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Waldtrude.


1. Das letzte Haus.

»Feuer!« schrie der Nachtwächter Veit, nahm das Horn von der Schulter und blies erst einmal mit langem Atem, dann dreimal kurz nacheinander in dasselbe.

»Feuer, feuerjo!«

Er hatte sich, wie dies seine Gewohnheit, gegen ein Uhr in einem Winkel auf das Ohr legen wollen – in der warmen Sommernacht gab es dabei für seine Gesundheit nichts zu fürchten – als er zum Glück noch rechtzeitig für seine Amtsehre den roten Schein gewahr wurde, welcher sich am Ende der Dorfstraße zeigte.

In abwechselndem Schreien und Blasen rannte er der gefährdeten Stelle zu, zunächst um sich zu vergewissern, ob er sich nicht täusche. Er war kaum hundert Schritte gelaufen, als er eine ferne Flamme aufschlagen und einen Regen von Funken in die Luft stäuben sah. Nachdem er sich einen Augenblick besonnen hatte – in seiner ganzen Praxis war ein ähnlicher Fall noch nicht vorgekommen – machte er entschlossen kehrt, hob aufs neue zu lärmen an und steuerte in der Richtung der Kirche hin. Er mußte den Lehrer wecken, welcher dicht bei der Kirche im Schulhause wohnte und das Läuten zu besorgen hatte.

Fenster wurden aufgerissen und hier und da riefen Stimmen: »Wo brennt's denn? Hier im Dorfe?«

»In unsrem Dorfe, am Ende drunten; seht selber zu, in welchem Hause es ist! ich muß den Kantor wecken.«

Indes Veit weiter rannte, begann die Dorfstraße sich zu füllen. Hausthüren klapperten und klingelten, ein paar Eifrige oder Ueberneugierige hörte man im Trabe der bezeichneten Stelle zurennen.

»Das muß bei der Mühlbacherin sein,« erklang eine laute Vermutung.

»Ich glaube es auch. Bei der Hexe!«

»Na, die kann doch gewiß das Feuer besprechen, da brauchen wir die Spritze nicht.«

»Sicher ist sicher. Ob Veit den Schulzen schon geweckt hat?«

»Wer hat denn die Pferde zu stellen?«

»Klostermann.«

»Kommt mit!« schrie eine Bärenstimme. Es war die des dicken Krügers, der aus seinem in der Nähe der Gefahr liegenden Wirtshause heraufgestürzt kam und alle Ursache hatte, die Dämpfung des Feuers zu beschleunigen. »Wir spannen uns vor die Fässer und besorgen sie an die Steinach; ran, ihr Jungen, ich lege nachher ein Faß auf, in dem aber kein Steinachwasser sein soll.«

»Hurra, wer hilft dem Krüger? Er will Bier auflegen.«

Der Trupp mit dem Krüger an der Spitze verlor sich, ein paar Laternen tauchten auf. In der Dunkelheit huschte und trappte es eilig hier und dort, wie aufgescheuchte Mäuse auf einem Getreideboden, einzeln, truppweise, mit Zurufen herüber und hinüber.

Jetzt erscholl das Feuerläuten vom Turme, immer zwei kurze Doppelschläge rasch hintereinander, das Zeichen für die Nachbardörfer, deren jedes eine gute Stunde entfernt war, eines thalauf, das andre thalab.

Mit Hallo und Hurra kam ein Wasserfaß die Straße herunter. Das zweite, dritte folgte in kurzen Pausen. Endlich rasselte auch die Spritze her, von zwei kräftigen Braunen gezogen.

»Zur Mühlbacherin!« riefen Weiber, welche die Straße herauf gestürzt kamen. »Sie muß noch im Hause sein und man kann vor Feuer nicht auf die Diele!«

Das letzte Haus im Dorfe stand in Flammen. Das brennende Strohdach warf Funkengarben weit umher, obwohl es windstill war. Wäre das Dach des Nachbarhauses nicht zwanzig Schritte entfernt und von Moos zwei Finger dick überzogen gewesen, es würde längst das Schicksal des andern geteilt haben. Das sah schrecklich aus mit seiner qualmenden Feuerhaube, seinen Fensteraugen, hinter denen es glühte, seinem offenen Thürrachen, welcher Feuer spie. Denn man hatte die Thür geöffnet und doch nicht eindringen können: eine Treppe, welche zu der unmittelbar über der Thür befindlichen Bodenfallthür führte, war eingestürzt, die brennenden Trümmer versperrten den Weg.

Das Feuer mußte schon eine ganze Weile im Innern des Hauses gewütet haben, ehe es auf den Boden gelangte und das Dach durchbrach.

Die Pferde vor der Spritze wurden abgespannt.

»Brennen lassen! Brennen lassen!« rief es aus der Menge.

»Sorgt dafür, daß kein andres Haus anbrennt! Hier ist nicht mehr zu helfen.«

»Aber die Mühlbacherin ist ja wohl noch drin mit ihrem Kinde.«

»Wer weiß das? Am Ende hat sie's angesteckt und ist längst fort über alle Berge.«

»Man sollte zu der Wurzelgrete in den Wald nauf schicken und nachsehen lassen, ob sie etwa dort ist.«

»Es sind schon ein paar hingelaufen.«

»Die Huberin sagt, die Mühlbacherin sei schon seit acht Tagen krank gewesen und die Alte sei jeden Tag zu ihr gekommen.« So gingen die Stimmen widereinander.

»Spritzt doch mal in die Thür!«

»Eh, laßt die Hexe brennen!« rief eine rohe Stimme aus dem Hausen.

»Schaden und Gebrest hat sie uns genug gebracht,« ergänzte eine andre Stimme.

Der Schulze, ein weißköpfiger kräftiger Bauer, stand an der Spritze und hatte sie vollsaugen lassen.

»Pfui!« donnerte er jetzt, »sind wir Christenmenschen und vernünftige Leute, oder abergläubische alte Weiber? Heran an die Spritze; die Thür muß frei werden! Wer weiß, in welcher Stube die Mühlbacherin schläft?«

Keine Antwort, ausgenommen ein dumpfes Gemurr.

»Wir kümmern uns den Kuckuck darum, wo die Hexe schläft,« sagte es endlich.

»Huberin!« rief der Schulze – »wo ist die Huberin?«

Ein Weib in Unterrock und blauer Jacke über dem Hemd drängte sich heraus.

»Wenn du weißt, daß die Mühlbacherin krank war, mußt du auch wissen, wo sie schläft.«

»In der Stube neben der Diele. Die Mühlbacherin thut keinem was; ich kenne sie die zwei Jahre und habe nichts von Hexerei gemerkt. Sie hat ihre Not gehabt, seit ihr Mann Soldat geworden ist.«

In diesem Augenblick entstand auf der Seite nach dem Walde hin eine Bewegung unter den Leuten. Die Köpfe wandten sich dorthin und die Frage: »Was ist los?« ertönte. Indessen griff der Schulze mit ein paar Männern an den Schwengel der Spritze und begann zu pumpen. Zischend und klatschend fuhr der von der Glut feurig glänzende Strahl in die Thüröffnung; Funken prasselten auf, dann quoll eine dicke weiße Wasserdampfwolke hervor und verhüllte die Wirkung.

»Halt! halt!« rief es.

»Die Wurzelgrete, die alte Hexe!«

An der Spritze stellte man, durch die Zurufe aufmerksam geworden, die Arbeit ein.

»Sprich den Feuersegen, Alte!« schrie die rohe Stimme von vorhin wieder. »Da thätst du mal was Gutes.«

Aus der Bewegung, welche die Aufmerksamkeit der Zuschauer gefesselt, hatte sich eine Gasse gebildet, die den Weg für eine unheimliche Erscheinung frei ließ. Ein altes Weib, das hexenhaft magere Gesicht von der Aufregung verzerrt, das graue Haar halb aufgelöst wie Schlangen um den Kopf fliegend, barfuß, nur mit einem Hemd und Unterrock bekleidet, rannte daher, unbekümmert um die neugierigen, spöttischen, scheuen Gesichter rechts und links, keuchend, die Augen unverwandt auf das Feuer gerichtet, daß sie vom Widerschein selbst in Flammen zu stehen schienen. Alles machte ihr Platz – ungehindert gelangte sie bis an die Thür, von welcher die Dampfwolke verflogen war.

»Draußen bleiben! Bist du des Kuckucks, Alte?« rief der Schulze. »Faßt den Schwengel an! – sie darf nicht hinein. Sie kommt um drinnen.«

»Spritzt ihr eine Ladung Wasser über, daß sie wenigstens nicht so rasch ansengt!« sagte ein Mann.

In der That setzte sich der Schwengel in Bewegung – die Alte war in der Thür verschwunden, eine neue Dampfwolke entzog sie den Blicken.

Da ertönte ein Schrei aus hundert Kehlen – der Dachstuhl stürzte zusammen, Sparren, Balkenreste, Strohfragmente stoben auf den grell erleuchteten Weg; ein Funkenregen fiel bis auf die Wiese herüber, wo die Spritze hielt und die Menschen sich drängten, fiel auf das Nachbarhaus – man richtete schnell die Spritze dorthin und übergoß das Dach mit einem Platzregen.

»Die Alte kommt nicht lebendig heraus. Es ist gar nicht daran zu denken.«

»Eh, so laßt brennen und die Alte mit, wenn sie doch darauf besteht! Es ist ein Glück, daß wir eine schöne Nacht haben und wenigstens für das Dorf nicht viel Gefahr ist.«

Der Schulze stand stirnrunzelnd an der Spritze.

»Es ist nichts zu machen. Ich kann niemandem zumuten, in das Haus zu gehen. Wenn es nicht die dicken Lehmwände hätte, könnte man wohl eine umschlagen – aber was ist das? – den Schlauch her! –«

Seine Worte erstickten in dem Geschrei der Zuschauer.

Aus der Thür stürzte mit brennendem Rocke und völlig versengtem Haar die Wurzelgrete, einen Gegenstand in den Armen haltend. Bereits hatte der Schulze den Schlauch nach ihr gerichtet.

»Schwach pumpen!«

Ein Wasserstrom schoß hinter der Alten drein, welche den Weg zurücknahm, den sie gekommen, indes die Menge ihr schreiend und kreischend auswich. Sie stolperte, als sie das Wasser traf – aber es löschte die Flammen an ihr und sie war bald genug aus dem Bereich des Strahls und entschwand im Dunkel der Chaussee.

Hinter ihr blieb die Zerstörung, das Knistern und Prasseln und Lodern, die Aufregung und die Neugier.

»Das Feuer mag sie schön zugerichtet haben.«

»Sie quacksalbert ja und wird schon Mittel haben, sich den Schmerz zu vertreiben und die Wunden zu heilen. Ich wette, es ist mehr als einer unter uns, dem sie geholfen hat.«

»Was hatte sie im Arm?«

»Das Kind der Mühlbacherin.«

Wie an einer Zündschnur lief diese Mitteilung durch die Gruppe.

»Ach, daß Gott erbarm, dann ist die Mühlbacherin tot!«

»Sie wird erstickt sein.«

»Vielleicht ist das Feuer bei ihrem Bett ausgekommen.«

»Dann wäre es aber ein Wunder, daß das Kind noch lebte.«

»Lebte es denn wirklich?«

»Das muß doch wohl so sein, sonst hätte es die Alte wahrscheinlich nicht mitgenommen.«

»Das arme Würmchen!«

Das Feuer fiel bereits in sich zusammen, der Platz wurde dunkler. Die Spritzen der Nachbardörfer langten an und fuhren nach kurzer Beratung wieder ab. Die Menge löste sich auf und begann heimzukehren; der Schulze ging ebenfalls, nachdem er die Wachtposten bestellt.

Nun war es still, bis auf die paar Männer, welche neben der Spritze saßen und plauderten, das Knistern in der Ruine und das zeitweise Auffahren einer Flammenzunge, welche über den geschwärzten Lehmmauern emporleckte.

Die Wurzelgrete hatte bald hinter dem Dorfe die Chaussee verlassen und einen Waldweg eingeschlagen. Im Walde lag Finsternis, denn der Himmel war völlig von Wolken verhüllt – nur wer so vertraut mit dem Wege war, wie die alte Frau, konnte so sicher wie sie die Krümmungen gehen, die Unebenheiten überwinden. Bald eben, bald ansteigend führte der Pfad tiefer und tiefer in den Hochwald.

Die Wurzelgrete stöhnte dann und wann wie in heftigem Schmerz auf; doch mußte diesem alten, scheinbar verwitterten Körper eine große Zähigkeit und Lebenskraft innewohnen, denn nur wenn es steiler bergauf ging, hielt sie mit dem kurzen Trott, den sie eingeschlagen, an und schritt langsamer und hörbar keuchend.

So verfloß wohl eine halbe Stunde – da blinkte ein schwaches Licht vor ihr. Sie bog von dem Wege ab, der rechts in eine Chaussee lenkte, und stieg über eine kahle Lehne aufwärts. Ein dunkles Gewirr von Formen, das eine Hütte andeutete, ward sichtbar; sie lag an einer steilen Böschung, über welcher der Wald sich mit riesigen Bäumen hinzog. Rechts gackerten Gänse in der Dunkelheit.

Jetzt öffnete die Alte eine Thür und trat in einen kleinen Raum, den eine im Fenster stehende Küchenlampe erhellte. Ein Bett mit dunkelgeblümtem Kattunüberzug, ein roher Tisch und zwei ebensolche Stühle, ein niedriger eiserner Kanonenofen, ganz verrostet, eine Lade, ein paar Körbe mit Grün gefüllt, an der nackten Lehmwand ein Bildchen in dünnem Goldrahmen, ein goldenes Kruzifix darstellend – rechts eine Bretterwand mit einer schmalen Thür, das war alles, was zu sehen war. Ein scharfer Duft, aus den Gerüchen von allerlei Kräutern gemischt, füllte den Raum.

Die Wurzelgrete legte das kleine Geschöpf vom Arme auf das Bett. Es fing an zu schreien. Sie ging hinaus und kam nach einiger Zeit mit einem Blechbecher voll Milch wieder, aus dem sie dem schwarzhaarigen, kaum einjährigen Ding zu trinken gab, worauf es sich beruhigte und einschlief. Dabei wackelte das spitze Kinn der Alten unablässig mit nervösem Zucken, und blinzelten die kleinen schwarzen Augen über der scharfen Habichtsnase. Man konnte nicht sagen, ob sich Ingrimm oder Schmerz in diesem häßlichen, hagern Gesicht verbiß, vielleicht beides.

Sehr häßlich, in der That, sah die Wurzelgrete aus, mit dem verbrannten Haar, das so wüst an dem kleinen Kopfe hing, mit dem Hemd und Rock voll Brandlöcher und Fetzen –

Plötzlich knickte sie zusammen.

Sie faßte im Fallen die Bettwand und hielt sich, daß sie nicht so schwer fiel. Da saß sie und wand sich eine Weile vor Schmerz, stöhnend und wimmernd, ein Anblick zum Erbarmen.

Erst nach einer ziemlichen Weile raffte sie sich wieder auf und schleppte sich, halb knieend, halb kriechend, zu der Thür in dem Bretterverschlag. In dem braunfinstern Loche dahinter, welches ein paar aus Ritzen fallende Lichtstreifen durchspielten, richtete sie sich mühsam empor, um einen Gegenstand von einem Wandbrett herabzuholen. In der Stube – wenn die kellerartige Räumlichkeit diesen Namen verdiente – öffnete sie ihn: eine Blechbüchse, welche eine Salbe enthielt, und begann sich die Füße zu salben; weiterhin, sich entkleidend, eine Körperstelle nach der andern, welche durch das Feuer verletzt worden war. Immer wieder stöhnte und wimmerte sie dazwischen; ein paarmal schlugen ihr die zahnlosen Kinnladen wie im Fieber gegeneinander.

Nun erst schloß sie die Lade auf, nahm Leinwand heraus, die sie in Fetzen zerriß und da und dort umwickelte – eine mühselige Arbeit. Später, wieder angekleidet, lag sie eine Weile vor dem Christusbild im Goldrahmen auf den Knieen.

Im Fenster flackerte das Oellämpchen; auf dem Schindeldache oben lief etwas hin und wieder und sprang endlich auf die Erde. Eine Katze hob draußen vor der Thür kläglich zu miauen an. Die Wurzelgrete aber rührte sich nicht und bewegte nur die Lippen.

2. In der Waldhütte.

Die Wurzelgrete bewohnte seit zwei Jahrzehnten die Waldhütte.

Ein Kräutersammler hatte diese vor langer Zeit für sich erbaut und war darin gestorben. Dann hatte sie manches Jahr leer gestanden, in Regen und Schnee dem Verfall anheimgegeben. Doch ging dieser Verfall langsam vor sich. Der Erbauer hatte den lehmigen Abhang zu einer glatten Wand abgestochen und den Abtrag benutzt, um die drei andern Mauern herzustellen: wie die Nässe auch wusch, so rasch ließen sich die Lehmwände doch nicht zu Brei herunterspülen. Die Schindeln des schräg abfallenden Daches vermorschten zwar etwas, aber je dicker das Moos darüber wucherte, desto besser fing es die Feuchtigkeit ab und desto größer sog sich's an ihr. Einmal hatten sich Holzschläger in der Hütte für die Dauer der Arbeit heimisch gemacht und dieselbe ein wenig repariert.

Dann war die Wurzelgrete mit ihrer Enkelin, der nachmaligen Mühlbacherin, hineingekommen. Woher? das wußte niemand, außer vielleicht dem Oberförster, bei welchem sie sich die Erlaubnis zum Bewohnen der Hütte geholt. Sie suchte Kräuter und verkaufte sie an einen wandernden Händler, welcher im Dienst eines Droguisten regelmäßig Mitte und Ende Sommers kam und ihre Vorräte gegen Geld oder Tauschware in Empfang nahm. Sie braute über dem Kanonenöfchen, dessen Decke sich abnehmen ließ, außer ihrer Nahrung allerlei Heilmittel, mit denen sie half, wenn jemand sie darum ansprach – ein heimliches Geschäft; denn die Leute glaubten thörichterweise an irgend einen besonderen Zaubersegen, welcher dabei die Hauptsache sei, und scheuten sich, öffentlich einen Gang zu der »Hexe« zu thun, als welche die Wurzelgrete sofort nach ihrem Einzug verschrieen war. So machte sie denn auch der Aberglaube im Dorfe bald für allerlei Uebel verantwortlich, die den oder jenen trafen, und es fehlte nicht an Roheiten, welche ihr dieserhalb zugefügt wurden, mündlich und thätlich. Einmal hätten ihr ein paar aufgeregte Burschen das Haus zerstört, wenn sie nicht, in einem Arm ihren schwarzen Kater, vor sie hingetreten wäre und, mit wunderlichen Handbewegungen einen Topf voll qualmenden, entsetzlich riechenden Gewürzes schwenkend, ihnen selber den Glauben erweckt hätte, sie drohe mit gefährlichem Zauber. Unter Schelten und Toben hatten sie sich rasch entfernt.

Sie hatte das Kind zu einem schönen Mädchen groß gezogen. Daß es jemand heiraten könne, dazu war bei dem Ruf der Alten nicht die mindeste Aussicht gewesen, wie gern auch die verschiedenen Jäger, welche nacheinander das Revier zu beaufsichtigen bekamen und alle von Zeit zu Zeit bei der Hütte vorsprachen, um sich von dem guten Würzschnaps der Wurzelgrete einschenken zu lassen, mit der schwarzhaarigen Martha scherzten.

Dennoch kam es, daß sich ein Bewerber fand, der außerdem ein hübscher stattlicher Bursche war, wenn er gleich sonst nichts taugte. Es war der Mühlbacher, der Erbe eines verschuldeten Gütchens im Dorfe, das er verkauft hatte, um den Rest der Erbschaft in dem als Unterkunft zurückbehaltenen Tagelöhnerhause am Ende des Dorfes zu verjubeln. Er hatte freilich wohl das schöne Mädchen gern, wie dieses ihn – die Hauptsache war für ihn bei der Bewerbung doch, daß er sich einbildete, die Wurzelgrete verwahre heimlich einen Schatz, welcher Glaube im Dorfe ziemlich verbreitet war.

Die Wurzelgrete geriet zwar außer sich über die Werbung, und als ihr Enkelkind die Heirat erzwang, gab sie jede Verbindung mit der neuen Mühlbacherin auf und vergrub sich tief in den Groll und die Verbitterung, welche die Gegenwart des Mädchens bisher von ihr fern gehalten. Erst als das Vorhergeahnte geschah und der Mühlbacher, nachdem er seine Frau schwer genug die Täuschung wegen des erwarteten Goldregens hatte empfinden lassen, eines Nachts sie und ihr kaum geborenes Töchterchen verlassen hatte, um unter die Soldaten zu gehen, näherte sie sich der Armen, welche die Versöhnung doppelt willkommen hieß, da sie im Orte von Anfang an wie verfemt gelebt hatte. Zwei oder drei Frauen, die mit ihr verkehrten, behandelten diesen Umgang wie ein lichtscheues Unrecht – sie stammte eben aus der Waldhütte, sie war nach der Ansicht der Leute wenigstens eine halbe Hexe, wenn die Wurzelgrete eine ganze war.

Die Wurzelgrete besuchte ihre Enkelin, stand ihr mit Rat und That bei, bereitete ihr Medizin, als sie schwer krank wurde – da kam jene furchtbare Nacht, welche der hilflosen Kranken das Leben kostete.

Wie das Feuer entstanden, blieb ein Geheimnis.

In der Waldhütte aber hauste nun die Wurzelgrete wieder mit einem Kinde, wie einst. Ihre Wunden heilten – sie konnte sich auf ihre Salbe verlassen. Aber die inneren Wunden, welche das Ereignis ihr geschlagen, blieben offen, und alles, was sie seither von den Menschen ertragen an Mißtrauen, Verachtung, Mißhandlung und Spott, wurde in ihrer Erinnerung lebendig und peitschte in die Wunden und vergallte und verbitterte die Wurzelgrete, daß sie von da ab ganz menschenscheu ward. Auch die Gegenwart des Kindes konnte daran nichts ändern. War die Mutter der kleinen Trude einst wie der Sonnenschein für die Alte gewesen, welcher sie für die ganze Welt erwärmt hatte und nicht zuließ, daß die Dummheit der Menschen sie länger als ein paar Tage in Aufregung versetzte, so trug der Anblick des kleinen Dinges eher dazu bei, sie grämlicher und feindseliger zu stimmen, indem es sie beständig daran erinnerte, was am Ende aus ihrem einstigen Glück geworden war, und ihr die Furcht nahe legte, mit der Trude könne sie dasselbe Unglück wie mit deren Mutter haben.

Ja, nach einiger Zeit setzte sich der Glaube, auch die Trude werde von Unglück bedroht und es laure nur auf die Zeit, daß sie herangewachsen sei, um die Klauen nach ihr auszustrecken, als ein Wahn in ihr fest. Sie war überzeugt, das Kind würde ebenso eigenwillig, blind und undankbar werden, wie die Mutter es gewesen. War Trude doch jetzt schon keines jener heiteren, lachenden Kinder, die wie eine lebendige Aufforderung zum Spielen und Scherzen das Glück ihrer Umgebung erhöhen. Der kleine Mund war fast immer ernst, die schwarzen Augen in dem nie sehr blühenden Gesichtchen hatten einen finsteren Zug über sich, und als sich derselbe verwuchs, blieb der Blick still, fremd, scheu.

Die Wurzelgrete that auch nicht das mindeste, um das Kind lebendig zu machen und anzuregen. Sie kümmerte sich nur insofern um dasselbe, als sie ihm zu essen und zu trinken gab, es wusch und an- und auszog. Ehe sie auf die Kräutersuche ging, breitete sie ihr Deckbett auf dem festgestampften Erdreich des Fußbodens aus und legte die kleine Trude darauf; als das Kind laufen konnte und von ihr bei der Heimkehr einmal durch einen Fall arg verletzt vorgefunden worden, nahm sie's in einem Tuche auf dem Rücken mit und ließ es in der Gegend herumkrabbeln, wo sie pflückte und grub. Sie sprach wenig mit ihm, das Kind fragte wenig, lernte darum spät erst reden und drückte sich ungelenk aus. Doch zeigte Trude, daß sie nicht ohne Interesse am Sprechen war: wenn ein einkehrender Jäger die Wurzelgrete zum Reden brachte, oder wenn sie mit dem Sammler verhandelte, so schob sich Trude sachte herzu und horchte auf die Worte, als wäre das Gespräch eine Art Konzert und ein Extragenuß für sie. Nur wenn man dann auf sie achtete, sie etwa gar anredete, so war der Zauber gebrochen; ihr hübsches Kindergesichtchen bekam einen mürrischen Ausdruck, sie zog sich aus der Nähe, um plötzlich davon zu springen, als solle ihr das Schlimmste geschehen.

Sie lernte weder lesen noch schreiben noch sonst etwas, ausgenommen das Vaterunser und die Namen von allerlei Kraut und Wurzelwerk, das sie allmählich neben der Urgroßmutter zu sammeln sich gewöhnte. Mit dem achten Jahre kannte sie die Standplätze der Ware so genau wie die Wurzelgrete – das war aber auch alles. Sie sah im Dorfe, wenn sie mit hinunter genommen ward, Kinder – allein sie hatte nie das Verlangen, mit ihnen zu spielen. Als es sich ein paarmal ereignete, daß sie im Walde auf Beeren suchende Kinder stieß, welche sie ansprachen, entsprang sie, und die Kinder, welche ihr nachliefen, drehten eiligst um, sobald sie die Wurzelgrete gewahr wurden und merkten, daß sie es mit der »Waldtrude« zu thun hatten.

