbreitend, auf Erich zu, um ihn zu umarmen und einen Kuß auf seine Stirn zu hauchen.

Der Junge fügte sich halb widerwillig. Er wußte nicht, woher ihm das fatale, unangenehme Gefühl kam, welches er dieser zärtlichen Ueberschwenglichkeit gegenüber empfand; aber die glänzenden Aussichten, die sich ihm eröffneten, der Weihrauch des Lobes, der seine Sinne berauschte, ließen ihn über die Warnerstimme der Natur hinwegsehen.

»Und nicht wahr, nun haben Sie auch nichts mehr dagegen, liebe Maria? O, schon die Schwesterliebe muß Ihnen helfen, sich an den Gedanken einer Trennung zu gewöhnen. Die wahre Liebe ist ja selbstlos und opferfreudig. Adieu, adieu – ich eile, den Geheimrat aufzusuchen – –«

Wie der Sturmwind rauschte die dicke Frau Professorin aus der Thür – ein paar Kußhände flogen von dem Garten noch zu den Fenstern hinauf – ein paar Sekunden später saß sie mit zufriedenem Lächeln auf den Plüschkissen des Wagens und rollte der Wohnung des Geheimrats Mosler zu.

»Bist du mir böse, Maria?« fragte Erich droben und stellte sich dicht vor die Schwester hin. »Das kannst du mir unmöglich verdenken, daß ich hier ja gesagt habe.«

Marias Lippen umzog ein bitteres Lächeln. »Des Menschen Wille ist sein Himmelreich. Ich bin zu dumm, lieber Erich, um zu begreifen, was einem Wunderkind, einem Genie, einem jungen Paganini nützlich ist; vielleicht ist der Herr Geheimrat klug genug; seiner Entscheidung will ich vertrauen. Es ist wahr: ich kann dir nichts sein – ich kann dir höchstens die Strümpfe stopfen und die Kleider sauber halten und den Kaffee kochen und – dich lieb haben,« fügte sie mit brechender Stimme hinzu. Sie schluchzte ein paarmal auf, schüttelte aber dann energisch den Kopf und ging wieder an ihre Arbeit.

Erich sah finster zu ihr hinüber und schlug heftig die Thür hinter sich zu, als er hinab in den Garten ging. Er schritt zwischen den blühenden Obstbäumen und Gemüsebeeten hin und her: über ihm in den Zweigen balgten sich die Sperlinge und schlug eine Grasmücke; aber er träumte von einem menschengefüllten Musiksalon, in dem die Gaskronen ihr strahlendes Licht niedergossen auf eine jubelnde, klatschende Menge, während er die Stradivari in der Hand senkte und sich verneigte – und mitten in den stolzen Traum hinein hörte er eine ernste, anklagende Stimme sprechen, er wußte nicht, ob sie wie die des verstorbenen Vaters oder die des Geheimrats Mosler klang.

Als es Zeit wurde, wieder hinaufzugehen, hatte er seinen ganzen Trotz nötig, um gleichgültig auszusehen. Es waren sehr unerquickliche Stunden, welche die Geschwister miteinander verlebten, diesen Abend und wieder den nächsten Morgen.

Dann kam die Entscheidung: der Geheimrat hatte eingewilligt. Maria war schmerzlich überrascht, als der Wagen von der Frau Professorin kam, um Erich samt seinen wenigen Effekten abzuholen, und ein duftendes rosa Billet, das der Diener überreichte, die erste Kunde von Moslers Entschlusse gab. So mußte sie sich fügen. Sie suchte für den Diener die Sachen zusammen und reichte dann dem Bruder die Hand zum Abschiede.

»Hoffentlich besuchst du mich recht oft, Maria,« sagte Erich, indem er sie etwas verlegen ansah.

»Nie!« war die feste Antwort.

»Warum nicht? Sei doch freundlich! Du weißt ja doch, daß es mich glücklich macht, dorthin zu kommen, wo man so große Stücke auf mich hält.«

Wie altklug er sprach, und wie sicher und selbständig er dastand! Und er war noch nicht fünfzehn Jahre alt! Es lag doch etwas in der Art des schlank aufgeschossenen, schmächtigen Jungen, was die Schwester mit Stolz erfüllte. Und er konnte sich kühl von ihr trennen – so gar nichts war sie ihm!

