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Zweierlei wegen muß ich mich entschuldigen: wegen des Titels und wegen der Erzählung. Ersterer ist platt, plump, widerlich, vielleicht für einen feinen und delikaten Geschmack; die zweite ebenso. – Nicht weil die Schilderung großer Lumpen die interessanteste Seite sowohl in der Geschichte als auch im Roman ist; aber man nennt sie nicht so – das ist es, und dann müssen solche pikanten Charaktere Leuten von Stande angehören, mindestens Leuten von ehrlichem Stande, und nicht solchen, mit denen kein Bauer aus einer Schüssel ißt.
Wer kann leugnen, daß Claudius und Messalina, Papst Sergius und Marozia, Front de Beuf und Ulrica ein richtiges Lumpenleben lebten? Doch wohlgemerkt in Palästen und nicht in Schafställen. Was fürstlichen Personen, frommen Prälaten, normannischen Rittern ansteht, kann sich nicht für jütische Zigeuner schicken; Nero ist ein großes Ungeheuer – Jens Langmesser ein elender Lump.
Es fällt dem gebildeten Menschen niemals ein, über die Manieren des türkischen Sultans in puncto sexi zu moralisieren; daß er sich dreihundert Mätressen hält, wenn ein christlicher Prinz es sich an dreien genügen läßt – das ist eine große Galanterie. Aber daß ein reisender Glaser drei Frauen hat, wird mit Recht ein liederlicher Lebenswandel genannt. Das moralische Gefühl empört sich, wenn solch ein Lump nach der ersten besten den Stock wirft; doch bekommt ein König Lust auf eine der Frauen oder Töchter seiner Untertanen, sagt man lächelnd: »Er wirft ihr das Taschentuch zu.«
Nicht die Dinge selbst kommen auf die Wagschale der Moral, sondern wer sie tut und wie sie getan werden: ein feindliches Land aussaugen nennt man brandschatzen; ein paar tausend Menschen töten und verstümmeln bekommt den Namen eines glänzenden Sieges; eine Stadt verbrennen und eine Provinz verwüsten, heißt Eroberungen. Aber wenn unsere jütischen Lumpen brandschatzen, dann ist es aussaugen; wenn einer ihresgleichen entscheidenden Sieg in einem Duell auf Dornstöcke oder Klappmesser gewinnt, dann ist es Mord; und sollte er eine Strohhütte abbrennen (was äußerst selten der Fall sein dürfte), dann ist es ein wirklicher Mordbrand. Ein Land zu stehlen, ist eine große Tat; ein Ferkel oder ein Schaf stehlen, ist ein gemeiner Diebstahl. Attila und Semiramis erhalten einen Platz in der Geschichte – Stoffer Einauge und die Lange Margrethe einen im Viborger Zuchthaus.
Aber ich bin selbst fast daran, wie ein Lump zu sprechen und an der Stelle der beabsichtigten Entschuldigungen zu einer Art von Apologie für das Lumpenleben meiner gemeinen Helden auszuschweifen; doch das ist keineswegs mein Augenmerk! Ich habe genug damit zu tun, mich selbst zu verteidigen, bin sogar in dieser Beziehung ziemlich ratlos, weiß auch keine andre Zuflucht als diese: ein guter Freund hat mich aufgefordert. Man glaube keineswegs, daß ich auch hierbei lügen und mich der üblichen Ziererei schuldig machen wollte! Nein, diesmal spreche ich die reine Wahrheit und könnte gern meinen Mann nennen, wenn ich ihn nicht kompromittieren wollte.
»Schreib' uns eine Lumpengeschichte!« hat er mehrmals zu mir gesagt. »Das könnte ganz ulkig werden.«
»Pfui!« antwortete ich. »Das ist ein gemeiner Stoff.«
»Wieso?« antwortete er. »Nehmen die Zigeuner nicht einen Platz in Scotts, Goethes, Müllers und andrer Gemälden ein? Die Nachtmannsleute sind ja die dänischen Zigeuner – gib ihnen diesen Namen, wenn du meinst.«
Aber das meinte ich nun nicht: Keltring (Lumpen) ist ein gutes dänisches Wort, und das will ich behalten.
Doch ehe ich meine Vorrede schließe, muß ich ein paar nicht unnötige Bemerkungen den behandelten Worten hinzufügen. Keltring (Lump) ist eine Bezeichnung, die vom Volke den wandernden Nachtmannsleuten im besonderen beigelegt wird, was sie selbst aber nicht anerkennen; im Munde des Bauern, in dieser besonderen Bedeutung gebraucht, involviert es keine Verbrechen, so daß das Adjektiv ehrlich gut in Verbindung mit dem Subjektiv Lump gebraucht werden kann.
Die echten Lumpen – nicht die, die sich zerstreut in all den andern Ständen finden – machen eine besondere Gesellschaft, einen Staat im Staate aus; und deshalb sagte jener reisende Franzose richtiger, als er selbst wußte: »en Danemarc il y a une nation, qui s'apelle Keltrings, eile n'est pas si bien cultivee comme les autres Danois.« – Diese Nation nennt sich selbst Reisende.
Eine treffende und recht passende Benennung! Denn das Leben ist für diese Menschen mehr als für irgend einen andern eine Reise. Sie reisen im wahren Sinne des Wortes durch das Leben, da sie nur selten festen Aufenthalt haben, sondern wandern von Ort zu Ort, da sie kein Heim haben, sondern nur eine »Herberge«. Sie werden geboren, heiraten und sterben – alles auf Reisen. Daß man sie deshalb Landstreicher und Vagabunden nennen wollte, finden sie mit Recht beleidigend; Nomaden sind sie, und das ebenso sehr wie Kalmücken und Beduinen. Sie sind Reisende ebenso wie Mungo Park, Belzoni und Oberst Sundt; doch niemandem fällt ein, diese als Landstreicher zu charakterisieren, weil ihre Wanderungen im großen geschehen – darin liegt es.