Sie spielte wenig, eigentlich nur im Winter, und auf ihre besondere Art. Eine Zeitlang vergnügte sie ausschließlich eine Holzpuppe ohne Beine, welche Erbsen im Leibe hatte. Diese Erbsen klapperten, und sie konnte die rotlackierte Madame stundenlang am Ohr haben und auf die verschiedenste Art klappern lassen – sie verfolgte den Lauf jeder einzelnen Erbse und glaubte zuletzt, alle voneinander am Klang unterscheiden zu können. Einen Winter kochte sie wie die Urgroßmutter auf dem Kanonenöfchen. Sie hatte nichts dazu als ein irdenes Töpfchen, dessen Henkel merkwürdigerweise ganz blieb, wie sie denn von klein auf eine geschickte Hand zeigte – außerdem einige abgefallene Blätter. Jeden Tag kochte sie eine andre Art Blätter, bis sie wieder von vorn anfing. Dann wieder zeichnete sie auf einer Schiefertafel – nichts als das, einen ganzen Winter lang. Höchstens hätte sie noch mit dem Kater spielen können; der Mäuse halber, welche in der Berglehne wohnten und immer Lust hatten, die Waldhütte mit in den Bereich ihrer Häuslichkeit zu ziehen, hielt die Wurzelgrete beständig einen solchen. Allein der jetzige war ein fetter alter Herr, mit dem sich nicht viel anfangen ließ.

Im Sommer trieb sich derselbe tagelang im Walde auf den Bäumen umher und fing Vögel. Trude aber, wenn sie nicht mit der Alten im Walde streifte, lag bei der Ziege im Grase und träumte, bis irgend etwas ihre Aufmerksamkeit erregte, eine Grille, ein fliegender Vogel oder sonst ein Getier. Nie fiel es ihr ein, mit raschen Füßen etwas Lebendiges zu verfolgen; nur mit den großen unverwandten Augen that sie es. Und doch war sie nicht bequem und träge oder ungelenk; es war etwas Gemessenes und Abgeschlossenes in ihrem Wesen, wie eine Scheu vor der Berührung mit den Dingen der Welt.

Acht Jahre mochte sie alt sein, da trat sie eines Abends aus dem Walde. Es war ein schöner Sommerabend, der Himmel grünblau mit Rosenwölkchen, der Grund voll Wald- und Heuduft. Die Hütte drüben lehnte so traulich an der Böschung, blauer Rauch stieg aus dem Schornstein und zog zwischen die Stämme in die schwarze Waldfinsternis. Auf der Halde, um welche sich die Chaussee hinunterwand, graste die Ziege und leuchtete das Gefieder der Gänse aus dem Lattenverschlag. Da – da kam der Kater Titi vom Walde herab, kroch über das Dach und sprang auf den Boden; mit ihren scharfen Augen sah sie alles deutlich genug.

Sie selber sprang auf die Halde nieder und lief, die Ziege vom Pflock zu lösen. Nun stand sie und atmete tief und sah sich um und fühlte wonnig den Waldfrieden und die quellfrische Luft. Eine halbe Minute später war sie mit der Ziege bei der Hütte.

Hier stutzte sie. In der Hütte wurde gesprochen – eine Männerstimme, welche etwas Rohes und Polterndes hatte und dem Mädchen völlig unbekannt war, dazwischen die heftig erregte Stimme der Wurzelgrete, so schneidend und zornig, wie sie dieselbe nie vernommen.

Sie schritt nachdenklich zur Seite, um die Ziege anzubinden und zu melken, und überlegte dann mit dem Topf in der Hand, ob sie eintreten oder lieber draußen warten sollte, bis der Mann fortging.

Sie wählte das Warten und saß eine Weile auf einem Stein, den verworrenen Reden lauschend.

Allein der Mann ging nicht fort.

Endlich öffnete sich die Thür der Hütte – die Wurzelgrete spähte in die Runde und rief: »Trude!« Im nämlichen Augenblick trat diese vor. Die Alte schritt ihr hastig entgegen, indem sie eine abwehrende Bewegung machte; ihr Gesicht war finster und unruhig. »Geh fort!« sagte sie. »Es ist jemand da, und der braucht dich nicht zu sehen!«

Sie nahm den Milchtopf. Als sie sich umwandte, stand ein Mann vor der Thür und verzog das Gesicht zu einem Lächeln, welches eher ein Grinsen war.

»He,« rief er, »das ist ja wohl das Puttchen.«

Sein Aeußeres war das eines Landstreichers. Das Haar hing unordentlich um den bloßen Kopf, das Gesicht war fahl und voll wüster Bartstoppeln. Bekleidet war er mit einem graugrünlichen Rock, welcher auf der Brust ein unsauberes Hemd präsentierte, mit erdfarbenem Beinkleid, das Löcher und Flicken zeigte, und Stiefeln, deren einer die Zehen durchblicken ließ. Ein roher Ausdruck im Gesicht verriet, daß die Verwahrlosung nicht nur eine äußerliche war. Dennoch erschien der Mann stattlich gewachsen und trug sich aufrecht und mit dreister Zuversichtlichkeit.

»Geh in die Stube!« sagte die Wurzelgrete. »Du weißt, was du mir versprochen hast.«

»Oho,« war die Antwort, »ich thu schon, was ich versprochen habe, da sei nur ruhig! Aber ich kann mir doch die Kleine da ein bißchen ansehen.«

Er kam langsam näher.

»Das ist ein hübsches Mädchen geworden; sie hat was von der Martha an sich, auch so was Grätiges. Na, brauchst nicht so böse zu gaffen, Trude! Komm mal her zu mir – du willst nicht? Ich sehe freilich nicht aus, als ob ich bis über die Ohren im Gelde säße und vierspännig angefahren wäre. Aber ich habe dir doch was mitgebracht, ein Bilderbuch, bunt wie ein Stieglitz. Na, komm – komm – wird's bald?«

»Du sollst das Mädchen in Ruhe lassen!« herrschte ihn die Alte an.

»Ach was – ich lasse mir's nicht nehmen, daß ich ihr was zu befehlen habe,« sagte er roh, war mit zwei Schritten bei Trude und umfaßte sie.

Aber er hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht.

Trude stieß einen lauten Schrei aus, in dem sich Zorn, Angst, Abscheu mischten und schlüpfte ihm wie ein Aal zwischen den Armen durch, um windschnell an der Stelle, wo die Ziege stand, vorüber den Abhang zu erklimmen und droben in der Waldnacht zu verschwinden. Der Mann lief hintendrein, allein für die schweren Stiefel und die Ungelenkigkeit eines wuchtigen Männerkörpers war der Abhang zu steil und zu rutschig; er machte fluchend ein paar vergebliche Versuche und stellte dann seine Absicht ein, um wieder zur Wurzelgrete hinüber zu gehen.

»Na, Alte,« sagte er, »ich habe zwar schlecht Wort gehalten, aber die fixe kleine Kröte hat schon selber gesorgt, daß wir nicht näher zusammenkommen. Nun schaff mir wenigstens was zu essen! ich sehe schon, daß ich hier nicht fett werden kann, aber das Magenbellen muß aufhören. – Eh,« stutzte er plötzlich, »auf das Vieh da bin ich nicht verfallen.«

Er trat zu dem Gänseverschlag und warf begehrliche Blicke auf die Tiere.

»Eine hättest schon an mich wenden können, Alte. Wenn die verlorenen Söhne zurückkommen, kriegen sie ja immer was Apartes.«

»Die habe ich nicht für dich gezogen,« war die barsche Antwort. »Hättest du gut gethan, könntest du selber welche im Stall haben.«

Er lachte spöttisch auf.

»Na, wir wollen uns nicht streiten. Wenn ich das Geld kriege, wirft's schon ein paar Gänsebraten ab. Es ist dein Glück, daß du mir's gutwillig gibst. Viel ist's so nicht, und ich wollte den Fleck teurer verkaufen; ich möchte den Pichler selber dafür in die Schere nehmen, ich weiß, es liegt ihm daran, daß er's bekommt – –«

Er murmelte etwas in sich hinein, was nicht zu verstehen war. Jetzt waren sie bei der Hütte angelangt.

»Hör mal, Wurzelgrete, ich will dich nicht in deiner Nachtruhe inkommodieren. Ich sehe, du hast da Heu liegen, und ich habe oft genug unter freiem Himmel geschlafen, wo ich kein Heu unter mir hatte. Ich will was essen und die Sache abmachen, dann lege ich mich hier draußen aufs Ohr.«

»Kannst du noch schreiben?« fragte die Wurzelgrete, welche voll Ingrimm und doch nicht ohne einige Furcht zu sein schien; wenigstens schielte sie beständig mit unruhigen Augen nach dem Manne.

»Wollt' ich meinen,« sagte der, den Kopf aufwerfend.

»Wenn du drinnen schlafen willst, habe ich nichts dagegen. Ich muß doch in den Wald, sowie der Mond aufgeht. Ich muß Kräuter holen.«

»So?« meinte er nachlässig. »Na, meinetwegen denn.«

Die beiden verschwanden in der Hütte.

Trude hatte sich inzwischen in ihrer Angst außer Atem gelaufen – blind in den Wald hinein, ohne sich um eine Richtung zu kümmern. Nach einer Weile hielt sie keuchend inne und lauschte. Sie meinte Schritte zu hören und war mehrmals versucht, die Flucht fortzusetzen. Allein sie gewahrte immer wieder, daß es nur ihr pochendes Herz war, was sie irre führte. Nun stand sie, gegen einen Eichstamm gelehnt, der wohl gut seine dreihundert Jahre zählte, und zerbrach sich den Kopf, wer der Mensch sein möchte, der mit der Großmutter, mit ihr selber so vertraulich und bekannt umging und den sie doch bisher noch nie gesehen. Als sie fand, daß sie darüber doch von sich aus zu keiner Klarheit kommen würde, nahm ihre Sorge eine andre Richtung.

Blieb der Mann in der Hütte? Wie lange? Etwa gar in der Nacht? Auf den Dielen war gerade noch Platz für ihn.

Es wäre schrecklich, wenn sie mit ihm zusammen in der Hütte schlafen müßte. Um keinen Preis. Ein häßlicher Mensch war das! Sie graute sich vor ihm, und wenn sie sich vorstellte, daß er sie hatte in die Arme nehmen wollen, so ging ihr eine Gänsehaut über.

Freilich war es noch nicht vorgekommen, daß sie zur Nacht in der Waldhütte einen Gast beherbergt hätten, das tröstete sie etwas.

Am besten, sie schlich sich unter die Bäume oberhalb der Hütte und wartete dort, nötigenfalls die ganze Nacht hindurch, bis der Mann sich entfernte.

Sie kehrte um, nicht ohne Beben und neues Herzklopfen, wenn sie auf ein knackendes Aestchen trat oder das dürre Laub unter ihr raschelte, und nicht ohne wiederholt anzuhalten und zu lauschen. Endlich kam ihr der Rauch entgegen – nun sah sie auf die Hütte, auf die Halde hinab. Der Himmel war ziemlich hell; der Mond, der von der Richtung aufstieg, wo das Dorf lag, mußte sich bereits aufgemacht haben und ließ es nicht zur vollen Dunkelheit kommen.

Sie kannte hier jeden Schritt, suchte sich einen Baum auf, welcher Graswuchs am Fuße hatte und von dem aus sie sehen konnte, ob wer hüben oder drüben von der Hütte wegging, und setzte sich. Die Nacht war so still, daß sie hören konnte, wie in der Hütte gesprochen wurde; der Fremde hatte eine sehr rohe, starke Stimme, und wenn er redete, war es, als ob er schrie.

Das nächtliche Sitzen selber flößte ihr nicht die mindeste Furcht ein. Das Rascheln der Waldmäuse, die Stimme der Eulen, welche über das Thälchen hinwegkreischten, was sonst sich rührte, knackte, knarrte – das war ihr vertraut.

Aber sie ward müde und hörte das alles auch nur kurze Zeit. Ihrer Gewohnheit nach ging sie sonst mit der Sonne zu Bett und stand mit der Sonne wieder auf, und die Gewohnheit ist ein starker Zwang. Unwiderstehlich drückte es ihr die Augen zu.

Sie sah es nicht mehr, wie der Mond über die Bäume heraufkam; sie gewahrte nichts davon, wie die Wurzelgrete aus der Hütte ging, bis diese plötzlich neben ihr stand und sie am Arm rüttelte.

»Ja, Ahne!« sagte sie schlaftrunken.

Sie war nicht zu ermuntern. Die Alte wollte das Kind mit sich nehmen, aber sie mußte das aufgeben.

Mitten in der Nacht befiel Trude ein schwerer Traum. Es war, als kniete der Fremde neben ihr, und plötzlich legte er ein Knie auf ihre Brust und drückte, daß sie stöhnend nach Atem rang.

Da wachte sie auf. Ihr klopfendes Herz beruhigte sich rasch und sie rieb sich die Augen. Der Mond stand gerade über der Hütte, unter ihr lag es fast tageshell.

Nun stutzte sie; knarrte nicht die Thür der Hütte? Es kam etwas auf das Dach und über das Dach hinaus die Böschung her, manchmal Halt machend und sich umblickend – der Kater Titi.

Und da – vor dem Gänseverschlag stand der Fremde, eine Mütze auf dem Kopfe, einen Stock in der Hand. Ein paar Augenblicke schien er nach der Lattenthür zu suchen; jetzt erfaßte er sie, trat in den Verschlag ein. Die Gänse schliefen; ihr weißes Gefieder leuchtete immer auf derselben Stelle. Jetzt wachte eine auf und schnatterte – aber schon griff der Mann zu ihr hinab und hielt die aufschreiende und zappelnde in der Hand. Die andre irrte mit gespreizten Flügeln angstvoll lärmend zwischen den Latten herum, während der Fremde sie verfolgte, wiederholt vergeblich sich bückend und nach ihr fassend, bis sie plötzlich mit einem Aufschwung über die Latten flog und die Halde hinab verschwand.

Der Enttäuschte sandte ihr zornige Schimpfworte nach, doch gedämpft, daß Trude sie nicht verstehen konnte. Die eine Gans, welche er erwischt hatte, war jetzt stumm; eine kurze Pause, dann ging der Mann schwerfälligen Schrittes an der Hütte vorbei und stieg den Pfad hinunter auf die Chaussee, worauf er sich in dem Waldwege, nach dem Dorfe zu, zwischen die Bäume verlor.

Trude war voll schläfriger Entrüstung. Es dämmerte ihr, daß die Wurzelgrete an ihr vorübergegangen und wohl im Walde war – sie hatte dem Manne sicher nicht das Recht gegeben, sich dort eine der Gänse zu nehmen und die andre zu verjagen. Nein, was würde die Ahne sagen – und ob wohl die andre Gans wieder eingefangen wurde – und ein Spitzbube war er, dieser Mensch – und ob sie wohl nun wagen dürfte, in die Hütte zu gehen, und – und – –

Damit war die Waldtrude wieder eingeschlafen.

Die Ziege drunten, welche unruhig am Strick sprang, besänftigte sich, der Kater kam herauf und legte sich neben die Schlafende.

Bei der Hütte war's wieder waldstill.

3. Verlassen.

Am Morgen nach jener Nacht hatte die Wurzelgrete ihr Urenkelkind geweckt. Kaum daß Trude sich den Schlaf aus den Augen gerieben, da fiel ihr ein, was sie mit angesehen, und voll Zorn und Entsetzen erzählte sie es.

Die Wurzelgrete hatte bereits den Schaden bemerkt – sie kam von unten herauf – und ihr Gesicht war darum so fahl und verkniffen, daß es unschön aussah zum Fürchten.

»Eine Gans ist davongeflogen?« fragte sie heiser.

»Ja, da hinunter auf den Weg.«

»So komm suchen!«

Eine Viertelstunde weit fanden sie die Gans, bei einer Quelle an der Chaussee im Grase rupfend, und hatten Mühe, sie einzufangen.

Der Ingrimm mußte der Wurzelgrete arg zugesetzt haben, denn von selbigem Tage ab war sie bettlägerig. Sie hatte keinen Appetit mehr; fast nur ihren Cichorienkaffee und eine Kräuterabkochung, welche Trude ihr auf dem Oefchen nach ihrer Angabe bereiten mußte, nahm sie zu sich.

Sie ward schwächer und schwächer. Anfälle von Würgen kamen, und wenn sie vorüber waren, lag die Wurzelgrete ein paar Stunden lang wie leblos. Das Kind hatte bald dies, bald das zu thun und kam selten in das Freie hinaus; kaum daß es wagte, sich ein paar Minuten zur Ziege in das Gras zu setzen und frische Luft zu schöpfen, besonders wenn es sie früh auf der Halde anpflöcken ging, oder auch des Abends, wenn es sie heimholte.

Trude hatte auch nicht die alte unbekümmerte Lust mehr an Morgensonne, Nebel, blauen Schatten und Taublinken, wenn sie da saß, barfüßig, in Hemd und verbrauchtem Röckchen, wie sie das gewöhnt war. Die Krankheit der Ahne bedrückte sie, unverständliche Ahnungen gingen wie Wolkenschatten über ihre Seele. Nach kurzem Sitzen überkam sie's, als bedürfe die Kranke ihrer, und dann sprang sie auf und lief fort, daß die Ziege vor Schreck meckernd im Kreise um den Pflock sprang, oder, wenn sie losgebunden war, ihr kaum folgen konnte.

Eine heimliche Angst wenigstens rechtfertigte sich nicht: die, daß der Fremde plötzlich wieder erscheinen könnte. Er war und blieb unsichtbar.

»Wer war denn der Mann, Ahne?« hatte sie gefragt.

»Laß dich das nicht kümmern!« war die Antwort gewesen, so rauh gegeben, daß Trude nun wußte, der Mann werde ein Geheimnis für sie bleiben.

Die Wurzelgrete hatte dem Kinde nie etwas von seiner Herkunft, seinen Eltern, dem Schicksal der Familie gesagt. Die Begriffe »Eltern«, »Vater« und »Mutter« blieben dem Mädchen überhaupt völlig fremd. Trude wußte nur, daß sie auf der Welt war und daß sie eine »Ahne« hatte, nämlich die Wurzelgrete, bei der sie lebte.

Diese trug ihr Leiden keineswegs geduldig. Sie war von Haus aus eine heftige alte Frau, und es mochte mit ihrem Leiden selber zusammenhängen, daß sie noch heftiger und bitterer war als sonst. Gegen ihre Gewohnheit sprach sie viel, oder vielmehr sie räsonnierte vor sich hin; gewöhnlich schalt sie zuerst ungeduldig auf Trude, daß dem Kinde das Weinen näher war als das Lachen, bis das gequälte Mädchen, welches sich alle Mühe gab, es der Alten recht zu machen, zuletzt aufgeregt und reizbar wurde und wohl selber aufbegehrte – dann fing die Wurzelgrete zu jammern an über die Undankbarkeit der Welt, über die Schlechtigkeit der Menschen, über das Elend des Lebens, ein Gespinst von Klagen, das sich schier endlos hinspann, bis sie müde wurde und in Murmeln und Aechzen allmählich verstummte.

Die Trude kauerte dann irgendwo, das schwarze krause Haar wirr in die Stirn niederhängend, die Brauen tief in die Augen gezogen, halb trotzig, halb weinerlich den Mund zusammenpressend, und hörte mit widerwilligem Ohre zu; es war alles so grau und verdrießlich um sie, trotz des einfallenden Sonnenscheins und der raschelnden Fliegen, welche an den blinden Fensterscheiben lustig auf und ab tanzten und sich selber die Musik dazu machten. Oder wären sie auch lieber draußen gewesen, wie Trude, und ihr Sumsen bedeutete den Aerger darüber, daß es nicht anging?

Und nachher dauerte die Ahne das Kind wieder, wenn sie in bösen Anfällen stöhnte und im Husten ersticken zu wollen schien und würgte, daß es jämmerlich anzusehen war. Trude gab dann keine guten Worte, aber sie kam und hielt der Wurzelgrete die Stirn, und ihre Augen wurden voll Mitleid und Angst.

Wenn sie Ruhe hatte, ging ihr durch den Kopf, was die Kranke über die Welt wehklagte und in Verbitterung hinwarf. Die Welt? Sie wußte nicht recht, was die Welt war. Der Wald jedenfalls nicht, denn da war es still und friedlich; im Winter lag es weiß und kahl, und im Sommer trieb es stilllustig mit Grün und Blumen und kribbelte, flog und sang. Sturm, Regen und Gewitter gab es wohl auch, und vergnüglich war das gewiß nicht, aber auch nicht, um darüber zu jammern und sich darum wegzuwünschen. Wohin? In den Himmel, von dem im Vaterunser die Rede war. Den Himmel kannte sie nicht. Ein Vater sollte darin sein, den sie auch nicht kannte.

Außer dem Walde war da noch das Dorf im Thale mit den Menschen darin. Ob diese Menschen »in der Welt« waren, oder gar die Welt ausmachten? Ob etwa sie schlecht, mißgünstig, herzlos, boshaft waren, daß man am besten that, sich vor ihnen in acht zu nehmen, so weit wie möglich sich vor ihnen zu verbergen? Wahrscheinlich; hatte Trude selber doch, so oft sie mit Dörflern zusammenstieß, Angst empfunden, daß sie aus ihren Blicken gelaufen war, und um alles nicht hätte sie ohne den Schutz der Wurzelgrete das Dorf betreten.

Ob der Mann, welcher in jener Nacht die Gans gestohlen, aus dem Dorfe stammte, oder gab es noch mehr Welt? Er gehörte sicher zu den Menschen, vor denen man sich hüten mußte, welche schlecht und boshaft waren. Sie empfand ein unsagbares Grauen, wenn sie an ihn dachte, sich vorstellte, daß sie wieder mit ihm zusammentreffen könnte. Vielleicht lebte er irgendwo mit einer Menge andrer Leute zusammen, welche ihm glichen, und das war dann die richtige Welt.

Wie ein Donnerschlag traf es Trude, als die Wurzelgrete eines Tages ihr in Aussicht stellte, sie solle mit dieser Welt zusammenkommen, in ihr leben. Ja, weshalb denn? Weshalb nicht im Walde bleiben?

»Wenn ich sterbe,« sagte die Wurzelgrete.

»Sterben?«

»Ja, dann bin ich nicht mehr da.«

»Wo bist du dann?«

»Im Himmel – unter der Erde – was weiß ich!«

Unbegreifliche Reden! Trude wurde ganz wirr im Kopfe davon. Sie hatte acht Jahre hindurch nicht so viel Neues und Unfaßbares gehört, wie jetzt in zwei Wochen.

Was würde geschehen? Warum blieb die Ahne nicht? Freilich, sie war krank und hatte Schmerzen; vielleicht daß sie dieser anderswo ledig werden konnte; allein warum durfte sie, die Trude, nicht mit ihr gehen oder wenigstens hier im Walde bleiben?

»Du bist noch jung und gesund – deine Zeit zu sterben ist noch nicht. Und im Walde bleiben kannst du nicht, die Menschen lassen dich nicht hier allein. Aber nun höre auf damit! du wirst schon alles erfahren, wenn's da ist.«

»Warum lassen sie mich nicht allein?« fragte Trude hartnäckig.

»Du bist noch zu jung dazu.«

»Kann ich nicht älter werden, so wie du?«

»Geht nicht.«

»Warum nicht?«

»Du mußt erst viele, viele Tage noch erleben, ehe du alt wirst.«

»Ich will aber nicht zu den Leuten.«

»Sie werden dir kein gut Wort darum geben; da heißt's: Marsch, vorwärts ins Waisenhaus oder zu irgend einem, der schon auf deine paar Groschen hungert. Au, au – –«

Nun kam wieder ein Anfall, daß die Wurzelgrete fast erstickte. Diesen Tag über war mit ihr nicht mehr zu reden.

Am Abend sprach ein Jäger vor, der ins Dorf hinunterging. Er war erstaunt, die Wurzelgrete krank zu finden, und setzte sich eine Viertelstunde zu ihr. Trude sollte ihm die Hand reichen, aber sie drückte sich scheu in einen Winkel und kehrte sich nach der Wand um.

»Immer noch nichts mit ihr anzufangen!« lachte der Jäger, ein munterer, nicht mehr junger Mann mit braunem, gutmütigem Gesicht und starkem Schnauzbart. »Na, ehe wir zwei Hochzeit machen, mußt du dich noch sehr ändern.«

Das war nun so eine Rede, wie er sie immer führte, wenn er zur Hütte kam und Trude traf, was aber höchstens alle Vierteljahre einmal sich ereignete. Sie begriff nicht, was er sagte; allein sie wußte, daß sie vor diesem Manne am wenigsten Widerwillen empfand. Er gehörte ja auch zum Walde.

»Ich denke, Ihr seid das ewige Leben, Grete. Was macht Ihr für Dummheiten?«

»Es geht schlecht, Herr Kienitz. Es hat mich was befallen, das gibt mir den Rest. Wenn Sie mir was Gutes thun wollen, so gehen Sie und schicken mir den Pichler herauf. Ich wollt's richtig mit ihm machen – er weiß schon, was es ist.«

»Soll ich nicht den Schulzen oder den Pfarrer schicken, oder beide?«

»Mit dem Schulzen will ich nichts zu thun haben; er hat die Marthe auch brennen lassen, und der Pfarrer hat's zu weit; ja wenn er drunten im Dorfe selber wohnte! Au – nun sehen Sie, Herr Kienitz, die Schmerzen – –«

Sie wurde schwach und legte sich zurück. Der Jäger sah sie mitleidig an und wollte gehen. Aber die Wurzelgrete raffte sich auf und rief ihn zurück:

»Ach, Herr Kienitz, wenn mir was passieren sollte und Sie hören's: das Kind erbt alles – da unter dem Stein vorm Ofen liegt's; ich leg noch was hin, wenn der Pichler dagewesen ist. Sie sagen dem, daß er kommt – gewiß?«

»Natürlich – und gute Besserung! Schade, daß ich auf dem Heimweg hinter dem Dorf herum muß. Na, wir sehen uns wohl doch bald wieder, ich habe jetzt Holzschläger hier oben.«

Am andern Morgen kam Pichler, ein langer und starker Bauer mit struppigen Augenbrauen und hohlen Backen. Er hatte eine große schwarzseidene Schirmmütze auf dem Kopfe, was wohl etwas Besonderes vorstellen sollte, da sie sonst in der Gegend nicht üblich war.

