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Die Herbstferien

Aus den Erinnerungen eines alten Schulmanns.


1.
Alte Bekannte.

»Non cuives homini contingit adire Corinthum – wörtlich!« So ertönte die hohle Tonnenstimme aus der fünften Klasse. Ich blieb vor der Klassentür stehen, deren Griff ich bereits umgedreht hatte, um Quintus' freie Übersetzung dieses horazischen Verses zu hören.

Eine Knabenstimme antwortete: »Es ist nicht jedem Menschen beschieden, zu kommen« – »nach Ulvedal« ertönte eine andre und stärkere.

»Was? Wer war das? Woher kam das?« rief der Lehrer.

»Von oben – aus dem Halse – aus dem Kehlkopf,« schrieen einige durcheinander.

Nach einem donnernden Schlage auf den Tisch und einem ebensolchen »Quos ego« wurde es wieder ruhig.

Aber auf das Kommandowort »Frei!« öffneten sich aufs neue die verstopften Kehlen. Einer begann: »Nicht jede Krähe« – ein andrer unterbrach: »Nicht jede Sau« – ein dritter fiel ein: »Nicht jede Kuh« – »Du magst selbst eine Kuh sein,« brummte der Lehrer; es heißt: »Nicht jede Sau will die Krähe reiten« –

Wie um den mißhandelten Dichter zu rächen, setzten die übermütigen Jungen eine verrückte Variation nach der andern auf das Thema des Lehrers: »Nicht jede Krähe will die Sau reiten – nicht jede Sau will die Kuh reiten« – usw. Und bald wurde das Ganze ein Malstrom von Worten, worunter »Kuh, Sau, Krähe« wie Kanonenschüsse durch das endlose Knallen eines Musketenfeuers tönten.

Ich fand mich nun berufen, zu intervenieren, jedoch nicht um die »Freiheiten« der Disziplin zu bestrafen, deren Urheber der alte Pedant ja selbst war.

»Die Ferien fangen an,« lautete nun die frohe Botschaft durch alle Klassen, einen halben Tag, ehe man es erwartet hatte; denn der Wagen aus Ulvedal war um so viel früher gekommen. Wir mußten uns folglich darauf einrichten, gleich mit ihm zurückzufahren. Quintus und Quartus, die beide eingeladen waren, blieben nicht als letzte in der Schule. Und so eifrig war besonders der letztere mit der Ausrüstung, daß er wirklich seine Buddel vergessen haben würde, wenn ihn nicht der Sohn des Kammerrats Hansen daran erinnert hätte, daß das Wetter kalt sei. Dies war das erste Glied in der Kette; und als Quartus das erfaßt hatte, erfolgte das zweite von selbst, und er sprang aus dem Wagen, »um etwas zu holen, was er vergessen hatte«.

Quintus knurrte, aber im Grunde doch nur darüber, daß er den größten Teil seines Frühstücks gespart haben könnte, wenn er rechtzeitig gewußt hätte, daß er Frau Hansens Abendessen bekommen würde.

Mein Schwiegervater, seine Tochter, seine kleine Enkelin und ich fuhren in einem zweiten Wagen etwas hinterher. – Was das Wetter anging, so war es klar und schön, und ein frischer Westwind führte nichts von der Kälte mit sich, gegen die Quartus sich durch innere Mittel schützen wollte.

Der Herbst hatte ungewöhnlich früh begonnen; obwohl wir erst kürzlich in die Hundstage gekommen waren, hatte man doch bereits fast alles Korn »entwurzelt« und ein groß Teil »unter Dach«. Diese Emsigkeit auf dem Felde, die ungewöhnliche Menschenmenge haben für mich wenigstens etwas so Lebhaftes, so Ermunterndes und dabei etwas so – wenn ich nur ein Wort für »satisfying« hätte – so Befriedigendes, daß diese Jahreszeit meine liebste ist. Mein Schwiegervater gab ein langes Stück aus Virgils Georgikon zum besten, und meine Alice sagte einen ganzen Canto von Delille mit einer so milden Wärme, einer so kindlichen Freude her, daß ich wieder Kind wurde und der Konrektor Jüngling.

Unsre ländlichfrohe Stimmung bekam doch bald eine andre Wendung, als der Ulstruper Küster, der für den Kammerrat den Zehnten eingezogen hatte, neben uns hergeritten kam mit einem: »Willkommen, laus' mich der Affe! Haben Sie den Schießprügel mit, Herr Rektor?« Als ich ihn in dieser Hinsicht beruhigt hatte, rief er vergnügt: »Das kann ich verstehen; aber nun werden Sie auch sagen, daß es hier, laus' mich der Affe, dieses Jahr so viele Dreidecker gibt, daß sie sich drängen.« Hiermit spornte er seinen Gaul und galoppierte in die Felder hinein. Und bald danach rollten wir vor der Haupttür des Flügels von Ulvedal vor, den der Bruder meines Schwiegervaters, der Kapitän, bewohnte. Denn nicht zu vergessen, dieser hatte Hof und Gut vom Kammerrat als Brautgabe für seine Frau gekauft; aber der Kammerrat hatte wieder das Ganze gepachtet und war auf dem Hof wohnen geblieben.

Es ist so angenehm, auf einem Ausflug wie diesem lauter Bekannte zu treffen. Ein fremdes Gesicht – auch wenn es schön ist, anziehend, vertrauenerweckend – es ist doch nicht das Richtige, es gibt unsrer Stimmung eine andre Richtung. »Der Wind springt nach einer andern Richtung um,« sagt der Kapitän. »Es ist ein Dämpfer auf der Violine,« sagt Fiedler. »Es ist eine Kontraquästion,« sagt der Hardesvogt. »Es ist eine Variante,« sagt mein Schwiegervater. »Es ist, als ob die Büchse versagt,« sagt der Ulstruper Küster.

Nun, die Büchse versagte den Tag nicht! Vor der Tür empfingen uns der Kapitän und seine Frau, sein treuer Diener mit der Wagenleiter und – der lustige Hardesvogt mit einem Leierkasten, zu dessen schnarrenden Tönen er mit echt jütischem Bauerndialekt sang:

Zu braven Leuten kommen brave Leut,
hei, dideldum, dideldum, heißa!
Freunde mit Freunden treffen sich heut;
sie freuen sich alle, heißa!
Mehr als ich sagen kann, ei ja.«

»Diese Lyra,« deklamierte er, als wir hineingekommen waren, »hat nach der glücklichen Konjektur des großen Altertumsforschers, Kammerrats Urold, dem weltberühmten Dichter und Lautenschläger Homerus gehört. Der jetzige Besitzer derselben, der größte Virtuos in meiner ganzen Jurisdiktion, der fast ebenso berühmte Peder Siebensprung, hat in seinem Namen etwas, was lebhaft daran erinnert, daß sieben Städte sich um die Ehre stritten, den Vater der Dichtkunst hervorgebracht zu haben.«

Wir wurden natürlich neugierig darauf, diesen jütischen Homer zu sehen und baten darum, ihm vorgestellt zu werden.

»Heute Abend,« sagte der Hardesvogt, »oder vielleicht erst morgen früh gibt seine Lieblichkeit Audienz – ich sage Lieblichkeit; denn einer der sieben Namen des Dichters ist »Lieblicher Piaer« – jetzt ruht er auf seinen Lorbeeren aus und schläft fest; denn er hat heute wohl tief in die jütische Hippocrene gesehen.«

Wir mußten uns also bis auf weiteres mit der Hoffnung vertrösten. – Kaum waren wir in dem freundlichen Gartenzimmer am Teetisch zum Sitzen gekommen, als der Kammerrat eintrat und uns alle bat, bei ihm drüben zu Abend zu essen. Dies wurde einstimmig versprochen und zwar mit der Maßgabe, daß beide Familien mit ihren respektiven Gästen abwechselnd alle folgenden Abende in den gegenseitigen Wohnungen bis zum Erntefest verbringen sollten, das für die Fremden das letzte sein sollte.

Beim Kammerrat wurden viele im Laufe der vierzehn Tage vor dem großen Erntefest erwartet; aber vorläufig fanden wir noch niemand anders als unsre beiden Lehrer und den Altertumsforscher, den wir alle von früheren Zusammentreffen her gut kannten. Er war eigentlich nach Ulvedal gekommen, um einen Runenstein zu untersuchen, wegen dessen der selige Pontoppidan einen Wink gegeben hatte, er solle sich auf dem Gute finden; aber diese Untersuchung nahm, bei ihrer Wichtigkeit und Schwierigkeit, die ganzen vierzehn Tage in Anspruch, wie sich später zeigen wird. – Während dieser ganzen Zeit waren er und seine Wissenschaft andauernd Gegenstand für die Witzigen, aber gleichzeitig auch für die unerschütterliche, gute Laune des gutmütigen Hardesvogts. –

Wir waren nicht einmal mit dem ersten Gericht fertig, einem ausgezeichneten Kalbsbraten, als er sich an die Wirtin wandte und mit mildem Ernst und tiefer Stimme sagte: »Gestatten Sie mir, beste gnädige Frau, zu fragen: mit welchen Mitteln und welcher Behandlungsweise ist es Ihnen gelungen, dieses Füllen so fett und äußerst delikat zu bereiten?«

Frau Hansen machte große Augen, Kammerrat Urold noch größere.

»Füllen?« wiederholten beide auf einmal, sie mit schwacher, er mit einer Bärenstimme.

Unser Wirt, der bald merkte, wo der scherzhafte Jurist hinauswollte, gab seiner Frau einen Wink und nahm das Wort: »Das will ich Ihnen erklären; denn meine Frau weiß es nicht einmal. Als das Füllen geboren wurde, starb die Stute, und nun versuchte ich, es bei einer meiner Kühe säugen zu lassen, und deshalb, glaube ich, ist es so besonders fett und wohlschmeckend geworden.«

»Aber das ist ja,« deklamierte der Altertumsforscher, »das ist ja etwas ganz Merkwürdiges, ganz Neues, oder richtiger gesagt, ganz Altes; es ist vortrefflich. Und ich will hoffen, daß dieses Beispiel so stark wirken wird, daß Pferdefleisch hiernach allgemeine Kost wird wie bei unsern Vorvätern. Und woher hatten diese ihre Größe und Stärke? Von Pferdefleisch, einzig und allein von Pferdefleisch; deshalb hatten sie auch Pferdekräfte – was noch ein gebräuchlicher Ausdruck unter uns ist – darf ich noch um ein Stück bitten!«

In diesem Augenblick fielen meine und mehrerer Augen von unserm altnordischen Redner auf seinen Nebenmann, den wenig gesprächigen Quintus. Er hatte Messer und Gabel über Kreuz auf den zum zweiten Mal gefüllten und noch nicht abgegessenen Teller gelegt, die Arme über dem Leibe gekreuzt und sah im Gesicht aus wie ein grüner Käse.

»Ist Ihnen nicht wohl, Herr Quintus?« fragte der Hardesvogt. Der Angeredete antwortete nicht, sondern sprang auf und eilte hinaus – Quartus hinterdrein. – Einige lächelten; aber Urold schielte verächtlich auf den leeren Sitz.

»Sollte wirklich,« sagte er mit seiner tiefen Stimme, »dieser große Körper eine so schwache Natur angenommen haben, daß er kein Pferdefleisch vertragen kann?«

»Was ist mit Ihrem Kollegen?« sagte der Hardesvogt zu dem alten wiederkommenden Quartus.