Und ich finde hier einen schönen Zug, der diese kleinen Voyageurs vor vielen der großen auszeichnet: sie wandern inkognito, ohne Prätentionen und Präsentationen, und quälen uns nicht nachher mit »Reisen«, die oft anstrengender zu lesen als zu machen sind. Wie lehrreich ist nicht dieses Schweigen! Ach, daß doch viele es nachahmen wollten, anstatt ganze Bände mit falschen Nachrichten und schiefen Anschauungen zu füllen – mit schelen Seitenblicken auf die Großen oder die großen Skribenten, die nicht genug daraus gemacht haben – mit einem noch unverschämteren und naseweiseren Lob für die, die sich sehr ungern in dieser Weise hervorgezogen und öffentlich zur Schau gestellt sahen, als wäre das eine Bezahlung für eine Mahlzeit oder ein Nachtlager – mit kaleidoskopischen Landschaftsbildern und schwärmerischen Paroxysmen, die beide gleich dunkel und unverständlich sind – oder mit Speisezetteln, die bisweilen die fettesten Bissen im Buche sind, und da sie dazu dienen können, den Appetit zu wecken – gleichzeitig die unschuldigsten!
So viel zur Einleitung.
Der Tag war drückend heiß. Ein heftiger Südostwind blies die Wärme heran – es war ein reiner Scirokko. Weißlichbreiige Gewitterwölken türmten sich am Horizont im Osten und Westen auf. Sie glichen einer Reihe ferner Schneeberge, deren Ränder die Sonne vergoldet, durch dunkle und tiefe Täler abgeteilt. Allmählich verlor ein Wolkengipfel nach dem andern seinen scharfen Umriß, verjüngte und erweiterte sich in leichteren, helleren Streifen, ein Zeichen dafür, daß die »Artillerie des Himmels« zu donnern anfing; aber das Gepolter ertrank im sausenden Strom des Windes und die Blitze im Strahlenmeer der Sonne.
Ich wanderte mitten zwischen den beiden feuerspeienden Batterien vorwärts. Der Durst trieb mich; trotz der starken Wärme machte ich rasche Schritte, um einen Tümpel zu erreichen, der sich, wie ich sicher wußte, in der Richtung befinden mußte, der ich folgte. Wie weit er entfernt war, konnte ich nicht sehen, da sich auf dieser flachen Heidestrecke kein ragender Gegenstand als Marke befand; und hätte es auch einen solchen gegeben, die zitternde Bewegung der diesigen Luft hätte doch verwirrt und ihn ganz undeutlich gemacht.
Endlich entdeckte ich die Spitzen von ein paar Weidenbüschen und einen blassen, grünen Streifen im Heidekraut. Mein Hund, noch verschmachtender als ich, witterte hoch und sprang vor mir dorthin; ich beneidete ihn um seinen Vorsprung. Leider ohne Grund. Ich sah ihn bald die Erde scharren und wußte nun, daß der Tümpel ausgetrocknet war. Trotzdem ging ich dorthin, um mit eigenen Augen die traurige Erfahrung zu machen. Hier standen wir beide enttäuscht in unsrer brennenden Erwartung. Ich warf mich mißmutig nieder; aber mein armer Begleiter pfiff und stellte sich an und kratzte eifrig das welke Gras zur Seite, um die jappende Brust in dem noch etwas feuchten Boden zu kühlen.
Bedaure uns nicht, mitleidiger Leser! Ich habe einen Mann gekannt – ein Schoßkind des Glücks, einen Liebling des Schicksals und der Menschen, der sich rühmte, noch nie in seinem Leben richtig hungrig oder durstig gewesen zu sein – bedaure ihn! Der Unglückliche wußte nicht, wie Wasser schmeckt, wohl noch weniger, was es heißt, ermattet vom Gehen, taumelnd vor Hitze und brennendem Durst sich in den kühlen stärkenden Arm der Fluten zu werfen. Diese Lust erwartete mich nur eine kleine Viertelmeile von dem wasserlosen Tümpel, wo ich einen von Heidekraut und Porst eingefaßten Heidesee kannte.
Wiedergeboren zu neuen Anstrengungen, mit jenem unbeschreiblich süßen Zittern in allen Nerven, saß ich etwas erhaben über dem See auf der Windseite eines Grabhügels – dem einzigen im Umkreise, so weit das Auge reichte. Der Hund lag zu meinen Füßen und teilte die ambrosischen Leckerbissen, Käse und Brot, mit mir, als ein lebender Gegenstand sich seine Aufmerksamkeit zuzog; denn er hob den Kopf etwas in die Luft, legte die Ohren an, zog die Augenbrauen zusammen, knurrte und stieß mehrmals ein kurzes Gebell aus. Ich drehte mich um und sah – eine Art Amphibie oder Hermaphrodit – ein Wesen sich nähern, das wohl Menschen und Hunde erstaunen machen konnte. Es war nämlich nichts weniger als ein ungeheuer langer Holofernes mit Röcken, ein Wesen also – oben Mann, unten Weib. Die Gestalt schritt mit einer Lanze in jeder Hand auf mich zu – mein Zeigefinger fiel von selbst auf den Hahn des Gewehrs. Doch bald entdeckte ich, daß die Lanzen nichts andres als ein Stock waren, und weiter, daß das Wesen eine Doppelfigur mit zwei Köpfen, vier Armen, vier Stöcken und vier Beinen war – in kurzen und klaren Worten: es war ein Mann, von einer Frau getragen. Ein etwas kleinerer als halberwachsener Junge folgte hinterdrein. Der Weg lief unten um den Hügel herum auf der entgegengesetzten Seite; doch da die Ankömmlinge die Sonne grade in den Augen hatten, konnten sie mich nicht sehen – der Hund schwieg, entweder aus Schreck oder aus Verwunderung.