»Du hast kein Herz,« sagte sie tonlos. »Geh hin – und möchtest du deinen Entschluß nicht zu bereuen haben!«

Er ließ ihre Hand fallen und ging zur Thür hinaus. Ein Bote, der einen Brief von dem Geheimrat brachte, fand sie in Thränen. Aber der Brief tröstete sie.

»Es hilft nichts, liebe Maria, wir müssen Erich auf einige Zeit seinem Schicksale überlassen. Das ist die einzige Möglichkeit, um ihn an irgend einem Zeitpunkt dauernd wieder zu gewinnen, und zwar geläutert von den Schlacken, die seinem Wesen anhaften: dem Hochmut, der Eitelkeit, dem Trotz. Er muß durch Schaden klug werden – Hoffart will Zwang leiden. Anders ist er nicht zu retten – und ich hoffe, im Zipserschen Hause wird er am schnellsten kuriert werden; haben Sie Geduld! untergehen – lasse ich ihn nicht!«

So schrieb der kluge alte Herr. Und Maria nahm sich vor, Geduld zu haben. Sie vertraute dem treuen väterlichen Freunde blindlings.

In das Haus des Professor Zipser setzte sie keinen Fuß; weder wollte sie Erich nachgehen, noch mit der Zipserschen Familie zusammenkommen, von der ihr die Frauen wenigstens im tiefsten zuwider waren. Erich hatte ein einzigesmal bei ihr vorgesprochen, hatte sie aber nicht zu Hause getroffen; sie erfuhr nur von den Gärtnersleuten, daß er dagewesen und daß er sie grüßen lasse.

Ein ganzes Vierteljahr verging, ehe sie wieder etwas von dem Bruder hörte: die Gärtnersfrau brachte ihr eines Tages eine Zeitung herauf, in welcher zu einem Konzerte eingeladen wurde.

Das Konzert gab Erich, der »Wunderknabe« Erich!

Es bäumte sich etwas in ihr auf, als sie die marktschreierischen Worte las, in denen zum Besuch des Konzertes aufgefordert wurde; so ängstlich und bekümmert sah sie auf das Blatt nieder, daß die Gärtnersfrau ordentlich erschrak.

»Das ist Ihnen wohl nicht recht, Fräuleinchen?« sagte sie; »und ich dachte Ihnen gerade eine Freude zu machen, weil sie da in der Zeitung den jungen Herrn Bruder so sehr loben.«

»O nein – ich danke Ihnen, Frau Pinkert,« war die gezwungene Antwort; »ich bin nur in Sorge, ob er auch den Leuten wirklich gefallen wird.«

»Ei, warum wird er das nicht! Er spielte doch gewiß sehr hübsch auf seiner Geige. Ich und mein Alter, wir haben manchen Abend zugehört.«

Das Konzert war ein öffentliches – warum sollte Maria nicht auch hineingehen? Aber wie kam Erich nur dazu, ein Konzert zu geben! War er denn wirklich mit seinen Studien schon fertig geworden?

Das nun eben nicht. Aber ein Konzert gab er doch. Natürlich war niemand anders die Veranlassung zu dem Wagnis als die Frau Professor Zipser. Sie konnte die Zeit nicht erwarten, wo die Welt es erführe, daß sie, die Frau Professor Zipser, die Pflegemutter eines so merkwürdig begabten Jungen sei.