Er fragte gar nicht nach der Krankheit, sondern hob gleich mit rauher Miene an:

»Du hast mich herauf bestellt, Alte, ich sollte die Sache mit dir richtig machen. Aber was ist da richtig zu machen? Den Fleck mit dem Brandverfall habe ich neulich vom Mühlbacher selber gekauft, vor Schulzen und Zeugen. Der Lump, der Mühlbacher, konnte den Hals nicht voll kriegen – na, was ist's?«

Die Wurzelgrete hatte sich halben Leibes emporgerichtet und starrte den Bauer mit weit aufgerissenen Augen unheimlich an, daß dieser in seiner Rede irre wurde.

»Der Mühlbacher hat Euch das Stück Boden verkauft? Dasselbe Stück, auf dem meine Tochter verbrannt ist?«

»Jawohl.«

»Und Ihr habt ihm das Geld gegeben?«

»Bei Heller und Pfennig.«

Die Alte fuhr sich über das Gesicht mit der Hand, als ob es im Kopfe nicht richtig mit ihr sei, und ihre Gesichtsfarbe war plötzlich aschgrau geworden.

»Das ist – das ist –« stotterte sie, und dann kreischte sie: »Geht einmal an den Ofen, Bauer, und hebt den Stein davor auf, und dann gebt mir das Papier, das zu oberst liegt!«

Der Pichler aber sagte steif:

»Warum? Was geht mich dein Papier an? Ich habe mein Geld bezahlt und habe mein Grundstück, auf weiter lasse ich mich nicht ein.«

»Trude, das Papier, das Papier!« ächzte die Alte, »das oberste.«

Das Kind hatte zugehört und begriff, um was es sich handelte. Es lief, hob mit Anstrengung den Stein heraus – ein Loch war darunter, das weiße Papier über einem andern und noch etwas Dunklem – und brachte das Gewünschte, während der Bauer hochmütig zusah.

»Hier steht's, hier, daß mir der Mühlbacher das Grundstück vor Euch verkauft hat, daß ich ihm dreihundert Thaler dafür gezahlt habe –«

»So?« sagte der Bauer in auflodernder Wut, »hat mich der Lump betrogen – eine nette Sippschaft seid ihr allzusammen – hast ihm geholfen bei dem Schwindel, alte Hexe – her mit dem Wisch!«

Er trat vor und machte Miene, der Wurzelgrete das Papier zu entreißen; sie barg es rasch mit der einen Hand unter der Bettdecke, während sie die dürren Finger der andern dem Pichler wie zu thätlicher Abwehr bereit entgegenstreckte. Wer weiß, was geschehen wäre, wenn nicht ein Aufschrei Trudes den Bauer zur Besinnung gebracht hätte. Er ließ die geballte Faust sinken und schielte, etwas zwischen den Zähnen murmelnd, zu der jugendlichen Zeugin hinüber.

»Was weiß ich, ob der Wisch gilt,« sagte er achselzuckend. »Niemand wird dir glauben, daß du dreihundert Thaler gehabt hast, um sie deinem saubern Schwiegersohn zu geben. Ich lasse es auf einen Prozeß ankommen; kriege ich unrecht, da kommt der Mühlbacher ein paar Jahre in das Zuchthaus. Jetzt hab ich das Grundstück und lasse mir's auch nicht nehmen, ehe ich nicht von Gerichts wegen gezwungen werde.«

Damit drehte er sich herum und verließ erhobenen Kopfes die Hütte.

Die Wurzelgrete sank in die Kissen zurück. Trude kauerte in einer Ecke; das Herzpochen, das sie aus Furcht und Aufregung bekommen, wollte lange nicht nachlassen, und sie rührte sich nicht, um die dicken Thränen abzuwischen, welche langsam auf das nicht eben saubere Hemd über die Brust herunterkugelten. Indessen ächzte und stöhnte die Kranke und murmelte verwirrte Reden, wie eine unheimliche Melodie zu dem Rauschen der alten Bäume über der Hütte, in welchen ein starker Wind sein Spiel trieb.

Der Mittag kam heran – die Wurzelgrete ward stiller und schien endlich einzuschlafen. Trude schlich in den Nebenraum und holte sich ein Stück Brot; dann drückte sie sich durch die Thür in das Freie, ergriff ein Töpfchen und ging zur Ziege auf der Halde, um sich einen Trunk warme Milch zu verschaffen. Dort saß sie eine Weile im Grase, beides verzehrend. Der Wind quirlte um sie; es war kühl, trotz des vollen Sonnenscheins am Himmel, und fröstelnd kehrte sie in die Behausung zurück, ihren alten Platz in der Ecke wieder einzunehmen. Ihr Köpfchen sank endlich gegen die Wand zurück und sie schlief ein.

Dann erwachte sie, wie von einem plötzlichen Schrecken. Die Sonne stand tief, es mußte gegen fünf Uhr sein. In der Stube war es still, die Ahne rührte sich nicht. Das Mädchen rieb sich die Augen, stand auf und schlich zu dem Bette.

Das Gesicht lag seltsam starr in dem braun geblümten Kattun, kein Atem war zu hören. Ueber dem Bette schwebte etwas Unheimliches, was die Kleine fortscheuchte. Sie holte sich das Bilderbuch, welches der Gänsedieb ihr gebracht, und welches ihr gefiel, bei allem Widerwillen gegen den Geber. Sie blätterte und vertiefte sich in das Beschauen, bis die Dunkelheit sie erinnerte, daß sie Pflichten habe. So ging sie, mit scheuem Blick auf das Bett, hinaus und holte die Ziege an die Hütte, um sie hier vollends auszumelken. Ueber dem Dache rasselte es in dem Strauchwerk, und sie sah Titi, den Kater, über das Dach herunterklettern und zu der Thür hinabspringen, wo er miauend sitzen blieb. Er wartete, bis sie kam, und rieb sich an ihrem Fuß, wie Katzen zu thun pflegen, dann schlüpfte er mit ihr in die Hütte.

Hier stutzte das Tier, und plötzlich war es mit ein paar Sprüngen am Bette. Es machte einen Buckel, seine Haare sträubten sich, und es begann wieder zu miauen, höchst kläglich und auffallend. Und jetzt sprang es auf das Bett hinauf, was es sonst nie that, und blieb ein Stück vom Gesicht der Alten auf der Decke liegen. Trude machte mit leisem Schelten vergebliche Versuche, den Kater ohne viel störendes Geräusch herunterzuziehen; er häkelte sich in den Ueberzug ein, und sie mußte ihn an seinem Platze lassen.

Es kam ihr unbegreiflich vor, daß die Ahne sich noch immer nicht rühren wollte.

Sie zog später ihre Betten unter deren Bettgestell hervor und machte sich auf dem Boden möglichst leise ihr Lager zurecht.

Am Morgen war es in dem Bett nebenan so starr und ruhig wie zuvor. Der Kater saß an der Thür und begehrte hinaus, und sie öffnete und besorgte die Ziege. Das Grauen, das sie tags zuvor empfunden, kam wieder und steigerte sich. Sie versuchte nach der Rückkehr durch lautes Geräusch die Ahne zu wecken, klapperte mit einem Topf am Oefchen, stieß an die Stühle, schlug die Thür zu – umsonst.

Gegen Mittag faßte sie sich ein Herz und ergriff die eine Hand der Alten, welche auf der Bettdecke lag. Sie war eisig kalt.

Ein namenloses Entsetzen faßte sie vor diesem Rätsel. Es fiel ihr ein, daß die Ahne davon gesprochen, sie werde sie verlassen – sterben; das hatte sie sich freilich anders gedacht; sie meinte, daß sie Abschied nehmen und fortgehen würde. Vielleicht, daß die Ahne gestorben war! Trude hatte tote Mäuse, Vögel gesehen, welche Titi aus dem Walde geholt – –

Und plötzlich ließ sie alles stehen und liegen und rannte, wie von einem Gespenst verfolgt, in den Wald hinauf und weiter, vor Angst vor sich hinschluchzend, über Nadelboden, durch Farnkräuter, auf und ab in dem Bergland, an Quellen, bemoosten Felsbrocken vorüber, bald unter offenem Himmel, bald im dichten Waldschatten. Der Wind blies wie tags zuvor, die Wipfel rauschten und bogen sich, dann und wann knackten dürre Aeste näher oder ferner und fielen auf den Boden. Ihre jungen Füße trugen sie weit, ehe sie ermüdeten und ehe Trude langsamer gehen mußte, um das Herz zu beruhigen und Atem zu behalten.

Allmählich faßte sie sich und schaute umher. Diese Umgebung war ihr fremd, aber es war doch die altvertraute Waldeinsamkeit, in der sie stand. So setzte sie sich auf einen Stein. Alte Buchen und Eichen rauschten ihr zu Häupten, Farnkraut bedeckte den Boden, wo er nicht feucht und fett hervorsah.

Das unablässige Sausen über ihr klang häßlich und verwirrend. Sie dachte wie betäubt, daß sie wahrscheinlich verlassen sei, und daß sie nach dem Ausspruch der Ahne dann in die Welt hinaus müsse. Ihre Angst davor war unbeschreiblich; wieder und wieder schluchzte sie laut auf, und zur Abwechselung saß sie mit jämmerlichem Gesicht und unruhigen Augen und ließ die Gedanken fließen. In die Welt hinaus ging sie auf keinen Fall, so viel stand bei ihr fest.

Endlich meldete sich der Hunger, der Mittag war eine Weile vorüber. So weit ihr Auge reichte, nichts Genießbares zu erblicken!

Wenn sie doch die Ziege mitgenommen hätte!

Am Ende war es gescheit, wenn sie zurückging und das Tier holte. So konnte sie immer im Walde sein und sich immer von ihr mit Milch versehen lassen. Was im Winter aus ihnen werden sollte, daran dachte sie vorläufig nicht.

Das Grauen vor dem Gedanken, wieder in die Nähe der unbeweglich starren Ahne zu kommen, hielt sie noch eine Weile zurück, bis der Hunger alles überwand. Sie dachte sich's leicht, zu der Hütte zu gelangen, von der sie ja nicht gar so weit entfernt sein konnte.

So ging sie. Bald war es ihr, als habe sie dies und das auf dem Herwege erblickt, bald ward sie irre in ihrer Zuversicht. Sie hoffte an eine Stelle zu kommen, wo sie mit der Ahne gepflückt und gegraben hatte – von da aus hätte sie sich schon zurecht gefunden; aber sie hoffte umsonst. Endlich hörte sie den Schall von Aexten: Holzfäller mußten in der Nähe sein, und trotz ihrer Furcht vor Menschen schritt sie mechanisch dem Klang nach. Sie sah die Leute arbeiten, hatte eine Frage für sie auf den Lippen und vermochte es doch nicht über sich, vor sie hinzutreten.

Sie umging den Platz und kam auf einen Holzweg. Ein kurzes Stück verfolgte sie ihn, dann scheuchte sie das Knarren eines Fuhrwerks zur Seite in eine Schonung halb mannshoher Tannen. Dort kauerte sie, ohne sich um das Fuhrwerk zu kümmern, immer mit ihrem Hunger beschäftigt und mit dem Entschluß kämpfend, doch schließlich noch sich an die Holzfäller zu wenden. Der Wind sauste über die Schonung und zauste das Haar der Fröstelnden.

Nach einiger Zeit erhob sie sich und schlich mit den bloßen braunen, abgehärteten Füßchen quer durch die Schonung, in der Richtung des Axtschlages. Zwischen Tannenstämmen sagte plötzlich eine Stimme neben ihr:

»Na, na, Trude, wie kommst du denn hierher?«

Sie erschrak tödlich, obwohl sie die Stimme des Jägers Kienitz erkannte. Einen Augenblick flog ihr Kopf mit dem Ausdruck des Entsetzens herum, dann rannte sie in voller Flucht in die Bäume.

»Kleine Wildkatze!« lachte der Jäger und war mit langen Sprüngen auf ihrer Fährte. Als sie fühlte, daß sie ihm nicht entrinnen könne, stieß sie einen langgezogenen Schrei aus und warf sich auf den Boden. Er kniete neben ihr, mit kräftigem Arm sie emporziehend.

»Nun sag mal, Kleine, was du hier machst? Hast du dich verirrt? Wie geht's denn mit der Krankheit?«

Trude ließ sich willenlos halten.

»Mich hungert,« sagte sie und dabei bebte ihr zarter Körper.

»Also hast du dich verlaufen?«

»Die Ahne ist immer ganz still und ich fürchte mich.«

»Potz tausend! seit wann ist sie ganz still?«

»Seit gestern.«

»Hm! Da muß ich schon einmal nachsehen. Komm, ich werde dich führen – ja so, erst sollst du etwas zu beißen haben.«

Er zog mit ernsthafter Miene Brot und Wurst aus einer Jagdtasche, die er umhängen hatte, und reichte es Trude, deren Scheu allmählich dem alten Zutrauen nachgab. Dennoch hörte sie jedesmal unwillkürlich zu kauen auf und versteckte Brot und Wurst im Rücken, so oft der Vorausgehende sich umdrehte.

Sie gingen hart an den Holzfällern vorbei, zu denen der Jäger ein paar gleichgültige Worte hinüberrief, dann durch den Wald hin. Der Versuch, mit Trude ein längeres Gespräch anzuknüpfen, mißlang – sie hielt sich beständig ein paar Schritte hinter dem Manne und antwortete selten und einsilbig.

So gelangten sie zur Hütte unter den brausenden Baumriesen.

Trude blieb draußen stehen, indes der Jäger im Innern verschwand. Sie hörte ihn nach wenig Sekunden zurückkehren. Er sah mitleidig und ernst aus.

»Arme kleine Hexe,« sagte er, »deine Ahne ist tot, und wir müssen nun zusehen, was mit dir geschehen wird. Das beste wird sein, wir gehen zusammen in das Dorf hinunter; da müssen sie für dich sorgen.«

»Ich will nicht in das Dorf.«

»Sei nicht verstockt, Trude!« meinte er gutmütig. »In der Hütte kannst du jetzt nicht bleiben, und im Walde auch nicht, da müßtest du verhungern.«

»Ich nehme unsre Ziege mit.«

»Du bist ein Schlaukopf. Aber wenn es einmal kalt wird, wirst du erfrieren im Schnee.«

»Dann gehe ich in die Hütte und mache Feuer im Ofen.«

»Da werden böse Menschen kommen und dir die Ziege fortnehmen. Es hilft nichts, du mußt jetzt unter die Leute.«

Trude kämpfte mit sich, indem sie verstohlene Blicke aus den schwarzen Augen auf den Jäger warf.

»Nimm du mich mit, ich will bei dir bleiben,« sagte sie endlich und ihr blasses, bräunliches Gesichtchen färbte sich.

Er lächelte.

»Es ist nett, daß du Vertrauen zu mir hast, Kleine; aber ich wohne auch bei fremden Leuten, und die leiden's nicht, daß ich dich bei mir habe. Jetzt mußt du folgsam sein und mitkommen.«

Er schloß die Thür der Hütte, strich Trude über den schwarzen Krauskopf und nahm ihre Hand.

Sie schlugen den Waldweg ein. Der Jäger blieb eine Weile in Gedanken, dann sprach er zu dem Mädchen:

»Im Dorfe müssen sie suchen, daß sie deinen Vater finden, der muß für dich sorgen, und wenn der es nicht kann oder nicht zu finden ist, müssen sie im Dorfe dazu thun, daß du zu Leuten gethan wirst, die dir geben, was du brauchst, Kleider und Essen, Stube und Bett. Fürchte dich nicht, kleine Trude! Ich will schon helfen, daß es dir nicht schlecht ergeht.«

»Wer ist mein Vater, Jäger?« fragte Trude nach kurzer Pause.

Ihr Beschützer sah sie verwundert an.

»Ah so, du weißt das nicht. Jedes Kind hat einen Vater und eine Mutter; deine Mutter ist tot, wie die Ahne, und dein Vater ist in der Welt draußen. Eigentlich sollte er bei dir sein und für dich sorgen, wie die Ahne für dich gesorgt hat.«

In dem verblüfften Mädchen tauchte etwas Ungeheures auf.

Es gab einen Vater, einen Mann, der zu ihr gehörte, wie die Ahne zu ihr gehört hatte. Er war in der Welt, vor der sie solche Furcht hatte, wo alles so bös und häßlich, undankbar und unleidlich war, wo die Gänsediebe herkamen. Der arme Mann – vielleicht war ihm auch jemand gestorben, der für ihn gesorgt hatte; die Mutter – ja richtig, die Mutter war ja gestorben. Sie hatte plötzlich einen Einfall.

»Kann er nicht mit mir in der Hütte wohnen?« fragte sie aufgeregt.

»Vielleicht,« sagte der Jäger. »Wenn es der Herr Oberförster erlaubt. Freilich – – Wilddiebe haben wir genug – na, es käme darauf an – –«

Er sprach das für sich und Trude dachte dabei an den Gänsedieb; der Gedanke kam ihr gar nicht, daß der Jäger dergleichen auf ihren Vater beziehen könnte. Sie verlor sich in die Vorstellung, daß ihr Vater kommen und mit ihr in der Hütte wohnen könne. Erst beim Dorfe wachte sie aus ihrer Träumerei auf, sie wurde feuerrot und fragte mit ängstlichem Gesicht:

»Liegt das Dorf in der Welt?«

»Wie soll's nicht?« lächelte erstaunt der Jäger. »Alles liegt in der Welt.«

Sie wagte nicht, weiter zu fragen, obwohl er unrecht haben mußte. Heimlich schlug ihr das Herz in Angst.

4. Trude macht die Bekanntschaft der Welt.

Der Wind fegte in die Dorfgasse, daß der Jäger die graue Klappmütze mit den grünen Aufschlägen fester auf den Kopf drückte. Mit fliegendem Röckchen und wehendem Kraushaar zog Trude ein, und ihr Begleiter führte sie wieder bei der Hand, um sie zu halten. Er warf einen verständnisvollen Blick auf die Ruine des letzten Hauses, die noch immer brandig geschwärzt dalag, und von da auf Trude, sagte aber nichts. Ein paar Leute schauten sich nach den beiden um; Kinder riefen: »Die Waldtrude! die Waldtrude!« hörten zu spielen auf und liefen in respektvoller Entfernung hinter ihnen drein.

Der Schulze war zu Hause, soeben mit einem Heufuder heimgekehrt. Er stand vor der Thür seines sauberen Hauses, dessen Gebälk wie ein schwarzes Netz die weißgetünchte Fachwerksausfüllung durchsetzte und dessen Fenster hübsche grüne Läden hatten, und er entließ rasch den Knecht, mit dem er gesprochen, als er des Jägers ansichtig wurde.

»Ich bringe Ihnen die kleine Mühlbacherin,« grüßte der wie ein guter Bekannter. »Die Wurzelgrete ist tot, und ihr werdet für ihr Begräbnis und die Aufnahme der Sachen sorgen müssen. Die Kleine habt ihr nun vorläufig auf dem Halse, bis ihr den Vater auftreibt.«

Er blinzelte dem Schulzen zu, welcher verstand, daß er über den Vater vorsichtig sprechen sollte.

»Da geht's jetzt nett über die Gemeindekasse her –«

»Vielleicht nicht so schlimm, wie Sie denken, Schulze,« fiel der Jäger ein. »Die Alte hat was erspart, glaube ich. Kommen Sie mit hinauf! Sie hat mir gezeigt, wo ihre Schatzkammer ist.«

Die ängstliche Miene von Trude hatte ihrem gewöhnlichen Ausdruck Platz gemacht. Der kräftige Mann da mit dem glattrasierten wohlwollenden Gesicht und dem weißen Haar flößte ihr Vertrauen ein, und sie litt es, daß er ihr mit der breiten Hand über das Haar strich und ihr Kinn hob, um sie zu mustern.

»Ein schmuckes Ding geworden. Nur etwas besseres Futter braucht sie. Wenn sie in allem so wenig Glück hat wie mit ihren Eltern, soll mich's dauern.«

»Adieu, Trude, wir sehen uns bald einmal wieder,« meinte der Jäger freundlich, »und daß Sie mir ordentlich für das Kind sorgen, Schulze!«

Trude sah ihn ängstlich an und hatte die Augen voll Thränen. Sie kam sich vor wie ein Blatt, das der Wind umtreibt und das keinen Halt mehr hat. Der Schulze führte sie in die Hausflur, welche voll welker buntbebänderter Erntekränze hing, und rief nach seiner Frau. Eine große Bäuerin mit starkem Leib, die Küchenschürze über dem blauen Kattunkleide, erschien; sie hatte ein rotes breites Gesicht und einen strengen Blick.

»Was ist denn schon wieder?«

»Die kleine Mühlbacherin,« sagte ruhig der Schulze. »Gib ihr Milch und Butterbrot! Ich gehe in den Wald hinaus, wo die Wurzelgrete gestorben ist. Schick das Kind nachher in den Garten!«

Damit verließ er das Haus.

Die Frau murmelte etwas und öffnete die Stubenthür. Als Trude drin war, sperrte sie zu.

Da stand die Waldtrude zitternd und wagte sich nicht zu rühren, obwohl sie am liebsten fortgelaufen wäre. Ihre Thränen waren versiegt – wie das Mädchen bei dem freundlichen Eindruck, welchen sie vom Jäger und Schulzen empfangen, aufgetaut war, so hatte das Harte und Strenge im Wesen der Bäuerin sie mit Frost berührt, daß sie sich innerlich wie geronnen und erstarrt vorkam. Ihre schmalen Lippen trotzten, die schwarzen Augen nahmen scheu und fremd den Eindruck ihrer Umgebung auf – eine echte Bauernstube mit rohen braunen Holztischen, Stühlen und Bänken, einem mächtigen braunen Kachelofen, um welchen eine Holzbank lief, zwei Schränke, deren einer wie mit einem Gazefenster verschlossen war, etliche Bretter an den Wänden mit Geschirr und Büchern, eine Wanduhr, die langsam und mit dumpfem Ton ticktackte –

Ein Gegenstand flog plötzlich von dem Fliegenschrank her durch die Luft und jagte beim Niedersitzen die Fliegen vom Tische auf. Trudes Gesicht überlief es wie Sonnenschein, der noch durch ein Fenster einfiel: auf dem Tische saß ein Rotkehlchen, äugelte ein paar Augenblicke nach ihr hin und huschte dann, mit spitzen Flügeln aufschlagend, hier und da hin. Das war wie ein Gruß vom Wald, den sie verlassen; die Waldeinsamkeit umgab sie wieder, das blumengestickte Gras der Halde leuchtete vor ihr, die dunklen Baumwipfel rauschten – –

Der harte Tritt der Bäuerin auf den Steinfliesen der Hausflur verscheuchte den Traum. Als die Thür aufging, sah Trude so scheu und verschlossen wie vorher aus. Das Rotkehlchen flüchtete auf seinen Fliegenschrank; wo es gesessen, stand bald drauf ein Glas Milch und lag eine dünne, mit Butter bestrichene Brotschnitte.

»Iß das und mach, daß du damit fertig wirst!« sagte die Schulzenfrau, im Hinausgehen den Raum musternd. »Ich habe nicht gern fremdes Volk in der Stube.«

Trude schluckte mit innerem Widerstreben die Milch und biß in das Brot; hätte sie nicht Furcht vor der Frau gefühlt, würde sie es trotzig haben stehen lassen. Das Rotkehlchen kam aufs neue, merkwürdig zutraulich: nur zwei Schritte Entfernung hielt es ein. Das essende Mädchen vergaß die Schulzenfrau: eine unbeschreibliche Sehnsucht nach der Waldhütte überkam sie. Wenn nur der Jäger nicht davon gesprochen hätte, daß böse Menschen ihr die Ziege wegnehmen könnten! Sie wäre sonst gewiß davongegangen, geflohen vor allen Menschen, selbst vor dem Jäger, der sie hierher geführt hatte. Sie wollte auch später, wenn der Vater erst gefunden sein würde, mit diesem in die Waldhütte zurückkehren. Dieselbe gehörte ja ihr nach ihrer Meinung.

Sie kaute noch, als die Bäuerin kam, sie abzuholen. Sie hatte so stechende graue Augen! Finster, das Herz voll Widerspruch gegen sie, folgte ihr Trude über den Hof, wo Geflügel umherspazierte und Kühe in einer Umzäunung voll Dünger standen. Doch konnte sie nicht umhin, unterwegs die Menge Vieh anzustaunen: hier hätte der Gänsedieb zu stehlen gefunden! In der Nähe des Gartendurchgangs, der ein niedriges Stallgebäude durchbrach, kam ein Spitz rasselnd aus einer Hundehütte hervorgeschossen und bellte. Sie hatte entsetzliche Furcht vor Hunden, von der Zeit her, da die Ahne sie mit in das Dorf genommen, und als die Bäuerin sich bei der Gitterthür nach ihr umsah, war das Mädchen stehen geblieben und zitterte, bis jene verdrießlich zurückging, Trude beim Arm nahm und sie rücksichtslos scheltend bis in den Garten zog.

»So, geh zu den Kindern!«

Ein Grasgarten voll Obstbäume, seitlich ein Stück Gemüsegarten mit einigen Blumen dazwischen, darum ein grauer Holzzaun, über den hinweg man Wiesen und die aufsteigende Gestrüpphalde der Berglehne sah. Der Himmel war voll rötlicher Abendwolken, der Wind schien sich zu legen.