Ein Mann, der – figürlich gesprochen – mit Geduld sein Hauskreuz durch das Leben oder aus Liebe seine Frau auf Händen trägt, ist keine große Seltenheit; doch eine weibliche Kreuzträgerin in buchstäblichem Sinne – nämlich mit dem Mann auf dem Rücken – war mir noch nicht vorgekommen. Die Geschichte von den »Weibern von Weinsberg« ist mir immer etwas verdächtig vorgekommen: »es ist weit fort und lange her«, daß sich so etwas zugetragen hat. Jedenfalls war es nur ein kurzer Spaziergang und damit Schluß: »einmal ist keinmal«. Und diese »verrufenen Weiber« wurden ja mächtig teils aus Furcht vor dem Witwenstand angespornt, teils aus Lust, bei den feindlichen Offizieren Aufsehen zu erwecken. Hier auf der großen, öden Alheide mußte es andre Ursachen geben: die erste, die ich entdeckte, war die, daß dem Manne beide Füße fehlten.
Als die kleine Gesellschaft grade an den Hügel gekommen war, machte man Halt. Die Frau wandte den Rücken gegen den Abhang, lehnte sich zurück und setzte ihre Last ab; darauf dehnte und streckte sie sich ein paarmal, verschnaufte und ließ sich zwischen dem Mann und dem Kleinen nieder. Der letztere legte einen kleinen Sack in ihren Schoß. Es wurden einige Eßwaren herausgenommen und in aller Stille gegessen. Sobald die ärmliche Mahlzeit beendet war, begann eine kurze Unterhaltung, aus der ich nur einzelne Worte verstand; denn sie wurde in einer Sprache geführt, die ich nach verschiedenen Ausdrücken – wie »Jup«, »Brall«, »Pukkasch« (He! Lustigkeit, Trinken) – bald als die sogenannte »romanische« erkannte. Nach Verlauf einiger Minuten war die Materie erschöpft, und alle drei legten sich schlafen.
Ich stand nun auf und ging auf die andre Seite des Hügels, um die schlummernde Gruppe in Augenschein zu nehmen. Der Mann war eine kleine, aber – bis auf die mangelnden Füße – recht wohlgebildete Gestalt mit einem frischen, gebräunten Gesicht; er schien in seinem besten Alter zu sein. – Die Frau war noch dunkler von Farbe, hatte große schwarze, zusammenstoßende Augenbrauen, eine stumpfe Nase, volle Backen, einen ziemlich breiten Mund mit dicken Lippen, zwischen denen die beneidenswertesten weißen Zähne hervorschimmerten. Sie war sehr kräftig an Brust und Gliedern und sah schon so aus, daß sie ihren Mann nehmen konnte. – Soweit hatte ich das sonderbare Paar beschaut; doch was hat man von einem Menschen gesehen, wenn die Fensterläden der Seele geschlossen sind? Soviel ungefähr wie den Einband eines Buches.
Ich hatte mich bereits umgewandt, um weiter zu gehen, als der Knirps zu rufen begann: »Madrum! Padrum! Ein Hövl! Ein Grönspät!« (Mutter! Vater! Ein Hund! Ein Jäger!). Die Frau schlug ein paar schwarze, tiefliegende und ernste Augen auf, setzte sich langsam auf und nickte mir auf eine Weise zu, die diesen Menschen eigen ist, wenn sie jemanden begrüßen. In demselben Augenblick öffnete der Mann zwei große hellblaue, muntre und lebhafte Augen; er nahm den Hut ab, blieb aber in seiner gemächlichen Stellung liegen.
Ich spreche gern fremde Sprachen, nicht um mit meinen linguistischen Kenntnissen zu glänzen; aber es hat etwas besonderes Behagliches an sich, sich so mit Ausländern familiär zu machen, da man sonst ohne dieses Mitteilungsmittel einander als taubstumm betrachten müßte. Die magischen Worte lösen die Zunge, öffnen den Gedankenbehälter und bringen Leben in jenen spirituellen Tauschhandel, bei dem beide Partner gewinnen. Dazu die süßreizende Überraschung, wenn ein Reisender, der sich mühsam in der ungewohnten Sprache vorwärtsschleppt, plötzlich in seiner lieblichen Muttersprache angesprochen wird; dann bekommen Gedanken und Zunge Leben und Schwingen; die Rede strömt in fließendem unaufhaltsamem Lauf – der Fremde ist mit einmal zu Hause, er ist wieder unter Verwandten und Freunden.
Nicht aus einem hier angeführten Grunde – eher ohne Grund, wie wir so oft sprechen und handeln – bekam ich den Einfall, mein rotwelsches Pfenniglicht nicht unter den Scheffel zu stellen.
Ich nickte meinen Arabern ebenfalls zu mit einem: »Goddeis, Genter!« (Guten Tag, Leute!)
Ein leichtes Lächeln glitt über das asiatische Gesicht der Frau; aber der Mann hob den Oberkörper, stützte sich auf beide Handflächen und sah mit unruhigem Blick bald auf mich und bald auf die Dame.
»Ist das dinnoses Maje?« (deine Liebste) fuhr ich fort.
»Sibe, sibe (ja, ja),« erwiderte er rasch und warf ihr zugleich einen freundlichen Blick zu.
»Das ist Mängeri (Mühe) für dinnoses (dich), deinen Knasper (Mann) zu tragen,« sagte ich zu ihr.
»Nobes (Nein),« erwiderte sie kurz und schlug mit ihrem Stock in das Heidekraut.