O, sie war ihres Erfolges ganz sicher! An wie manchem Abend hatten die musikalischen Freunde des Zipserschen Hauses schon im Salon dem jugendlichen Geiger Beifallssalven gespendet! Erich wußte freilich nicht, daß etwa die Hälfte der Eingeladenen mit diesem Beifall das wohlbesetzte Büffett bezahlte, an dem sie die einzigen Delikatessen genießen durften, welche ihnen überhaupt je auf den Teller kamen. Er wußte nicht, daß die vielen jungen Musiker, welche im Hause des Professors verkehrten, auf die Unterstützung und Protektion der reichen Familie rechneten. Es fiel ihm nicht einmal auf, daß in dem Musiksalon überhaupt nicht getadelt wurde, daß alle Lippen nach jeder unbedeutenden Kunstleistung von Lob trieften. Und was die Berühmtheiten betraf, welche sich einfanden, so kam wohl die eine und andere; aber es gab auch deren, welche nicht kamen. So verwunderte sich Erich, den großen Meister, der in Kürze nun sein Lehrer werden sollte, niemals anwesend zu finden. Als er die Frau Professorin darum befragte, mußte er die mit Achselzucken gegebene Antwort hören: jener sei ein stadtkundiger Grobian, auf dessen Anwesenheit sie gern verzichte.

Es gab eben eine ganze Partei, welche von der Familie Zipser und ihrem Musiksalon ein für allemal nichts wissen wollte; den einen waren die Leute persönlich zuwider, die andern hatte die Frau Professorin oder das blonde Fräulein Selma bei irgend einer Gelegenheit beleidigt, die dritte Klasse bestand aus den Rücksichtslosen unter den tüchtigen Musikern und Musikverständigen, welche sehr wohl wußten, daß die zur Schau getragene Musikschwärmerei der Familie Zipser hohl und daß der Zipsersche Musiksalon nur der Eitelkeit der Frau Professorin, nicht aber der Kunst zuliebe eingerichtet war. Das hatte jener große Meister der Dame einmal ganz ungeschminkt gesagt, und deshalb eben erklärte sie ihn für einen Grobian.

Der Triumph, den Erich nach der Meinung der würdigen Dame unfehlbar in seinem Konzert davontragen mußte, sollte all jenen übelwollenden Stimmen gegenüber den Ruhm des Zipserschen Salons auf lange hinaus festigen. Aber noch mehr: er sollte Erich eine Summe Geldes einbringen, und diese Summe sollte die erste Rate des Lösegeldes ausmachen, welches ihn gänzlich von der bestehenden Verpflichtung gegen den Geheimrat zu befreien bestimmt war.

Erich hatte ja dem Geheimrat Geldkosten verursacht; er hatte die teure Geige von demselben angenommen, und es war immerhin ein gutes Zeichen für das Ehrgefühl des Jungen, daß ihm dieser Besitz auf der Seele brannte. Er war ein Undankbarer, solange er noch den Geheimrat als Wohlthäter betrachten mußte; das sollte aufhören.

Sein Lehrer, der Doktor Meyer, erfuhr von dem bevorstehenden Konzert ebenso, wie Maria, durch die Zeitung. Er suchte Erich auf; er riet der Frau Professorin gleich dringend ab wie seinem Schüler. Zum wenigsten solle er sich darauf beschränken zu phantasieren, und sich hüten, bekannte Kompositionen von andern zu spielen. Vergebens! »Er ist eifersüchtig und neidisch,« sagten Erich und die Frau Professorin zu einander, als er gegangen war; »er fürchtet, man möchte sagen, daß der Schüler besser spiele, als der Lehrer; man muß gerade einige Stücke wählen, welche der Doktor Meyer öfters in Konzerten spielt.«

Das war Erichs Verderben.

Der verhängnisvolle Abend kam heran. Vor der stattlichen Villa des Professor Zipser hielt die Equipage, und im hellen Schein der Thürkandelaber konnte man die ganze Familie einsteigen sehen: den kleinen dünnen Professor, der sorglich achtgab, sich den hohen Cylinderhut nicht einzustoßen, die korpulente Frau Professorin mit der blonden Selma, jene in graue, diese in rosa Seide gekleidet, endlich Erich.

Etwas blaß sah er doch aus. Oder war es nur das fahle, flackernde Gaslicht, was ihn so blaß erscheinen ließ, und der Gegensatz des schwarzen Salonanzugs, der so knapp die schmächtige Gestalt umschloß?

Er huschte schnell durch das Licht und hielt dann die schmale Hand aus dem Wagen, um den Kasten mit der Stradivari in Empfang zu nehmen, welchen der Diener ihm nachgebracht. Dann zogen die Pferde an, und fort ging es.