Trudes Erscheinung störte zwei Knaben und ein Mädchen auf, welche sich im Grase um halbreife Frühäpfel gebalgt hatten. Ein Triumphgeschrei erhob sich, und wie auf Verabredung sausten zwei Aepfel auf Trude zu, welche wie betäubt dastand, bis sie einen Schmerzenslaut ausstieß – Aepfel auf Aepfel flogen, und einer hatte sie hart vor die Brust, ein anderer vor die Stirn geschlagen. Sie preßte die Hände gegen die Stirn und bemühte sich, die Thränen zu verschlucken. Indessen schienen die Wurfgeschosse verbraucht zu sein; die drei Kinder stürmten auf sie zu, die beiden Knaben älter, das Mädchen ungefähr so alt wie Trude.

»Ein fremdes Kind,« sagte der größere Knabe erstaunt, »und die Mutter hat's hergebracht!«

»Du, die kenne ich, das ist die Waldtrude, die bei der Hexe im Walde gewesen ist,« rief plötzlich der zweite. »Ich habe sie im Holz gesehen, als wir Blaubeeren gepflückt haben.«

»Ist's wahr, du?« fragte der andre, und gab Trude einen Stoß in die Seite.

Trude ließ die Hände sinken und sah ihn mit funkelnden Augen an, ohne zu antworten.

»Na, wird's bald?« – ein zweiter Stoß. Der Junge hatte die grauen stechenden Augen der Mutter.

»Laß sie mal hexen!« rief das Mädchen, ein kugelrundes Ding, das sich vorsichtig ein paar Schritte zur Seite hielt.

»Nein, ich will hexen!« schrie der zweite Junge, bückte sich, ergriff Trudes nackte Füße und zog sie so rasch davon, daß Trude hart in das Gras zu sitzen kam. »Das war gehext,« lachte der Thäter.

Trude sprang auf, die Erbitterung kochte in ihr, und plötzlich warf sie sich auf den Burschen, umklammerte ihn mit der Kraft des ausbrechenden Zornes und biß ihn in die Schulter. Das Mädchen lief schreiend davon, der Gebissene schrie, der andre Knabe versuchte, Trude von jenem loszureißen, die sich, ablassend und um sich schlagend, endlich gegen ihn zurück warf und dann glühend rot und keuchend vor den beiden stand, sie mit bösen Augen anfunkelnd.

»Die Katze beißt,« sagte der Gebissene, der sich die Schulter rieb und blaß geworden war. »Na warte, das soll dir schlecht bekommen!«

Aber es erfolgte kein neuer Angriff. Das Mädchen hatte etwas Unheimliches im Aussehen.

»Laßt sie laufen!« sagte der andre; »sie kann hexen und uns was anthun. Und wenn's der Vater erfährt, gibt's am Ende was.«

Er begann Aepfel aufzulesen, der ältere gleichfalls – es ging bald in die Wette, und nicht lange darauf waren sie wieder unter sich im Streit und verfolgten einander unter die Bäume hin.

Die Bäuerin kam, durch das Mädchen gerufen. Trude stand noch auf der alten Stelle und empfing sie finster. Ein Regen von Scheltworten flog zu den Buben hinüber, welche rasch die Rücken zeigten – »und du alberne Gans brauchst dich nicht so ereifern« – damit erhielt das Mädchen einen Knuff. »Aber so geht's, wenn man solcher Bettelgesellschaft was gibt, nichts wie Undank hat man davon.«

»Ich habe nicht gebettelt, und sie haben mich geworfen und gestoßen« – sprach Trude leidenschaftlich.

»Schweig!« herrschte sie die Schulzenfrau an. »Und ihr kümmert euch nicht mehr um das Mädchen, das sage ich euch!«

Trude wartete, bis die Bäuerin verschwunden war, dann ging sie an dem Mädchen vorüber, das ihr langsam von weitem folgte, in den Gemüsegarten. Nun weinte sie im Vollgefühl der Verlassenheit.

»Das ist die Welt,« dachte sie; »die Ahne hat recht gehabt. Sie hat es gut, sie ist nicht mehr in der Welt. Warum hat sie mich nicht mitgenommen? Wenn nur mein Vater bei mir wäre, der für mich sorgen soll!«

»Du!« rief es hinter ihr aus der Entfernung, und wieder »du!« – so lange, bis sie den Kopf wandte.

»Kannst du wirklich hexen?«

Trude sah die kleine dicke Schulzentochter, deren Hände mit einem Apfel spielten. Sie schüttelte den Kopf.

»Wirst du gleich herkommen, Line?« ertönte es unter den Bäumen. »Du hast nichts mit der da zu reden.«

»Da!« sagte das Kind und warf Trude den Apfel zu. »Iß ihn, er schmeckt gut.«

Trude betrachtete ein paar Sekunden den Apfel, ein grünes Ding mit einem Rosahauch auf einer Stelle. Dann wandte sie sich um und ließ ihn liegen.

Der Schulze war inzwischen mit dem Jäger waldauf gestiegen. Der Jäger erzählte:

»Der Oberförster hat sonst nie von der Alten gesprochen; aber als ich ihm sagte, sie liege sterbenskrank, kamen wir auf ihre Herkunft zu reden, und da erfuhr ich Näheres. Daß der Vater der Mühlbacherin Maler gewesen ist und Sturzer geheißen hat, wie die Wurzelgrete auch, wissen Sie ja – bei der Trauung des Mühlbacher ist das bekannt geworden; oder nicht?«

»Natürlich,« nickte der Schulze. »Ich glaube freilich nicht, daß es viele behalten haben.«

»Er hat sich in Hartberg niedergelassen gehabt und hatte wohl auch ziemlich zu thun – den Oberförster und seine Frau hat er auch in Kreide gezeichnet, sehr ähnlich, sehr sauber; die Bilder hängen noch in der Arbeitsstube des Oberförsters. Sturzer muß aus dem Fränkischen hergekommen sein, da aus dem Gebirge, und er hat seine Mutter nachgeholt, die Wurzelgrete, die in Hartberg mit ihm gehaust hat. Sie ist von Haus aus eine arme Frau gewesen; sie hat in ihrer Heimat schon Kräuter gesucht, wenn ich recht verstanden.

»Sturzer muß ein schöner Mann gewesen sein, der den ganzen Kopf voll Schnurren gehabt hat und ganze Gesellschaften allein amüsieren konnte. Er spielte Maultrommel, schnitt Silhouetten unter dem Tische aus und traf dabei die Leute, ohne auf die Schere zu sehen, konnte alle Tierstimmen nachmachen – der Oberförster sagte im Scherz, er habe ein Schwein, das geschlachtet wird, so täuschend vorstellen können, daß es die wenigsten wirklichen Schweine so gut verstünden. Kurz, alle Welt war seines Lobes voll, in der Stadt und auf den Gütern riß man sich um seinen Besuch und hielt ihn so lange wie möglich im Hause. Mit dem Oberförster muß er ganz besonders befreundet gewesen sein; deshalb hat dieser auch der Alten ohne Anstand die Hütte gegeben, als sie ihn nachher um ein Unterkommen ansuchte.«

»Da war es hübsch von ihm, daß er seine Mutter nicht vergaß, sondern sie zu sich nahm,« warf der Schulze ein. »Solche große Herren vergessen nachher gern ihre Eltern, wenn sie niederen Standes und arm sind.«

»Das sage ich auch,« meinte der Jäger. »Die Wurzelgrete war übrigens eine sehr kluge Frau – ich habe mehr mit ihr gesprochen als ihr alle. Nur war sie zuletzt sehr verbittert durch das alberne Geschwätz im Dorfe wegen ihrer Hexerei und durch das Unglück mit den Mühlbacherschen. Nun hören Sie aber weiter, Schulze! Haben Sie mal von dem alten Meckenbuscher in Hartberg reden hören, der früher Rittfelden besaß?«

»Vor Zeiten, ja, wie er noch dort lebte. Er war als ein arger Geizkragen verschrieen und zog ja wohl in die Stadt, weil er in Häusern spekulieren wollte und Rittfelden ihm nicht genug einbrachte.«

»So wird's gewesen sein. Er war wohl ein Vierziger, als er nach Hartberg ging, jetzt ist er um die Achtzig herum.«

»Lebt der noch?«

»Der Oberförster sagt es. Kurzum – der Meckenbuscher ist der Großvater der Mühlbacherin.«

»Eh!« meinte erstaunt der Schulze und schnalzte dahinter.

»Seine Frau starb ihm gleich in Hartberg, und er hatte nur eine Tochter übrig, ein sehr nettes und feines Mädchen, dem der Maler noch besser gefiel, wie den übrigen Leuten – und sie gefiel ihm auch. Aber als sie heiraten wollten, sagte der Meckenbuscher: davon könne keine Rede sein. Das gab nun ein langes Elend, bis der Meckenbuscher meinte: seine Tochter solle zwischen dem Sturzer und ihm wählen; wenn sie nämlich durchaus den Maler heiraten wolle, möge sie's thun, dann werde er sie aber enterben. Was geschah? Sie machte es wie nachmals ihre Tochter, die Mühlbacherin, und heiratete. Sie muß wohl von Haus aus nicht recht gesund gewesen sein: kurz nachdem die Mühlbacherin geboren war, ist sie gestorben. Seitdem ist der Maler tiefsinnig gewesen und gallsüchtig geworden, bis er auch bald nachher sich gelegt hat, um nicht wieder aufzustehen.

»Wer übrig blieb, war die Wurzelgrete mit dem Enkelkinde. Das war nun eine schlimme Sache für die alte Frau, denn was der Maler verdient, das hat er auch verbraucht; so mußte die Alte für sich und das Kind weiter sorgen. Sie hat beim Meckenbuscher angefragt, ob der für das Kind etwas thun wolle, aber der hat sie abgewiesen. So hat sie sich denn auf ihre Vergangenheit besonnen und sich an den Oberförster gewandt; der hat sich mit meinem Vorgänger Timm besprochen und durch den von der alten Hütte gehört – kurzum, die Wurzelgrete hat richtig die Möbel und den ganzen übrigen hinterlassenen Kram des Malers verkauft, hat davon bezahlt, was noch zu bezahlen war und ist in den Wald gezogen. So hängt die Sache zusammen.«

»Hm! hat der Meckenbuscher sonst noch Verwandte?« fragte der Schulze.

»Der Oberförster sagt, er wisse von keinem. Es soll mich wundern, was der Alte mit seinem Gelde thut. Versuchen Sie doch, Schulze, ob Sie was von ihm heraus bekommen!«

»Wird nichts helfen,« meinte dieser. »Aber dem Mühlbacher muß jedenfalls nachgespürt werden. Es geht nicht an, daß die Gemeinde so ohne weiteres mit dem Kinde belastet wird.«

»Was wollen Sie denn jetzt mit Trude anfangen?«

»Sie muß zu Leuten gethan werden – zu wem? das weiß ich noch nicht. Ich will zusehen, wer sie nimmt; groß zu wählen werden wir nicht haben.«

Sie traten aus dem Holz und stiegen zur Hütte hinauf. Die Gans trompetete, die Ziege meckerte noch auf der Halde. Vor der Thür saß der Kater Titi; als die Fremden sich näherten, miaute er kläglich. Der verdämmernde Abendhimmel blickte mit den ersten blassen Sternen in den Waldgrund herab, und aus dem schwarzen Hintergrunde des Walddunkels hoben sich wie in leisem Geflüster die Baumriesen über der Hütte.

In der Stube war es schon zu dunkel, um genügend unterscheiden zu können. Der Jäger griff nach seinem Feuerzeug und suchte mit brennendem Streichholz nach dem Oellämpchen, das er in einer Fensterecke auffand. Schweigend traten die Männer an das Bett, um welches die heiligen Schauer des Todes schwebten, und der Jäger beleuchtete mit dem schwachen flackernden Schein das stille Gesicht der Wurzelgrete.

»Gott hab sie selig!« flüsterte der Schulze; »sie hat ein Leben mit Tag und Nacht gehabt, wie wir alle, aber es war wohl etwas viel Nacht dabei. Ich will sorgen, daß wir sie morgen begraben können.«

»Kommen Sie mit an den Ofen, Schulze!« sagte leise der Jäger. »Sie können am Ende die Sachen morgen aufnehmen – nur das Versteck will ich Ihnen noch zeigen; denn ich kann morgen nicht hier sein, ich habe auf der Hartberger Seite zu thun.«

Der Jäger kniete am Ofen nieder und hob einen schweren Stein mit ziemlich glatter Oberfläche heraus.

»Zwei Papiere,« sagte er, und reichte sie dem Schulzen, der sie öffnete und sich dann zum Lesen niederbeugte.

»Wenn ich sterbe, so soll alles, was ich hinterlasse, meiner Urenkelin Gertrud Mühlbacher gehören. Ihrem Vater sein Grundstück habe ich diesem abgekauft, das soll ihr auch gehören. Gott behüte sie vor einem schweren Leben und vor schlechten Menschen!

Margarete Sturzer.«

Der Schulze sah den Jäger verwundert an, dann überlas er das zweite Papier flüchtig.

»Wahrhaftig, der Mühlbacher hat der Alten das Grundstück zuerst verkauft und hernach noch einmal dem Pichler. Das ist doch eine ausgemachte Schlechtigkeit und Spitzbüberei von dem Menschen und mir gar nicht lieb, daß ich nun wohl eine Klagerei haben werde: dem Mädchen muß das Grundstück erhalten werden, und der Pichler wird es gutwillig nicht herausgeben. Da müssen wir um so mehr sehen, daß wir des Mühlbacher habhaft werden, damit er eingestehe, wie es sich mit dem Doppelverkauf verhält.«

»Der Pichler ist vor dem Tode der Wurzelgrete noch bei ihr oben gewesen, ich habe ihn selber heraufgeschickt. Fragen Sie ihn, was er von der Sache weiß! Aber hier sitzen die Musikanten.«

Der Jäger zog einen blauen baumwollenen Strumpf aus dem Loche, in welchem es von Geld klimperte.

»Ich will es hier zählen,« sagte der Schulze, »damit ich einen Zeugen habe, daß ich das Kind nicht benachteilige.«

Der Jäger setzte die Lampe hin, der Schulze nahm die Schnur ab und legte die Stücke nebeneinander auf den Boden. Sie zählten zweihundertzwanzig Thaler und etliche Groschen. Eine seltsame Szene: hier die beiden Männer auf dem Boden kauernd und in dem rotflackernden Lampenlicht das Geld zählend, unweit davon in der engen Stube die tote Frau, über welcher sich an der Wand die gespenstigen Schatten der Männer bewegten, vergrößerten und verkleinerten, unheimliche Fratzen bildend.

»Sehen Sie, so gar arm ist die Trude nicht,« meinte der Jäger aufstehend. »Die Wurzelgrete war eine sparsame Frau. Ich denke, Sie nehmen das an sich und schließen die Hütte ab. Ich aber will Abschied von der Alten nehmen, da ich's morgen nicht mit euch thun kann.«

Er trat vor das Bett und faltete die Hände, der Schulze am Ofen that desgleichen. Dann untersuchte letzterer die Thür und zog den Schlüssel heraus, der Jäger löschte das Lämpchen am Fenster.

»Die Ziege will ich nur gleich mitnehmen,« sagte draußen der Schulze.

»Und die Gans da?«

»Ja so – eh, die mag bleiben. Ich kann sie nicht auch noch fort bringen. Morgen komme ich ohnehin in der Frühe herauf. Gute Nacht denn, Herr Kienitz!«

Als der Schulze mit der Ziege daheim anlangte, war es sternklare Sommernacht. Trude war zur Ruhe gegangen: die Schulzenfrau hatte sie auf den Heuboden geschickt. Dort lag sie in schwerem Schlaf, und der Heuduft reizte ihre Sinne, und sie träumte. Sie sah ihren Vater, der da kommen sollte und für sie sorgen, aber sie konnte nicht klug werden, wie er eigentlich aussah: bald war er dem Jäger ähnlich, bald dem Schulzen.

5. Erziehungswege.

Trude wachte mit schwerem Kopfe auf, rieb sich die Augen und besann sich, was mit ihr geschehen, als sie nicht die gewohnte Umgebung der Waldhütte, sondern Balkenwerk und ein Dach über und Heu um sich sah, in welches Sonnenstreifen durch die breitklaffenden Ritzen einer Lukenthür einfielen. Sie suchte endlich im Heue watend die Oeffnung im Boden, durch welche sie eingestiegen, und kletterte eine Leiter nieder in einen leeren Pferdestall, von wo sie auf den Hof gelangte.

Es mochte gegen acht Uhr früh sein; der Hof lag im Sonnenschein, die Kühe fehlten, nur das Geflügel trieb sich allenthalben lebendig herum – kein Mensch war zu sehen. Man hatte sich nicht um sie gekümmert; der Schulze war schon zeitig in den Wald hinauf gestiegen, und die andern hatten offenbar nicht Lust, auf sie zu achten.

Sie wagte trotz nagenden Hungers nicht, in das Haus zu gehen, schlich an den Hofgebäuden entlang, blickte in offene Ställe – hinter einer Thür meckerte es. Der Ton heimelte sie an, und plötzlich war es ihr, als müsse das von ihrer Ziege kommen. Sie konnte der Versuchung nicht widerstehen und schob den Riegel zurück.

Da stand sie – das mußte sie sein: das halb abgebrochene Horn, die schwarze Binde über der Nase, die zwei schwarzen Flecken am Rücken, alles stimmte. Wie war sie hierher gekommen?

Die Ziege sprang am Strick, als wollte sie dem Mädchen entgegenlaufen, das zu ihr hineilte, sie umhalste, neben ihr niederkniete. Es war ein Glück, nicht zu beschreiben. Und hier gab es Milch: Trude legte sich auf die Streu und molk sich in den Mund, bis sie genug hatte.

Sie fühlte kein Verlangen, hier fortzugehen; sie streichelte die Ziege, trieb kindische Possen mit ihr und setzte sich endlich in die Stallecke, nachdenklich, von dem Gefühl ihrer Lage gequält. Nun hörte sie Leute auf dem Hofe, das Knarren eines Wagens; es ängstigte sie, daß sie jemand in ihrem Versteck stören könnte. In der That näherten sich Schritte, eine Weiberstimme sagte: »Wer hat denn den Stall aufgelassen?« Eine Hand warf die Thür zu und schob den Riegel vor.

Die Zeit verging Trude, sie wußte selbst nicht wie. War sie doch an das Nichtsthun gewöhnt. Das Surren der Fliegen, die Bewegungen der Ziege, das Spielen der Sonnenstrahlen genügten ihr, um sie zwischen ihren Gedanken zu zerstreuen und zu beschäftigen. Als sie wieder Hunger bekam, ging sie abermals zur Ziege, um zu trinken. Einmal hörte sie heftigen Wortwechsel auf dem Hofe; zwischen dem Schulzen und seiner Frau, wie sie bei sich sagte. Das war ihr recht um der Frau willen, und dauerte sie um des Schulzen willen.

»Was geht mich das Kind an?« sagte die Schulzenfrau. »Ich habe genug zu thun und kann es nicht auch noch an der Schürze haben. Wenn es was will, kann sich's melden. Von deinem ganzen Amt habe ich noch nichts als Schererei gehabt.«

Es war von ihr die Rede: der Schulze wollte wahrscheinlich von seiner Frau wissen, wo Trude geblieben. Sie war wieder in Angst, daß man sie suchen könne, es geschah aber nicht.

Erst nach einer langen Weile – Stunden mochten inzwischen dahingegangen sein – wurde es lebendig von Menschen im Hofe, welche hier und dort gingen, sich zuriefen, Thüren öffneten: endlich that sich die Stallthüre auf und eine Magd sah herein.

»Hier ist sie, bei der Ziege!«

Die Magd kam und faßte die Trude beim Arm, welche sich vergebens sträubte: »Marsch, heraus! deinetwegen haben wir gerade Zeit, den ganzen Hof durchzusuchen.«

»Sie ist das reine Zigeunerkind; wie sie aussieht! Ein rechter Schmutzbartel,« sagte die Schulzenfrau, die neben ihrem Manne stand, als die Magd Trude herbrachte.

»Hast du gehungert?« fragte der Schulze obenhin.

»Nein, ich habe meine Ziege gemolken.«

»Siehst du, die Art weiß sich zu helfen,« rief die Bäuerin triumphierend. »Nimm sie auf deine Kammer, Minna, und wasche und kämme sie!«

»Geh mit!« nickte der Schulze, den Trude scheu ansah.

Aus Gehorsam gegen ihn folgte sie, an den Erntekränzen vorüber, treppauf unter das Dach.

»Kannst du dich waschen?« fuhr sie die Magd an, eine robuste Person, die so rot und mürrisch dreinschaute wie ihre Herrin.

»Ja,« war die Antwort.

»So thu's; da steht Wasser und Seife. Aber ordentlich!«

Trude wusch sich. Sie griff dann nach einem Kamme und strählte sich das Haar, das ihr lockig in den Nacken hing – sie brauchte keine Flechtkünste anzuwenden. Die Magd sprach kein Wort dabei, sondern stand, als sie sah, daß das Mädchen ohne sie fertig wurde, gelangweilt an dem kleinen Dachfenster. Dann führte sie Trude hinunter in die Hausflur, wo sie der Schulze allein empfing.

»Hast du nie andre Kleider angehabt?« fragte er.

Trude blickte an dem Hemd und Röckchen hinunter, welche sich selbst in dem Halbdunkel der Hausflur als wenig sauber auswiesen.

»Die Ahne hat mir manchmal ein weißes Hemd angezogen und für den alten Rock einen neuen,« sagte sie. »Aber seit sie krank war, hat sie mir nichts angezogen.«

»Ein Hemd hätte ich ihr mitbringen können,« meinte der Schulze für sich. »Na, komm nur! wir wollen die Ahne begraben.«

Trude verstand ihn nicht. Sie gingen auf die Straße, in den beginnenden Abend hinaus. Vor dem Hause stand ein Leiterwagen, darauf ein rohgezimmerter, schwarzgestrichener Sarg. Ein Haufen Kinder trieb sich lärmend in der Nähe herum; von Erwachsenen waren nur ein paar alte Personen zu sehen, die jenseits der Straße standen.

»Die Waldtrude! Die Waldtrude!« schrieen die Kinder untereinander. Auch die Kinder des Schulzen waren darunter. Der Schulze rief sie zu sich und schob sie stillschweigend in die Hausflur. Plötzlich kam eilfertig ein kleines schiefgewachsenes Männchen um die Stallecke, zog seine Mütze und sagte: »Ich habe mich besonnen, Schulze. Ihr habt sie doch keinem andern gegeben?«

»Nein,« erwiderte der Schulze. »Geht in das Haus, Hippe, bis wir wieder kommen!«

»Mit Verlaub, da komme ich lieber mit. Es steht mir an, daß ich jetzt dabei bin, wenn ich die Kleine nachher kriege.«

Der Schulze nickte: »Wie Ihr wollt.« Er hob Trude auf den Wagen, dann stieg er selbst auf und nahm mit ihr auf einem Hängebrette Platz. Der kleine Mann hockte hinten und ließ die Beine zwischen den Hinterrädern baumeln.

»Vorwärts! Langsam!« sagte der Schulze.

»Die Hex' ist tot, die Hex' ist tot,
Wer soll sie denn begraben?
Die Feuersloh', die Feuersloh',
Da fressen sie keine Raben –«

sangen die Kinder mit schreiendem Uebermut hinter dem Wagen her.

Auf dem Kirchhofe war es ein einfaches Begräbnis. Der Pfarrer war verhindert zu kommen, nur der Totengräber und der Kantor warteten. Sie holten den Sarg vom Wagen und senkten ihn hinab, und der Kantor sprach ein Vaterunser, welchem die Männer entblößten Hauptes zuhörten. Dann warfen sie jeder drei Hände voll Erde auf den Sarg. »Thu's auch!« sagte der kleine verwachsene Mann, welcher sich in Trudes Nähe hielt. »Das heißt: Gott hab dich selig! Und wenn du erst bei mir bist, pflanzen wir Blumen auf das Grab – das ist dein Garten, denn ich habe keinen andern.«

Trude warf die Erde hinab, sah aber dabei den Mann mißtrauisch an. Sie kam sich wie verirrt bei dem vor, was da geschah, denn sie hatte bisher nie ein Begräbnis erlebt. Dem Schulzen mochte das einfallen, als er das ratlose Gesicht des Kindes betrachtete. Er trat zu Trude, streichelte ihr über das Haar und sprach:

»Da liegt nun deine Ahne in dem schwarzen Kasten und niemand sieht sie mehr. So sterben wir alle einmal, und so graben sie uns alle in die Erde. Dann sind wir aus der Welt gegangen.«

»Aus der Welt gegangen,« das war ein tröstliches Wort für Trude, und ein verständliches Wort. Nur was die Ahne nun weiter anfing in dem schwarzen Kasten, war ihr unklar. Vielleicht stieg sie unten aus dem Kasten heraus und in die Erde hinein – weiter und weiter. Wohin?

Der Totengräber begann zuzuschütten. Der Schulze nahm Trude an der Hand und führte sie vor den Kantor hin, einen weißköpfigen Mann, dessen Gesicht ein schwacher Bart umrahmte und der ein Sammetkäppchen auf dem Scheitel sitzen hatte. Er sah sie durch Brillengläser an, wie die Ahne sie auch zuweilen vorgesetzt hatte, wenn sie in einem Buche gelesen, und seine Augen gefielen Trude.

»Kannst du lesen?« fragte der Mann.

Trude schüttelte.

»Schreiben?«

Sie schüttelte wieder.

»Möchtest du das von mir lernen?«

Jetzt nickte sie.

Er ließ sich ihre Hand geben, dann stieg man auf den Wagen und fuhr in des Schulzen Wohnung zurück. Im Hofe, in welchen der Wagen einfuhr, hob der Schulze Trude herab und hieß sie sich umsehen, bis er sie rufen werde. Sie solle etwa in den Garten gehen, wo vielleicht die andern Kinder sich aufhalten würden.

»Ich möchte zur Ziege gehen,« sagte Trude schüchtern.

»So lauf!«

In der Stube sprach der Schulze mit dem kleinen Mann.