»Pferdefleisch,« antwortete dieser, »er konjugiert »boao« durch in allen Modos und Tempora.«

»All dies,« sagte der Hardesvogt, »– und es ist meine Schuld, ich leugne es nicht – geht über Ihre Speisekammer her, Frau Hansen! Herr Kammerrat Urold ißt mehr, als er sonst gegessen hätte; und unser Pferdefleischfeind – wenn ich ihn recht kenne, will eine Abendmahlzeit dazu haben, da er die erste nicht bei sich behalten konnte.«

»Ich kann, laus' mich der Affe, meine auch nicht behalten,« schrie der Küster, der am untersten Ende saß, und auf den wir bisher nicht geachtet hatten. Und damit lief er in Quintus' Fußspur davon.

Nun war es unmöglich, das Lachen länger zu unterdrücken. Selbst der ernste Landherrscher Urold mußte lächeln; er dachte am wenigsten daran, daß er selbst der erste Anlaß des Lachens war.

Mitten darin kam ein rasch rollender Wagen vor die Tür und Wirt und Wirtin gingen hinaus, um die Gäste zu empfangen, unter denen sie geladene vermuteten. Wer diese nun waren, wird der nächste Abschnitt zeigen.

 

2.
Neue Gesichter.

Es war niemand von den Erwarteten, sondern ganz andre, von denen weder Wirt noch Wirtin geträumt hatten: ein Kammerherr von Schlüssel mit Fräulein Tochter. Er war ein Mann gegen sechzig, untersetzt, vierschrötig, mit einem großen bleichen Gesicht, in dem alles groß war mit Ausnahme der Augen, die nicht viel größer als bei einer Katze und von derselben grüngelben Farbe waren. Bei seinem Eintritt erhob sich die Gesellschaft und grüßte; sein Gegengruß war von einer mir bisher unbekannten Art: er verneigte oder beugte weder Körper noch Kopf, sondern machte mit diesem eine Bewegung, die fast das Gegenteil eines Nickens war und der eines Stutzenden glich oder eines, dem man plötzlich ein Licht zu dicht unter die Nase hält. Dabei schlug er mit dem einen Fuß hinten aus und setzte ihn ziemlich hart neben den andern wieder auf. Ich und wohl mehrere der Gesellschaft hielten ihn für einen Pferdehändler oder einen jener bauernstämmigen Rittergutsschlächter, von denen nicht wenige zu dieser Zeit zu großem Wohlstande gelangt waren. Ja noch nachdem unser Wirt ihn mit seinem wirklichen Namen und Rang vorgestellt hatte, glaubte ich, daß uns hier ein neuer Streich vom Hardesvogt gespielt werden sollte.

Einen ganz andern Eindruck machte die Tochter: obwohl klein von Wuchs, obwohl bescheiden, fast scheu von Wesen, war trotzdem in alledem ein Gewisses, was die Männernacken beugt. Je länger man sie ansah, desto größer erschien sie. Ihr Gesicht oder richtiger ihr Aussehen erschien im ersten Augenblick ziemlich gewöhnlich, fast nichtssagend: es war bleich, kalt. Doch wenn sie den Mund öffnete und sprach – ihre Stimme klang fast wie ein Flüstern – dann sprangen Rosen aus ihren blassen Wangen: die Augenlider zogen sich ganz hinauf über ein Paar Augen, deren seltsamer Ausdruck und süßes Feuer einen überraschenden Eindruck auf jeden nicht ganz fühllosen Zuschauer machten – wie wenn sich der Vorhang zur Bühne hebt und sich eine liebliche Landschaft mit der aufgehenden Sonne im Hintergrund zeigt.

Der Wirt gab zweien seiner Kinder einen Wink, woraufhin sie aufstanden und ihre Stühle etwas zurückschoben: er lud die Gäste ein, Platz zu nehmen, der Kammerherr legte eine Hand auf den Stuhlrücken und ließ seine Blicke über die Gesellschaft schweifen. Aber da Quintus und der Küster nun gerade zurückkamen und die hochvornehmen Augen auf den letzten fielen, zog der gnädige Herr die Hand an sich und näselte: »Wir sind müde von der Reise und wünschen, bald zur Ruhe zu kommen; doch will Ihre Frau uns eine Tasse Tee auf unsre Zimmer geben –«

»Augenblicklich!« erwiderte Frau Hansen rasch und heiter, nahm ein Licht von einem Seitentisch und führte, von einer Tochter begleitet, die Fremden fort.

»Gute Nacht,« sagte der Kammerherr auf deutsch, während sein Gesicht einen Halbkreis über uns beschrieb. Doch in der Tür wandte er sich halb um, mit dem Ersuchen oder richtiger dem Befehl an den Wirt, zu ihm hineinzukommen, bevor er zu Bette ging. Mit niedergeschlagenen Augen verneigte sich die Tochter tief und – glaube ich – um so tiefer, als sonst genügt hätte, um mit der Hoffärtigkeit des Vaters auszusöhnen. Das Schweigen, das nun für einen Augenblick entstand, wurde zuerst von Urold mit einem Ausdruck der Verwunderung über diesen seltsamen späten Besuch gebrochen. Der Küster, der neben andern Verdiensten auch das hatte, ein lebendes Konversationslexikon der Gegend zu sein, gab die Antwort:

»Da kann ich uns erzählen, was er zu bedeuten hat: der Kammerherr will absolut das kleine Fräulein hier zwingen, den jungen Baron Mahlensfeld zu nehmen, der nun ein Jahr oder länger hinter ihr herstreicht. Aber sie sträubt sich, wie klein sie auch ist, und will nicht nachgeben. Nun hat man allerdings seit einiger Zeit zu raunen begonnen, daß sie einen andern im geheimen hat. Einige sagen, einer habe ihn gesehen, und andre sagen, daß es nicht so sei. Aber so viel ist sicher, daß der Gärtnerjunge Briefe zwischen ihnen besorgt, und das ist vor den gnädigen Herrn gekommen, und da er nicht bekennen wollte, bekam er erst Prügel und wurde dann vor die Tür gesetzt. Nun denke ich bei mir selbst folgendes: ob der Kammerherr nicht das Fräulein hier zum Kammerrat bringen will, der ihm in seinen ersten Anfängen als Verwalter gedient hat. Dann wollen sie wohl hier versuchen, ihr und dem Liebsten aufzupassen; denn sie denken – was schon wahr sein kann – daß die jungen Menschen hier etwas verwegener sein werden als zu Hause.«

Man sah mit Erstaunen auf den Redner und auf einander, als warte man darauf, wer zuerst sein Gutachten über diesen Auftritt und die darin spielenden Personen abgeben wolle. Doch ehe noch jemand dazu kam, die Pause zu unterbrechen, hörte man abermals Rollen eines vorfahrenden Wagens. Gleichzeitig mit Wirt und Wirtin trat sogleich eine hohe Dame ein, die sich ihnen als die Französin von Fühnen vorstellte, die es übernommen hatte, die jüngsten Kinder des Kammerrats in Sprachen und Musik zu unterrichten, allein gegen Kost und Logis. Ihre Sprache verriet die Ausländerin; doch ob sie nun deutsch oder französisch war, das konnte man nicht unterscheiden. Aber die Stimme war ungewöhnlich grob und männlich, ebenso wie auch ihre ungewöhnliche Höhe, ihr Gang und ihr ganzes Wesen gar nicht mit den Frauenkleidern zusammenstimmten. Nur das Gesicht widersprach diesen nicht; es war fein, glatt und ziemlich schön. Doch war ihr Augenspiel wiederum dreist, und ihr Lachen, das der Hardesvogt ein paarmal durch seine witzigen Einfälle erzwang, trotz ihres sichtlichen Widerstandes, war schallend und fast verwunderlich. Im übrigen war sie doch sehr zurückhaltend und wortkarg und sprach mit niemandem bei Tisch, wenn sie nicht vorher angeredet war.

Trotzdem verlor sich allmählich die Aufmerksamkeit, die Mamsell Dubois bei ihrem ersten Hervortreten erweckt hatte; denn diese Klasse – die damals noch aus lauter Fremden bestand – hatte eine gewisse Sonderlichkeit verbrieft: sie wurden als Amphibien betrachtet, als ein Mittelding zwischen Mann und Weib.

Wir waren gerade im Begriff, das so oft unterbrochene Abendmahl zu beenden, als draußen Pferdegetrappel zu hören war und fast im selben Augenblick noch ein Fremder im wahrsten Sinne zur Tür hereingesprungen kam. Er hatte ein pockennarbiges, scharfgezeichnetes Gesicht, ein dunkles und fast grimmiges Aussehen; aber er zeigte sich bald von einer ganz andern Seite.

»Guten Abend, Kapitän!« rief er mit Seemannsbaß, schmiß seinen Hut auf einen Stuhl an der Wand und reichte dem Begrüßten seine Hand quer über den Tisch, der Französin dicht am Gesicht vorbei, die sich zu ihm mit einem Ausdruck von Verwunderung und Unwillen umdrehte.

»Willkommen, Doktor!« erwiderte der Kapitän, indem er sich an Wirt und Wirtin wandte. »Ein alter Freund und Reisegefährte, Doktor –« hier fiel dieser selbst ein:

»Nicht Doktor, ich bin nur ein einfacher Feldscher und kürzlich hier im Distrikt als privilegierter Quacksalber angestellt. Übrigens heiße ich Sorgenfryd, bin kein Komplimentenmacher, sondern sage meine Meinung immer gerade heraus. Und deshalb bitte ich auch höflichst um Erlaubnis, mich an diesen gesegneten Tisch setzen zu dürfen; denn ich bin sowohl hungrig als auch durstig.«

Ehe noch der Wirt diese Erlaubnis gegeben hatte, hatte der Distriktsarzt sich bereits einen leeren Stuhl neben dem Küster ausgesucht. Dieser schob seinen Stuhl soweit wie möglich an seinen andern Nebenmann heran, als sei er durch das stürmische Vorgehen des Quacksalbers erschreckt worden. Aber letzterer ergriff sogleich den Stuhl des Küsters, während er mit der andern Hand nach dem ihm angebotenen Teller faßte, und sagte zu seinem Nebenmann, ohne ihn jedoch anzusehen: »Sie brauchen keine Angst vor mir zu haben! Die Zeiten sind vorbei, da Apotheker und Doktoren gleichzeitig Scharfrichter waren.«

Mit diesen Worten zog er den Küster wieder dicht an sich heran. Der arme Ludimagister, wenn auch nicht sonderlich erfreut über die Nachbarschaft, setzte dennoch eine kecke Miene auf und brachte ein Lächeln hervor, das er mit raschem Fingerzeigen gegen seine Stirn begleitete.

Quintus, der ihm schräg gegenüber saß, nickte ihm Beifall zu, hielt aber im übrigen seine Augen starr auf den Fremden geheftet, der mit einer Gier, die ihm unser gelehrter Fresser sicherlich mißgönnte, seinen Teller im Handumdrehen leerte und wieder hinhielt, damit er noch einmal gefüllt werde. Aber darüber vergaß er nicht die Flasche; denn die erste war vor dem zweiten Teller geleert. – Indeß, er tat so Bescheid – und das dauerte nur ein paar Minuten – daß alle übrigen Tischgäste Messer und Gabel hinlegten und ihre Blicke zwischen ihm und sich gegenseitig teilten, was ihn weder im geringsten verlegen machte, noch seine maßlose Tätigkeit innehalten ließ.