Der große Florasaal strahlte in wahrhaft blendendem Glanze; die Frau Professorin hatte nichts gespart, um ihrem Triumph die möglichste Beleuchtung zu sichern. Auf den vorderen Sitzreihen hatten längst vor Beginn des Konzertes die Getreuen des Zipserschen Musiksalons Platz genommen und nur die drei Ehrensitze der Familie Zipser frei gelassen. Auch die hintern Sitzreihen des weiten Saales füllten sich allmählich recht leidlich, obschon der Eintrittspreis ein ziemlich hoher war. Vielleicht war letzteres nicht klug eingerichtet; wer viel zahlt, glaubt sich auch zu hohen Ansprüchen berechtigt. Aber freilich: Erich sowohl, wie die Frau Professorin waren überzeugt, daß heute alle Ansprüche befriedigt werden würden.

Ein Gewirr halblauter Gespräche wogte im Saale, dazwischen knisterten die gedruckten Programme, welche verteilt worden waren. Zuweilen rauschte und raschelte es mit lebhafter Bewegung an einer der beiden Thüren: dann kamen Gruppen neuer Konzertgäste und es begann ein Suchen nach den Plätzen.

Zipsers mit Erich kamen ziemlich spät. Eine Anzahl ihrer eifrigsten Freunde stürmte von den Sitzen ihnen entgegen, und die Frau Professorin grüßte mit dem süßesten Lächeln rechts und links, während ihre grauen Augen scharf die hintere Hälfte des Saales musterten. Sie schien von dem, was sie sah, nicht sehr erbaut zu sein; denn plötzlich legte sich eine Falte zwischen die Augen und sie flüsterte ihrer Tochter zu: »Es ist ja, als ob sich da hinten alle Feinde unseres Hauses ein Rendezvous gegeben hätten; sieh dich nur vorsichtig um, Selma!« Gleich darauf wandte sie sich im Vorwärtsschreiten zu Erich und sagte: »Da sitzt ja auch Ihre Schwester Maria.«

Erich drehte sich hastig um. »Wo?« fragte er.

»In der drittletzten Reihe – ah, gehen wir weiter! Jetzt ist sie unsichtbar.«

Und sie schritten weiter. Der Klavierspieler, welcher mit Erich zusammen die Konzert-Ouvertüre spielen sollte, eilte vorauf, um den Flügel auf der Bühne zu öffnen – bald nachher folgte Erich. Die großen Thüren des Saales schlossen sich, die ganze Zuhörerschaft raschelte sich zur Ruhe wie ein Hühnervolk im Sande, das ein Mittagsschläfchen zu halten beabsichtigt. Von der Bühne scholl ein Stimmen und flüchtiges Probieren.

Endlich! Erich verneigte sich.

Das Konzert begann. Die Frau Professorin wiegte mit dem Kopfe den Takt – die vorderen Reihen hörten andächtig zu; nur hie und da blitzte wie heimliches Wetterleuchten ein böses flüchtiges Lächeln um ein paar Lippen. Aber hinten!

Es mußten wohl die Feinde des Zipserschen Hauses sein, von denen die Professorin gesprochen, welche da in einzelnen Gruppen die Augenbrauen hoch zogen und zuweilen zischelnd die Köpfe zusammensteckten und schüttelten, als stünden sie vor etwas Seltsamem und Unbegreiflichem. Oder staunten diese Leute etwa über das Außerordentliche der Leistung des »Wunderknaben«? Es war nicht recht klug daraus zu werden.

Erich arbeitete sich durch; es gab auch Stellen, die er offenbar mit voller Herrschaft über sein Instrument spielte, und in denen er ohne Zweifel außerordentlich schön geigte. Und doch sahen sich ein paar Menschen im Hintergrunde gerade bei diesen Stellen an und sagten: »Wie schade!« Besonders oft sagte das ein großer kräftiger Mann mit scharf geschnittenem Gesicht und trotzigen Augen unter dem Kneifer; er stand während des ganzen Konzertes vor seinem Stuhl in der drittletzten Reihe. Wer war er? Nun, im Saal wußte es jeder: der beste, aber auch gefürchtetste Musikkritiker der Hauptstadt; was er in der Zeitung sagte, galt allgemein wie ein Evangelium.