Ich griff nun in die Tasche, gab dem Jungen ein paar Pfennig – wofür der Mann sehr höflich dankte – sagte Lebewohl und ging.
Erst als ich ein großes Stück weitergekommen war, bereute ich, daß ich diese Menschen nicht näher ausgefragt hatte. Aber so geht es: je näher wir dem Ungewöhnlichen, dem Merkwürdigen sind, desto weniger erweckt es Interesse. Ein Mann kann zehn Jahre auf Möen wohnen, ohne die Kreidefelsen zu sehen; reist aber vielleicht in die Schweiz, um das Schreckhorn und den Staubbach zu sehen; ein andrer hat zweimal den Rheinfall gesehen, aber noch nicht ein einziges Mal die Nordsee, obgleich er täglich ihr gewaltiges Brausen hören kann. Als ich Rosenborg besichtigte, geschah das in Gesellschaft von vier Kopenhagenern – wir waren da alle fünf zum ersten Mal. Wer da Geld und Zeit hätte, könnte gerne einmal nach Norwood oder Siebenbürgen flitzen, um ein Zigeunerlager in Augenschein zu nehmen; doch an unsern dänischen Parias kann er täglich vorübergehen, ohne sie nur eines Blickes zu würdigen.
Wie sonderbar – dachte ich nachher – ist nicht diese kleine Karawane! Wie uneigennützig, wie stark, treu, ja heroisch ist nicht die Liebe dieser Frau zu einem hilflosen Krüppel, den sie auf ihren Schultern trägt – Gott weiß, wie weit und wie lange! Wie gewaltig ist doch diese unsichtbare Macht, die diese beiden Wesen vereint hat – wilde Kinder der Wüste, dieser wilden Natur! Und doch gegen die Generalregeln der Natur; denn sonst schlingt sich die Ranke um die Ulme, das schwache Weib, das Schutz beim Manne sucht – hier ist es umgekehrt.
Mit solchen Gedanken kehrte ich um, um mein Versäumnis wieder nachzuholen und das wunderliche Paar und sein jedenfalls noch merkwürdigeres Schicksal näher kennen zu lernen.
Ich ging über eine Viertelmeile zu dem Hügel zurück, doch die Karawane war bereits fort; soweit ich blicken konnte, war kein lebendes Wesen zu sehen.
Es war gegen Abend – ich mußte an die Nacht denken. Der Ort, wo ich dieselbe zuzubringen beschlossen hatte, war über anderthalb Meilen entfernt; und im Zwischenraum gab es – soweit ich wußte – keine menschliche Behausung.
»Südostgestürm und Weibergezürn enden meist mit Wasser,« sagt der Jüte. Das kann fehlschlagen, besonders wenn der Betreffende das Feld behauptet und das letzte Wort; aber die Richtigkeit davon bestätigte sich auf eine für mich sehr fühlbare Weise.
Der Wind hatte sich gelegt, aber der Himmel war mit dunklen, tief treiben den Wolken überzogen. Den Donnerhall hörte man deutlicher und deutlicher, und einzelne Blitze leuchteten rings umher in der Ferne. Ich merkte wohl, daß ich nicht dem Wetter entgehen könnte, machte mich daher auf eine nasse Jacke gefaßt, doch gleichzeitig auf den Genuß des stolzesten Naturauftritts, den wir hier zu Lande kennen.
»Heide – Nacht – Donner und Blitz,« so wird jener Schauplatz beschrieben, auf dem Lears Wahnsinn rast, fürchterlicher als die Elemente selbst. Hier hatte ich ja denselben Schauplatz, dieselben Dekorationen, dieselbe vortreffliche Maschinerie, und – ich war allein: ungehemmt, ungestört konnte meine Phantasie nun auf den Flügeln des Sturmes fliegen und auf den Pfeilen des Donners reiten.
Fürchte dich nicht, ehrbarer Leser, daß ich dich hier aus dem abgemessenen, ordentlichen Paßgang deiner vernünftigen Seele reißen will. Diesmal will ich dich nicht damit quälen, was ich gedacht und gefühlt habe; denn etwas ist von der Beschaffenheit, daß ich es für mich selbst allein behalten will. Und etwas ist von der Art, daß ich es dir nicht mitteilen könnte, auch wenn ich wollte. Wenn diese Erzählung jemandem in die Hände fallen sollte, der sich hat durchweichen lassen, um ein nächtliches Gewitter zu betrachten – er weiß ungefähr, was ich meine. Andre müssen sich damit begnügen, was ich gesehen und gehört habe.
Es wurde Abend – es wurde Nacht. Das Unwetter war um mich, es war über mir. Thors Wagen polterte, die Achsen sprühten, die Bockfüße klapperten auf und nieder auf den Bergen und Tälern der Wolken; Regen und Hagel stürzten prasselnd nieder. Finsternis und blendende Blitze wechselten mit einander; bald wanderte ich in sichtbarem, fühlbarem Dunkel, bald lag die Heide vor mir in ungewissem Licht, und der Himmel zeigte mir in raschem Blinzeln seinen zerrissenen Vorhang. In solchen Augenblicken vermißte ich nichts, außer Macbeths Hexen.
Vor mir zeigte sich ein stillstehendes Licht, das jedesmal verschwand, wenn ein Blitz seinen starken Schein verbreitete, aber wiederkam, wenn es dunkel wurde. Ich wußte, in welcher Gegend der Heide ich mich ungefähr befand; ich wußte auch, daß hier keine menschliche Behausung sein konnte – jedenfalls vor ein paar Wochen hier nicht gewesen war.