Als er fertig war, nickte er dem Wirt und seiner Frau zu, lehnte sich gegen den Stuhlrücken zurück und begann mit einer Zungenfertigkeit, die fast ebenso unaufhaltsam war wie die, von der er bereits eine so glänzende Probe abgelegt hatte: »Meine Damen und Herren! Sie müssen mein langes Schweigen entschuldigen! Wenn ich esse, so ist das nicht zum Schein – wie Sie vielleicht bemerkt haben – und während einer solchen Arbeit müssen alle andern ruhn; denn sie ist unbestreitbar die wichtigste von allen. Und wird sie versäumt, wie soll es dann mit allen andern gehn? Sie glauben vielleicht, daß ich aus Eigennutz so spreche und Völlerei und Trinkerei predige, um meine Praxis zu erweitern; aber ich schwöre beim Hippokrates, daß zu wenig hier schädlicher ist als zu viel, und daß ich viel leichter zwanzig Patienten von Indigestion kurieren kann, als einen einzigen Wassertrinker.«

Bekehrt durch diese salbungsvolle Rede bekamen sowohl Quintus als auch der Küster bessere Gedanken vom Verstande des Doktors. Der erstere nickte; der letztere strich sich mit der flachen Hand über die Perücke und sagte: »Er ist, laus' mich der Affe, der beste Doktor, den ich kennengelernt habe. Ein Fingerhut Punsch ist besser als zwei Tonnen Wasser.«

»Sie sind mein Mann,« sagte der Arzt und sah ihn zärtlich an, indem er sein Glas ergriff und mit ihm anstieß: »Auf nähere Bekanntschaft.« – Es entstand nun ein allgemeines Lachen und Scherzen, und kaum war eine Viertelstunde seit der Ankunft des lustigen Distriktchirurgen verstrichen, als er nicht länger als ein Fremder betrachtet wurde.

Nur zwei in der Gesellschaft fanden keinen Geschmack in Rede und Betragen des letztgenannten. Sie nickten einander zu, verneigten sich vor Wirt und Wirtin und schoben ihre Stühle zurück, worauf alle ebenso taten. Ich brauche kaum hinzuzufügen, daß diese beiden die Frau des Kapitäns und meine waren.

 

3.
Pe' Siebensprung

Am nächsten Vormittag hatte Kammerrat Hansen angeordnet, daß wir Mannsleute Frühstück im Garten aßen. Doch kam zum Schluß unerwartet ein Frauenzimmer dazu – die männliche Französin: die Hände auf dem Rücken und mit langen Schritten trat sie hinzu und bemächtigte sich eines Stuhls mit einem nachlässigen »avec votre permission, messieurs!«

»Doch das ist wahr,« rief der Hardesvogt, »unser Troubadour!«

»Ich werde ihn holen,« erbot sich einer der Söhne des Kammerrats; und es dauerte nicht lange, bis er mit dem Betreffenden wiederkam.

Dieser Virtuose, – dessen richtiger Name Peder Pallisen war, der jedoch wegen seiner Verdienste sich folgende sechs Ehrennamen erworben hatte: Pe' Siebensprung, Lieblicher Pier, Pe' Halbliter, Pe' Neverkuk, Pe' Lautenschläger, Pe' Schaumschläger – war ein ältlicher Mann mit großen milchblauen, rotgeränderten, rinnenden Augen. Er trug einen langen grauen Frack, graue Strümpfe und Holzschuhe und hatte eine Mütze oder, wie man sagt, ein »Hutgestell« von derselben Farbe auf dem Kopf. Der Arme zitterte wie Espenlaub, und seine Schritte waren kurz und wankend. Der Arzt stand auf und sah ihn mit blinzelnden Augen an.

»Er hat, frikassier' mich der D.. delirium tremens!« rief er.

»Trelirium demens!« nahm der Küster das Wort, »Herr Doktor meint wohl, er hat seinen Schaden davon bekommen, daß er früh und spät so auf seiner Lyra herumschlägt. Nein phh! Trelirium! Tresvirium sollte es heißen – denn du bist ja ein gottloser Leib nach all dem Branntwein gewesen, Pe' Halbliter oder Pe' Ganzliter!«

»Bekomm ich einen lüttjen?« stammelte der Sünder, ohne sich das geringste um das Gerede des Küsters zu kümmern.

Der Wirt schenkte ein Weinglas voll Aquavit und reichte es ihm; aber er war nicht imstande, das Glas an die Lippen zu führen.

»Oh, geben Sie mir den, den,« bat er und sperrte sich, »dann werde ich mir schon selbst helfen.«

Er war nun eifrig, diesen Lebensbalsam in seinen weitgeöffneten Hals zu gießen, und die Wirkung zeigte sich fast im Augenblick.

»Hör mal,« sagte der Hardesvogt, »sing uns zu allererst das Lied, das du selbst über den Pastor und den Küster und alle die, du weißt schon, gedichtet hast, dann sollst du einen halben Liter mit nach Haus bekommen, außerdem, was du hier brauchst.«

»Ich darf wohl nicht singen,« sagte er und sah sich nach allen Anwesenden um, »ist hier keiner von ihnen?«

»Nein, hier brauchst du vor keinem Angst zu haben,« lautete die Antwort, »fang nur mit dem Lied an!«

Der Dichter holte nun seine Leier hervor und sang mit einer Stimme, die wie ein Terzett von einem Kalb, einem Schaf und einem Ziegenbock klang:

Die seltsamen Mienen, Blicke und Bewegungen, mit denen der Leiermann seinen Schmähgesang begleitete, machten ihn noch schnurriger und erheiterten wirklich alle Zuhörer – besonders die, die die jütische Mundart verstanden – und riefen den Wunsch nach noch einem hervor. Das wäre unfehlbar erfüllt worden, wenn nicht der Pastor des Ortes gerade gekommen wäre. Als Herr Siebensprung ihn erblickte, stahl er sich durch einen Seitengang fort und ließ sich nicht durch irgendeinen Zuruf oder ein Versprechen zurückhalten.

Der Geistliche war ein bejahrter, doch rühriger Mann mit einem ruhigen und milden Gesicht, in dem der Seelenfrieden deutlich zu lesen war und das leicht mit seiner wunderlichen Kleidung versöhnte: Perücke, Einspännerrock und schwarze Gamaschen, die er, wie ich später hörte, der Gesundheit wegen brauchte. Seine Rede war ebenso verständig wie mild, und mit Leichtigkeit und Sicherheit ging er auf viele verschiedene Themen ein. Man merkte bald, daß er, trotz der altmodischen Tracht, in den erstaunlichen Ereignissen der neueren Zeit ganz heimisch war, in ihren Geistes- und Staatsumwälzungen, doch auch, daß er sie mit derselben Gemütsverfassung betrachtete wie ein ausgedienter Seemann das aufrührerische Meer, das er nicht mehr zu befahren gedenkt.

Bei Ankunft des Pastors hatte der Kapitän die Gesellschaft verlassen, kam aber bald darauf mit seinem alten Diener zurück. Dieser trug das vollendete Modell eines Schiffs und stellte es mit Stegen auf einen Tisch. Der Kapitän wandte sich an den Pastor und sagte: »Lieber Herr Pastor! Dieses Schiff hat dieser alte Seemann selbst allein verfertigt, und es ist sein Wunsch, damit Ihrer Kirche ein Geschenk zu machen, wenn Sie es dazu für würdig halten. Und in diesem Falle bitte ich, die Kette geben zu dürfen, an der es aufgehängt wird.«

»Ich nehme das Geschenk gern entgegen,« sagte der Pastor lächelnd, »und danke im Namen der Kirche. Das kleine Schiff wird in dem großen hängen.«

Das kleine Kunstwerk wurde nun allgemein betrachtet und gerühmt, was es auch wirklich verdiente. Die Freude spielte in dem braunen Gesicht des alten Seebären; und hierin mischte sich auch ein verzeihlicher Stolz, als er von den im Schiffswesen Unkundigen mehrere Fragen über dies und jenes erhielt, was ihm die gewünschte Gelegenheit gab, Vorlesungen in einer Wissenschaft zu halten, die er, was das Praktische anging, vollkommen beherrschte. Allerdings wurden die Zuhörer dadurch nicht viel klüger; denn seine Terminologie war den meisten ganz unverständlich. Doch man tat, als wäre dem nicht so, um ihm nicht die Freude zu verderben.

Als es nun eine Pause im Vortrag des Navigators gab, kam der Pastor dazu, schüttelte ihm die Hand und sagte: »Vielen Dank, mein alter Freund! Du hast nun das hier auf deine Weise erklärt, und das ist sehr richtig und gut. Ich habe daran gedacht, daß ich es ein andres Mal auf meine Weise erklären will. Den ersten Sonntag, an dem es in der Kirche hängt, lade ich erst dich und deinen Kapitän ein, und sonst jeden, der Lust hat, eine Schiffspredigt in einer Kirche auf dem festen Lande zu hören.«

»Ich werde das – – mich schon einfinden,« erwiderte der Matrose so seelensfroh, daß ihm beinahe ein Seemannsterminus aus dem Munde gefallen wäre, den man einem geistlichen Manne nicht gerade ins Gesicht ruft.

Der Kapitän sagte: »Die Kette habe ich, und das Schiff kann heute noch an seinen Platz kommen. Aber wir haben nur zwei Tage bis Sonntag; vielleicht ist das etwas zu kurz für Euer Ehrwürden?«

Der Pastor lächelte wieder: »Meinetwegen können Sie es anbringen, wann Sie selbst wollen. Wenn ich eine Nacht habe, dann finde ich schon, was ich sagen will.«

»Schön,« sagte der Kapitän, »sieh zu, daß du es aufhängen kannst, Ole! Denn weder ich noch du können diese Predigt zu bald hören.«

 

4.
Oles Lebenslauf.

Dieser alte Seebär, der allgemein beliebt auf dem Hofe war – wenn auch in geringerem Grade von den Weibsleuten – zog sich nun, wegen seines Kunstwerks und den Kommentaren dazu, die besondere Aufmerksamkeit der Fremden zu: er wurde angeredet, gelobt, bedankt, befragt erst von einem, dann von einem andern. Daß dies ihm bald beschwerlich wurde, sah ich und – wenn nicht mehrere andre – der alte Pastor. Er machte diesem Navigationsexamen dadurch ein Ende, daß er Ole bat, uns die Geschichte seines Lebens zu erzählen. Auf dieses unerwartete Ansinnen schlug der Seemann seine weitaufgerissenen Augen gen Himmel – als sähe er nach dem Mastflügel und dann zur Erde, wie nach dem Lot.

Nach einigem Bedenken antwortete er: »Es ist nicht so Besonderes an der Geschichte; aber haben Sie Lust, sie zu hören, will ich sie auch erzählen; sie ist übrigens nichts für Frauenzimmer und Kinder –«, hier sah er sich im Kreise um, mit einem kalten mißtrauischen Blick, der deutlich zu erkennen gab, daß er die erwähnten Gattungen von Zuhörern entfernt haben wollte. Das erfolgte auch auf die Weise, daß der Pastor, der Kapitän, mein Schwiegervater und ich ihn mit uns in ein kleines hölzernes Gartenhaus nahmen, das nicht Platz für mehrere hatte.

Nachdem wir Platz genommen und Ole einen Priem unter der rechten Kiefer geschoben hatte, schlug er Beine und Arme über Kreuz und nahm das Wort wie folgt: »Ich lief vom Stapel, als wir eintausendsiebenhundertundvierzig schrieben, in einem kleinen Fjord in Norwegen, den man Sandefjord nennt. Mein Vater war Lotse da, und das war sein Vater vor ihm gewesen; und alle seine Vorväter – sagte er selbst – bis zu Japhet hin. Und so weit wie mein Vater zu erzählen wußte, war keiner von ihnen in seinem Bett gestorben, und deswegen starb mein Vater auch nicht darin; denn er ging auch da unten schlafen wie die andern.«

»Wo?« fragte mein Schwiegervater.