Dieser Mann setzte sich endlich. Die erste Nummer war zu Ende, und das Klatschen der vorderen Reihen wollte sich gar nicht legen. Erich mußte ein paarmal vortreten und sich verneigen. Das schien dem Manne mit dem Kneifer endlich zu bunt zu werden.

»St! Ruhe!« machte er.

Der Lärm vorn übertäubte ihn. Er begann so stark zu zischen, wie er vermochte. Eine Menge Augen waren auf ihn gerichtet – er ist unzufrieden! er zischt! – man konnte darauf schwören, daß an einer Musikleistung nicht viel war, wenn er unzufrieden war.

Man mußte ihm zischen helfen.

Die Frau Professor Zipser stand auf und drehte sich zornglühend um. Endlich schien sie ein Zeichen der Beschwichtigung zu geben – der Beifall hörte auf und das Zischen auch.

Auf der Bühne stand Erich und stimmte scheinbar gleichmütig sein Instrument. Nur wer ganz vorne saß, konnte sehen, wie blaß er aussah und wie er sich auf die schmalen Lippen biß. Er hatte wirklich Gegner in der Versammlung! Es galt, alles aufzubieten, um ehrenvoll zu bestehen. Einen Augenblick besann er sich, ob er nicht phantasieren solle: damit hatte er immer am meisten gewirkt. Aber Doktor Meyer hatte ihm ja dazu geraten! Nein, unter allen Umständen das Programm einhalten; die Freunde hatten es mit dem Beifall wirklich so gut gemeint, daß man da hinten ungeduldig geworden sein konnte, ohne gerade etwas gegen Erich zu haben.

Er spielte wieder, ein Solo-Konzert für die Geige. Es war schwierig, unheilvoll schwierig! Im Hintergrunde des Saales fing ein Gemurr an. Jemand lachte sogar laut auf. Nun zischten die Getreuen der vorderen Sitzreihen um Ruhe. Hinten antwortete ebenfalls Zischen. Vorn klatschte ein Paar kräftiger Hände, und die ganzen vorderen Reihen nahmen den Vorschlag auf, das Zischen aufzugeben und dafür zu klatschen. Ein förmlichen Wettkampf entstand, wer den Gegner überlärmen könne.

Ein paar abgerissene Töne von Erichs Geige klangen noch dazwischen, dann ließ der Junge den Bogen sinken. Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirne, seine Sinne begannen sich zu verwirren, seine Füße zu schwanken. Aber sein Trotz hielt ihn aufrecht – selbst ein schwaches verächtliches Lächeln zuckte noch um seine bleichen Lippen.

Plötzlich rief eine mächtige Stimme in den Lärm hinein:

»Ruhe!«

Die Stimme gehörte dem Mann mit dem Kneifer in der drittletzten Reihe an. Er war auf seinen Stuhl getreten und rief, daß man jedes Wort bis in die letzte Ecke des Saales vernehmen konnte:

»Ich protestiere dagegen, daß man mich zum Anhören solcher Schülerleistungen für schweres Geld nötigt. Wer meiner Ansicht ist, verläßt den Saal.«

Er hatte während des Sprechens gefühlt, wie ihn ein Paar Hände am Rockschoß gezogen hatten; jetzt erst, während die Thüren aufsprangen und ein Gedränge nach denselben hin begann, sah er, nicht eben freundlich, zur Seite hinab – sein Blick fiel auf zwei angstvolle blaue Mädchenaugen, und als er überrascht vom Stuhle auf den Boden trat, sagte eine halb erstickte Stimme:

»Ach, Herr, er ist mein Bruder!«

»Armes Kind,« murmelte der Mann, »dann bedaure ich Sie. – Aber Sie sollten nicht dulden, daß sein Talent durch diese Närrin, die Zipser, gemißbraucht wird,« fuhr er lauter fort.