Ich blieb hin und wieder stehen, um zu beobachten, ob das Licht sich bewegte. Nein! Es konnte folglich weder eine Laterne noch ein Irrlicht sein, sondern wohl einer jener geheimnisvollen Meteore, von denen man annimmt, daß sie vergrabene Schätze oder vergrabene Leichen angeben. Vor diesen fürchtete ich mich nicht, vor jenen noch weniger; ich ging also weiter. Der Schein wurde immer größer und klarer.
Ich hatte wieder Halt gemacht, als ein mächtiger Blitzschein einen Gegenstand vor mir erleuchtete, der aussah wie ein Haus ohne Dach. Ich stutzte und dachte unwillkürlich an jene interimistischen Ballsäle, die die Unterirdischen zu nächtlichen Orgien errichten sollen. – Doch, welches vernünftige Bergmännchen oder Bergweiblein würde sich wohl in einem solchen Wetter entschließen, über der Erde zu tanzen?
Das Licht des Himmels verlosch; aber dieses irdische entzündete sich aufs neue. Ich starrte, ich lauschte – schwache Töne wie von einem Saiteninstrument, sich bisweilen im Donnerlärm und im Sausen des Windes verlierend, kamen an mein Ohr. Also dennoch ein nächtlicher Tanz! Und dies hier auf der wilden Heide, in dem wilden Sturm! Sollte ich bleiben, zurückgehen oder weiter? Die Neugier riet zum letzteren, ich war ja niemals vorher in Hexengesellschaft oder zum Bergmännchenfest gewesen.
Wiederum ging ich ein Stück vorwärts, fest entschlossen, so weit wie möglich in dieses schreckliche Geheimnis einzudringen, doch wenn ich hier auf ein Schloß der verführerischen Morgana treffen sollte, hübsch draußen zu bleiben und zu fliehen. – Ich kam nun so nahe, daß das Licht eine viereckige Gestalt annahm – es schien aus einem Fenster des verhexten Kastells. Ich hielt wieder still. Das Saitenspiel hörte man ganz deutlich! Es war eine Violine und keine Harfe. Dieser Umstand beruhigte mich im Hinblick auf morganische Versuchungen, versetzte mich jedoch in Gedanken zu jenen Picknicks, wo die Spielleute Ziegenböcke sind. Ich lauschte: die Musik mischte sich mit Rufen und Lachen. Ich starrte: dunkle Gestalten schwebten hin und her dort hinter dem Fenster – mir war seltsam zu Mute.
Inzwischen hatte sich das Unwetter entfernt; es hörte auf zu regnen, und ein einzelner Stern blinkte hier und damit »weinendem« Auge durch rasch treibende Nebelwolken. Das orientalische Haus stand nun in deutlichem Umriß da; ich wagte, ganz nahe heranzutreten, ich wagte meine Hand auszustrecken, um festzustellen, ob es aus irdischem Stoff oder aus solchen Materialien gebaut war, die Feen und Hexen anwenden. Ich fühlte, ich sah; die Hütte war aus – Heidetorf gemacht, so sinnlich, so echt, wie nur möglich.
Hier war also eine menschliche Behausung: ergo konnte hier eine sein, und ich hatte vorher falsch geschlossen, wie man so oft tut, wenn man von passe auf esse schließt. Ein andrer, fester in seinen Prinzipien als ich, würde gesagt haben: »Hier ist kein Haus, hier kann keins sein.« Ich dagegen, der nicht stark in Logica ist, nahm bona fide das Haus für ein Haus und wunderte mich allein darüber, wie es hierher gekommen war und zu welchem Zwecke?
Ich muß eine Abschweifung machen, die weder lang noch ohne Anlaß ist. Der, der wirklich Lust zum Tanzen hat, ist nie um ein Lokal verlegen; als die Franzosen (die auch eine wirklich tanzende Nation sind) mit Sturm Konstantinopel eingenommen hatten, tanzten sie in der Sofienkirche ebenso schweißig und blutig, wie sie von den Mauern kamen. Als sie mit Sturm die Tuilerien eingenommen hatten, tanzten sie in den königlichen Sälen, deren Fußböden mit blutigen Rosen bemalt waren. Als die Bastille der Erde gleichgemacht war, tanzten sie auf dem Grundstück. Dies letztere gefällt mir am besten; und sinnig, poetisch, inhaltsreich war jene kurze Inschrift, die die Stelle des Gefängnisses bezeichnete: »Hier tanzt man.« Hier – nämlich – wo man früher seufzte und heulte, hier wo es nur Weinen und Zähneknirschen gab, wo die Opfer des Despotismus lebendig ins Grab gestoßen wurden, hier, wo dieselbe Devise über dem Tor hätte stehen müssen, wie über dem Eingang zu Dantes Hölle: »Laßt alle Hoffnung außen!«
Nun also: auch hier, mitten in der Alheide, eine Meile von dem nächsten Haus, hier, wo man früher nur das Seufzen des Windes im Heidekraut und das Heulen des Regenpfeifers hörte, wo der Wanderer ins nächtliche Dunkel hinausgestoßen wurde, ohne Hoffnung auf Herberge und Abendessen, lechzend nach einem warmen Ofen und einer Schüssel warmer Grütze – auch hier tanzt man – mir wurde wohl zu Mute und ich trat an das Fenster, um den Ballsaal und die Tanzenden in Augenschein zu nehmen.
Woher soll ich einen niederländischen Pinsel nehmen, um diese niedrige und ländliche Szene zu malen? Wie soll ich dem, solchen Dekorationen gegenüber ganz fremden Leser diese »gemütliche« Stube mit Decke aus Lehm, Wänden aus Lehm, Fußboden aus Lehm, schildern? Wie soll ich ihm die edle Einfachheit des Möblements darstellen? Ungehobelte Kiefernbänke, farblose Eichenkisten, mit schwarzen Tontöpfen und Schüsseln, mit grünen Branntweinflaschen und blanken Gläsern mit gedrehten Holzfüßen besetzt? Wie soll ich ihm eine klare Vorstellung von dem clairobscure des Zimmers beibringen, eine Wirkung von vier Talgfunzeln, die an die Wände geklebt waren? Und vor allem von den lebenden Figuren? Ich will mich an diese halten.