»Ihr könnt Euch von den Gerätschaften aus der Waldhütte aussuchen, was Ihr braucht für das Kind. Erstlich das Bett. Was Ihr nicht für das Kind braucht, könnt Ihr für Euch nehmen gegen die Versicherung, daß es ihm eigentümlich verbleibt. Was Ihr nicht haben wollt, verkaufe ich.«

»Aber ich höre, es ist eine Ziege und eine Gans da.«

»Könnt Ihr auch haben, wenn Ihr versprecht, das Kind erstmalig zu kleiden mit Kleidern und Schuhwerk. Im übrigen bleibt's bei dem, was ich Euch angeboten.«

»Es gilt,« sagte der Kleine. »Gute Behandlung und richtige Erziehung. Ueber Kindererziehung habe ich schon lange nachgedacht. Und das Grundstück muß sie bekommen, das ist klar, und der Mühlbacher darf nicht mehr an sie heran.«

»Morgen machen wir's schriftlich.«

Die Männer gingen hinaus und suchten Trude auf.

»Der Mann dahier ist der Schneider Hippe und wird dein Vater sein und für dich sorgen. Geh jetzt mit ihm! Ihr könnt die Ziege gleich mitnehmen, Hippe!«

Trude stand neben der Ziege und starrte den Schneider wie etwas ganz Unbegreifliches an. Das also war ihr Vater? Ein so ganz andrer Vater, als sie gedacht! Einer wie der Schulze oder der Jäger hätte ihr besser gefallen. War er aus der Welt zurückgekommen, um für sie zu sorgen? Doch hatte der Mann nichts Abstoßendes für sie, ausgenommen seine häßliche Gestalt. Die Ahne war auch häßlich gewesen; aber sie hatte es, weil sie von Kindsbeinen an bei ihr gelebt, nie empfunden.

»Ja, und du sollst es gut bei uns haben, bei mir und der Mutter!« sagte der Schneider. »Alle Tage Fleisch und keine Schläge und immer deine gehörige Ordnung.«

Er band die Ziege ab, der Schulze reichte ihm und Trude die Hand zum Abschied, und die drei zogen vom Hofe.

Der Schneider wohnte beim Dorfkrämer zur Miete in einem Hause der Dorfstraße. Trude erinnerte sich dunkel, mit der Ahne in diesem Hause gewesen zu sein, obwohl es jetzt in der Dämmerung anders aussah, als einst bei Tage – hinter dem geschlossenen großen Fenster da lugten, wenn der Laden und die Eisenstangen nicht davor lagen, Süßigkeiten in Gläsern heraus, von welchen Trude schon zu kosten bekommen. Der Schneider zog einen Schlüssel hervor und öffnete eine kleine Thür neben dem Hause, durch welche sie in ein Höfchen gelangten. Ein Hund bellte, und Trude klammerte sich bebend an den Schneider, dessen Zuruf den Gefürchteten besänftigte, daß er friedlich um Trudes Beine schnoberte. Die Ziege sprang meckernd hin und her, endlich war sie in einem Stalle untergebracht. Nun traten die beiden in das Haus und stiegen die dunkle Treppe empor.

»He, Mutter, Licht!« rief der Schneider, und als eine Thür aufging und eine Frau mit einer grünen Schirmlampe heraustrat: »Da wären wir. Alles in Richtigkeit, und die Ziege steht schon im Stalle.«

»Gott segne den Anfang!« sagte die Schneiderin, eine kleine magere Frau mit spitzigem Gesicht, sehr hoher Stirn und dünnem blonden Haar. Sie zog den Mund zusammen, als ob sie etwas recht Gutes kostete; aber sie sah Trude mit einem paar ruhigen und freundlichen grauen Augen an, indem sie ihr die Lampe vor das Gesicht hielt.

»Die ganze Mühlbacherin, Gott hab sie selig! Ich habe manchen Abend mit ihr verschwatzt in ihrer Trübsal.«

Sie gingen in das Zimmer, und es gab Kartoffeln und Heringe zu essen. Der Schneider plauderte lustig, es war überhaupt so hübsch traulich und munter hier, daß Trude aufzutauen begann und auf Fragen, die an sie gerichtet wurden, ordentlich Antwort gab. Erst als sie auf dem Strohsack in dem schmalen Kämmerchen neben der Küche lag, welches auf den Hof hinausging, und die Schneiderin, nachdem sie ihr eine wollene Decke übergedeckt, sie verlassen hatte, da fiel ihr in der Dunkelheit die Ahne ein, die in der Erde lag, und ihr freies Leben bei dieser, und sie weinte in aller Müdigkeit, bis sie einschlief.

Desto lustiger wurde sie aufgeweckt von sechs Kanarienvögeln, welche in drei Bauern an der Wand hingen; vier davon hatte der Schneider aus Eiern gezogen. Sie schmetterten schon von fünf Uhr ab, daß an Schlaf nicht mehr zu denken war, und der Schneider kam auch nicht lange darauf, sie zu füttern und mit Trude zu schwatzen. So war fortan jeden Morgen ihr Erwachen.

Im Laufe des Tages holte der Schneider den größten Teil der bekannten Sachen aus der Waldhütte, so daß Truden ihr Stübchen wie das alte vorkam, das sie droben verlassen. Die Leute waren gutherzig und vergnügter Laune; die Schneiderin hielt das Mädchen sauber und hübsch in der Kleidung – sie hatte einst lange in der Stadt gedient, bei wohlhabenden Leuten, und hatte dort Sinn für etwas Apartes bekommen, und sie war ordentlich froh, eine Art Puppe zu haben, an der sie das zeigen konnte. Und sie konnte keine bessere Puppe wünschen: unter ihrer Pflege füllten sich das magere Gesichtchen und die allzu schlanken Glieder Trudes, die Wangen röteten sich, das schwarze Haar ward glänzend – das war ein Figürchen, so fein, daß man von selbst darauf kommen mußte, es fein zu kleiden.

Auch im Wesen behielt Trude immer etwas Besonderes. Vielleicht war sehr viel die Art daran schuld, wie man sie im Dorfe behandelte, seitdem sie bei den Schneidersleuten in Pflege war. Als die Tochter des verlumpten Mühlbachers und der im Feuer umgekommenen Mühlbacherin, als Enkelkind der Wurzelgrete sah man sie wie eine Merkwürdigkeit an, in deren Nähe es nicht recht geheuer war. Wäre Hippe nicht der einzige Schneider im Dorfe gewesen, so hätte seine Kundschaft durch die Aufnahme der Waldtrude gelitten. Schüchterne Leute gingen ihr aus dem Wege, rohe verspotteten sie oder kamen ihr gar mit Versuchen, sie zu mißhandeln. Das wehrte sie aber ab wie eine wilde Katze, sofern sie nicht fliehen konnte. Große Not gab es anfangs in der Schule. Kinder, welche neben Trude sitzen sollten, weinten, und unverständige und abergläubische Leute wollten allen Ernstes, daß sie einen besonderen Platz, entfernt von den andern Kindern, bekommen sollte. Nur daran, daß ein solcher Platz nicht zu beschaffen war, scheiterte das Verlangen, und als der Kantor Freiwillige aufrief, die sich bereit erklärten, Trude zur Nachbarin zu haben, und deren auch fand, löste sich der Streit auf die einfachste Weise.

Daß sie in späterem Alter als die übrigen Kinder die Schullaufbahn begann, brachte ihr einen Vorteil ein: ihre Schulgenossinnen waren zu klein und schwach, um ihr das Leben durch Thätlichkeiten sauer zu machen. Aber auch die älteren Kinder ließen sich an Spott und Schimpfreden aus der Ferne genügen, da ihre Anführer, die Knaben des Schulzen, sich nicht wieder an sie wagten. Und endlich gewöhnte man sich an Trude – es fanden sich sogar ein paar Kinder, die mit ihr näheren Verkehr anknüpften. Doch weil sie wenig zum Spielen neigte und immer etwas Verschlossenes behielt, ging sie im Grunde ihren Weg allein.

Sie las viel, seit sie lesen gelernt. Ihr Gedächtnis war vortrefflich, und das einsame Nachdenken war ihr ein großer Genuß. Mit tausend Ueberraschungen ging ihr die Welt unter der Belehrung des Kantors und ihres Pflegevaters auf; wie rasch waren ihre Begriffe von der Welt und den Menschen, von Leben und Sterben, von Eltern und Kindern andre geworden! Sie wußte die traurige Geschichte von dem Tode ihrer Mutter und von ihrer Errettung durch die Ahne; jeden Sonntag ging sie von einem Grabe zum andern, wenn sie aus der Kirche kam, und sie pflegte ihre »Gärtchen« darauf mit dem dunklen Gefühl, als brächten die Blumen ihr heimliche Kunde von den beiden Frauen. Sie wußte auch, daß sie einen Vater hatte, der in der Welt war, draußen, niemand konnte sagen, wo? Boshafte Kinder hatten ihr zugerufen, dieser Vater sei ein »Bummler« und ein »Betrüger«; aber die Schneidersleute hatten ihr das nicht bestätigen wollen, als sie hochrot vor Zorn danach gefragt. Er sei in die Welt hinausgezogen, sei nur einmal wiedergekommen und gleich darauf abermals verschwunden – niemand wisse, wie es um ihn stehe, und daß er betrogen habe, könne niemand behaupten, solange man nicht mit ihm selber darüber gesprochen.

Zu Anfang hatten die Schneidersleute ihr bestimmt versichert, das Grundstück des letzten Hauses sei ihr Eigentum. Sie hatten es ihr stolz gezeigt, indem sie auf einem Spaziergange mit ihr vorübergegangen. Damals hatte sie sich mit merkwürdigen Empfindungen deswegen getragen. Jeden Tag war sie einmal hinausgegangen und hatte sich auf die Haustrümmer gesetzt und ein paar Kinder aus dem Grase gejagt, das wild umher wucherte, weil das »ihr Gras« sei. Da war aber einmal der Pichler vorübergekommen und hatte sie gesehen. Erbost war der Mann auf sie zugestürzt und hatte geschrieen: sie solle machen, daß sie da fortkomme und sich nicht wieder dort blicken lassen, sonst schlüge er ihr Arm und Bein entzwei. Das war roh und kindisch; aber der Pichler war namentlich in der ersten Zeit wütend in allem, was das Mühlbachersche Erbe anging, seit der Schulze es ihm streitig machte, so daß er es vorläufig nach des Gerichtes Willen unberührt liegen lassen mußte. Damals war Trude entsetzt in den Wald geflüchtet und ging nun immer scheu vorüber, wenn sie ihr Weg an die Stätte führte, wo sie geboren worden, doppelt scheu, seit sie das Ende ihrer Mutter wußte und diese rußigen Steine ihr Schauerliches predigten.

Merkwürdig wuchs ihre Sehnsucht, ihren wirklichen Vater zu sehen. Sie hätte selber in die Welt hinaus laufen und ihn suchen mögen. Sie liebte ihn unaussprechlich, mit der ganzen verhaltenen Leidenschaftlichkeit ihres Wesens, und als ihre Konfirmationszeit sich näherte, weinte sie zuweilen in der Stille bitterlich, daß er nicht werde bei dem Fest sein können. Daneben blieb ihre Anhänglichkeit an den Jäger Kienitz, der in dem ersten Jahre ihres Aufenthaltes im Dorfe öfter kam, sie zu besuchen. Als das erste Mal die Stubenthür der Schneiderwohnung sich aufthat und der alte Bekannte in Grau und Grün auf der Schwelle stand, warf sie ihr Buch fort, stieß einen Schrei aus, stürzte zu ihm hin, umklammerte ihn und weinte lautweg, daß er Mühe hatte, das Kind zu beruhigen.

»Oho,« sagte der Schneider, »das thut ja gerade, als ob es bei uns die Hölle auf der Erde hätte.«

»Hat es auch,« lachte der Jäger frisch, indem er auf die »Schneiderhölle« zeigte, in welcher der Meister Hippe saß und arbeitete. »Im übrigen kenne ich Sie, Hippe, und weiß, daß Sie eine ehrliche Haut sind und Ihre Alte auch.«

Er hatte Kaffee mit trinken müssen, und Trude war ihm nicht von der Seite gegangen. Er selber wunderte sich, daß die Scheue so zutraulich gegen ihn war. Und nun hatte er ihr erzählt, daß die Waldhütte noch immer leer stehe und das Dach nächstens einstürzen werde, und daß er dem Kater Titi im Walde begegnet sei, der dort als ein arger Räuber hause und dem er nächstens eine Kugel in den Pelz jagen werde.

»Ach nein!« hatte Trude gebeten.

»Nicht? Nun deinetwegen soll's bleiben.«

Immer wieder hatte sie den Jäger mit strahlender Freude, wenn auch nicht so stürmisch, wie das erste Mal, empfangen.

Eines Tages aber war große Trauer. Der Jäger war Förster geworden und bezog eine eigene Wohnung im Walde, welche in der Nähe von Hartberg lag, ein paar Stunden weit über das Gebirge hin. Er könne jetzt nur selten noch kommen. Zum Abschied mußte ihm Trude das Geleit bis zur Waldhütte hin geben. Da war richtig das Dach eingestürzt und die Mauern standen schief. Auf der Chaussee unten hatte der Jäger ihr mit einem Spaß adieu gesagt; sie war ganz böse innerlich, daß er so lustig sein konnte, wo er doch Abschied nahm. Nachher war er nur einmal noch gekommen, in einem kleinen Wägelchen mit einem scheckigen Pony davor. Trude war jetzt dreizehn Jahre, und der Förster freute sich über die guten Schulzeugnisse, die sie ihm zeigen, das Lob, das Frau Hippe ihr geben konnte. Dann erzählte er von seinem hübschen kleinen Försterhause, das noch gar nicht lange gebaut sei, aus roten Backsteinen, die so nett zu den grünen Buchen und Tannen aussähen; gerade davor stünden sechs mächtige Tannen, deren Zweige wie grünes Haar herunterhingen und ineinandergingen. Er habe grüngestrichene Bänke unter die Fenster gesetzt und einen Hirschkopf mit Geweihe über der Thür angebracht und sich die Stübchen so nett eingerichtet, und er habe die Frau eines verunglückten alten Waldhüters zu sich genommen, die ihm koche und rein halte. Auch eine Ziege und Geflügel gebe es bei ihm, sogar ein paar Gold- und ein paar Silberfasanen habe er sich gekauft. Und im letzten Frühjahr habe er zwei junge Rehe im Walde gefunden und mit nach Hause genommen. Das eine sei gestorben, aber das andre sei ein hübscher Rehbock, den er im Hofe halte, ein vergnügter Gesell und ganz zahm. Es sei nicht zu sagen, was er mit der Ziege für Belustigungen aufführe. Alles in allem: sie müßten durchaus einmal kommen, ihn besuchen und das alles bewundern.

Trude war sehr begierig, diese Herrlichkeiten zu sehen und hätte für ihr Leben gern dem Försterhause einen Besuch gemacht; auch die Schneidersleute meinten: darüber lasse sich reden; wenn Trude Ferien habe und sich etwa eine Fahrgelegenheit fände – sonst würde es zu teuer, denn sie seien nicht gut zu Fuß.

»Eh, sie sollten ihm nur melden, wann sie kommen möchten,« sagte darauf der Förster. »Er wolle schon für einen Wagen sorgen.« Es wurde nachher doch nichts daraus, denn es kam ein nasser Sommer, und in den Ferien regnete es unaufhörlich.

Als der Förster abfuhr, stand Trude unten, streichelte den Ponyschecken und fütterte ihn mit Zucker. Sie durfte aufsitzen und den alten Freund eine Strecke weit begleiten, bis man die alte Waldhütte sah. Dann kehrte sie gerne zurück in ihre friedliche Heimat.

6. Eine Konfirmation mit Anhang.

Der Winter verging, Trude wuchs und reifte dem Augenblick entgegen, der sie aus der Reihe der Kinder streichen sollte.

Ostern fiel zeitig, gegen Ende März. Der Schnee war aufgetaut, die Nässe aufgesogen oder gen Himmel gestiegen; das Gesträuch grünte bereits, und im Walde suchten die Kinder Märzveilchen, Leberblümchen, Schneeglöckchen und Anemonen.

Ein schöner Palmsonntag deckte blauen Himmel über die Landschaft, Lerchen sangen und Mücken spielten. Trude trug ein weißes Kleid und ein Veilchensträußchen, und als sie im Zug mit den andern ging, war sie weitaus die schönste und größte unter den Konfirmandinnen, auch die andächtigste. Vor der Kirche stand die Gemeinde in Gruppen beisammen, und manche Stimme erhob sich hier zu Trudes Lobe; dennoch sorgte der Neid dafür, daß auch andre Urteile laut wurden, welche bezeugten, daß der alte Verruf der »Waldtrude«, der Urenkelin und des Pflegekindes einer »Hexe«, noch nicht ganz geschwunden war. Man fand sie unbedingt ihrer Mutter, der Mühlbacherin, ähnlich; nur meinten die Unbefangenen, sie sei einen guten Teil schöner, stattlicher und gesetzter. Die Mühlbacherin habe mehr etwas Uebermütiges und Gewöhnlicheres an sich gehabt, aber diese sei wie ein Herrenkind aus der Stadt. Ja, die dumme Schneiderin habe sie verzogen, sagten andre. Sie habe eine Prinzessin aus ihr gemacht, und sie werde schon sehen, was sie sich damit eingebrockt habe. Die rühre ja wohl nichts im Hause an, weil sie sich fürchte, es thue ihr weh.

Hippe hatte sich einen schwarzen Festfrack gemacht, und sein spitziges Gesicht mit dem Ziegenbart, das tief in den Schultern saß, strahlte, während der Schneiderin, die seit einiger Zeit an der Brust litt und noch weichmütiger war als früher in gesunden Tagen, reichliche Thränen strömten. Auch sie hatte ein übriges gethan und sich einen schwarzen Kopfputz mit braunen Bändern angefertigt, der ihr festlich ließ.

Aber wer stand da neben ihnen, so grau und grün, so blink und blank? der brave Förster Kienitz! Er hatte schon lange Erkundigungen eingezogen, wann Trude konfirmiert werde, und hatte ihr einen schönen Goldring mit einem Stein mitgebracht, welcher weiß aussah, aber dabei bläulich und goldig schimmerte. Das war das Konfirmationsgeschenk. Und er sagte immer wieder zu dem Schneider: sie sei doch ein liebes schönes Kind, die Trude, etwas ganz Ungewöhnliches, und sie hätten alles Recht, stolz auf sie zu sein.

»Sind wir auch!« flüsterte Meister Hippe darauf. Und »wie ein Engel,« lispelte die gerührte Frau Hippe. »Ja, wie so eine große braunrote Rose, die der Kantor im Sommer im Garten hat, so eine veredelte,« brummte der Schneider wieder. Und als seine Frau ein Lächeln nicht unterdrücken konnte und sich über die Nase wischend sagte: »Sie ist ja weiß« – wegen des Anzugs – da versetzte er hartnäckig: »Trotzdem, Mutter!«

Nun rief der Orgelklang in die Kirche, und frommer Gesang und frommes Priesterwort machten all dem krausen Gerede voll Liebe und Mißgunst ein Ende und versetzten die Herzen in die Stimmung, die der heiligen Feier ziemt.

Sie waren tagsüber mit dem Förster beisammen. Der hatte sogar ein paar Flaschen Wein mitgebracht, um zur Mahlzeit zu trinken, und der Schneider, dem das ein ungewohnt Ding war, wurde so übermütig davon, wie er seit seiner Hochzeit nicht gewesen, und nahm den Förster beiseite, um ihm in das Ohr zu flüstern: »Das gäbe mal eine Frau für einen vornehmen Herrn!« worauf er ausgelassen lachte. Trude aber blieb still und feierlich, auch auf dem Spaziergang, den sie nachmittags machten, und der Förster war auch mehr ernst als heiter; er dachte der traurigen Herkunft und der ungewissen Zukunft des Kindes.

Abends schied der Förster – er wollte im Gasthof übernachten, wo sein Fuhrwerk stand, und früh wegfahren, ohne bei den Schneidersleuten noch einmal zu stören. Zu Pfingsten wollte man nun bestimmt in der Försterei vorsprechen.

Als er fort war, hatte Trude Verlangen, noch ein paar Schritte allein auszugehen – zu den Gräbern der Mutter und der Ahne. Es war erst gegen sieben Uhr, nicht kalt und leidlich hell. Dieser Besuch hatte ihr den ganzen Tag über auf der Seele gelegen; aber sie hatte nichts gesagt, da sonst wohl die Pflegeeltern und der Jäger sich zur Begleitung angeboten hätten.

Sie nahm ein Tuch um, das ihr die Schneiderin gab, und ging durch den Hof, an dem Hunde vorüber, vor dem sie längst verlernt hatte sich zu fürchten. Sie gedachte der Ziege, mit der sie einst hier eingezogen war – schon vor ein paar Jahren war sie verkauft worden, und jetzt lagerte da im Stalle ein weiblicher Nachkomme von ihr. Die Hofthür war offen, draußen schwatzte die Krämersfrau mit einer Nachbarin.

»Wo willst du denn hin, Trudchen?« sagte sie. »Ich wollte eben zuriegeln.«

»Auf den Kirchhof, Frau Birnbaum. Ich riegle schon zu, wenn ich wieder komme.«

»Aber bleib nicht so lange!«

Am Himmel war wieder Mondschein, der Mond selbst mußte wohl bald über den Berg kommen, dann wurde es noch heller. Die Dorfstraße war leer, bis auf einen Mann, der vor ihr ging, so langsam, daß sie ihn bald überholte. Er hatte seinen großen Hut tief in das Gesicht gedrückt und schien Lust zu haben, sie anzureden. Doch unterließ er es brummend und folgte ihr in zunehmender Entfernung.

Die Kirchhofsthür war offen wie immer. Da lag die Kirche, in der man sie heute eingesegnet; die Gräber, denen sie zustrebte, befanden sich hinter der Kirche. Sie stand in stillem Nachdenken erst bei dem Grabe der Ahne, dann bei dem der Mutter. Die Winterblumen, welche man aus dem Zimmer zum Fest hierher versetzt hatte – Geranium, Goldlack, Veilchen, Aurikel – die kleinen Kreuzchen, das lag nun im vollen Mondlicht da. Sie hielt wehmütige Zwiesprache mit den Toten, auch mit der unbekannten Mutter. Sie dachte wieder an den Vater, den sie ebensowenig kannte und nach dem sie so heiße Sehnsucht empfand.

Plötzlich regte sich etwas bei der Kirche, und als sie ein wenig erschreckt sich umsah, gewahrte sie, daß der Mann dort stand, dem sie begegnet war. Und er blieb nicht stehen, sondern löste sich von der Wand ab und kam auf sie zu.

Jetzt war ihr unheimlich zu Mute, ihre Kniee wankten einen Augenblick.

»He, Jungfer,« sagte der Mann mit einer Stimme, welche ihr so bekannt vorkam, daß sie hätte schwören mögen, sie vor Zeiten gehört zu haben, »sind Sie vielleicht die Mühlbachertrude?«

Fritz Bergen

Waldtrude. II
Lith. Anst. v. U. Gatternicht. Stuttgart.

»Ja,« stammelte Trude; und plötzlich ging ihr eine Gewißheit auf, daß sie sich kraftlos an den Rand des Grabes setzte. Ein Glück für das weiße Konfirmationsgewand, daß sie es schon zu Mittag mit einem andern vertauscht hatte! Der Mann stand dicht vor ihr und hatte den Hut abgenommen, und der Mond schien in sein Gesicht – es war der Gänsedieb, der sie einst hatte in den Arm nehmen wollen, die unheimlichste Erinnerung aus ihrer Kinderzeit. Und sie war leider nicht mehr die flüchtige wilde Katze von ehedem! Sie mußte ihm Rede stehen in dieser Kirchhofseinsamkeit. Im Notfalle wollte sie schreien, daß es vielleicht der Kantor hörte.

»Ich dacht mir's,« nickte der Gefürchtete, und über sein verwüstetes Gesicht lief ein behagliches Grinsen. »Ich hatte dich aus dem Hause kommen sehen, wo der Schneider Hippe wohnt, und habe schon heute in aller Herrgottsfrühe die Gräber da besehen. Nun sage mir nur ›Guten Abend‹! Wir haben uns nicht gesehen, seit ich bei der alten Hexe, der Wurzelgrete, vorbeigekommen bin. Da oben ist ja alles wüst, wenn man auch allenfalls für eine Nacht noch unterschlupfen kann. Na, was gaffst du mich an, wie der Sperling eine Scheuche? Du weißt am Ende gar noch nicht, wer ich bin?«

»Nein.«

»Dein Vater, du Gänschen! Der Mühlbacher, der sich die Welt angesehen hat, mehr als die Welt ihn besehen hat! Ja, ja, bin mal wieder hier! hatte mir ausgerechnet, daß du jetzt konfirmiert werden könntest, und wollte mal betrachten, wie mein Fleisch und Blut dastünde. Na, nimm mich mal um den Hals und gib mir einen herzhaften Kuß, oder willst du wieder davonlaufen, wie dazumal vor sechs oder wieviel Jahren?«

Trude vergingen die Sinne vor Entsetzen. Das war ihr Vater, der so heiß ersehnte, viel geliebte – der Gänsedieb, dieser Mann, der ihr wie ein Gespenst vorkam! Das war ja unmöglich, das war wohl eine Lüge; aber warum sollte er lügen? Ein »Bummler«, ein »Betrüger« sei ihr Vater, das hatte man ihr ja schon gesagt, und es war doch wohl so, obschon die gutherzigen Pflegeeltern es nicht zugestehen wollten – –

Sie hielt die Hände vor das Gesicht. Was sollte sie thun? Ihn als Vater begrüßen? Ihr Herz fing an, für den Mann zu sprechen. Wenn er wirklich ihr Vater war, so war sie ihm kindliche Gesinnung schuldig. Vielleicht war er nicht so schlimm, wie er aussah; vielleicht konnte sie einen guten Einfluß auf ihn ausüben, ihn ordentlich machen helfen, wenn er je gefehlt hatte.