»Mein armer Erich!« sagte Maria und schlug die Hände vor das Gesicht, während ihr Nachbar mit einem Blick aufrichtiger Reue sich rasch entfernte.

Etwa ein Drittel der Konzertgäste war hinausgegangen. Ein zweites Drittel hielt die Neugierde zurück, zu erfahren, was nun werden würde, während die Anhänger des Zipserschen Hauses den Rest bildeten.

Die Neugierde fand ihre Rechnung nicht. Erich spielte das Programm zu Ende, und zum Schluß phantasierte er, so wunderbar und leidenschaftlich, wie vielleicht nie zuvor. Dennoch war das Unbehagen ein so allgemeines, daß es zu keiner lebhaften Beifallsäußerung mehr kam.

Still packte Erich seine Geige ein. Er hörte kaum zu, als der und jener zu ihm hinauf kam, während der Saal sich leerte, und ihm tröstend und entrüstet zusprach. Vor seinen Augen flimmerte es, in seinem Kopf ging ein Summen und Sausen. Als er mit der Zipserschen Familie durch den Saal schritt, hatte er eine Empfindung, als ob die Frau Professorin etwas kühl neben ihm hergehe und Fräulein Selma zuweilen einen spöttischen Blick auf ihn werfe. An der Ausgangsthür zuckte er zusammen: er sah Maria stehen. Aber er schritt an ihr vorüber, ohne zu zeigen, daß er sie erkannt.

Der Wagen hielt nach kurzer Zeit vor dem Zipserschen Hause. Auf der Treppe, die man schweigend emporschritt, mußte sich Erich einen Augenblick am Geländer halten, um nicht zu schwanken. Er sei unwohl, meinte er. Er möchte sich gleich auf sein Zimmer zurückziehen.

»Um Gotteswillen, nur nicht krank werden!« fuhr die Frau Professorin abwehrend heraus. »Vielleicht gar eine ansteckende Krankheit! Aber wahrscheinlich hat Ihnen die Krankheit schon in den Gliedern gelegen, daß es so schlecht ging mit dem Spielen.«

Erich blieb stehen und sah sie groß an.

»Schlecht ging?« wiederholte er. »Ich war gar nicht unwohl und habe so gut gespielt, wie ich konnte. Meinen Sie wirklich, daß ich schlecht gespielt habe?«

»Nun, das werden Sie doch nicht bezweifeln wollen, mein Lieber,« sagte die Dame. »Sonst hätten wir doch diesen Mißerfolg nicht zu beklagen. Nehmen Sie mir's nicht übel, lieber Erich! ich glaube, wir haben uns doch ein wenig überschätzt. – Aber nicht wahr, Sie werden uns nicht ernstlich krank? Es wäre entsetzlich; ich habe eine Aversion gegen Krankheiten. Wenn Sie fühlen sollten, daß Ihnen doch sehr schlecht wird, dann sagen Sie es wohl vorher. Wir schaffen Sie dann zu Ihrer Schwester; das gute Kind pflegt Sie gewiß herzlich gern. Und nun gute Nacht und gute Besserung, mein Lieber!«

Sie reichte ihm nicht einmal die Hand; gesenkten Hauptes suchte der Junge sein Zimmer auf.

»Es ist eine Blamage!« jammerte die dicke Frau, als sie in ihrem Salon sich hatte in einen Sessel fallen lassen. »Eine unerhörte Blamage! Der Doktor Seyffert wird morgen in seiner Rezension alles Gift auf uns spritzen. O, warum habe ich Unglückliche mich mit diesem verwünschten Jungen eingelassen! Aber daran bist du schuld, Selma; ich hätte niemals den verrückten Einfall gehabt, ihn ins Haus zu nehmen.«

»So?« warf Fräulein Selma spitz hin, und ihre Nase schien sich noch zu verlängern, »wenn du so weise bist, warum hast du nicht nein zu diesem verrückten Einfall gesagt? Den andern Einfall mit dem Konzert habe ich wenigstens nicht gehabt!«