»Da,« erwiderte er, »wo man Tang als Bettstroh hat.«

»Ach so,« sagte mein Schwiegervater, »sie sind ertrunken?«

»Jawohl, das taten sie,« fuhr Ole fort, »und ich hätte wohl auch längst mein letztes Glas erlebt, wenn mich nicht mein Vater zu früh nach hinten gesegelt hätte. Ich war erst fünfzehn Jahr und klein von Wuchs, so daß keinem andern Lotsen bald mit mir gedient sein konnte. Da starb auch gleichzeitig meine Mutter, und Geschwister oder nahe Verwandte hatte ich nicht. Aber es ging mir doch noch besser, als ich dachte; denn da wohnte unter so vielen andern ein Schiffer im Ort und der hieß sogar Ole Olsen – und er war mit beim Begräbnis meiner seligen Mutter. Als sie nun begraben und alles vorbei war, da sagte er zu mir: »Ole,« sagt er, »hast du Heuer, mein Junge?« – »Nein!« sage ich, »mich will wohl keiner haben!« – »Aber ich!« sagt er. »Nun kann die Obrigkeit die Hütte und all das andre Zeug verkaufen, und wenn was übrigbleibt, können sie das auf Rente für dich setzen. In acht Tagen gehe ich, so Gott will, nach dem Mittelmeer; willst du als Kajütjunge mitfahren?« – »Jawohl!« sage ich, »und ich danke auch schön dafür, Vater!« – denn in Norwegen sagen alle Menschen du zueinander. – Na also, den achten Tag ging ich richtig an Bord der Aleth – Aleth hieß die Brigg, die er nach seiner Frau genannt hatte. Und ein stolzer Segler war sie. Und der Kapitän sagte auch oft: »Ole,« sagte er, »ich weiß nicht, frikassier' mich der Deibel, wen ich lieber habe, meine Schute oder meine Alte –«

»Wohin gingt ihr denn?« fiel der Kapitän ein.

»Wir gingen,« erwiderte Ole, »nach Livorno oder Leghorn, wie man es auch nennt, und dann fuhren wir mit Fracht von einem Platz zum andern draußen im Mittelmeer, und als der Sommer vorbei war, gingen wir nach Sandefjord zurück und legten da den Winter auf. – So ging das nun ein Jahr nach dem andern, bis ich mein fünfundzwanzigstes erreicht hatte, als Aleth –«

»Ole! Du vergißt den Klabautermann!« fiel der Kapitän ein.

»Hm! – Ja –« brummte der alte Matrose schmunzelnd, »ich weiß nicht, ob die hochgelehrten Herren so etwas hören wollen; denn sie denken wohl, das ist Altweibergewäsch und dummes Gerede –«

»Das ist ja gleich, Ole!« sagte sein Herr, »laß sie denken, was sie wollen, und sag nur heraus, was du weißt!«

Ole drehte den Priem mit der Zunge um, legte beide Arme auf beide Armlehnen und zog die Beine unter sich: es sah aus wie eine stärkende Vorbereitung, um die folgende düstere und schreckliche Begebenheit würdig loszuwerden.

»Es gibt manche Fahrzeuge,« begann er, »aber es sind nicht sehr viele, die einen überkompletten an Bord haben, den man Klabautermann nennt. Nur wenige können ihn sehen, aber die es können, sagen, daß er aussieht und gekleidet ist wie ein andrer Seemann, mit dem Unterschied, daß er nicht viel größer ist als die Flasche, die da steht; und er hat eine rote Mütze auf dem Kopf, wo wir alle andern doch einen Hut auf dem Kopf haben oder eine blaue Mütze. Na also, da war und ist immer so einer an Bord der Aleth gewesen, und das war gut; denn solange der Klabautermann an Bord ist, kann das Schiff nicht untergehen. Ich habe ihn allerdings nie gesehen; aber wir hatten einen alten Koch, der konnte ihn sehen, und ich glaube sogar, die hatten noch mehr miteinander zu schaffen, als für den Koch gut war – er hieß doch Ole Halvorsen – denn er konnte, wenn er wollte, uns am Morgen all das sagen, was wir den ganzen Tag auf dem Schiff zu tun bekamen: was für Segel wir setzen würden, ob wir eins reffen würden, und wieviele Reffe wir in jedem haben würden, ob etwas auf der Schute ramponiert werden würde oder ganz verloren ginge, und all so was. Und es traf genau so ein, wie er sagte. Ich vergesse nie. ich entsinne mich, als ob es gestern geschehen wäre: Wir waren in der Spanischen See auf der Höhe von »Ca' Fenster« und hielten gegen Norden, da wird ein Mann krank und stirbt. Und da wir weit an Land hatten und auch nicht wußten, wann wir es erreichen konnten, wurde eine Art Sarg für ihn zusammengezimmert und mit Ballast versehen, und dann sollte er den nächsten Tag über Bord gehievt werden. Aber bevor das geschah, kommt der Koch und sagt zum Kapitän: »Kapitän!« sagt er, »woran hat Salve sich versündigt, daß er an Backbord runter soll?« – »Was ist das für Unsinn?« sagt der Kapitän, »Salve ist ein so stolzer Seemann gewesen wie nur einer, und er soll, frikassier' mich der Deibel, auch an Steuerbord runter.« – »Das ist ja gut,« murmelte Halvorsen, »aber der Klabautermann hat, hol' mich der Deibel, ihn heute Nacht an Backbord rausgesetzt.« Der Kapitän lachte und sagte: »Das wird, freß mich der Deibel, nicht wahr werden!«

»Fluchten sie auch so schrecklich, wie du sie da reden läßt?« fiel mein Schwiegervater ein.

»Ja, das taten sie allerdings,« sagte Ole mit herabgestimmten Ton, »der Kapitän sagte immer: der Deibel frikassiere mich! für alltäglich, aber wenn er wütend wurde, sagte er: Der Deibel fresse mich! Ich weiß wohl, das ist nicht schön; aber es ist nun mal nicht anders. Ich will Ihnen eine Geschichte davon erzählen: Tordenskjold – Sie wissen schon – er soll ja ganz verdammt geflucht haben. Und da sagt der König eines Tages zu ihm: »Tordenskjold!« sagt er, »kannst du nicht kommandieren, ohne zu fluchen?«

»Ja,« unterbrach der Bruder meines Schwiegervaters, »die Geschichte kennen wir alle miteinander; aber vergiß nun nicht, uns zu sagen, wie es mit Salve ging!«

»Das ging so,« sagte Ole: »Wir hatten ein bißchen Psalm über ihn gesungen, hatten Taljen an den Sarg gelegt und ihn soweit über die Reeling gehißt und wollten ihn gerade über Steuerbord raushieven. Wir hatten alle Lappen runter, und es war den ganzen Morgen abgeflaut und fast Windstille. Plötzlich springt der Wind um, und wir bekommen eine Brise von Südost jetzt, die die Schute nach Backbord rüberlegt und der Sarg rutscht da rüber und plumpst in die See – wir haben ihn nie wieder gesehen. – »Kann Er nun sehen, Kapitän!« sagte Halvorsen. – »Dann ist das, frikassier' mich der Deibel, nicht meine Schuld!« sagte er. – Sehen Sie, so ist das also zugegangen!«

»Aber was wurde nun aus Aleth?« fragte der Kapitän, »das habe ich beinahe vergessen.«

»Das ging mit ihr ebenso wie mit uns allen,« erwiderte Ole, »denn sie ging unten runter und nach Haus. Und das ließ der Klabautermann uns auch wissen. Wir lagen auf der Rede dicht bei einer Stadt, die Malaga heißt. Wir hatten unsre Last gelöscht – es war getrockneter Fisch – und wollten den nächsten Tag lichten, wenn der Wind paßte. Da kommt Ole Halvorsen zu mir hin – ich war draußen am Anker gewesen, und es war niemand anders dabei. Und da sagt er zu mir: »Ole!« sagt er, »nun macht Aleth ihren letzten Tanz.« – »Wie denn?« sage ich. – »Ja,« sagt er, »der Klabautermann ist von ihr gegangen.« – »Den Deibel auch!« sage ich. – »Ja,« sagt er, »er ist heute Nacht über Bord gesprungen und rüber zu dem Frachtschiff geschwommen, das da liegt. Nun kannst du selbst machen, was du willst.« – »Ja, was machst du denn?« sage ich. – »Ich bleibe,« sagte er; »ich bin auf der Aleth alt geworden, und ich will mich nicht von ihr trennen.« – Ich dachte nun eine Weile darüber nach, und ich wußte, daß Halvorsen niemals falsche Signale gab. Und da ging ich zum Kapitän und sagte: »Kapitän!« sagte ich, »Aleth macht ihre letzte Reise – sie bekommt nie mehr Norwegen in Sicht.« – »Bist du verrückt?« sagt er. – »Nein, gar nicht,« sage ich, »aber der Klabautermann ist heute Nacht von Bord gegangen.« – »Du kannst mich« – Verzeihung meine Herren, aber so sagt man oft unter Seeleuten, und das hat weiter nichts zu bedeuten – – so sagte er da auch, der gute Ole Olsen. Aber da sage ich: »Dir gehört doch die Aleth von oben bis unten, wie sie steht und geht?« – »Dafür habe ich dir nicht zu danken,« sagt er. – »Kapitän!« sage ich, »Er sollte sie hier verkaufen.« Aber da schlug er eine Lache auf und sagte: »Blas' mich unten so an, daß mein Hut oben wegfliegt, dann will ich dich Sturm nennen! Ich habe Aleth ebenso gern unter meinen Absätzen wie das Dovregebirge. Aber hast du vor Weibergewäsch Angst, dann kannst du ja eine andre Heuer nehmen.« – »Nein, Kapitän!« sagte ich, »so will ich nicht von dir laufen.« Aber er drehte sich auf dem Absatz um und ging nach Achter, in die Kajüte; und da unten blieb er lange. Als wir geschafft hatten, ruft er mich zu sich rein und sagt: »Da drüben,« sagt er, »liegt Thorbjörnson von Österrisöer. Er ist gestern abend von Marseille gekommen und hat volle Last mit. Er geht mit der ersten Gelegenheit heim. Nimm die Jolle und ruder zu ihm hinüber und höre, ob du auf ihm Heuer heimwärts bekommen kannst; wenn nicht, ob er dich als Passagier mitnehmen will.« – »Kapitän,« sage ich, »bist du böse auf mich?« – »Nein,« sagt er, »aber tu', wie ich sage, und komm gleich wieder.« – Nun traf es sich so, daß Thorbjörnsen auf der Reise einen Mann verloren hatte und mich brauchen konnte, und das erzählte ich Ole Olsen. Und da ruft er mich in die Kajüte und gibt mir einen Brief und sagt: »Der ist für die alte Aleth daheim, wenn du zuerst kommst. Und hier,« sagt er, »sind zehn Rollen mit zwanzig Piaster in jeder. Das ist die Hälfte von meinem baren Geld. Davon gibst du meiner Alten acht, und zwei behältst du selbst, und hier ist außerdem deine Heuer.« – Nun fing ich wirklich an, etwas übel ums Herz zu werden, und es kam mir wohl etwas Nasses in die Augen; denn da sagt er: »Was fehlt dir, du junger Hund? Was flennst du? Nimm nun dein Bettzeug und deine Kiste und scher dich dann – Na, halts Maul jetzt! Und Gott sei mit dir, mein Junge! Und gute Reise! Zieh nun ab, und zwar gleich!« – Damit drehte er mich um gegen die Kajüttür. Aber es kam mir so vor, als blinzelte er auch etwas mit den Augen. Als ich oben an der Treppe war, rief er noch: »Grüß Aleth und Siri!« – das war sein einziges Kind – und damit schlug er die innerste Tür zu, daß es knallte. – Ich kam also an Bord des Österrisöers, und er lichtete noch denselben Abend Anker; aber ich schlief die Nacht gar nicht, denn es ging mir so viel durch den Kopf, von Aleth und dem Klabautermann und mir selbst, aber am meisten von Ole Olsen; denn er war für mich die ganzen zehn Jahre ein Vater gewesen, und ich glaube nicht, daß ich in allen zusammen auch nur zehn Maulschellen bekommen habe. Und ich glaube sicher, daß er mit mir und Siri etwas im Sinne hatte; aber sie war damals erst vierzehn Jahre. – Na also, wir lichteten Anker und hielten auf die Straße zu.«

»Aber wie erging es nun dem alten Kapitän mit seinem Fahrzeug?« fiel ich ein.