»He, vorwärts!« murrte er ungeduldig über ihr.

Sie raffte sich zusammen und stand auf.

»Wenn du mein Vater bist, wie du sagst, so heiße ich dich willkommen. Warum bist du so lange von mir fort geblieben?«

Er umarmte und küßte sie – er roch so häßlich, war voll stachliger Bartstoppeln, und sie schauderte, indem sie seiner Liebkosung still hielt. Und doch lag wirklich etwas von Vaterstolz und väterlicher Zuneigung in der Art, wie er nachher ihr Gesicht in den Mondschein hielt und sie betrachtete.

»Donner, ein nettes Mädchen bist du geworden, und beinahe hübscher, als deine Mutter war! und schlecht kannst du's die Zeit her nicht gehabt haben, danach siehst du wahrhaftig nicht aus.«

»Wir wollen nach Hause gehen. Die Pflegeeltern werden sich freuen, daß du zur Einsegnung erschienen bist, Vater! Warum bist du am Tage nicht zu uns gekommen und mit in der Kirche gewesen?«

Er lachte spöttisch auf.

»Na, mit der Freude würde es mäßig sein, und was die andre Sache betrifft, so hatte ich keinen Rock danach, denn mein einziger hier ist von den vielen Reisen sehr räudig. Da wollte ich dir keine Schande machen. Kurzum, es paßt mir nicht, daß jemand was von meinem Hiersein erfährt. Du sagst auch den Schneidersleuten kein Wort davon, verstehst du mich!«

»Wenn du es so willst – – aber wirst du nicht im Dorfe bleiben?«

»Geht nicht, Trudchen,« meinte er, wieder einen väterlichen Ton anschlagend. »Freilich möchte ich mal mit dir ordentlich reden, denn du bist doch nun mal meine Tochter, und wer weiß, wann wir uns wiedersehen. Wer ist denn alles bei euch im Hause?«

»Oben nur Hippes, Vater und Mutter, und unten der Krämer Birnbaum mit seiner Frau.«

»So! Wie geht's denn Birnbaums?«

»Der Frau geht es gut; aber der Krämer hat gerade wieder seine Kopfschwäche, da sitzt er und kümmert sich um gar nichts.«

»Sie schlafen wohl noch neben dem Laden?«

»Nein, neben dem Laden ist die Wohnstube. Wenn man vom Hofe in das Haus kommt, geht links eine Thür in die Kammer, von da kann man in die Wohnstube kommen, und von da wieder in den Laden. Jetzt hat Frau Birnbaum auch von der Küche eine Thür in den Laden brechen lassen, weil sie oft aus der Küche in den Laden und wieder zurück gehen muß, wenn der Krämer nicht gesund ist und sie alles allein zu besorgen hat.«

»So, so! Schläfst du denn mit Hippes zusammen oder allein?«

»Ich habe eine Stube allein, nach dem Hofe zu.«

»Siehst du! Da komme ich mit, und wenn Hippes schlafen, steige ich zu dir hinauf und wir schwatzen da zusammen, ohne daß ein Mensch was merken kann.«

Trude fand das ganze Fragen seltsam, wie ihr die Idee, mit dem Vater nächtlich in aller Heimlichkeit zu reden und die Schneidersleute so zu täuschen, zuwider war. Allein sie wußte sich nicht zu helfen, um dem Verlangen des Vaters auszuweichen. Beklommen und schweigsam ging sie neben dem Manne, der ihr am nächsten auf Erden stand, dem sie Liebe und Gehorsam schuldete, und dessen Gegenwart doch ihr Herz mit Zentnerlast beschwerte, einher; er selber schien in unruhige Gedanken versunken, denn er focht zuweilen in die Luft mit den Händen und murmelte abgerissene und unverständliche Laute.

»Wie ist's denn mit meinem Grundstück am Wald?« fragte er plötzlich. »Da hat ja niemand etwas drauf gethan. Wem gehört's jetzt?«

»Niemand,« antwortete Trude. »Sie haben dich gesucht und wollen wissen, wem du es verkauft hast, der Ahne oder dem Pichler. Da hat's jetzt das Gericht so lange liegen lassen, bis du kommen würdest.«

Er lachte heimlich in sich hinein.

»Na, ich werde ihnen schon ein Licht aufstecken, wenn ich mal will. Erst können sie noch eine Weile darüber an der Feder kauen und Tinte verschmieren.«

Sie standen an der Hofthür und Trude öffnete zaghaft. Der Mühlbacher drückte sich ohne Umstände hinterher. Aber plötzlich fuhr der Hund auf ihn ein und begann wütend zu bellen.

»Kettle die Bestie an oder ich dreh ihr den Hals um!« rief der Mühlbacher mit heiserer Stimme, indem er dem Hunde einen seiner schwerbestiefelten Füße hinhielt.

»So geh erst hinaus, Vater!«

Der Mühlbacher ging und Trude gelang es, den unruhigen Wächter an die Kette zu legen. Als der Mühlbacher wieder eintrat, tobte er aufs neue, allein jetzt kümmerte sich jener nicht um ihn, sondern folgte Trude in die Hausflur.

»Ich bleibe einstweilen hier. Wo ist deine Stube?«

»Gleich die erste Thür links, nach dem Hofe zu.«

Trude stieg treppauf. Die Schneiderin empfing sie mit dem Licht in der Hand, halb ausgekleidet, noch die Spuren schwerer Besorgnis im Gesicht.

»Der Vater wollte eben gehen, um nach dir zu suchen. Wir dachten schon, es könnte dir etwas widerfahren sein, daß du so lange bleibst. Es muß ja wohl bald neun Uhr sein. Ums Himmels willen, Mädchen, du siehst ja ganz verstört aus. Es ist dir doch nichts passiert?«

Trude schüttelte den Kopf und machte dabei einen schwachen Versuch, zu lächeln.

»Es hielt mich so lange fest auf dem Kirchhof,« meinte sie ausweichend. »Ich gehe nun gleich zu Bett. Gute Nacht, Mutter! Gute Nacht, Vater!«

Die Schneiderin küßte sie – dann begab sich Trude in ihr Gemach.

Es war ihr zum erstenmal peinlich, daß sie kein Licht mitbekam, was sie die ganzen sechs Jahre her nicht vermißt hatte. Wenigstens schien der Mond auf das Stalldach gegenüber, der Himmel glomm silbern und es war nicht so gar dunkel in der Kammer. Sie konnte gut ihr Bett sehen, den Waschtisch, den Stuhl, an der Wand die Kanarienvogelkäfige, welche dies Jahr wieder wie alle Jahre besetzt werden sollten – das Kanarienweibchen in dem großen Käfig saß ja schon auf Eiern.

Sie setzte sich auf den Stuhl und wartete pochenden Herzens – länger und länger. Der Hund im Hofe war beständig unruhig, schnüffelte, rasselte mit der Kette, heulte zuweilen auf und bellte dazwischen. Sie ging ein paarmal an das Fenster und spähte auf den Hof hinab, der sich immer mehr erhellte, um alsbald zum Stuhl zurückzukehren. Jetzt konnte er bald kommen, ihr – ach, ihr Vater! Der Gedanke wollte ihr noch immer nicht recht eingehen. Er würde wohl die Stiefel ausziehen – nur auf Strümpfen konnte er ungehört treppauf gelangen. Sie horchte, unbestimmtes Geräusch war im Hause zu vernehmen, auf der Treppe aber wollte sich nichts hören lassen. Das Kanarienvogelmännchen rührte sich traumhaft und schlug einen kurzen leisen Triller, dann war es wieder stumm im Käfige.

Das Lauschen machte Trude müde, trotz der innern Aufregung. Die Augen begannen ihr zuzufallen, dazu fröstelte sie. Jetzt schrak sie auf und merkte, daß sie schon eine Weile im Halbschlummer gelegen.

Niemand gewahrte, wie der Mühlbacher in der Hausflur sich der Stiefel entledigte, rechts die Küchenthür suchte, die er offen fand, wie er mit einem Streichholz Licht machte und die Ladenthür besichtigte, welche von innen verriegelt sein mußte, wie er an dem Kitt der einen Scheibe arbeitete, bis er sich bückte und etwas niederlegte, wie die Ladenthür aufging und er hineinschlüpfte – –

7. Die Mitschuldige.

Trude sprang hoch auf vom Stuhle. Es gab einen Lärm im Hause, die zeternde Stimme der Krämersfrau rief: »Ein Spitzbube! Vater, steh auf, ein Spitzbube!« Sie sank vor Entsetzen zusammen, raffte sich empor, stürzte nach dem Fenster: der Hund tobte wie besessen an der Kette, und sie konnte eben noch sehen, wie jemand schnellfüßig um die Hausecke verschwand. Jetzt erschien die Krämersfrau wie ein weißes Gespenst und flog ebenfalls um die Ecke.

»Ein Spitzbube! haltet ihn! ein Dieb!« schrie es unaufhörlich auf der Straße, erst sich entfernend, dann wieder näher kommend.

Drüben ging die Stubenthür auf.

»Das muß doch die Birnbaum sein,« sprach die Stimme Hippes. »Sei nur ruhig, Mutter! es geschieht mir schon nichts, ich will nur sehen, ob es etwa unten gewesen ist. Na, so was! Ordentlich gestohlen ist doch lange im Dorfe nicht worden.«

Damit lief der Schneider in das Haus hinunter und gleichfalls durch den Hof auf die Straße.

Trude lag auf den Dielen, halb besinnungslos, den Kopf in die Arme vergraben. Sie zweifelte keinen Augenblick, daß ihr Vater – wenn der Gänsedieb wirklich ihr Vater war – unten zu stehlen versucht hatte. Sein Ausfragen wegen der Wohnung, sein Ausbleiben, seine Weigerung, sich bei den Schneidersleuten zu zeigen – all das war ihr nun schrecklich klar. Und sie – sie hatte ihn eingeführt, hatte ihm den Weg geebnet, hatte den Hund für ihn an die Kette gelegt, sie – sein Kind, sein Kind! Das Heiligste, das Recht eines Vaters an sein Kind, hatte der Mann gemißbraucht, um bequem einen Diebstahl auszuführen! Sie hatte mit ihm von Herzen zu Herzen reden wollen, und indes sie seiner wartete, machte er sie zur Mitschuldigen eines Diebstahls!

Ob man bemerken würde, daß sie ihm geholfen?

Vielleicht nicht – –

Ja, ja, doch! Sie war ja spät den Weg gekommen, die Thüren konnte niemand offen gelassen haben als sie. Aber konnte er nicht eingestiegen sein? einen Schlüssel – – nein! Sie hätte die Hofthür verriegeln sollen –

Wozu denken? Abwarten, was kommen würde!

Sie versank wieder in apathisches Brüten, indes ihr Herz zum Zerspringen klopfte und Fieberschauer über ihren Körper rieselten.

»Herr Gott, ist's möglich! der Mühlbacher!« sagte unten der Schneider. »Ach, die arme, arme Trude!«

»Jawohl, der Mühlbacher; der Veit hat ihn gut abgefangen und jetzt werden sie ihn schon beim Schulzen vorhaben. Der Schulze wird wohl kommen und hier alles besehen. Na, und wie er hereingekommen ist, da fragt nur die in der Kammer da oben. Art läßt nicht von Art. Die ist spät noch draußen gewesen, zu allerletzt – das sieht doch ein Blinder, daß die Sache nicht richtig ist.«

»Ich glaub's nicht und glaub's nicht.«

»Das ist ganz gleich, ob Ihr's glaubt. Das wird sich ausweisen. Geht nur hinauf und seht nach ihr! Sie wird schon thun, als ob sie schliefe, aber das soll ihr nichts nützen. Der Spitz hätte sich von dem Menschen nicht anlegen lassen, das weiß ich. Nein, nein, so was, und heute konfirmiert! Das ist ein rechtes Früchtchen, ein rechtes Engelchen; sie werden ihr auf dem Gericht schon die Flügel beschneiden.«

Der Schneider kam brummend herauf – Trude zuckte zusammen und faßte, sich aufrichtend, stöhnend nach dem Herzen. Da that sich die Thür auf, und der Schneider stand wie angewurzelt, als er sein Pflegekind da angekleidet auf den Dielen kauern sah.

»Trude, Trude, was hast du gethan!«

Drüben öffnete sich noch eine Thür und die Schneiderin erschien mit dem Licht.

»Mutter, der Mühlbacher ist hier und hat bei Birnbaums stehlen wollen, und ich glaube – ja ich glaub's nun, unsre Trude hat ihn hereingelassen,« sagte der Schneider mit tonloser Stimme, welche gegen das Ende brach, als schlüge er in Weinen um. Er weinte wirklich. Die Schneiderin stand leichenblaß und zitterte.

»Es ist nicht möglich, es ist ja wohl nicht möglich!«

»Ja, ich hab's gethan, Vater, Mutter,« schrie Trude auf und lag auf den Knieen, die Hände zu den beiden aufhebend. »Aber ich habe, so wahr ich heute in der Kirche vor dem lieben Gott gestanden, nicht gewußt, daß er stehlen wollte.«

Der Schneider zog den Stuhl neben sie, setzte sich und nahm ihre Hände.

»Wie ist das geschehen? Wo hast du ihn getroffen?«

Trude erzählte unter strömenden Thränen. Sie klagte sich an und sie bezeugte doch nur ihre Unschuld.

»Ja, ja, so ist's gewiß!« nickte der Schneider und nahm sie um den Kopf und streichelte sie krampfhaft. »So begreif ich's.«

»Das war dumm von ihr,« meinte die Schneiderin, die gefaßter war als die beiden. »Aber anhaben können sie ihr doch darum nichts.«

»Wir wollen sehen,« sprach Meister Hippe. »Vors Gericht wird sie wohl müssen, wenn sie ihr auch ansehen werden, daß sie unschuldig ist. Gott geb's, Gott geb's! Es ist ein Unglück, daß sie solch einen Vater hat. Geh zu Bett, Mutter! du erkältest dich. Ich will bei dem Kinde bleiben, bis der Schulze kommt. Geh, du bist zu leicht angezogen!«

Die Schneidersfrau fuhr Trude betrübt und voller Mitleid über das Haar.

»Aengstige dich nicht so sehr, Trudchen! Es wird schon alles gut werden. O du lieber Himmel – schlafen kann ich doch nicht.«

Die zwei blieben stumm allein; Trude schluchzte dann und wann auf, der Schneider schwieg und schnalzte nur zuweilen mit der Zunge. Nach einiger Zeit wurde es laut unter ihnen – endlich kam es herauf, der Schulze mit den Birnbaumschen, welche ein Licht mitbrachten. Der Schneider hatte ihnen durch Zurufen selbst den Weg zur Kammer Trudes gewiesen.

»Je ja, was ist das für eine Sache!« begann kopfschüttelnd der Schulze.

»Na? – Sogar noch angezogen! Ganz so, wie sie fortgegangen ist, auf den Kirchhof – ja wohl, Kirchhof!« zeterte erbittert die Krämersfrau.

»Ja, schöner Kirchhof,« sagte die Baßstimme des dicken Krämers, der kopfwackelnd dastand und ausspuckte.

»Ich habe alles von Trude gehört,« hub Meister Hippe an, »und will es der Reihe nach ordentlich erzählen, nachher könnt ihr sie fragen, ob's wahr ist. Das Kind ist ja ganz krank.«

Und er berichtete, was er aus Trudes Mund wußte.

»Das klingt alles sehr gut, aber wer sich das ausgedacht hat, weiß keiner; Ihr hättet das Mädchen fragen sollen, Schulze,« sprach die Krämersfrau spitzig.

»Ja, fragen sollen,« nickte ihr Mann dahinter und spuckte wieder aus.

»Das ist meine Sache,« wies der Schulze ab. Und nun begann er Trude auszufragen, ohne viel Neues herauszubekommen.

»Hm, das ist schlimm,« sagte er endlich kopfschüttelnd. »Vors Gericht muß das Mädchen. Einesteils thut mir's um sie leid, andernteils bin ich froh, daß wir den Mühlbacher haben und die dumme Geschichte mit dem Grundstücke zu Ende geht. Wenn er doppelt verkauft hat, gibt das nun ein Absitzen. Gute Nacht, Hippe! Es ist eine sehr dumme Geschichte.«

Draußen verhallten die Schritte die Treppe hinab, das mondhelle Zimmerchen umschloß wieder nur den Pflegevater und das Pflegekind.

»Ein traurig Ding, daß du wider deinen Vater zeugen mußt,« sagte der Meister, und löste den Arm sanft von Trudes Hals. »An deine eigene Schuld wird das Gericht schon nicht glauben.«

»Ich fürchte mich vor dem Gericht, Vater.« Trude schauerte zusammen. »Ich möchte fort, irgend wohin, wo sie mich nicht finden können. Ich möchte meinen Vater nicht wieder sehen, er ist so schrecklich.«

»Fasse dich! das muß auch noch überwunden werden.«

»Ich halt's nicht aus, ich ertrage es nicht.«

»Morgen denkst du schon ruhiger darüber. Die Suppe, die eben vom Feuer kommt, ist immer heiß. Das gibt sich. Lege dich nur zu Bett und sieh zu, daß du so bald wie möglich einschläfst! Gute Nacht, Trudchen; steh auf! Gute Nacht, mein Töchterchen!«

Er ging. Keine Seele war mehr bei ihr.

Sie war aufgestanden und saß auf dem Stuhl, wo der Meister gesessen, wirr im Kopf, das Herz zum Zerspringen voll. Vor ihren verschwollenen Augen zogen abwechselnd die Bilder auf, die sie am meisten quälten: ihr Vater, der Dieb, unten von dem Nachtwächter gefaßt, von Leuten umstanden, die mit der seinigen an ihre eigene Schande glaubten, dann die Vorstellung beim Gericht, das über sie zu urteilen hatte. Der Zauber und Friede des Tags, der so wohlthuend, so voll Himmelssegen für ihre Seele verstrichen, war ihr entschwunden; Scham und Angst – tiefe, wachsende Angst, das war der Grundton ihrer Empfindung. Sie hörte die höhnischen Stimmen, sah die neugierig schadenfrohen Gesichter, welche nach ihrem Anblick lechzten: wie konnte sie noch auf die Dorfstraße gehen? Sie kam wohl auf die Armesünderbank neben den Vater – o des entsetzlichen Schicksals, das ihr solch einen Vater gegeben! – Jede kindliche Regung schwieg in ihr, nur mit Grauen gedachte sie seiner. Und dann kam wieder die Angst, die nicht abzuschütteln war, die ihr die Sinne verwirrte, die sie forttrieb – gleichgültig wohin; nur von hier weg, in ein Versteck, eine Verborgenheit, daß alles, was auf den Diebstahl folgte, ohne ihre Gegenwart vor sich gehen mußte –

Sie preßte die Hände vor den Kopf, vor die Brust, sprang auf und trat stöhnend an das Fenster, in den Mondschein, der hell in ihr verweintes Gesicht fiel. Im Hause war es still, im Hof heulte eben der Hund halblaut auf.

Sie konnte hinuntergehen, fort, in die Mondnacht, in den Wald – irgendwo gab es einen Ort, zu dem sie gelangen mußte; sie konnte kochen, eine Wohnung sauber im Stande halten, plätten, etwas nähen: sie fand wohl unschwer einen Dienst in einer Stadt, wo man sie nicht suchte. Wenn sie verschwunden war, kümmerte man sich vielleicht gar nicht weiter um sie. Oder – wenn sie den Förster zu treffen suchte? Der war ja noch in der Nähe, im Krug, wo er diese Nacht hatte zubringen wollen. Der würde bestimmt sorgen, daß sie eine verborgene Unterkunft fand.

Das war's! der Förster mußte ihr helfen.

Ganz früh wollte der fahren: die Chaussee hin, welche an der verfallenen Waldhütte vorüber führte. Sie mußte noch in der Nacht wandern, vielleicht eine Stunde weit, und ihm in einem Versteck aufpassen.

Sollte sie Hippes etwas davon sagen?

Nein. Sie würden sie zu halten suchen.

Die guten Pflegeeltern! Sie wußte, daß sie das schwerste Heimweh, den bittersten Trennungsschmerz empfinden würde, wenn sie erst zur Ruhe gekommen sein würde. Aber was sollte sie jetzt anders thun, als sie heimlich verlassen? Der Förster mußte ihnen Bescheid sagen, schreiben – sie selber wollte ihnen den rührendsten Brief schreiben und sie um Verzeihung bitten; vielleicht trafen sie heimlich manchmal auf der Försterei zusammen und feierten ein Wiedersehen. Hier bleiben konnte sie nicht, es ging nicht, alles in ihr empörte sich dagegen.

Ueber einem Kleiderständer hing ihr Tuch, das sie auf den Kirchhof mitbekommen hatte. Mit leidenschaftlicher Aufwallung griff sie danach und schwang es sich um. Sie zog sich die Schuhe aus, nahm sie in die Hand und öffnete so leise wie möglich die Thür. Eine knarrende Treppenstufe jagte ihr Entsetzen ein, daß sie auf Augenblicke wie erstarrt dastand. Dann stieg sie tiefer, schob den Riegel von der Hausthür und trat in den Hof. Der Hund bellte erst auf und winselte dann – niemand hatte daran gedacht, ihn von der Kette zu nehmen, und Trude that es auch nicht. Sie zog so hastig wie möglich die Schuhe wieder an, öffnete auch die Hofthür – da stand sie auf der mondhellen Straße. Und nun vorwärts! Die Dorfköter fuhren aus den Thorwegen, und sie hatte Not, sich ihrer zu erwehren. Sie kam an dem letzten Hause vorüber, lief die Chaussee hin, stutzte an dem Waldwege, der bis zu der Waldhütte hin laufend und dort wieder in die Chaussee mündend den Weg abkürzte, und wählte ihn nach kurzem Besinnen.

Nun wußte sie nichts mehr, als daß sie lief, kletterte, nach Atem rang, bis sie unterhalb der Waldhütte ankam. Mit raschem Entschlusse stieg sie hinauf; sie konnte in dem verfallenen Gemäuer rasten, bis der Förster anlangte. Das Mondlicht zeigte ihr, was sie sehen wollte.

Der Gänseverschlag war umgebrochen. Die Thür der Hausruine stand halb offen – das Dach war schräg eingesunken, so daß es noch immer einen Schutz für den Raum der ehemaligen Stube bildete. Im übrigen war in diesem Raum nichts als wüster Unkraut- und Graswuchs sichtbar, und in einer Ecke eine aus aufgehäuften und vertrockneten Rasenstücken gebildete Erhöhung. Wer mochte sie aufgehäuft, etwa als Kopfkissen für die Nacht benutzt haben? Am Ende gar ihr Vater – –?

Sie setzte sich darauf und zog das Tuch fröstelnd um die Schultern. Sie war nicht mehr das gegen alle Witterung abgehärtete Waldkind. Sie saß, saß, wurde müder und müder, nickte endlich in unruhigem Schlummer. Zuweilen schrak sie auf und öffnete die Augen, dann sanken die Lider wieder. Nur hatte sie das Gefühl in sich, daß sie nicht schlafen dürfe. Und als sie einmal die Augen aufschlug und den Himmel blau sah, sprang sie entsetzt auf und stürmte hinaus. Die Gegend lag im frühen Morgen vor ihr.

Es konnte fünf Uhr sein. War der Förster schon vorüber oder nicht? Es blieb keine Wahl, sie mußte das Warten aufgeben und die Chaussee entlang weiter wandern. Entweder er holte sie ein, oder sie war auf alle Fälle gezwungen, diesen Weg zu schreiten.

Ihr Kopf war wüst, sie noch immer schlaftrunken.

Endlich, nach einer halben Stunde vielleicht, kam ein Wagen hinter ihr. Sie sprang zwischen die Bäume – es war richtig der Förster, und sie wagte sich wieder hervor. Er sah sie und gab dem Pferde einen Hieb, dann hielt er eine blaue Schleife hoch – ihre Schleife, denn im Haar, in das sie griff, fehlte dieselbe.

»Mädchen!« rief er, »was treibst du, warum bist du fortgelaufen? Ich war heute früh, wo ich von dem hörte, was sich die Nacht ereignet, bei deinen Eltern, und da wurden wir erst gewahr, daß du nicht in deiner Kammer seiest. Ich sage gleich, du bist entflohen, setze mich auf den Wagen und jage bis zur Waldhütte – da finde ich deine Schleife; ich habe sie gestern an dir gesehen.«

Er war schon vom Wagen gesprungen und stand vor ihr.

»Nehmen Sie mich mit, Herr Förster!« sagte Trude aufgeregt. »Ich kann und kann nicht im Dorfe bleiben. Sie müssen mich verstecken, niemand im Dorfe soll wissen, wo ich bleibe – ich halt's nicht aus, daß man mich auslacht und vor Gericht stellt, eher thue ich mir ein Leids an.«

»Das ist hoffentlich nicht dein Ernst, daß du dir ein Leids anthun willst. So wär's freilich bequem, Trudchen, sich mit dem Schicksal abzufinden; aber das will Gott nicht haben, auf den du gestern konfirmiert bist. Da du nun einmal so ein Trotzkopf bist, muß ich schon sehen, wie ich dir auf deine Art helfe. Steig auf den Wagen! ich nehme dich mal erst zu mir, und dann will ich versuchen, weiter zu sorgen.«

Er hatte ein ernsteres Gesicht als sonst, doch weich in Mitleid und voll Güte in dem Vorsatz, dem armen Kind ein treuer Berater und Helfer zu sein in seiner Not. Das Wägelchen hatte gerade zwei Sitze, und sie saßen so tröstlich bei einander, und der Schecke griff aus, was das Zeug halten wollte. Trude seufzte zuweilen und sah mit den dunklen, übernächtigen, geröteten Augen scheu nach ihrem Nachbar; der saß in Nachdenken und blickte auch manchmal auf Trude, aber nicht scheu, sondern freundlich und zuversichtlich.