Erich saß auch im Lehnstuhl, aber er sprach nichts. Er starrte wie abwesend ins Leere und fühlte nur das eine, Schreckliche: daß er Schiffbruch gelitten hatte mit seinem Glauben an sich, mit seinen Hoffnungen. Er konnte innerlich nicht vernichteter sein. »Du kannst nichts, du wirst nie etwas können; du hast dich ebenso in deiner Begabung überschätzt, wie es andere gethan haben!« sagte es in ihm. Wie im Nebel erschien vor ihm das traurige Antlitz der Schwester, das er soeben noch leibhaftig gesehen, und es sprach zu ihm: »Du hast kein Herz!« Sie mochte recht haben, es war wie tot und leer in seiner Brust. Auch die Gestalt des väterlichen Freundes erschien ihm, die er einst so unbequem gefunden mit ihrer Ruhe und besonnenen Klarheit, und ihm war, als ruhten die hellen Augen Moslers vorwurfsvoll und bedauernd zugleich auf ihm. Aber die Fratzen, die dann kamen! die häßlichen, hohnlachenden, zischenden Fratzen, welche lange Zungen gegen ihn ausstreckten. »Stümper!« schrieen sie, »schülerhafter Stümper, wir wollen unser Geld zurückhaben, das du uns abgelockt hast!«

Er wischte über die Augen und raffte sich auf. Es war nicht auszuhalten. Wie konnte er je wieder auf die Straße gehen, da er erwarten mußte, daß man mit Fingern auf ihn zeigen würde!

Aber hier bleiben? Hier, im Hause der würdigen Dame, die solche Angst hatte, daß er krank werden und sie anstecken könne?

Nimmermehr!

Wie höhnisch sie ihn angesehen hatte, als sie die Bemerkung machte, daß »wir uns doch ein wenig überschätzt« hätten! Und das war dieselbe Frau, die so begeistert den »jungen Paganini«, den »göttlichen Erich« gepriesen, die ihn verführt hatte, daß er die schuldige Dankbarkeit gegen den Vormund, gegen die Schwester wie mit einem Fußtritt von sich gestoßen!

Fort aus diesem Hause!

Er sprang vom Sessel auf und ging an das Fenster. Sein Zimmer lag nach dem Garten zu; ein Spalier, von wildem Wein berankt, führte die Wand hinauf bis unter das Fenster.

Er riß die Flügel auf und blickte in die schweigende Nacht hinaus. Der Himmel war klar und die Sterne blinkten. Leise wehte Blütenduft herein, der Duft von Rosen und Jasmin; aber ihn kümmerte das nicht. Er spähte das Spalier hinab und nahm alle Kraft zusammen, um sich durch das Fenster hinauszuschwingen und an den Latten niederzuklettern.

Jetzt stand er drunten im Garten. Den Hut hatte er vergessen; leise flogen ihm die dunklen Löckchen von den Schläfen in das Gesicht, während er die Gänge hinunter eilte bis zu der Mauer, welche den Garten gegen ein Schlupfgäßchen abgrenzte.

Auch hier half ihm ein Spalier; wie gehetzt kletterte er auf die Mauer und sprang drüben ohne Besinnen hinab. Er fiel nicht glücklich: er schlug sich das eine Knie gegen das Pflaster wund, und das schmerzte; aber er raffte sich auf und hinkte weiter.

Wohin? das wußte er nicht, es war ihm auch gleichgültig. Er lief durch Straßen, fast ohne etwas zu sehen – die fatalen Schleier legten sich ihm wieder vor die Augen. Endlich befand er sich in einer Umgebung von öffentlichen Gartenanlagen.

Dunkle Bäume schatteten über ihm, in welchen der Nachthauch säuselte; irgendwo mußten Linden blühen; er roch den Duft; jetzt, wo er sich in Sicherheit wußte, waren die Sinne wieder thätig. Aber elend war ihm zu Mute, unbeschreiblich elend.

Ein Ton traf sein Ohr, wie der Aufschrei eines Schwanes. Er ging unwillkürlich dem Schrei nach und stand vor einer Wasserfläche, auf der ein paar weiße Körper von Schwänen schwammen; drüben erhoben sich die Umrisse eines Restaurationsgebäudes – er besann sich jetzt, er war schon einmal hier gewesen.