»Ja,« sagte Ole, »wir haben nie wieder was von ihm und Aleth gesehen, als eine grüne Flasche mit einem Papierzettel darin –«

»Was?« sagte der Pastor, »und wo hast du den bekommen?«

»Den fand ich,« erwiderte Ole, »als ich in der Sklaverei war –«

Hier wurde die Erzählung durch die Ankunft eines Fremden unterbrochen, dem ich billigerweise ein eigenes Kapitel zueigne.

 

5.
Der Amtsgehilfe.

Im Gange hatte sich bereits ein paar Minuten ein ungewöhnlich starkes Charivari von vielen schwatzenden, lachenden und singenden Frauenstimmen hören lassen. Es näherte sich unserm Gartenhause immer mehr; und als es gerade davor war, schwieg unser Erzähler, und wir andern erhoben uns, um zu sehen, was da sein könnte.

Der erste Blick zeigte uns einen dichten Kreis eines Dutzends junger Mädchen oder mehr, aber beim nächsten entdeckten wir mitten im Kreise den Kopf eines schwarzen Männerhutes, der rasch von einer Seite nach der andern umherwirbelte. Und außerdem hörten wir eine schnarrende, lachende Stimme, die wohl kaum aus einer weiblichen Brust kommen konnte, dennoch in unablässiger Tätigkeit war.

Nun öffnete sich der Ring und darin sieht man, wem der Hut gehört: einem ganz kleinen jungen Mann mit einem erträglich schönen, heiteren und offenen Gesicht. Aber er war ziemlich verwachsen, mit herausstehender Brust und Schulter.

»Hier,« sagte Sine Hansen, die älteste von den Töchtern des Wirts, »habe ich das Vergnügen, den Herren Herrn Wakkeltop, den Zweitkommandierenden auf dem Hardesbureau vorzustellen, unsrer aller Amtsgehilfe.«

Der Vorgestellte warf erst ein paar schelmische Blicke auf sie und begrüßte dann uns andre, jeden einzeln, wie wir aus dem Gartenhaus traten.

»Ich bin gekommen,« sagte er, »die Entschuldigung des Hardesvogt an den Herrn Kapitän und den Kammerrat und die ganze Gesellschaft zu überbringen, daß er nicht die Ehre haben kann, weder heute noch in den nächsten Tagen hierher zu kommen. Er hat sich plötzlich zu einer sehr wichtigen Reise entschlossen, und ich vertrete ihn solange –« hier legte er den Kopf etwas zurück und schob die Brust noch weiter heraus.

»Wo zum Teufel ist er denn hingereist?« fiel der Kammerrat ein.

Herr Wakkeltop lächelte und schielte listig zum Frager hin: »Das ist ein Staatsgeheimnis, das die Zukunft möglicherweise aufklären wird.«

Die munteren Mädchen, darunter einige neuangekommene aus der Gegend, umringten aufs neue den Herrn Vizehardesvogt und trieben ein tolles Wesen mit ihm; er wurde buchstäblich von diesem reizenden Wirbel mitgerissen.

Niemand konnte über die Absicht der schelmischen Mädchen fehlgehen, ausgenommen der, der das Ziel ihres Scherzes und ihrer Neckereien war; er freute sich augenscheinlich darüber und nahm das alles als eine schuldige Huldigung auf, die seiner schönen Person und seinen sonstigen glänzenden Eigenschaften zukam.

»Es ist wirklich sonderbar mit diesem Menschen,« sagte der Kammerrat, »er ist ein tüchtiger Kerl in seinen Geschäften, und dumm ist er wahrhaftig nicht; und doch kann er es nicht in seinen Kopf bekommen, daß sie ihn zum besten haben. Je mehr sie ihn zum Narren haben, desto froher ist er. Ich möchte fast glauben, er bildet sich ein, sie sind in ihn vergafft –« »Das können sie mit gutem Gewissen glauben,« versetzte der Kapitän, »so ist es mit allen verwachsenen Frauenzimmern wie Männern: sie haben immer eine höhere Meinung von sich selbst als gerade, gutgewachsene Menschen.«

»Christian, da urteilst du etwas zu streng!« sagte der Bruder.

»Vielleicht!« lautete die kurze, mürrische Antwort.

Aber der Pastor ergriff das Wort für ihn: »Der Kapitän hat wohl jene Meinung als eine Generalregel, jedoch mit Ausnahmen, vorgebracht. Und in diesem Fall will ich mich gern dazu bekennen, ohne mich für einen unbarmherzigen Richter anzusehen. Ich sehe hierin viel mehr ein Zeichen für die unendliche Barmherzigkeit des großen Oberrichters. Nichts ist niederdrückender, als wenn ein Mensch sich vor sich selbst ekelt. Der, der mit seinen Verstandesgaben oder noch schlimmer mit seiner Moralität unzufrieden ist, der ist bald mit seinem ganzen Dasein so unzufrieden, daß er gleich ein Ende macht. Aber der, der seinen eigenen Körper mit Verachtung betrachtet, sollte der sich viel daraus machen, ihn zu erhalten? Dieser Stolz der Gebrechlichen ist ein Ersatz der Natur für die Gaben, die sie ihnen nicht hat geben können. Das kleine Übermaß von Selbstliebe gibt Genugtuung für das Untermaß des Körpers und Stärke, mit Keckheit und Leichtigkeit ein Kreuz zu tragen, dessen bloßer Anblick die Wohlgeschaffenen zum Seufzen bringen kann.«

»Rem acu tetigisti,« sagte mein Schwiegervater und klopfte dem Pastor auf die Schulter.

In diesem Augenblick wurde unsere Aufmerksamkeit abermals auf das erwähnte Männlein gelenkt und seine »Bacchantinnen«, wie mein Schwiegervater sie benannte. Wir hörten einen Jubelruf und darauf einen Jubelgesang, ausgeführt von den hohen Frauenstimmen: »Großer Prinz! Marokkos Ehre! usw.« Und bald darauf kam die Prozession zu uns hinauf: »der Marokkaner« – wie er seitdem heißen sollte – saß auf einem Königsstuhl und wurde von den Mädchen auf Stangen so hoch getragen, daß sein frohes Gesicht sie nun alle überstrahlte. Sine Hansen, die stets die erste und schlimmste war, ihn aufzuziehen – ging hinterdrein und hielt einen Sonnenschirm über seinen Kopf.

»Per Jovem!« rief mein Schwiegervater, »ist das ein Triumph oder eine Ovation? Kein Konsul oder Diktator könnte stolzer sein, als er aussieht.«

Und so war es wirklich: er schaute auf die Mädchen herab mit einem Blick, als wären sie überwundene Gefangene, die allein dazu da waren, seinen Einzug zu verherrlichen.

Er genoß diese Glückseligkeit gerade bis an die Gartenhaustür, wo man ihn auf die Erde setzte. Mit einer huldvollen Miene erhob er sich, verbeugte sich im Kreise und bot Sine Hansen den Arm, den sie mit einem Lächeln und einer tiefen Verneigung nahm. Nun ging es zum Mittagstisch, und gewiß ist, daß sich an ihm kein Kavalier fand, der so lebhaft seine Dame unterhielt wie unser kleiner Triumphator.

 

6.
Das Duell.

Als wir am Kaffeetisch saßen, der in dem großen und sauberen Garten gedeckt war, wo man den größten Teil der trockenen Tage verbrachte, wurde die Gesellschaft durch einen Herrn vermehrt, der aussah, als wäre er näher an die Vierzig als an die Dreißig. Er trug Uniform, die jedoch zeigte, daß er nicht mehr im Dienst war. Nachlässig begrüßte er die Gesellschaft, setzte sich auf den ersten besten Stuhl und sagte, indem er die Augen schweifen ließ: »Ich sehe nicht Fräulein von Schrüsser.«

»Wen habe ich die Ehre an meinem geringen Tisch zu sehen?« fragte etwas verdutzt der Wirt.

»Hauptmann Baron von Marensfärt,« erwiderte der Herr.

Beim Anhören eines so putzigen Namens erschien ein Lächeln auf manchen Gesichtern; aber der Wirt machte eine saure Miene und sagte: »Wollen Sie etwas von dem Fräulein, werde ich Sie melden lassen.«

»Ha, ha,« grinste er, »ich werde mich schon serst merden.«

Hansen verstand ihn nicht – ich, um wahr zu sein – auch nicht; aber daß er den Menschen für nicht ganz richtig im Kopfe ansah, das konnte man sehen. Ohne sich weiter mit diesem Herrn Baron einzulassen, ging er ins Haus, um das Fräulein von diesem seltsamen Besuch zu unterrichten; sie – das erzählte mir der Kammerrat später – schlug sofort und durchaus ab, ihn zu empfangen, indem sie ihm ganz offenherzig erklärte, daß dieser Baron Mahlensfeld eben derselbe widerwärtige Freier war, zu dem sie gezwungen werden sollte.

Während dieser kurzen Abwesenheit wurde am Kaffeetisch weder gesprochen noch etwas andres getan, als daß der Baron eine massive altmodische Golduhr mit drei dito Ketten und Petschaften hervorzog, sie mit gravitätischem Gesicht öffnete, die äußerste Kapsel mit den Ketten vor sich auf den Tisch legte und die innere mit der Ecke seines Taschentuchs zu reiben begann. (Wie man bald erfuhr, war dies seine einzige tägliche oder richtiger stündliche Beschäftigung.)

All wir andern saßen als stumme Zuschauer bei dieser unnützen Arbeit, bis Urold, der fast ebenso feierlich aussah wie der Baron, der »Hafersaat« mit der Frage ein Ende machte: »Ist denn keiner von diesen Petschaften antik?«

Der Angeredete sah mit einer unsicheren Miene den Frager an, als ob er den Sinn nicht recht erfaßt hätte, und sagte: »Das ist, hor' mich der Teufer, Erbstück von meinen Vorfahren.«

»Das habe ich mir gleich gedacht!« rief der Altertumsforscher vergnügt, »gestatten Herr Baron Märensfärt –«

»Ich heiße nicht Märensfärt,« sagte dieser verdrossen, »sondern ich heiße Marensfärt.«

»So sage ich ja auch,« versetzte Urold; doch ehe es zu einer näheren Erklärung zwischen ihnen kam, trat der Kammerrat aus dem Hause, und mit ihm die Französin.

»Wer ist das Frauenzimmer?« fragte der Baron.

Einer aus der Gesellschaft sagte es ihm.