»Am liebsten behielt' ich dich in meinem Hause, Trude,« meinte er einmal plötzlich. »Aber ich fürchte, da bist du nicht sicher genug. Und ich habe eine andre Idee, eine ganz merkwürdige Idee. Willst du mir in allem gehorchen, was ich über dich bestimme? Du mußt natürlich gewiß glauben, daß ich alles zu deinem Besten will.«

Trude sah ihn mit den schwarzen flehenden Augen an.

»Ja,« sagte sie voll Vertrauen.

8. Trude wird als Medizin verschrieben.

Hartberg war ein hübsches Städtchen. Es lag am Abhange des Gebirges, das hier ziemlich plötzlich in die weite Ebene überging. Die letzte Abdachung des Gebirges hatte allerlei Schluchten und Buchten und mit ein paar Straßen ging der Ort in solche grüne Bergwinkel hinein, während der größte Teil eben lag. Ein Flüßchen, das aus Bergwassern entstand und hier schon ein Dutzend Fuß breit war, zog hart am Ort vorüber und schlängelte sich mit rascher Krümmung plötzlich in die Ebene hinein.

An dem Flüßchen lagen die feinsten Häuser von Hartberg, Villen mit Gärten.

Eine der letzten Villen bewohnte der Rentner Meckenbuscher. Sie hatte den größten Garten – denn der Alte hatte einst die ganze Gegend am Flusse hin angekauft und nach und nach wohl einen Teil mit Häusern besiedelt und verkauft, aber er hatte sich doch so viel behalten, daß niemand ein schöneres Grundstück bewohnte als er selber. Möglich, daß er nur zu alt und zu bequem wurde, um noch weiter zu spekulieren, oder daß er sich sagte: Du hast ja niemand, für den du noch Geld zu häufen brauchst, selber hast du genug und übergenug; der reichste Mann in der Stadt bleibst du wahrscheinlich, so lange du lebst.

Doch sehr viel Sorgfalt und Pflege zeigte das Aussehen des Gartens just nicht. Die Anlagen waren arg verwuchert, namentlich die nach dem Flusse zu gelegenen Partien: der Rasen von Unkraut durchsetzt. Ein Gartenhaus mit zwei leidlich großen Zimmern lag ganz vergraben in wilden Wein, dessen Ranken noch weithin über die Wege krochen bis zu einer umgebenden Wildnis von Jasmin, Zentifolien, Stachelbeeren und Himbeeren. Am Flusse hin trieb in voller Freiheit eine Rotdornhecke mit langen Schossen. Ein kleiner Weiher, der mit dem Flusse Verbindung hatte, eingeschlossen von Fliedergebüsch und Trauerweiden, war ganz versumpft und voll Teichlinsen. Breite Beete mit Resten einstiger Rosenanlagen standen voll Nesseln, Wildhafer, Vogelmiere und dergleichen Kräutich. Nur die Obstplantage in der Nähe der Villa und die unmittelbare Umgebung der letzteren zeigten die Hand des Gärtners.

Die Villa war ein einstöckiger Bau, sauber grau gestrichen; ein kleiner Uebersatz gab wohl noch zwei oder drei Stuben her. Die Thür lag in einer Nische, zu welcher Treppenstufen von dem Vorgärtchen aufwärts führten und in welcher rechts und links grüne gerundete Bänke standen. Seitlich schloß an das niedrige Vorgartengitter ein Gitterthor an, durch welches der Weg zu einem Höfchen mit Ställen und Remise führte. Denn mit einigem andern Getier hielt sich Herr Meckenbuscher auch ein paar Wagenpferde für einen schmucken Landauer. Das hatte er von seiner einstigen Eigenschaft als Gutsbesitzer her behalten, daß er etwas auf eine gute Kutsche und stattliche Pferde gab.

Er fuhr darum nicht etwa jetzt noch häufig oder gern aus. Er war sehr alt und gebrechlich, von Rheumatismus und Gicht krumm gezogen, ängstlich besorgt um sein Leben, das vielleicht eine geringe Erschütterung aus den Fugen brachte. Nur zuweilen, an sehr schönen Tagen, rollte der Landauer mit Herrn Meckenbuscher als Insassen langsam den gemächlich schreitenden Pferden nach auf der gut chaussierten Kastanienallee, welche er selbst bis zur Stadt hin angelegt, und deren Fortsetzung, welche die Stadt von alters her umzog. Im übrigen ging er täglich früh eine Stunde und gegen Abend eine Stunde am Stocke in seinem Garten auf und ab, einen Diener hinter sich, der jeden Winks gewärtig sein mußte und dessen Thätigkeit vorzugsweise darin bestand, einen Klappstuhl aufzustellen, sobald Herr Meckenbuscher die leiseste Ermüdung spürte. Tags über saß er sonst in seiner altmodisch, aber reich ausmöblierten Wohnung im Lehnstuhl, lesend oder in den Halbschlaf des hohen Greisenalters versunken, wenn er nicht wirklich schlief oder die Gicht ihn wach hielt. Geschäftlich hatte er wenig mehr zu thun; sein Vermögen war fest angelegt, und er strich einfach die baren Einkünfte ein und legte den Ueberschuß wiederum sicher an.

Er war ein einsamer, grilliger alter Mann, der fast gar keinen, jedenfalls keinen freundschaftlichen Umgang und Verkehr mehr hatte, ausgenommen den mit seinem Arzte. Er hatte sich in früherer Zeit mit aller Welt verfeindet, und nun büßte er dafür, obwohl das hohe Alter die unangenehmen Eigenschaften, durch die er früher allenthalben angestoßen, abgestumpft und gemildert hatte. Höchstens die Gichtanfälle machten ihn wieder auf Tage unleidlich; sonst hatte seine Dienerschaft nicht über ihn zu klagen, nicht einmal mehr über seinen Geiz.

Am wenigsten sein Arzt, dem er sein Leben anvertraut hatte, von dem es, wenn nicht seinen Gedanken, so doch seinem Gefühl nach abhing, wie lange sich sein Lebensfaden noch hinspann. Und er wollte doch gar zu ungern sterben! Der Doktor durfte Rechnungen schreiben, so hoch er wollte, kommen, so oft er wollte. Er war sogar auf den Einfall gekommen, den Arzt für sich allein zu gewinnen: das Geld hatte er ja dazu. Allein der Mann hatte gesagt, er müsse nach Herrn Meckenbuschers Tode auch leben und hätte keine Lust, andre Aerzte sich das Vertrauen der Leute vorwegnehmen zu lassen; außerdem hatte er eins nicht gesagt, sondern bloß gedacht: daß es ihm sehr wenig angenehm dünke, in Diensten eines einzelnen Mannes, wie Herr Meckenbuscher, zu stehen und seinen Wünschen und Launen zur Verfügung zu sein.

So standen die Sachen, als eines Tages der Doktor Grille, wie nicht selten, ungerufen zu dem reichen alten Herrn kam.

Er trat ein, als ob er hier zu Hause und die Vorsehung des Alten wäre, der da mit seinem schmalen Graukopf, den rötlich grauen Augen in dem verwitterten, verwelkten Gesicht, darein sich Rot, Braun, Blau und Gelb mit seltsamem Durcheinander auf der Haut mischten, im lederüberzogenen Lehnstuhl saß. Die Miene des Alten, der eben von einem Schläfchen erwacht zu sein schien, hellte sich beim Anblick des noch jungen Mannes auf, der nach kurzem Gruß bequem seine Brillengläser putzte, ehe er auf seinen Patienten zuging.

»Wie geht's heute, Papachen? Gut geschlafen? Blutumlauf in Ordnung? Verdauung auch?«

»So so, Doktorchen! Etwas Aerger gehabt heute morgen. Man will ja wohl sich davor hüten, aber der alte Adam spukt einem immer noch in den Gliedern.«

»Müssen ein Gegengift nehmen; sich über etwas amüsieren. Würde mir ein Dutzend Affen im Käfig halten, die mir das Zwerchfell etwas erschütterten. Scherz beiseite! der Einfall hat etwas für sich, wenn's auch nicht gerade Affen sind. Wissen Sie, woran ich schon gedacht habe?« – Er zog sich einen Stuhl in die Nähe des alten Herrn. – »Sie brauchten etwas Jugend um sich. So ein junges nettes Ding, welches ein wenig Großpapa mit Ihnen spielte, daß Ihnen das Herz davon aufginge. Sie glauben nicht, wie die Nähe von Jugend jung macht, die Grillen vertreibt, das Blut belebt, die Nerven angenehm berührt und in Funktion setzt. Ihnen fehlt so ziemlich, was Ihnen schadet, aber auch alles, was Ihnen nützt, und dies ist reichlich ebensoviel wie jenes wert. So ein junges Ding, das sich so weich um Sie bewegt, teilt Ihnen sympathisch etwas von seiner Geschmeidigkeit mit; sein lachender Mund lacht Ihnen Sonnenschein in das Herz, sein warmes Herzblut strömt Wärme auf Sie aus. Sie können sich gar nicht mehr ärgern, es ist Ihnen viel zu wohlig dazu. Langeweile ist wohl mitunter die beste Medizin, wo sie angebracht ist; für Sie aber ist sie verderblich. Lassen Sie sich vorlesen, vorplaudern, vorlachen, lassen Sie sich streicheln und bedauern und helfen, wie Ihnen kein Diener hilft – Sie leben zehn Jahre länger, ich möchte meinen Kopf darauf verwetten. Was meinen Sie dazu? Ich hätte geradezu Lust, Ihnen das Mittelchen als Rezept zu verschreiben und Ihnen eine gehörige Rechnung dafür zu machen.«

»Hm!« sagte Herr Meckenbuscher, »das klingt nach etwas, Doktorchen. Wenn Sie meinen: man könnte es ja versuchen, ob's mir bekommt. Aber woher solch ein junges Ding nehmen, das mir paßt? Die meisten jungen Mädchen halten das schon gar nicht aus bei mir; das hat seinen eigenen Kopf, möchte sich putzen, spazieren gehen, das ist gekränkt und beleidigt – ich habe früher schon meine liebe Not mit den Gouvernanten gehabt.«

»Ich müßte freilich selber aussuchen, Papachen. Das Ding ist so leicht nicht, darin haben Sie recht. Wenn ich Ihnen etwas brächte, müßte ich glauben, daß es für die Kur das Richtige wäre; freilich, ich kann mich dennoch vergriffen haben – nun, so ein Mädel ist leicht weggeschickt mit einer Hand voll Thalern in der Tasche. Groß ist das Risiko nicht. Geben Sie mir Vollmacht, Papachen!«

Doktor Grille sah so unschuldig und überzeugt drein bei dem wichtigen Vorschlage, daß der Alte lächelnd einwilligte.

Vor zehn Jahren noch hätte er die Idee, ein Kind im Hause zu haben, ein Mädchen noch dazu, auf das bitterste zurückgewiesen. Damals hatte die Erinnerung an die verlorene Tochter noch volle Kraft, und er hatte selber noch Kraft genug, um sich einem Winke des Arztes zu widersetzen. Jetzt war das anders. Er dachte nicht mehr an vergangenen Groll; die Sorge um die Erhaltung des Lebens verschlang alles, Liebe und Haß, Erinnerungen und Vorsätze.

»Aber nicht zu jung, Doktor! Mit der Schule will ich nichts mehr zu thun haben.«

»Brav, Papachen! Mit solch einem vernünftigen Patienten ist gut kurieren. Wir wollen Wunder thun, verlassen Sie sich darauf!«

Draußen ging der Doktor Grille ein gut Stück von der Villa nach der Stadt zu, ehe er sein Geschäftsgesicht zu einem schlauen Schmunzeln verzog.

»Freund Förster,« dachte er für sich, »wir haben Glück. Nun wünsche ich nur, daß das arme Ding die rechte ist, um den alten Murrkopf zufrieden zu stellen. Ausgleichen hüben und drüben will ich schon, aber das geht doch nicht unter allen Umständen. Ein sehr heiteres Temperament scheint mir das Mädchen nicht zu haben; aber vielleicht ist dem Alten ein ruhiges Wesen angenehmer. Wir müssen ihr einschärfen, daß sie die Empfindlichkeit aufgibt und Thränen verschlucken lernt – denn wenn ihn die Gicht plagt, so ist schlecht Kirschen essen mit ihm. Ah bah – es wird versucht. Es gilt ein gut Werk an dem armen Ding, und vielleicht an dem Meckenbuscher dazu. Und noch heute fahre ich in den Wald hinaus; in ein paar Tagen wollen wir die Kleine einführen.«

Das war's, woran der Förster auf dem Wagen gedacht hatte: er wollte mit dem ihm befreundeten Arzt des Urgroßvaters reden, um diesem die Urenkelin zuzuführen. Ein Plan, der ihm selber anfangs abenteuerlich bedünken wollte, und der doch glücken sollte!

Und Doktor Grille fuhr wirklich hinaus, und der Förster sprang in der Stube herum, wie wenn er eine Ladung Schrot von einem ungeschickten Schützen in die Beine bekommen hätte, aber vor Freude: »Doktor, Doktor, ich habe nie eine Grille ein lieblicheres Lied singen hören! Denken Sie, wenn sich das Mädchen mit dem Alten so vertrüge, daß man ihm eines Tags mit der Wahrheit kommen dürfte! Das Kind würde eine Erbin, wie zehn Meilen in der Runde keine!« Und die Männer saßen nachher bei einer Flasche Wein und besprachen erst für sich noch allerlei Näheres, und dann holten sie Trude herzu, welche mit tiefer Erregung hörte, daß sie einen Urgroßvater in Hartberg habe, der von ihr nichts wissen wolle, zu dem sie aber unerkannt als Gesellschafterin und Pflegerin gehen solle, um sein Sonnenschein für die letzten Jahre zu werden und mit unwandelbarer Liebe und Geduld sein Herz zu gewinnen, bis der Schnee darin schmelze und dem alten knorrigen und vergrillten und kränklichen Manne bedünke, er werde selber noch einmal jung. Verschwiegenheit und Geduld, das sollte sie sich täglich und stündlich wiederholen; vielleicht, daß dann der Tag käme, wo der alte Herr Meckenbuscher glücklich sein würde zu erfahren, daß es sein Urenkelkind sei, was da mit seinem eigenen Fleisch und Blut um ihn wandle, ihn anlächle, ihm das Herz erwärme. Vorläufig solle sie als die Verwandte des Försters gelten, ein Jägerkind, das in größerer Entfernung ganz im Walde groß geworden und welchem Vater und Mutter früh gestorben seien.

Fritz Bergen

Waldtrude I

Der Doktor Grille übernahm es, zunächst dem Alten diese Mitteilung zu machen. Herr Meckenbuscher hörte nachdenklich zu – aber die ganze Aussicht schien ihm zu gefallen, wenigstens gab er Zeichen, daß er die Versprochene mit einiger Ungeduld erwarte.

Am nächsten Tage hielt des Doktors Wagen vor der Villa des Herrn Meckenbuscher, und wer herausstieg, war der Arzt mit Trude. Der alte Herr blieb im Lehnstuhl sitzen, als das schlanke, jungfräuliche Mädchen mit dem von Beklommenheit rosig gefärbten feinen Gesichtchen eintrat und mit einer plötzlichen Bewegung auf ihn zuging, ihm die Hand zu küssen. Das war ihr Urgroßvater, der Vater ihrer längstverstorbenen Großmutter: eine Menschenruine, ähnlich einer jener alten hohlen Weiden, welche nur durch ein wenig Grün verraten, daß sie noch Leben haben. Und der Doktor gewahrte mit Befriedigung, daß der Alte sichtlich Wohlgefallen an der dunklen Schönheit und der schmiegsamen Grazie des Mädchens hatte und behaglich lächelte.

»Trude heißest du?«

»Ja, Herr Meckenbuscher.«

»Nenne mich Onkel! Und du willst es wirklich versuchen, mit mir altem Krautstrunk zusammen zu leben? Wenn ich nun knarrig bin und dich schelte?«

»So will ich hier knieen und bitten, daß Sie wieder gut werden, Onkel.«

»Aber ich bin manchmal krank, und dann geht das nicht so leicht mit dem Gutwerden.«

»Dann werde ich Geduld haben und mit Ihnen leiden.«

»Sage ›Du‹ zu mir, Kleine. Du bist ein Ding wie von Sammet, und ich hoffe, wir werden uns vertragen.«

Er klingelte. Ein Diener erschien.

»Schaffe den Koffer von Fräulein Gertrud auf das Zimmer, das Trine für sie zurecht gemacht hat, und führe sie selber hinauf! Sage den Leuten, daß sie wie meine Tochter behandelt wird –«

Er zuckte zusammen, als er »Tochter« gesagt hatte und schwieg einen Augenblick, vor sich hinstarrend. Doch klärte sich sein Gesicht rasch wieder.

»Oben wartet allerlei Mädchenkram, Kleine, damit putze dich! In einer Stunde ist Mittag, dann komme herunter! Aber binde dir ein weißes Latzschürzchen vor! ich liebe das. Jetzt will ich erst mit dem Doktor reden.«

Trude fand ein reizendes Mädchenstübchen – sie ahnte nicht, daß es ihrer Großmutter gehört hatte, das Stübchen und dies Allerlei von Bänderwerk und Schmuck und Kleiderkram und Wäsche: denn der Maler, ihr Großvater, hatte seinen Kopf aufgesetzt und so wenig wie möglich von seiner jungen Frau mit in die Ehe bringen lassen. Und nachdem sie eine Weile da gesessen, das Herz voll Sturm und Weh und Hoffnung und guter Vorsätze, bis sich das alles in einem Ausbruch von Weinen Luft gemacht, da erwachte die Mädchenneugier und sie suchte und ordnete, daß die Stunde wie im Umsehen verging.

So seltsam hatte sie nun das Geschick in die Verwandtschaft zurückgeführt, um der kaum den Kinderschuhen Entwachsenen gleich eine ernste Aufgabe zu stellen: die, das kümmerliche Flämmchen Lebenslicht ihres greisen Ahnen zu pflegen, der wie ein Stück Vorzeit mit seinem Runengesicht in die blühende Gegenwart hineinragte. Und es war eine Freude, zu sehen, wie sie sich ihrer Aufgabe gewachsen zeigte.

Das Bewußtsein, wen sie vor sich hatte und welches Ziel ihr winkte, gab ihrem Walten den geheimnisvollen Zug der Herzensteilnahme, erweckte ihr eine eigene Zartheit und jenen Sinn, welcher wie durch die Luft fühlt, was dem andern angenehm und unangenehm ist. Sie war weder übereifrig noch schüchtern: sie war da, wenn sie da sein mußte, und unsichtbar, sobald der alte Herr allein zu sein wünschte; war er leidend, so wirkte sie bloß mit ihrer stummen Gegenwart, die sich in Wahrheit wie Sammet um ihn legte. Eine kleine Aeußerung der Ungeduld brachte sie nicht aus ihrem ruhigen Geleise, und bei seinen Schmerzensrufen redete sie keine unwillkommenen Tröstungen, sie kniete nur auf den Teppich neben ihn, daß er ihre Hand fassen konnte und sah ihn zuweilen mit ihren traurigen schwarzen Samtaugen voll Liebe an.

Der Alte gab der »Kleinen« nicht viel Beweise von Zärtlichkeit, aber in seinem Wesen ging sichtlich eine Umwandlung vor: der starre vertrocknete Mann lächelte, nachdem er sie zuvor scharf angesehen, oft so warm und freundlich wie vielleicht nie – denn als sein Kind jung war, da stak er noch mitten im Jagen nach Erwerb; jetzt hielt nichts sein Herz ab, sich dem Reiz jugendlicher Anmut hinzugeben. Und der Doktor Grille wenigstens bekam es aus seinem Munde zu hören, daß ihm ein besseres Mittel als Trude noch nie verschrieben worden sei. Eine prachtvolle Uhr, mit einem Diamanten auf der Klappe, war der Ausdruck seines Dankes an den Arzt. Trude überschüttete er nicht mit Geschenken, aber es verstrich nie lange Zeit zwischen kleinen und großen Ueberraschungen, welche ihr Schätze Salomos dünkten. Es fiel sogar dem alten Herrn ein, für ihre Weiterbildung zu sorgen. Zwei Stunden wurden am Tage für Unterricht ausgeschieden, den eine Lehrerin leitete.

Das Geheimnis der Herkunft Trudes blieb gewahrt, dank der Abgeschiedenheit, in welcher Herr Meckenbuscher lebte. In der Stadt machte es zwar von sich reden, daß der Alte ein junges Mädchen zu sich genommen habe; aber Doktor Grille sorgte dafür, daß die Stimmen, welche auf der richtigen Spur waren, zum Schweigen gebracht wurden, und daß die Mär von der Verwandtschaft mit dem Förster Kienitz allgemein geglaubt ward.

Der Förster kam nur höchst selten, die angebliche Verwandte zu besuchen; aber Trude empfing ihn jedesmal um so freudiger. Der Alte unterhielt sich gern ein Viertelstündchen mit dem verständigen und munteren Manne, worauf Trude willig Urlaub erhielt, sich mit ihrem alten Freunde, dem sie so viel Dank schuldig war, in der Gartenwildnis zu ergehen. Hier plauderten sie beide von den Pflegeeltern, die um das Geheimnis wußten und Trude beglückwünschen und grüßen ließen, von den übrigen Leuten im Dorfe, die sie schon beinahe vergessen hatten, von dem lauschigen Försterhause mit seinen Fasanen, von dem Rehbock, der immer größer und stößiger wurde. Bei einem Besuch sah der Förster, als sie im Garten waren, Trude ernst an und kam endlich mit der Nachricht heraus: der Vater sei vor Gericht gewesen und zu ein paar Jahren Gefängnis verurteilt worden. Man habe nach Trude geforscht, doch nicht so ernstlich, da der Vater alles bekannt und seine Aussage völlig mit der Erzählung Trudes gestimmt habe, deren Bericht Meister Hippe vor dem Gericht vorzutragen genötigt worden sei. So war wenigstens die Sorge von ihr genommen, daß man sie hier aufspüren werde. Dafür weckte die Nachricht alle die Qual wieder in ihr auf, welche ihr das Wiederfinden eines solchen Vaters verursacht hatte, und der herzliche Zuspruch ihres Begleiters erwies sich als ungenügend, ihre traurige Miene aufzuhellen.

Jahre vergingen. Trude wuchs zu einer mild-ernsten Schönheit auf, und Herr Meckenbuscher hatte nur eine Sorge, zu der sie aber lächelte: sie könne heiraten wollen und ihren greisen Onkel wieder vereinsamen lassen. Endlich lächelte er auch zu dieser Idee: er wollte einen Damm vorlegen. Eines Tags besprach er mit einem Rechtsgelehrten den Plan, Trude als Kind zu adoptieren und zu seiner Erbin zu ernennen, falls sie gelobte, bis zu seiner letzten Stunde um ihn zu sein.

Zufällig kam der Förster tags darauf an, und Herr Meckenbuscher machte ihn mit seinem Plan bekannt. Was unter andern Umständen einen Verwandten mit höchster Freude erfüllt haben würde, trieb dem Förster alles Blut zum Herzen: jetzt war das Geheimnis nicht länger zu wahren, denn zum Zweck der Adoptierung mußten Dokumente über Trudes Herkunft vorgelegt werden.

9. Entscheidungen.

Der Förster ging, ein dringendes Geschäft vorschützend, ohne wie sonst mit Trude eine Weile zu plaudern, in das Städtchen hinab, in die Wohnung des Arztes. Es war ihm unmöglich, sofort mit der Wahrheit herauszuplatzen; er mußte den Gedanken, daß die Aufklärung sich nicht mehr hinausschieben lasse, erst innerlich verarbeiten, am besten ihn mit einem Vertrauten besprechen.

Doktor Grille war nicht zu Hause. So begab er sich in seinen Gasthof und saß nachdenklich und voll innerer Aufregung hinter einem Glase Bier. Jetzt kam das große Entweder – Oder. Er mußte sich darauf gefaßt machen, vielleicht Trude wieder mitnehmen zu müssen in die stille Försterei. Ob sie es ihm und dem Arzt dann danken würde, daß sie ihr für ein paar Jahre zu aller Verwöhnung mit den tausend Annehmlichkeiten eines reichen Haushaltes verholfen?

Vielleicht hätte er als »Verwandter« dagegen Verwahrung einlegen können, daß Trude von einem »Fremden« als Tochter adoptiert wurde. Aber hatte er ein Recht, Trude die Möglichkeit zu nehmen, daß die Entscheidung günstig ausfiel, daß sie eine reiche Erbin wurde? Nein, sie hatten ja von vornherein darauf gerechnet, daß an irgend einem Zeitpunkt dem Alten das Geheimnis eröffnet werden sollte.

Wenn der Alte Trude fortschickte? Seine Finger pochten bei diesem Gedanken unruhig auf dem Tische. Nun, dann war ja sein Haus da als vorläufige Zuflucht. Und was blieb ihr sonst übrig, wenn ihr das Meckenbuschersche Haus sich verschloß? In das Dorf, zu den Schneidersleuten, ging sie bestimmt nicht wieder. Ja, wenn sie nicht einen Vater besessen hätte, welcher Sträfling war! Oder wenn nicht das ganze Dorf darum gewußt hätte.

Er ging wieder zu Doktor Grille, jetzt um vieles ruhiger. Heimlich wünschte er fast, Herr Meckenbuscher möchte im Zorn Trude aus dem Hause weisen.

Doktor Grille schlug ein Schnippchen, als er von der Lage der Sache hörte.

»Freund Kienitz, das ist ein kritischer Moment. Das Schicksal winkt mit dem Finger, da hilft kein Zittern vorm Frost. Wir wollen zusammen hingehen, es ist nicht unmöglich, daß der Arzt bei der Ueberraschung nötig wird. Den Alten kann ein Hauch umblasen, der unerwartet kommt.«

Sie gingen zur Villa, der Arzt ruhig, der Förster mit Herzbeklemmung. Der Alte hieß sie willkommen; er schien wohl und guter Laune zu sein, und der Arzt flüsterte dem Förster zu, als sie sich Stühle zum Setzen herbeiholten, daß ihm das recht sei und daß er andernfalls die Eröffnung lieber verschoben gesehen hätte.