Mitten im Zimmer drehten sich zwei Paare in dem wohlbekannten »schwäbischen Wirbeltanz«; aber die Rotationen waren so gewaltsam, daß es mir unmöglich war, die Gesichter der Tanzenden festzuhalten. Auf einer Bank gerade vor dem Fenster saßen zwei andre Paare, deren flammende Backen zu erkennen gaben, daß sie eben aufgehört hatten. An der einen Seite von ihnen auf der Ecke einer flachen Kiste saß der Spielmann und schlug mit seinem Holzschuhabsatz Takt, und an der andern standen zwei zerlumpte Kinder und schabten das Harte aus einem schwarzen Grütztopf.
Nun war der Walzer zu Ende; doch in diesem Augenblick trat eine Person hervor, die vor mir bisher versteckt gestanden hatte. Sie ging schräg durch das Zimmer und verschwand auf der andern Seite. Ich sah also nur ihr Profil, aber das genügte mir, um den Burschen wiederzuerkennen. Wenn ich sage, daß er ein untersetzter Kerl war, mit hängenden Schultern und einem mächtig großen Kopf darauf, daß er sehr ramsköpfig war, einen breiten Mund mit dicken Lippen, kleinen Augen hatte, die, wenn er sprach, in unaufhörlicher Bewegung waren – ungefähr so, wie man die der Buschmänner beschreibt –, daß dieses große, pockennarbige Gesicht in der raschesten Abwechslung schroffen Ernst und rohe Lustigkeit zeigte; daß der ganze Kerl einen so bestimmten, festen und eiligen Gang hatte, daß man ihn nur von hinten zu sehen glaubte, um zu sagen: »Der Kerl gehört gewiß zu denen, die sich nicht lange besinnen, einem, der ihnen zu nahe kommt, das Messer in den Leib zu stoßen« – wenn ich ihn so beschreibe: dann gibt es außer mir mindestens drei Menschen, die sich erinnern, ihn früher gesehen zu haben, wenn auch nur einer davon von seinen rotwelschen Privatissima profitiert hat. Ich brauche wohl kaum das Signalement um die Bemerkung zu vermehren, daß er das Bild des Gekreuzigten auf dem linken Arm eintätowiert hatte.
Bald darauf kam dieser unser Professor der rotwelschen und romanischen Sprache rückwärts in den Raum, sah zum Spielmann hin und nickte, stampfte ein paarmal fest auf den Boden und verschränkte die Arme auf der Brust. In dieser Stellung erwartete er die Dame, zu der er gegangen war, sie zu engagieren, die ich jedoch von meinem jetzigen Standpunkt aus noch nicht sehen konnte. Die Musik begann; es war eine Art Reel in raschem Zweivierteltakt.
Wie eine – ja, was für eine? wie eine Furie?, nein, dazu war isie allzu hübsch – wie eine – Penthesilea
furens, quae mediis in milibus ardet?
auch nicht; dazu war sie zu kurz, zu rundlich, zu einfach und friedlich kostümiert – wie Madame Schall in einem Zigeunertanz? Das kam der Sache schon näher. Doch sonst, wenn ich Vergleiche meiner eigenen Erfindung und nach meinem eigenen Geschmack gebrauchen soll: wie ein Brummkreisel fuhr auf den Tanzboden, vor und hinter und um den leichtspringenden Professor – wer? Niemand anders als die Kreuzträgerin, die mit dem Mann auf dem Rücken.
Es war ein wirklicher Zigeunertanz, bei dem ich zufällig Zuschauer wurde. Die Füße der Dame liefen wie Trommelstöcke und trafen den Lehmboden mit raschen Schlägen; die Arme waren auch nicht unbeschäftigt, ebenso wenig wie die Finger, die treffend das Klappern der Kastagnetten nachahmten. Bei alledem war in ihren Bewegungen und Mienen gar nichts von einer Bajadere oder Dewidaschi; im Gegenteil, ihr Gesicht war so kalt, schroff, ja trotzig, daß es den vollkommensten Gegensatz zu dem des Professors bildete.
Seine ganze große Fratze war zu einem unveränderten, beständigen, stillstehenden Grinsen ausgespannt; seine kleinen Augen waren ganz aufgerissen, der Mund zur Hälfte. Die Oberlippe war ganz oben an der Nase, die Unterlippe halb unten auf dem Kinn, man sah Zähne wie Gaumen – unstreitig besaß er bei diesem Tanz ein sehr offenes Gesicht.
Ich war nicht der einzige, der sich über die Kunstfertigkeit der Tanzenden erheiterte; alle Zuschauer, die in einem Halbkreis um sie standen, gaben ihren Beifall sowohl hörbar wie sichtbar zu erkennen durch Ausrufe der Verwunderung und Ausbrüche lauten Gelächters, indem man sich verrenkte, die Arme klopfte und mit den Händen klatschte (mit dem rechten Handrücken in die linke hohle Hand). Gleichzeitig drehten die von Schweiß und Freude glänzenden Gesichter sich rasch von der einen Seite auf die andre – ich dachte unwillkürlich an die Kobolde bei Thors Maskerade:
»In treuherziger Munterkeit,
Das Bockshorn an der Stirne,
Sie gaben Stoß auf Stoß.«
Hier fehlte wirklich nichts andres, als dieser jotunheimische Hauptschmuck, um die Illusion vollständig zu machen; die Zigeunerin konnte jedenfalls als eine recht erträgliche Gerda passieren.