»Ha, ha!« rief er, »ist das die Mameser? Sie könnte, hor' mich der Teufer, bei der Reitgarde dienen.«

»Was sagte er?« rief die männliche Gouvernante, indem sie sich mit langen Schritten näherte, »ist das ein Kavarier, der so zu einer Dame spricht!«

Den Naturfehler des Barons in der Aussprache so nachgeäfft zu hören, konnten sich doch mehrere des Lachens nicht enthalten.

Aber der Baron erhob sich, setzte ein wütendes Gesicht auf und sagte: »Sind Sie von Ader?«

»Alter Ader,« erwiderte sie, »und warum?«

»Ja, denn ich wirr Ihnen sagen,« sagte der Baron und warf sich in die Brust, »wenn Sie ein Mann gewesen wären, hätten Sie mir Satisfaktion geben müssen.«

»Die kann ich Ihnen gleichwohr geben,« versetzte diese französische Virago, »wünschen Sie Degen, Säber oder Pistoren?«

Der Baron stutzte und sagte mit gedämpftem Tone:

»Das war des Teufers! Aber man duerriert sich sonst nicht mit Damen.«

»Dann wird mein Bruder mit Ihnen für mich antreten, und zwar morgen früh, werche Zeit Sie befehren.«

»Was habe ich mit Ihrem Herrn Bruder zu tun?« fragte der Baron.

»Das werden Sie greich erfahren,« erwiderte die Französin und eilte rasch in das Haus zurück.

Niemand von uns konnte begreifen, was sie im Sinne hatte, und der kurz vorher ziemlich verblüffte Baron gewann bald seine Fassung wieder. Er folgte der Mamsell mit den Augen, bis sie die Gartenhaustür im Rücken hatte. Dann wandte er wieder den Kopf zurück und sagte, indem er wieder seine Uhrkapsel zu reiben begann: »Ich graube, hor' mich der Teufer, Ihre Mammeserr ist harbtorr.«

Ich, und gewiß mehrere mit mir, waren nicht weit entfernt, dasselbe zu glauben. Aber ehe wir uns noch über diesen seltsamen Auftritt geäußert hatten, trat ein Husarenoffizier aus dem Gartenzimmer und eilte auf uns zu mit der Frage: »Wer von den Herren ist Baron Mahlensfeld?«

Der Gesuchte wechselte die Farbe und sagte mit schwacher Stimme: »Das bin ich, was wünschen Sie?«

»Eine Portion von Ihrem Blut, mein Herr. Ich bin Leutnant Dubois und fordere Revanche für Ihre Beleidigung meiner Schwester.«

»Ich habe Ihre Schwester nicht bereidigt,« erwiderte der Baron, »und schrage mich nicht mit Ihnen.«

Der Husar ergriff einen Stock, der auf der Erde lag, und sagte: »Dann bist du ein Kujon und sollst aus dieser geehrten Gesellschaft hinausgeprügelt werden.«

Das wirkte und rief den fliehenden Mut des Barons zurück; er blies sich auf und rief: »Sind hier keine Säber im Hause?«

»Sie können einen von mir bekommen,« erwiderte unser Kapitän – »Ole, lauf hinüber und hole sie beide! Ich sehe, Herr Leutnant hat auch keinen.«

Die Sache hatte eine ernste Wendung genommen. Einer nach dem andern der Anwesenden stahl sich fort; und als Ole mit den Säbeln kam – die er, um kein Aufsehen zu erregen – wohlweislich unter seiner Jacke verborgen hatte – war niemand übrig außer den Duellanten, dem Kapitän, Urold und mir. Als ich nun auch bei der Ankunft der Instrumente mich entfernen wollte, sagte der Leutnant: »Aber wir müssen doch Sekundanten haben.«

»Ich biete mich als den einen an,« sagte der Kapitän.

»Und ich als den andern,« rief Urold mit scharfem Ernst. – »Zweikampf ist eine echte altnordische Sitte; und es sollte mich freuen, wenn die beiden Kämpen sich zu einem ordentlichen Holmgang entschließen würden.«

»Was ist denn das?« fragte der Kapitän.

»Das ist,« fuhr Urold eifrig fort, »man wählt eine kleine Insel oder einen Holm im Wasser, die jedoch nicht größer sein dürfen, als daß man sie nach allen Seiten mit sieben langen Schritten durchmessen kann.«

»Wo bekommen wir so etwas her?« fragte der Leutnant.

»Dafür werden wir schon Rat schaffen!« erwiderte der Altertumsforscher. »Mangels eines wirklichen Holms zeichnen wir einen mit der Schwertspitze, am besten in Sand, aber sonst auf Rasen. Es ist schade, daß jetzt Sommer ist; denn sonst hätten wir auf Eis kämpfen können. Das tat man auch im Altertum, jetzt selten.«

Der Baron hörte, wie es schien, dem Antiquar sehr andächtig zu; aber dessen altkriegerische Lehre gefiel dem Leutnant nicht:

»Zur Sache,« rief er, »ob es nun auf einer Insel oder auf festem Lande ist!« nahm den einen, vom Kapitän angebotenen Säbel und steckte ihn unter den linken Arm.

»Ich bitte mir zu folgen, meine Herren!« sagte der Kapitän; »ich werde eine Stelle angeben, wo wir ganz ungestört sein können.«

Er ging nun vorauf, aus dem Garten und in den Wald; die andern drei folgten ihm.

Als sie mir aus dem Gesichtskreis entschwunden waren, begann ich erst etwas im Zusammenhang über das nachzudenken, was nun soeben so unzusammenhängend vor sich gegangen war: das plumpe Eindringen des Barons in eine ihm ganz unbekannte Gesellschaft, das Aus-den-Wolkenfallen gleichsam des ebenso fremden Husaren und der Streit, der ebenso vorbereitet und schnell kam wie in einer französischen Komödie. Das Ganze hier kam mir fast wie eine abgemachte Komödie vor, und neugierig danach, die Auflösung des Knotens zu sehen, schlich ich mich in den Wald den handelnden Personen nach.

Ich konnte nicht fehlgehen; denn Urolds Stimme leitete mich. Und hinter einem Busche stehend hatte ich eine gute Aussicht über den Walplatz, der eine kleine offene Wiese, umgeben von Bäumen, war.

»Darf ich jetzt Ihr Schwert haben,« sagte der Altertumsforscher zum Leutnant.

»Was Teufel wollen Sie damit?« fragte der Offizier.

»Den Holm abstecken,« lautete die Antwort.

»Und sie wollten wirklich,« rief jener, »mit meinem Säbel im Dreck herumfahren, der im nächsten Augenblick dem Baron in den Leib soll. Pfui, das ist gemein! Aber bitte,« wandte er sich an den Kapitän, »wollen Sie die Bedingungen und Art des Kampfes bestimmen.«

»Wenn Sie gestatten,« nahm Urold das Wort, »dann möchte ich die alte Kampfesart vorschlagen.«

»Werche war das?« fragte der bereits wieder ziemlich kleinlaute Baron.

»Man hatte eigentlich zwei,« sagte Urold belehrend; »die erste und beliebteste war so, daß der eine Kämpe ein kurzes und leichtes Schwert hatte, mit dem er drei und in besonderen Fällen neun Hiebe gegen den Gegner führte, der ein langes und schweres Schwert hatte, mit dem er, wenn die Reihe an ihn kam, einen Hieb führte. Aber bei der andern und einfacheren Art wechselte man Hieb um Hieb.«

»Man durfte doch parieren?« fragte der Baron. »Um Gotteswillen, nein!« erwiderte der Antiquar. »Das kannten unsre tapferen Vorfahren nicht.«

»Herr Kammerrat!« fiel nun der Kapitän ein. »Wir sind neumodische Menschen hier und können uns nicht mit dieser alten Katzbalgerei befassen. Darf ich vorschlagen, daß der Baron, als der geforderte, den ersten Ausfall hat, und daß die erste Wunde den Streit beendet, der nach Anlaß und Ursache nicht als zu denen gehörig angesehen werden kann, die um das Leben gehen.«

»Meinetwegen gern!« sagte der Husar. Der Baron nickte; und ermuntert durch den Gedanken an den ersten Hieb, hob er den Säbel auf und fiel aus. Aber der Leutnant parierte ohne Anstrengung den Hieb und spaltete im nächsten Augenblick die Nasenspitze und die Oberlippe des Gegners.

»Attendez!« rief der Kapitän, trat hinzu, trennte die Kämpfer und nahm ein paar Leinwandstreifen aus der Tasche, mit welchen er die leichten Wunden des einen verband, so gut es sich machen ließ, das heißt, er heftete die Streifen mit Hilfe von Leim oder Gummi – womit er sich also gleichfalls versehen hatte – über die Hiebe. Aber das Blut lief trotzdem dem Verwundeten weiter in den Mund, weshalb er auf Anweisung des Kapitäns sein Taschentuch davor hielt. Während dies vor sich ging, gab der Sieger seinen Säbel an Urold, machte eine grüßende Bewegung mit der Hand und wandte sich nach dem Hof zurück.

Ole, der sich in der Nähe gehalten hatte, nahm nun beide Säbel und trottete mit ihnen davon; der Baron und die Sekundanten gingen nach der andern Seite des Waldes, was ich mir damals nicht zu erklären wußte. Doch der mit derartigen Auftritten vertraute Kapitän hatte einen Wagen und ein Reitpferd in Bereitschaft an der Landstraße halten lassen. Der Baron wurde in den ersten gebracht und auf Anraten fuhr er nun in die Stadt, um dort weitere ärztliche Hilfe zu erhalten.

Bei meiner Rückkehr in den Garten wurde ich gleich von der übrigen Gesellschaft umringt und mit Fragen über diese merkwürdigste Begebenheit des Tages bestürmt. Auch Ole mußte herhalten, ließ sich aber nicht in weitläufige Erklärungen ein: »Es ging gut – es ging schön – nichts weiter beschädigt als eine Nase – und dann bekam er eine Hasenscharte – das ist das ganze!« war alles, was man aus dem Seemann herausbekam.

Da alle von mir einen umständlichen Bericht erhalten und sich darüber, jeder in seiner Weise, geäußert hatten, begann der Hardesvogt Vicarius mit einer tieferen Stimme als gewöhnlich: »Duell ist eine gesetzlose Handlung – das Verbot dagegen ist nicht aufgehoben – ich könnte in die harte Notwendigkeit kommen, die Duellanten festsetzen zu lassen – der eine, höre ich, ist allerdings bereits außerhalb der Jurisdiktion.«

Ich wandte gegen ihn ein, daß die bürgerliche Obrigkeit kaum befugt war, Militärs zu arrestieren, bei welcher Bemerkung er sich willig beruhigte.

Der völlig fremde, hübsche, kecke Husarenoffizier wurde nun der einzige Gegenstand einer lebhaften Unterhaltung; und einige der jüngeren Mädchen vereinten zuletzt ihre Betrachtungen über seinen Schnurrbart, was damals noch ein ungewöhnlicher Schmuck für einen Offizier war.

In der Hoffnung, recht bald nähere Bekanntschaft mit dem tapferen Leutnant Dubois zu machen, gingen alle hinein; und da man ihn nicht im Garten- oder Wohnzimmer fand, vermutete man mit Grund, daß er bei seiner Schwester sei.