Vom Wasser stieg ein feuchter Dunst auf; ohne zu wollen, neigte er sich hinab. War das Neigen des Kopfes daran schuld – er fühlte plötzlich Schwindel, er fühlte, daß er das Gleichgewicht verlor. Ein heiserer Schrei, dann gurgelte und gluckste es um ihn, während gleichmäßige Kälte ihn umgab.

Er verlor die Besinnung.

Aber er sollte nicht untergehen. Ein paar Augenblicke später scholl ein derber Fluch aus dem Gebüsch, und eilfertig stürzte die Gestalt eines Wächters aus dem Schatten, um sich rasch über den Rand des Wassers hinüberzulegen. Der Mann hatte die nächtliche Aufsicht über die Anlagen und war gewohnt, jeden, der zur Nachtzeit hier promenierte, aufmerksam zu verfolgen; und der Zufall hatte es gewollt, daß ihm die schwankende Gestalt des Jungen aufgefallen war, als Erich kaum die Anlagen betreten hatte.

Die Rettung machte keine Schwierigkeiten; der bewußtlose Körper hatte sich nicht vom Ufer entfernt, und so packte die kräftige Faust leicht Erichs Arm und zog ihn in das Gras.

»Was macht nur so ein dummer Junge im Wasser,« brummte der Retter kopfschüttelnd. »Hat er nicht Schläge zu Hause gekriegt, so wird wohl eine schlechte Censur in der Schule schuld sein.«

Und der Mann nahm ein Pfeifchen aus der Tasche und pfiff ein paarmal, so laut er konnte.

* * *

Lange wußte der arme Erich nichts von sich; wochenlang! Er wußte nicht, daß man ihn in einem Siechenkorbe in das nächste Spital gebracht, daß er in der Zeitung gestanden hatte als namenloser Verunglückter, daß sorgende Hände über ihm gewacht, prüfende Augen des Arztes ihn beobachtet hatten. Er wußte auch nicht, wer nach den ersten Tagen der Krankheit seine Pflege übernommen hatte.

Aber als er eines Tages die Augen aufschlug, da sah er ein liebes, bekümmertes Gesicht über das seine geneigt und hatte ein Gefühl, als ob der warme Hauch von diesem Antlitz ihn geweckt habe.

»Maria!« sagte er und sein eigenes, erschreckend schmales Gesicht verklärte sich.

Und »Erich!« antwortete es mit unterdrücktem Jubel. Und gleich darauf: »Aber, Erich, warum hast du uns das angethan?«

»Ach, du meinst, ich hätte den Tod im Wasser suchen wollen? Nein, nein – ich war krank und der Schwindel hat mich hineingerissen.«

»Gott sei Dank!« Und nun fühlte er heiße Schwesterküsse auf den Lippen. »Jetzt soll alles anders werden!«

»Ja,« sagte er matt, »jetzt soll alles anders werden! Ich komme wieder zu dir, und ich will arbeiten, tüchtig arbeiten. Glaubst du noch, daß ich wirklich einmal ein rechter Geiger werden kann? Ich meine es fast, aber in jener schrecklichen Nacht habe ich an nichts mehr geglaubt.«

»Gewiß glaube ich es; und hier ist noch jemand, der es glaubt.«

Sie schlug die Gardine zurück, und da blickte das kluge feine Gesicht des Geheimerats Mosler so freundlich wie warmer Sonnenschein auf den Geretteten, den doppelt und dreifach Geretteten, und nickte ihm zu. Aber dann kam der alte Herr heran und legte den Finger auf Erichs Lippen:

»Still! Zwei Tage kein Wort sprechen! Aber ein Virtuose werden wir doch!« Klapp – da fiel die Gardine zu. –

Ob Erich ein Virtuose geworden ist?

Niemand hat ihm später begeistertere Lobreden geschrieben, als eben jener Recensent mit den scharfen, trotzigen Augen unter dem Kneifer; derselbe Mann, der einst in so naher Beziehung zu seinem Mißerfolg und – zu seiner Umkehr gestanden.

* * *


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