Auch dieser Tanz fand ein Ende; Gerda ging dorthin zurück, woher sie angesaust gekommen. Ich schob mich rasch an die andre Seite des Fensters, um zu sehen, wo sie blieb. Sieh, da stand eine Kiste, und darauf saß der fußlose Wanderer; seine forsche Mittänzerin auf dem Lebenswege stellte den Rücken gegen die Kiste, die Hände darauf und voltigierte rückwärts zu ihm hinauf.
In diesem Augenblick hörte ich eine Tür gehen, und draußen bei mir stand der gelehrte Rotwelsche. Im Lichterschein von der Stube drinnen sahen wir uns bald von Angesicht zu Angesicht, und er – erkannte mich ebenso rasch wie ich ihn, wenn auch mit noch größerer Verwunderung.
Ich erzählte ihm, daß ich nach Oerre wollte, aber in diesem pfadlosen Wetter den Weg verfehlt hätte und deshalb dem Licht in diesem Hause nachgegangen war. Er bot sich dienstfertig als Wegweiser an, welchen Höflichkeitsbeweis ich auch dankbar annahm, nicht so sehr des Wegweisens wegen, als um eine Erklärung über die Szene zu erhalten, bei der ich jetzt Zuschauer gewesen war, und besonders Aufklärung über das sonderbare Ehepaar.
Was ich erfuhr, wird hiernach, wie folgt, mitgeteilt.
Das sonderbare Haus – erzählte mir mein Begleiter – war nicht mit Hilfe von Alladins Lampe, auch nicht auf Befehl eines andern Geisterbeschwörers erbaut, sondern vom Armenwesen der Gemeinde Oerre und auf Befehl des Amts für den weitgereisten und weitbekannten Johannes Axelsen, den mir der Prävliquant beschrieb: 1. als einen gelehrten Mann, da er sowohl lesen als auch »skribenten« könnte, 2. als einen klugen Mann, da er bisher allen Nachstellungen der Obersticker (Hardesvögte) entgangen war und getrotzt hatte, 3. als einen riesenstarken Raufbold, da er an Leibeskräften allein »Jens Munkedal, Kresten Stärk in Hveisel und Kresten Jensen in Oerre« nachstehe (welche drei Athleten – nach Beschreibung und feierlich beschworenen Tatsachen – sicherlich mit Milo, Polydamas und Eutellus verglichen werden konnten – mit Stärkodder, Bue Digre und Orm Storolfsen – mit August dem Zweiten, dem Marschall von Sachsen und Frank).
Diese Materie bot einen sehr natürlichen Übergang zu der Zigeunerin, die auch eine mehr als gewöhnliche Stärke besitzen mußte, da sie ihren Mann von Ort zu Ort zu tragen vermochte.
»Linka Smälem (Zigeuner),« sagte er, »ist stark wie ein Unglück, das kann ich bezeugen; denn als ich einmal Lust bekam, mit ihr ein bißchen zu spielen, gab sie mir eine so feste Maulschelle, wie ich sie gar nicht besser verlangen konnte – aber deswegen sind wir doch gute Freunde.«
»Dann ist sie also ihrem Krüppel treu?« fragte ich.
»Wie Gold,« versetzte er, »will ihr jemand auf die Weise zu nahe kommen, ist sie schlimmer wie ein Kettenhund.«
»Wie ist das denn gekommen,« fuhr ich fort, »daß diese beiden Menschen so ein Paar geworden sind?«
»Das will ich Ihnen erzählen,« sagte er. »Peiter Beinlos, wie wir ihn nennen, und ich sind an derselben Stelle geboren –«
»Wo?« unterbrach ich.
»Das weiß ich nicht!« erwiderte er lachend. »Meine Mutter hat gesagt, daß es hier auf der Heide war –«
»Das war in einem großen Haus,« bemerkte ich.
»Jawohl, jawohl!« rief er nickend, »es war hoch bis zur Decke und weit bis an die Wände. – Ich und Peiter reisten zusammen, bis wir groß wurden; da bekamen wir Lust, uns weiter in der Welt umzusehen. In Hvidmatini (Österreich) –«
»Das war ein weiter Sprung,« fiel ich ein.