Doch als eine Stunde oder mehr unter fruchtlosem Warten verstrichen und die Sonne bereits untergegangen war, kam – an Stelle des Leutnants – seine Schwester. Sie überbrachte seinen Abschiedsgruß an Wirt und Wirtin, mit einer Entschuldigung für seine plötzliche aber notwendige Abreise, da er nämlich auf höheren Befehl in Dienstsachen reiste –

»Das tut mir leid,« sagte der Kammerrat, »um so mehr, als ich nicht weiß, auf welche Weise er gekommen und gereist ist.«

»Sein Diener,« antwortete sie, »hielt mit ihren Pferden hier draußen an der Landstraße, da er im Vorbeireiten nur ein paar Worte mit mir sprechen wollte.«

Hiermit fand denn alles Warten ein baldiges und ärgerliches Ende.

 

7.
Schluß von Oles Lebenslauf.

Als ich am nächsten Morgen erwachte, vermißte ich Alice an meiner Seite. Das Zimmer war dasselbe, in dem ich zum ersten Mal ihre Engelsstimme gehört hatte. Noch stand das Bild des eingemauerten Fräuleins auf dem Bezug im Winkel vor mir. Nicht einmal am Bett war die geringste Veränderung vorgenommen: seine Gestalt und die dunklen Gardinen mit den langen Fransen verlangten keine lebendige Einbildungskraft, um die Ähnlichkeit zwischen diesem Himmelbett und einem Leichenwagen zu finden.

Dieselbe Szene – oder Szenerie – weckt oft dieselben Gefühle und Gedanken, und auch in derselben Ordnung: so wiederholte sich mir nun das geistige Leben jener Winternacht – das Geisterleben, will ich lieber sagen! Das Bild an der Wand mit dem damit verknüpften Verbrechen, die heimliche Lust verbotener Liebe und ihre schreckliche Strafe, die Töne darinnen und sie, die sie wie aus einer andern Welt hervorzauberte – sie, jetzt meine Glückseligkeit in dieser – Still! Da erklang wiederum jene selbe Geistermusik – es war Alice, die sang: »Warum zauderst du so lange?«, jedoch mit einem ganz andern Ausdruck, dem der erfüllten Hoffnung: die ebenso klaren wie milden Töne der ruhigen Freude.

Rasch kleidete ich mich an; und wie ich die Tür zum Saale öffnete, trat der Kapitäns von der gegenüberliegenden ein. Gewiß von ähnlichen Gefühlen beseelt eilten wir an den Tisch, an dem unsre Frauen saßen, und drückten heilige Küsse der Liebe und Achtung auf ihre treuen Hände.

Der Kapitän sah auf die seine mit einem unbeschreiblich seligen Blick – die süße Offenbarung der geliebten Andern schwebte auf ihren zärtlich lächelnden Lippen. Alice drückte meine Hand – ich verstand sie.

Es wurde an der äußeren Saaltür gepocht – es war der wohlvertraute Ole, der kam, um seinem Herrn und Freund den täglichen Morgengruß zu entbieten.

»Höre, Ole,« sagte dieser, »man müßte eigentlich nun den Rest deiner Geschichte haben.«

»Jawohl, Herr Kapitän!« erwiderte er.

»Nun!« versetzte der Kapitän, »dann wollen wir in dieselbe Kajüte hinuntergehen, wo du uns den ersten Teil deines Journals gegeben hast!«

Und damit verließen wir die Frauen, nahmen meinen Schwiegervater mit und ließen uns an der angedeuteten Stelle nieder, wo Ole, mit einem frischen Priem versehen, folgendermaßen das Wort ergriff:

»Hm – jawohl! Wir waren bei dem Oesterrisöer stehengeblieben. Also, er machte eine schnelle und glückliche Reise. Und ich kam heim zu der alten Aleth – wie er sie immer nannte, Ole Olsen; aber sie war gar nicht so alt. Denn »See-Aleth«, wie er die Schute nannte, sie lief dasselbe Jahr vom Stapel, in dem »Land-Aleth« Konfirmation hatte, und ...«

»Laß nun Aleth sein, Mann!« unterbrach ihn der Kapitän, »und erzähl uns etwas von Siri!«

»Schön,« fuhr der alte Seemann wieder fort –. »Sehen Sie: Siri war ein nettes Ding von Mädchen; sie war aus dem rechten Holz und ihr Herz war auch recht gut. Nun ging das so: wir sahen einander den einen und einen zweiten Tag, und ich mochte sie gern leiden, und sie konnte mich auch gut leiden, glaube ich; aber wir schwiegen still. Nun ging ich den Winter zum Küster, da in Sandefjord, und lernte zum Steuermannsexamen – das ich sonst nicht machen konnte. – Und eines Tages, als ich vom Küster nach Hause komme, da sitzt die alte Aleth bei ihrer Spindel – sie spann nicht, sondern sie weinte. Da sage ich zu ihr: »Mutter, warum weinst du?« sage ich. Da sagt sie: »Aleth ist untergegangen!« sagt sie, »und Ole Olsen sehe ich nicht mehr in dieser Welt.« Und da fing sie wieder zu weinen an und das Wasser lief mir auch aus den Speigatts. Aber da sage ich: »Mutter, woher weißt du das?« – »Ja, Ole!« sagt sie, »ich habe heut Nacht Wahrzeichen von ihm gehört.« – Na, es verging einige Zeit, und sie weinten alle beide ab und zu, Mutter und Tochter. Aber da eines Tages sagt sie zu mir – Siri war nicht dabei – »Ole!« sagt sie, »ich bin Witwe, Gott helfe es! und ich habe nur Siri, mich zu trösten. Nackt bin ich nicht; aber er ist fort, der sich um uns kümmern sollte. Ole! Ich habe daran gedacht,« sagte sie, »wenn du und Siri einander leiden können und du Steuermann wirst, dann könnt ihr zusammenkommen und die Hütte und das Ganze bekommen; und dann kann ich hierbleiben und ihr könnt mich auf meine alten Tage pflegen, wenn ich die überhaupt zu sehen bekomme. Aber du sollst zu ihr nicht davon reden, bevor du aus Kopenhagen heimkommst.« – Das tat ich auch nicht. Denn ich sagte nichts andres zu ihr, als da ich reiste, sagte ich: »Lebwohl, Siri, und Dank für alles Gute! Vielleicht denkst du etwas an mich zwischendurch, wenn du die kleine Siri fütterst« – Siri, wissen Sie, das war ein Kanarienvogel, den ich ihr mitgebracht und nach ihr genannt hatte –. Da weinte sie und nahm ein Riechfläschchen aus der Tasche und gab es mir und sagte: »Da, Ole, ich habe nichts andres dir zu geben – vielleicht denkst du auch zwischendurch an mich, wenn du es siehst.« Und das tat ich auch – weiß Gott, das tat ich.«

Hier schwieg der Erzähler, streckte die Beine aus, ließ den Kopf etwas auf die Brust sinken und tat einen tiefen Seufzer.

»Du mußt wieder in die Höhe, mein alter Junge!« ermunterte ihn der Kapitän.

Ole richtete sich sogleich auf, öffnete ein paar Knöpfe an seiner Weste, steckte die Hand in den Busen und nahm sie wieder heraus mit einem silbernen Riechfläschchen, das mit einer Haarschnur um seinen Hals gebunden war.

»Und das tue ich noch, glaube ich,« sagte er, das Fläschchen dicht vor den blinzelnden, tränenglänzenden Augen drehend und wendend.

»Was ist das für eine Schnur, an der es hängt,« fragte ich.

Ohne mich anzusehen, antwortete er: »Das ist etwas von ihrer eigenen Takelage« und verwahrte das teure Kleinod an dem alten, ehrlichen Herzen.

Er zog wieder die Beine unter sich und fuhr fort: »Ich ging da früh im Jahr mit einer Jacht, die nach Kopenhagen wollte. Aber noch in derselben Nacht, an der wir am Morgen abgesegelt waren, wurden wir in der Dunkelheit von einem Engländer angesegelt. Ich war auf Deck und ging gerade auf die Steuerbordseite, da er uns am Bug rammte und dann sich an unsern Billen entlang rieb. Sie riefen mir nun zu, ich sollte rüberjumpen und warfen mir ein Ende Tau zu – ja, ich war weiter nicht an die Jacht gebunden, ich ergriff das Tau und enterte auf den Engländer rüber. Aber erst rief ich den andern zu, daß sie es ebenso machen sollten. Nein, keiner kümmerte sich darum; und da sagten die Engländer: »Wenn sie nicht mitwollen, dann mögen sie zur Hölle fahren!« Das geschah auch gewissermaßen; denn kurz darauf hörten wir etwas achtern ein Geheul, da muß die Jacht wohl gesunken sein.

Aber der Engländer ging heimwärts, und ich mußte mit, ob ich wollte oder nicht, und es wurde eine lange Reise für mich. Denn als wir nach Falmouth kamen, wo das Schiff beheimatet war, lag da kein einziges Schiff, das nach Norwegen oder nach der Ostsee sollte, und als ich da einige Zeit gelegen hatte und mein Geld anfing draufzugehn, war ich gezwungen, Heuer auf einem Franzosen zu nehmen, der nach dem Mittelmeer ging. Als wir dahin gekommen und auf der Höhe von Minorka waren, wurden wir von einem Barbaresken-Kosar genommen, nach Tunis gebracht und als Sklaven verkauft. Da blieb ich doch achtzehn Jahre –«

»Achtzehn Jahre?« rief mein Schwiegervater, »wie ging es da zu, du Ärmster?«

»O, das ist nicht der Rede wert,« erwiderte der Seemann, »der eine Tag war wie der andre. Und so kam es eines Tages, als ich am Strande mich herumtrieb, daß ein Frachtschiffer, der da draußen lag, an Land kam. Und beim Anblick meines Mitchristen habe ich wohl geseufzt und etwas in meiner Muttersprache gesagt, denn da spricht er mich auf Dänisch an und fragt, ob ich losgekauft werden will.«

»Wie hieß dieser brave Mann?« fragte ich.

»Da sitzt er,« sagte der Matrose und zeigte auf den Kapitän, »und der Herrgott vergelte es ihm! Denn ich kann es nicht.«

Hier sah er zum Himmel auf und wieder mit gesenktem Kopf auf seine Hände hinab, die er im Schoß gefaltet hielt.

»Aber Siri? Lieber Freund?« fragte ich weiter.

»Siri,« erwiderte er sanft und langsam und ließ den Kopf noch tiefer sinken.

»Siri ist wohl zu ihren Eltern gegangen; denn es ist jetzt mehrere Jahre her, seitdem ich nach Sandefjord geschrieben habe; aber da war keine Seele, die etwas von ihr zu sagen wußte.«

Mit tiefer Teilnahme hatten wir alle die traurige Erzählung des armen Seemannes aufgenommen; aber keiner von uns fand Worte, ihn zu trösten, bis der Kapitän sich endlich erhob, seine Hand nahm, sie schüttelte und sagte: »Es kommt ein Tag, wo es heißt: »Alle Mann an Deck!«

Diese letzten Kommandoworte sprach er mit einer solchen Stimme aus, daß wir uns alle wie auf Kommando erhoben und uns trennten, jeder mit seinen eigenen ernsten Gedanken.

 

8.
Eine Schiffspredigt an Land.

Was sich sonst den folgenden Tag, der der letzte in der Woche war, zugetragen haben kann, weiß ich nicht; denn der Küster – der wegen einer sehr regnerischen Nacht nichts mit dem Zehnteneinziehen zu tun hatte – hatte mich mit auf den Bekkasinenstrich genommen. Unsre dortige Tätigkeit will ich überspringen, da ein Bericht darüber kaum sehr viele meiner Leser unterhalten würde. Ich bitte daher um Ihre Begleitung in die Kirche am folgenden Feiertag!