Sie sprachen dies und das.

»Ich habe aus der Schule geschwätzt, Herr Meckenbuscher,« fing endlich der Förster an, indem er einer kurzen Gesprächspause ein Ende machte. »Ich habe dem Doktor von Ihrer Absicht erzählt, Trudchen zu adoptieren.«

»Ist mir recht,« sagte Herr Meckenbuscher. »Sie sollen's bald alle wissen.«

»Hm,« fuhr der Förster fort, »wenn's nun am Ende gar nicht nötig wäre?«

»Wie meinen Sie das?« Der Alte blickte verwundert zu dem Sprecher auf.

»Es lebte hier vor Zeiten ein Maler, der, als er starb, eine Tochter hinterließ. Diese wuchs im Walde bei ihrer Großmutter kümmerlich auf und heiratete in einem der Walddörfer einen verarmten Bauern. Sie und ihr Mann starben und verdarben; sie hatten ein einziges Kind, eine Tochter, welche im Dorfe bei einfachen, aber braven Leuten erzogen wurde. – Es muß heraus, Herr Meckenbuscher: der Maler hieß Sturzer, seine Enkelin heißt Gertrud Mühlbacher.«

Der Alte war aschgrau im Gesicht und starrte den Förster sprachlos an. Sein eingefallener Mund bebte wie Espenlaub. Ein fremdartiges Stöhnen rang sich endlich aus seiner Brust und sein Kopf sank mit geschlossenen Lidern auf seine Schulter.

»Um Gotteswillen, klingeln Sie, Förster!« rief der Arzt.

Der Förster griff verstört zur Schelle, die auf dem Tisch neben Herrn Meckenbuscher stand.

»Wasser!« herrschte der Doktor den erscheinenden Diener an.

»Dort, dort!« sagte der, hinter einen Schrank deutend, wo jetzt erst dem Arzt die blinkende Karaffe auffiel. Er stürzte hin und goß dem Besinnungslosen davon über den Kopf, mehr und immer mehr, ohne Erfolg. Er faßte dem Alten an den Puls der welken Hand, riß ihm die Kleidung vor der Brust auf und horchte auf den Herzschlag. Dann zuckte er die Achseln.

»Ich weiß noch nicht, was sich daraus entwickeln wird. Es ist kein Grund da, zu verzweifeln. Aber er muß liegen. Fassen Sie mit an, Fritz!«

Im Zimmer stand ein Ruhebett mit niedriger Kopflehne. Der Arzt und der Diener trugen zusammen den alten Herrn auf das Ruhebett.

»Geben Sie eine Bürste her! Holen Sie Eis aus dem Keller! Und dann schicken Sie für alle Fälle zum Justizrat Schröder!«

Herr Meckenbuscher kam wieder zu sich – er hatte eine Miene voll Todesangst, als er den Arzt mit offenen Augen ansah.

»Geht's zu Ende, Doktor? Ich will nicht sterben!«

»Brauchen Sie hoffentlich auch noch nicht, wenn Sie ganz vernünftig und ruhig sind. Erschrecken Sie nicht, wenn der Justizrat kommt! – ich habe ihn zur Vorsorge bestellt, als ich noch nicht wußte, was es geben würde.«

»Nein, nein, ist mir ganz recht.«

Herr Meckenbuscher starrte eine Weile vor sich hin. Dazwischen fragte er: »Machen Sie mir auch nichts weiß, Doktor?« worauf der Arzt lächelnd sagte: »Bestimmt nicht.«

Endlich lächelte Herr Meckenbuscher, leise, ganz leise, und schlug wieder die Augen zum Doktor auf, der neben dem Ruhebette saß und seine Hand hielt, während der Förster hinausgegangen war, um zu verhüten, daß Trude hereinkam.

»Holen Sie mir die Kleine!«

»Papachen,« sagte der Doktor mit verhaltener Bewegung, »Sie rufen sich Ihre beste Medizin. Lohn's Ihnen der Himmel noch mit ein paar Jahren Leben!«

Er ging zur Thür und sprach hinaus.

Da kam es mit schwankenden Schritten über den Teppich her und sank bei dem Ruhebett auf die Kniee, leise schluchzend – Trude. Niemand außer dem Ahnen und dem Urenkelkind war im Zimmer, der Doktor durch die Thür entschlüpft. Herr Meckenbuscher hielt mit Anstrengung seine Hand zu ihr hin, ohne sich sonst zu bewegen. Und eine weiche junge Hand faßte sie, Thränen fielen darauf, und daneben küßte ihn ein warmer Mädchenmund wieder und wieder und flüsterte dazwischen Bitten um Verzeihung und zärtliche, bekümmerte Worte.

»Kleine,« sagte Herr Meckenbuscher, und es lag ein Ton von Schelmerei darin, und das klang gerade unsäglich rührend bei dem Mann, der im Angesicht des Todes dalag. »Kindeskind meiner Therese!« – – –

Trude mußte dem Justizrat Platz machen. Was sonst noch in der Zeit vorher im Zimmer geflüstert und empfunden worden, davor lag der Vorhang des Allerheiligsten. Trude war tief erschüttert; sie drückte nur dem Förster dankbar die Hand und fragte den Arzt auf das Gewissen, ob der Urgroßvater leben würde; der gab wenigstens Hoffnung. Dann zog sie sich für eine Stunde auf ihr Zimmer zurück.

Herr Meckenbuscher blieb wirklich noch am Leben. Trude wurde Stadtgespräch, ja das Tagesgespräch auf Meilen hinaus. In ihrem Heimatdorfe gab es einen wahren Sturm auf die Nachricht von ihrem Schicksal hin, und die Schneidersleute wurden von Neid und von Schmeicheleien darauf behandelt, daß sie nun wohl auch reich werden würden. Trude hätte sie gern einmal besucht; aber der Alte ließ sie nicht einen Tag von sich. Doch wurde er stumpfer und stumpfer, wie glücklich die Wendung der Dinge ihn auch machte.

Eines Nachmittags wachte er nicht mehr von seinem Schlummer auf. Trude umhüllte ihren Schmerz mit Trauerkleidern, und der Doktor Grille samt dem Förster wurden gebeten, ihr bei der Beerdigung des alten Herrn Beistand zu leisten; doch konnte der Förster nicht kommen.

Trude gewann ein junges Mädchen, das ihr Gesellschaft leistete, und lebte eine Weile still für sich hin. Alle Bemühungen, sie in die Gesellschaft des Städtchens zu ziehen, scheiterten. Sie fuhr gern spazieren, ging im Garten, indem sie mit ihrer Begleiterin überlegte, wie sie den verwahrlosten hübsch einrichten wollten, trieb allerlei Studien und weibliche Beschäftigungen und sorgte für Arme, denen sie gleich beim Antritt ihrer Erbschaft durch den Justizrat hatte eine große Summe aussetzen lassen. Sie konnte recht heiter sein, wenn auch Ausgelassenheit und Mutwillen ihr fremd waren. Sie hatte aber auch trübe Stunden, Stunden, wo sie sich selbst vor dem hübschen blonden Fräulein verschloß, das ihr Freundin geworden war.

Dann dachte sie an ihren Vater, der im Gefängnis saß, den Vagabunden, den Dieb und Einbrecher. Und seltsam – jetzt, da sie ihm fern, für ihn unerreichbar war, wachte immer lebhafter und wärmer das Mitleid mit ihm auf, und über das Grauenhafte, was seine Erscheinung für sie gehabt, legte sich ein dämpfender Schleier. Sie erwog sogar, ob sie nicht eines Tages sich aufmachen, ihn ihm Gefängnis aufsuchen sollte. Sie legte sich zurecht, wie sie ihn in ihre Nähe ziehen und versuchen wollte, ihn zu bessern – er brauchte ja doch nicht mehr zu vagabundieren, sich an fremdem Eigentum zu vergreifen; sie konnte ihm jeden Wunsch erfüllen. Von dem alten Leben abzulassen, ein neues anzufangen, das mußte sich unter diesen Umständen bei ihm doch wie von selbst machen.

Zuweilen freilich fühlte sie nur eines: daß dieser Unglückliche wie ein Klotz an der Kette des Galeerensklaven mit ihr zusammenhing, daß die Leute in ihr trotz ihres Geldes die Tochter eines Verbrechers sehen müßten. Sie fürchtete, daß man ihr in Gesellschaft dies nicht ganz verbergen könne, und das war mit ein Grund, weshalb sie allen Verkehr ablehnte.

Gern hätte sie mit dem Förster einmal über ihre Pläne wegen des Vaters gesprochen – zu keinem andern Menschen würde sie darüber den Mund aufgethan haben. Allein der Förster ließ sich nicht sehen. Es war ihr das auffällig genug und verdroß sie. Daß er nicht krank sei, wie sie gefürchtet, erfuhr sie vom Doktor Grille.

Fast ein halbes Jahr hielt sie die Entfremdung aus. An einem schönen Herbsttag aber fuhren die beiden Mädchen zu der hübschen Försterei mit den sechs mächtigen Tannen davor, den grünen Bänken und dem Hirschgeweih. Sie langten gegen Abend an, um den Besitzer zu Hause zu treffen, und ihre Rechnung hatte nicht getrogen.

Da stand der Förster Kienitz vor den Aussteigenden und machte ein ziemlich verlegenes Gesicht, sprach »Sie« und »gnädiges Fräulein« zu Trude, als er sie bewillkommnete, daß sie ihn ganz verblüfft ansah, ob es denn wirklich ihr alter Freund sei, der vor ihr so fremd that.

»Ja, aber was soll das?« stammelte sie ganz verblüfft. »Habe ich Ihnen etwas zuleide gethan, oder bin ich eine andre geworden, daß Sie mir so begegnen?«

Da kam es denn heraus, daß der Förster gemeint, weil Trude eine vornehme und reiche Dame geworden sei, gehe es nicht mehr an, daß er wie früher mit ihr verkehre, und doch habe er sich nicht überwinden können, einen neuen Ton gegen sie anzuschlagen – ja, wenn er ihr fremder begegnen müßte, wolle er lieber die Besuche ganz unterlassen. Trude schalt ihn tüchtig aus; sie werde ihn jetzt »Onkel« und »Du« nennen, damit er sehe, wie er sich zu ihr zu stellen habe. Und nun war er wieder der Alte, nur noch vergnügter im Glück des Wiedersehens, und sie mußten bei ihm zu Abend essen und seine Menagerie besehen. Er versprach, bald nach Hartberg zu kommen, hielt auch Wort, und Trude besprach mit ihm ihre Ansichten über die Zukunft des Vaters – doch wollte er ihre Hoffnungen nicht recht teilen. Sie könne ja dem Vater ein gutes Auskommen geben, aber ihn zu sich zu nehmen, davon rate er ab. Sie würde sich damit eine schwere Last aufladen und doch höchstens erreichen, daß er keine Verbrechen mehr beginge, sein inneres Wesen würde sie nicht ändern und sehr unter demselben leiden.

Die Zeit verging – eines Nachmittags, im Frühjahr, fuhren die Mädchen in den Wald spazieren. Die Buchen hatten ihr erstes zartes Grün, die Vögel sangen, der Himmel war wundervoll blau. Sie ließen den Wagen halten und stiegen unter den lichten Laubkronen aufwärts, Waldmeister, Veilchen, Anemonen, weiße Sternblumen pflückend – dorthin, wo von einem kleinen Plateau frisches Grün herableuchtete.

Das letzte Stück hatten sie unter Lachen und Scherzen erstiegen, eine im Arme der andern; nun standen sie oben und ließen sich los und holten Atem. Da zeigte die Gesellschafterin auf einen Menschen, der im Grase lag und schlief. Trude ging furchtlos näher.

Plötzlich schrak sie zusammen und starrte leichenblaß auf den Schlafenden.

Dieser Mann war ihr Vater.

Er ging besser angezogen, als sie ihn einst gesehen. Er war aus dem Gefängnis entlassen, hatte wohl darin etwas verdient gehabt und sich Kleidung dafür gekauft – so sagte sich Trude, als sie die Besinnung wieder fand. Aber er sah auch viel, viel verfallener und magerer aus, als einst auf dem Dorfkirchhofe.

Wie kam er hierher? Wollte er nun zu ihr? Aller Wahrscheinlichkeit nach. Vielleicht war er betrunken und schlief hier seinen Rausch aus.

Die Gesellschafterin begriff nicht, was Trude anfocht. Sie fragte, ob sie ein Unwohlsein überkommen habe? Ob sie sich vor dem Menschen fürchte? Sie hätten ja den Kutscher und den Diener unten.

Trude antwortete nicht. Sie quälte sich fieberhaft mit dem drängenden Gedanken, was zu thun sei. Wie sie den Menschen da liegen sah, schnarchend und jetzt irgend etwas Unverständliches murmelnd, schien es ihr plötzlich unmöglich, in beständigem Umgange mit ihm zu leben. Vielleicht hatte der Förster das Richtige geraten. Ihr Kopf brannte – und jetzt drehte sie sich zu ihrer Begleiterin herum und sagte, sich gewaltsam zusammenraffend, es sei ihr kühl, sie wolle heimfahren. Sie fand nicht den Mut, zu sagen, daß dies da ihr Vater sei, und sie wollte Zeit gewinnen.

So stiegen sie hinab und fuhren davon.

Trude schwieg unterwegs. Sie hörte eine anklagende Stimme in ihrem Innern, welche sie feige schalt und welche immer wiederholte: dein Vater, dein Vater, dem du das Leben dankst! Und dawider stritten andre Gedanken. Der rohe Ton, in dem er einst auf dem Kirchhof mit ihr gesprochen, das ganze unangenehme freche Wesen des Mannes standen wieder deutlich vor ihr. Was würde die Dienerschaft sagen, wenn sie mit ihm als dem Vater ihrer Herrin umgehen sollte – wahrscheinlich, daß es da tausend Reibereien und Unannehmlichkeiten gab, vielleicht, daß die Leute gar nicht bei ihr zu halten waren! Wie wenn sie ihn auf eine Probezeit nahm, auf ihn einzuwirken versuchte – wie wenn sie das Gartenhaus für ihn einrichtete, ihm die Bedingung auflegte, daß er nicht in ihre Villa komme, sich nur im Garten bewege – –

Es war eben ein armer Mädchenkopf, der sich im Widerstreit der Gedanken nicht kräftig zurecht finden konnte, in dem sich zuletzt alles wie ein Wirbel drehte, daß Trude nach der Stirn faßte, als hätte sie Angst, daß sie springen könnte. Ihre Begleiterin schwieg auf ihre Bitte, hüllte sie sorgfältig ein und blickte zuweilen, in dem Glauben, daß ihr unwohl sei, voll Mitleid auf sie.

Zu Hause angelangt, ließ sie die Freundin in die Villa gehen, sie selbst begab sich in das Gartenhaus, durch den lachenden Frühlingsglanz, von dem sie nichts sah. Am Gartenhause schlug eine Nachtigall, und die Nerven schmerzten ihr von dem lauten Geschmetter, das sonst ihr Entzücken war. Unruhig saß sie in dem Häuschen, welches sie so hübsch eingerichtet, ging wieder hinaus, kehrte zurück, bis sie stumpf von der inneren Qual war und gar nichts mehr dachte.

Die Dunkelheit brach herein – sie hörte endlich die Schritte ihrer Gesellschafterin, welche fürchtete, Trude sei ernstlich krank, und gegen ihr Geheiß kam, um nach ihr zu sehen.

Da faßte sie einen Entschluß: den einzigen Menschen holen zu lassen, den sie in dieser Not bei sich haben mochte – den Förster Kienitz. Sie ging an ihren Schreibtisch und warf ein paar fliegende Zeilen hin; dann gab sie Weisung für den Kutscher und zog sich in ihr Schlafzimmer zurück. Sie fieberte und konnte sich nicht mehr aufrecht erhalten.

In einer Art peinlichen Halbschlafs war ihr, als höre sie drunten beim Hause Lärm, scheltende Stimmen, zornige Worte, Gelächter – später ward es still. Sie wollte aufstehen, während sie das hörte, aber sie vermochte es nicht. Auch später blieben ihre Sinne geschärft: sie wußte sehr wohl, daß nebenan jemand sich aufhielt und zuweilen sich der Portiere näherte, um nach ihr zu sehen. Plötzlich vernahm sie die halblaute Sprache des Doktor Grille, der ihr Hausarzt geblieben; sie vermochte sich auf ihrem Ruhesofa aufzurichten, strich sich ordnend über das Haar und versuchte, ihre Sinne zusammenzunehmen.

Das Geräusch ihrer Bewegung schien das Gespräch im Nebenzimmer zu unterbrechen; die Gesellschafterin kam leise und berichtete, der Arzt sei da und wünsche Trude zu sprechen. Die Botschaft fand ein wenig erfreutes Gesicht – Trude glaubte anfangs, man habe ihn rufen lassen, um nach ihrem Leiden zu sehen. Allein der Doktor begann nach kurzer Begrüßung mit der Bemerkung, daß er etwas Seltsames zu berichten habe.

»Ich habe soeben den Geisteszustand eines Menschen untersuchen müssen, welcher im Polizeigewahrsam wie ein Irrsinniger tobte. Er ist nicht irrsinnig, nur furchtbar erregt; ein armer Mensch, mit dem Tode in der Brust. Was ihn beruhigte, das war ein Blutsturz.«

Trudes Augen hingen groß und angstvoll an dem Gesicht des Sprechers, der eine Pause machte und sie mitleidig betrachtete.

»Es muß heraus, mein Fräulein, dieser Mann ist, wie ich glaube, Ihr Vater.«

Das junge Mädchen stand auf. Sie war blaß, aber alle Unentschlossenheit war von ihr gewichen. Ihr Vater war nicht mehr der rohe Verbrecher, er war ein kranker Mensch, mit dem Tode in der Brust, wie der Arzt sagte. Und das Kindesgefühl brach siegreich durch alle Zweifel und Gründe, plötzlich sich erschließend, wie die Knospe der Königin der Nacht, und ihre Brust mit süßem warmen Hauch durchströmend. Sie nickte.

»Ich will zu ihm, Herr Doktor, ich will ihn sehen, ihn zu mir nehmen.«

»Ich hoffe, wir ermöglichen es. Ich habe es nicht anders von Ihnen erwartet. Er hat freilich die Polizei beleidigt – ah, Sie wissen noch nicht, daß er vor Ihrer Thür war, daß er als Ihr Vater Einlaß begehrte, daß man ihn auslachte, abwies, und als er den Eingang erzwingen wollte, gewaltsam entfernte und die Polizei in Anspruch nahm. Man hat Sie nicht stören wollen, um Ihnen davon zu sagen.«

»Aber die Diener haben doch ohne Zweifel gewußt, welch einen Vater mir das Geschick gegeben,« sagte Trude heftig.

»Er hat sich nicht legitimieren wollen – vielleicht hat man auch gedacht. Ihnen einen Gefallen zu thun, indem man ihn hinderte, zu Ihnen vorzudringen.«

»Gleichviel, Sie müssen mir helfen – ich will ihn aufsuchen, jetzt gleich. Ich lasse sofort den Pavillon im Garten für ihn herrichten. – Ich wußte, daß er in der Nähe war und habe zum Förster geschickt, um mit ihm wegen seiner Unterbringung zu sprechen,« bekannte sie nach kurzem Kampfe. »Er muß bald hier sein. Nun bleibt keine Wahl. Todkrank, sagen Sie, Herr Doktor?«

»Leider,« lautete die Antwort.

»Warten Sie! ich kleide mich sofort an.«

Sie nahm Hut und Tuch, so eilig, als gälte es, ein Unglück zu verhüten.

»Er wird Sie nicht sehr freundlich empfangen,« sprach der Doktor. »Er ist außer sich über die Abweisung.«

»Es ist hart für einen Vater, von der Schwelle seiner Tochter gewiesen zu werden. Ich bin nicht ohne Schuld; ich schwankte in der That bis zu dieser Stunde, ob ich ihm ein Unterkommen bei mir gewähren solle. Gott sei Dank, nun weiß ich, was ich zu thun habe.«

Sie verließen die Villa. Hinter ihnen regte es sich, um in einem der beiden Pavillonzimmer ein Bett aufzuschlagen, Decken zu legen, alle Bequemlichkeiten zu beschaffen.

Das Polizeigefängnis befand sich im Hofe des Rathauses, und der Arzt mit seiner jugendlichen Begleiterin erhielt sofort Zutritt. Der Wächter schloß die Zelle auf – seine Frau saß an der Matratze, welche Doktor Grille hier einstweilen hatte auf den Boden legen und mit Betten versehen lassen, wie Trude schon von ihm wußte. Nur auf seine Veranlassung war die Ueberführung in das städtische Krankenhaus einstweilen unterlassen worden. Während der Arzt ein Billet las, das der Wächter ihm überreichte, blickte Trude erschüttert in das abgezehrte Gesicht, das mit seinen geschlossenen Augen jetzt schon einem Toten anzugehören schien.

Aber plötzlich öffneten sich diese Augen und starrten Trude fieberglühend an.

»Mein Vater,« sagte Trude mit bebenden Lippen und sank zu der Matratze hinab. »Mein armer Vater!«

Sie griff nach einer der mageren Hände – da ging es wie ein Strahl des Erkennens über das Gesicht des Kranken, und die Hand versuchte, sich aus der ihrigen zu winden.

»He,« sagte er mit müdem Grimm, »hast nette Diener, große Dame! Sie haben mir den Paß gegeben. Ich bin ein Vagabund und Zuchthäusler, das ist wahr; aber ich bin dein Vater – du bist nicht mündig, ich habe noch Gewalt über dich.«

Er hatte sich das zurecht gelegt, um glauben zu können, daß er über Trudes Vermögen mitzusprechen habe. Niemand nahm ihm den Irrtum.

»Ich wußte von nichts, mein Vater. Du sollst zu mir kommen, du sollst Pflege haben – vielleicht wirst du gesund; es geschehen Wunder.«

»Natürlich werde ich gesund,« sagte er mit einem schwachen Versuch, zu lächeln. »Na, da schafft mich nur gleich in die Seide und die Daunen! Alles muß von Sammet und Seide sein.«

»Der Richter hat nichts dagegen, daß der Kranke in Ihre Privatwohnung gegeben wird,« meinte Doktor Grille zu Trude. »Haben Sie eine Tragbahre bereit, Amtsdiener?«

»Jawohl, Herr Doktor!«

Trude hielt jetzt die Hand des Kranken, ohne daß er widerstrebte. Er schien sie sogar mit einem Gefühl von Stolz zu betrachten. Wie unruhig und groß und glänzend diese armen Augen waren! Trude überkam es mit einemmal in hellem Jammer und sie schluchzte auf, neigte ihr Haupt tiefer – heiße Thränen fielen auf die fieberheiße Hand, auf das ärmliche Bett.

»Sie ist ein gutes Mädchen,« flüsterte der Kranke. Dann hüstelte er und ein Hustenanfall folgte, der ihn ganz zu durchschütteln schien. –

Um das Häuschen im Garten blühte und grünte es und sangen die Vögel, voran »Frau Nachtigall, die feine«, und lauer Duft zog durch die offenen Fenster ein, Nacht und Tag; und drinnen ging ein elendes, jämmerliches, schuldbelastetes Menschenleben zu Ende, welches sich selbst um die Heimat, den Frieden, das Glück betrogen hatte, weil es das Maß und Gott im Herzen nicht festhielt.

Es war immer noch ein freundliches Ende für all das, was vorhergegangen. Trude wich nicht vom Bett des Verlorenen, sie fand den Weg zu diesem verwahrlosten, leeren Herzen; sie goß so viel von der Liebe, dem Frieden, dem köstlichen Glauben ihres eigenen schönen Herzens hinein, daß den sterbenskranken Menschen ein Kopfschütteln über sich selbst anging.

»Ich hätt's besser haben können in der Welt,« sagte er einmal. »Es ist ein Hundeleben, wenn man so als Lump herumstreicht. Aber man kommt schwer heraus. Ich hätte gar nicht gedacht, daß mir's noch einmal leid sein könnte, wenn ich allen Menschen so recht ins Gesicht schlug aus Wut, daß sie mich ausgestoßen hatten. Ich hätte was Besseres abgeben können – ich hatte es in mir dazu!« meinte er mit einigem Selbstgefühl. »Jetzt werden sie freilich sagen: ein Lump hat gelebt, ein Lump ist gestorben!«

Er starb, und das war das beste für Trude; der Förster hatte das schon vorher ausgesprochen, als er in jener Nacht angelangt war und gesehen, daß er im Grunde nicht mehr nötig gewesen. So war er gleich am Morgen wieder davon gefahren.

Zwei Wünsche hatte der Sterbende noch geäußert: daß Trude dem Pichler das Grundstück wieder herausgeben möchte, das ihr das Gericht zugesprochen, und daß er im Dorfe begraben werden möchte, wo seine Frau ruhte. Natürlich wurden beide erfüllt.

Beim Begräbnis war Trude zum erstenmal wieder im Dorfe. Sie schämte sich des Vaters nicht mehr, und die Leute ließen von dem Respekt vor der reichen jungen Dame etwas auf den Toten übergehen – das wollte sie, und darum wohnte sie der ganzen Feierlichkeit von Anfang bis Ende bei.

Sie wollte noch etwas: die Pflegeeltern wiedersehen. Die Schneidersleute waren so glücklich, wie Trudes Freude groß war. Von da ab langte in dem Krämershäuschen alljährlich ein hübsches Sümmchen an, welches das Alter des Schneiders – die Frau genoß das wenige Jahre nur – völlig sorgenlos gestaltete. Trude aber blieb glücklich – was weiter mit ihr geschehen, gehört nicht in den Rahmen dieser Geschichte.

* * *


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