»Das sind viele tausend Meilen,« sagte er mit dem frohen Selbstgefühl eines weitgereisten Mannes. – »Von Blaamatini (Preußen) ab waren wir in Gesellschaft mit Smälemern (Zigeunern) gewesen. Da traf es sich einmal nicht schlechter und nicht besser, als daß wir Nachtlager in einem grausig großen Wald genommen hatten; und am Morgen, als wir erwachten, war da Krieg rings um uns herum; es spektakelte auf allen Seiten. Ein gutes Stück hin war eine Höhle in einem Berg; das wußten die Smälemer, und da wollten wir hinkriechen in Schutz. Aber der Krieg kam näher und näher, und die Kugeln zischten über uns und schlugen die Zweige von den Bäumen; einer fiel einem halbwüchsigen Mädchen auf den Kopf – das war justement Linka, Linka Smälem, wie wir sie nennen, Peiters Maje (Liebste) – und sie fiel zu Boden. Alle Smälemer liefen weiter, und niemand wollte auf Linka warten; denn sie gehörte keinem von ihnen, sondern war irgendwo weiter im Süden gestohlen worden. »Wir wollen sehen, ob sie auch tot ist!« sagte Peiter zu mir. »Laß sie liegen!« sage ich. Aber die war nicht tot; nur schlimm geschlagen hatte sie sich, und der eine Arm war gebrochen, und sie bat so flehentlich, daß wir sie mitnehmen sollten. Da nahm Peiter sie hoch, und wir den andern hinterdrein. Als wir in die Höhle kamen, waren wir sicher, und da wurde Linka nachgesehen und verbunden; aber als der Krieg vorübergezogen war und wir wieder auf Reisen gingen, war kein andrer da, der Linka tragen wollte als Peiter; gehen konnte sie nicht, und die Smälemer hatten ihr etwas zum Leben geben und sie dann in der Höhle zurücklassen wollen. So schleppte er denn das Mädchen viele Tage und weit umher, bis sie selbst wieder anfangen konnte, den Fuß auf den Boden zu setzen. – Das ist nicht umsonst, daß sie ihn nun wieder trägt; quitt ist gute Bezahlung.«
»Na,« fiel ich wieder ein, »und der erste Teil der Bezahlung war nun der, daß sie ihn heiratete?«
»Ja, ach ja!« schmunzelte er. »Gewiß heirateten sie ein paar Jahr danach – gewissermaßen – Sie wissen ja, wie wir das halten; das ist übrigens ebenso stark, wie Primer und Skraaler (Pastor und Küster) es machen können. Wer fremde Götter nehmen oder von einander laufen will, für den kann es gleich sein, ob sie auf einer Landstraße zusammengetan sind oder in einem Schangert (Kirche).«
Ich fand mich nicht befugt, etwas auf eine so unverschämte Spottrede zu erwidern, ich fand es unter meiner Würde, honette Leute gegen so einen Lumpen zu verteidigen. Er fuhr fort:
»Aber Peiter und Linka hielten treulich mit einander aus. Da traf es sich einmal nicht schlechter und nicht besser, als daß wir von einem Haufen Soldaten gefangen genommen wurden. Was aus den Smälern wurde, weiß ich nicht; aber das weiß ich, daß Peiter und ich jeder einen weißen Rokkelpoj (Rock) und einen Sneller (Gewehr) auf den Nacken bekamen und mehr Prügel als Geld, bis wir kriegen gelernt hatten. Da kamen wir auch mit gegen die Franzosen und Linka folgte unserm Regiment mit andern Weibern und Packtasche. Wenn wir nicht im Dienst waren, war sie immer bei Peiter und tat ihm alles gute, was sie nur konnte. Und es war schwer genug; denn erst wurde sie grumslinglak (schwanger) und dann mußte sie den Grumsling schleppen – denselben kleinen Wicht, den sie noch mit sich haben; aber sie gab nie einen Muck von sich.
Ein Jahr lang oder drei ging es uns doch ganz gut; aber dann kamen wir eines Tags in eine große Schlacht, und da bekam der arme Peiter beide Beine spoliiert von einer Kanonenkugel. Ich wußte nichts von ihm, als erst am Abend, als wir ins Quartier gekommen waren; da kam Linka mit ihm auf dem Rücken und in die Krankenstube zum Feldscher. Er schnitt ihm beide Füße ab, und als er nun kuriert war, konnte er gehen, wohin er wollte. Seinen Abschied hatte er – da war nichts im Wege – aber die Pension vergaßen sie. Da nahm Linka ihn wieder auf den Rücken und den Grumsling an die Hand und wanderte weiter in der Welt umher. Sie hatte es sauer genug, glaube ich: denn sie mußte allein Essen für sie alle drei schaffen. Aber sie ist niemals ratlos – der Kerl! Sie bettelte und sie tanzte und sie sagte wahr – denn sie kann auch wahrsagen,« setzte er mit großem Ernst hinzu, »aus Kaffee und Karten und aus den Händen; und was sie sagt, das ist sicher.«
So hatte sie sich durchgefochten von einem Strom ganz da unten, den sie »die Donau« nennen und bis nach Böffelsmatini (Mecklenburg). Da gelang es mir, sie wiederzufinden, und seitdem gingen wir mit einander hier heimwärts –«
»Aber«, unterbrach ich ihn, »du hast ja deine beiden Füße. Wie bekamst du denn deinen Abschied?«
»Den nahm ich selbst«, antwortete er grinsend, »ich fand, der Krieg dauerte mir zu lange, und als ich eines Tages Schildwache in einem großen Walde stand – derselbe, wo Linka der Arm zerschlagen worden war – bekam ich Lust, wieder nach Dänemark zu kommen. Ich warf daher Rokkelpoj und Sneller und Patronentasche und das ganze Zeug weg und lief meiner Wege, und das ging prachtvoll.«
Während dieser Erzählung, die übrigens viel weitläufiger war, mehr episch und episodisch, als hier anzuführen ich für nötig halte, hatten wir einen besser gebahnten Weg nach Oerre erreicht. Mein bereister Begleiter ging zurück und ich weiter, obwohl ich gern noch einmal dieses treue Lumpenpaar gesehen und mit ihm gesprochen hätte. – Ich habe sie weder früher noch später je gesehen.
Ich will nicht verhehlen, daß diese Geschichte mich mit allerhand Gedanken, Gefühlen, Vermutungen befruchtete; doch die meisten davon kamen nicht zur Welt – werden es auch nicht.
Einer erinnere ich mich noch – einer Vermutung – ob romanesk oder romanisch, das weiß ich nicht; ob diese Nachtmannsdame, die nun in einem Torfhaus auf der Oerrer Heide tanzt, eine ungarische Gräfin oder Baronesse ist? Was, wenn die Geburt sie dazu bestimmt hätte, auf Wiener Hofbällen zu tanzen? Barone, Grafen und Fürsten zu ihren Füßen zu sehen? Anstatt daß sie nun einen Lumpen ohne Füße durch das Leben tragen muß! Ihre Wiege stand vielleicht in »goldenen Sälen« – ihr Grab in der Ecke eines jütischen Dorfkirchhofs – aber ihre treue Liebe kann vielleicht dort verzeichnet stehen, wo Kaiserschlösser und Torfhäuser Seite an Seite stehen.