Die kleine Dorfkirche war voller Zuhörer: denn das Gerücht von ihrer Ausschmückung hatte eine mehr als gewöhnliche Volksmenge versammelt. Der Stuhl des Ritterguts – eine große Empore gerade gegenüber der Kanzel, hatte keinen freien Platz, und Ole war sogar ein Platz darin angewiesen; denn er war es ja, der sozusagen dem Pastor den Text seiner Rede gegeben hatte. Die Blicke des Seemanns teilten sich denn auch die ganze Zeit zwischen dem Schiff und dem Redner.

Als dieser das Gebet und das Evangelium gelesen hatte, nahm er wie folgt das Wort:

Meine lieben Freunde!

Ein nicht so kurzer Zeitraum ist dahingegangen, seitdem ich zum ersten Mal das Wort des Herrn vor euch verkündete! Wie viele von denen, die mich damals empfingen, muß ich nicht heute vermissen! Auch ich werde einmal zu den Vermißten gerechnet werden. Die Zeit wird kommen – wie bald, weiß keiner von uns – da meine Stimme nicht mehr gehört werden wird. Aber ich habe die Hoffnung, daß ihrer noch eine Weile gedacht werden wird, nachdem ich mich zur Ruhe gelegt habe und ihr mich nicht mehr hören oder sehen könnt. Und will ich daher an diesem Tage einige besondere Worte an meine geliebten Gemeindekinder richten, mit dem innigen Wunsch, daß sie lange in liebevollem Sinn bei euch allen bewahrt werden!

Dieses Schiff, meine Freunde, ist eine Gabe von einem unsrer Lebensgefährten auf dem unruhigen Meere des Lebens. Er hat es hier aufgehängt, nicht nur als Schmuck, sondern teils für sich selbst als ein Opfer der Dankbarkeit an den Herrn des Sturmes und des Meeres, der ihn durch Gefahren treulich bis an seinen letzten Ankerplatz führt, und teils für uns als eine sowohl warnende als auch ermunternde Lehre.

Dieses Schiff erweist sich wohl auf den ersten flüchtigen Blick als ein bloßes Bildwerk; jedoch bei näherer Betrachtung und näherem Nachdenken bekommt es vielfache und tiefe Bedeutung. Es verhält sich hiermit wie mit einer fremden Schrift, auf deren seltsame Züge der Unkundige mit kurzer Neugier oder kalter Gleichgültigkeit starrt; doch wer diese Schrift zu lesen versteht, diese Zeichen zu deuten, er findet einen Sinn darin.

Richtet nun eure Aufmerksamkeit zunächst auf den Rumpf! Ihr seht hier ein Stück Holzarbeit, bestehend aus mehreren Teilen, künstlich zusammengefaßten, fest vereinten, so daß sie ein einziges Ganzes ausmachen. Hierbei denken wir uns den menschlichen Körper, der aus vielen und ungleichartigen Teilen zusammengefügt ist zu einem solchen Ganzen, daß wir ihn mit vollem Recht das Meisterstück der Schöpfung nennen. Denn was sind wohl alle unsre bewunderten Kunstwerke andres als Pfuschwerk dagegen? Was ist wohl all der Putz und Schmuck, mit denen wir die Mängel an unsern eigenen Arbeiten zu verbergen suchen, gegen die zusammenstimmende Schönheit, die der menschliche Körper als das Meisterwerk der Schöpfung aufweist?

Aber auch in einer andern Hinsicht ist die Gleichheit zwischen dem Schiff und dem Menschenkörper ebenso treffend – wenn auch weniger ermunternd für die menschliche Eitelkeit. Das Schiff ist, mit all seiner Festigkeit und Stärke, trotzdem gebrechlich, vergänglich und wird oft – selbst bei der größten Vorsicht – eine Beute der siegenden Macht der Elemente. Ja, wenn es auch diesen noch so erfolgreich trotzt, wenn es auch noch so sorgfältig geflickt und ausgebessert wird: es wird schließlich doch verfallen, sich auflösen, vor Alter vergehen. So sind auch unsre Körper unzähligen störenden Einwirkungen von Gewalt und Krankheiten ausgesetzt. Und wenn sie auch jetzt allen Gefahren glücklich ausweichen und sie überwinden, wird doch das Alter unfehlbar ihre Kräfte schwächen, ihre Schönheit auslöschen und sie schließlich dem Tode und der Vergänglichkeit überliefern. Gewiß, wenn wir hieran denken, da müssen wir wohl mit Hiob seufzen: »Gedenke doch, daß du mich aus Leimen gemacht hast, und wirst mich wieder zur Erde machen.«

Wendet hierauf eure Augen auf das Tauwerk des Schiffes, dessen Mannigfaltigkeit eure Verwunderung erweckt, dessen innerer Zusammenhang, dessen verschiedene und seltsame Wirkungen eurer Neugierde zu spotten und eure Fragen unbeantwortet zurückzugeben scheinen. Hierunter stellen wir uns die Beweggründe vor – die Triebfedern der menschlichen Handlungen. Wie mannigfach sind nicht diese? Aber dabei oft wie unerklärlich? Bisweilen zusammenwirkend, bisweilen einander kreuzend, bisweilen entgegenwirkend – einander aufhebend, wenn sie nicht durch Klugheit verbunden, mit Verständigkeit geleitet und mit Besonnenheit bestimmt werden. Die Bestimmung dieser Taue ist: die Segel zu hissen, die beste Stellung zu den Winden zu geben und sie wieder zu streichen oder herabzulassen. So bringt der Wille des Menschen Gedanken zu Handlungen, verbindet und trennt, ändert und berichtigt, fördert und unterdrückt sie. Aber wie häufig geschieht es nicht, daß diese Handlungen gestört werden, ebenso wie die Segel von den Stürmen zerrissen werden! Und zum Schluß bleiben sie stehen, hören sie alle auf, gleichermaßen wie die Segel sinken, wenn das Schiff in den Hafen eingelaufen ist.

Aber auch in dieser Gleichheit, meine Geliebten, gibt es etwas, was, wiewohl belehrend, doch gleichzeitig unsern unablässig aufstrebenden Stolz niederbeugt: dieser anscheinende Wirrwarr von Tauen, Stricken und Leinen wird von jedem gelernten Seemann mit Leichtigkeit und Sicherheit regiert. Aber wer ist der Mensch, wenn er sich auch in der Schule des Lebens ausgelernt glaubt, der solchermaßen seine Handlungen zu einem weisen und würdigen Ziel zu leiten versteht, dadurch, daß er die Beweggründe zu diesen verständig lenkt und zusammenwirkend verbindet? Ach, ich fürchte, er hat nicht die volle Herrschaft über sie, ja, ich fürchte, daß er sie nicht einmal richtig kennt, ich fürchte – nein, noch mehr: ich weiß es, ich weiß, wie oft wir mit all unsrer Klugheit, mit Zugabe all unsrer Erfahrung – wie oft wir doch unsre eigenen Pläne, unsre Handlungen, unser ganzes Selbst in Verwirrung bringen. Diese künstliche Maschine kann ich auf das genaueste kennenlernen, auf das sicherste leiten; aber mein eigenes Selbst – wenn ich auch hieran hundert Jahre lernte, ich müßte doch – ohne die Hilfe eines höheren und weiseren Lehrers – als Halbmatrose, als altes Kind die Schule des Lebens verlassen.

Es gibt nun etwas sehr Wichtiges, ja eigentlich das Allerwichtigste am ganzen Schiffe, das wir nur sehen, wenn es eingeführt und herausgebracht wird: das ist die Ladung, die Waren, die es von einem Lande zu einem andern bringt. »Was mag das Schiff wohl führen?« fragen wir, wenn wir einen Segler nahen sehn. Ja, es gibt viele Arten von Waren, ebenso viele wie die Natur und die Kunst imstande ist hervorzubringen. Es können gute Waren sein und schlechte, falsche und echte, nützliche und schädliche; es können gefährliche Waren sein, die sogar imstande sind, das Schiff, das sie führt, zu verderben und zu vernichten.

Wenn ein Mensch, von dem wir gar nichts oder nur sehr wenig wissen, sich mit einer wichtigen Angelegenheit nähert, da fragen wir auch: »Was mag dieser in seinem Schilde führen?« Jawohl ist dies eine höchst notwendige Vorsicht, soweit wir mögen und können, eine genaue Untersuchung anzustellen; aber eine solche ist ebenso schwierig wie sie wichtig ist. Die Ladung eines Schiffes kann der, der hierzu berechtigt ist, kennenlernen; doch wer ist wohl der Mensch, wenn er auch das ausgedehnteste Recht dazu hätte, der in einen andern hineingehen und seine Gedanken, Absichten und Gesinnungen durchschauen kann? Sie geben wohl alle als Ladungen ihrer Herzen Gottesfurcht, Wahrheit, Ehrlichkeit an; aber doch erst beim Löschen, an ihren Taten, »an ihren Früchten« werden wir sie erkennen. Ach, es ist oft zu spät für unsre eigene Sicherheit, für unsre eigene Ruhe, daß wir diese Kenntnis erhalten. Was wir vorher hätten haben sollen, das kommt erst nachher und bringt uns bisweilen Betrübnis, Trauer und Reue. Aber jeder kann doch, wenn er will, seine eigenen Pläne, Absichten und Gesinnungen kennen. Jeder kann sich selbst davor hüten, falsche, verbotene, gefährliche Waren zu führen – ach, Gott bessere es! Wer hat nichts von ihnen? Und wie viele gibt es nicht, die zulassen, ihre Köpfe mit schlechten, mit gefährlichen Hirngespinsten zu überladen? Die »ihre Herzen mit übertriebener Fürsorge für die Nahrung dieses Lebens beschweren«? Ihr ganzes inneres Wesen mit niederdrückenden, unterdrückenden Sorgen? Mit verderbenden Lüsten und Leidenschaften? Und was haben sie nun alle als Fracht? Welchen Lohn haben sie dafür, daß sie diese schweren Waren mit sich durch das aufgerührte Fahrwasser des Lebens schleppen? Am Ende der Reise – Gram und Reue über das Vergangene, Furcht und Entsetzen vor dem Kommenden; aber Hoffnung und Trost wird jedem zuteil, der jene einzigen wahren Reichtümer zu führen gehabt hat, die weder »Rost noch Motten« oder der Tod selbst uns zu rauben imstande sind.

Die Segel, meine Freunde, die wir jetzt auch nicht sehen, bezeichnen die ebenso unsichtbaren Kräfte des Menschen, die wir allein in ihren Wirkungen kennen. Der Wind, der auf die Segel wirkt, so daß diese wiederum auf das Schiff wirken, seht, der bezeichnet unseren freien Willen, ohne dessen Äußerungen und Bestimmungen die Kräfte des Leibes blind oder leblos sein würden. Ohne Wind hängen die Segel schlapp, zur unnützen Last für das Schiff; doch wenn der Wind erwacht, da erweckt er die schlummernden Kräfte. So ist es auch, wenn der Wille, der unsern Körper in Bewegung setzt, die Hand dazu bringt, sich zu rühren, den Fuß, sich zu bewegen, die Gedankenkräfte, sich anzustrengen. Aber bisweilen geschieht es, wenn der Wind zu stark wird und zum Sturm wächst, daß die Segel zerrissen werden, wenn sie nicht beizeiten gerefft oder wohl ganz zusammengerollt werden. Ebenso kann ein allzu heftiger und hartnäckiger Wille – wenn er nicht beizeiten gezähmt und eingeschränkt wird – unsre Kräfte lähmen, ja sie sogar völlig vergeuden. Ja, ebenso wie der Sturm so gewaltsam auf die Segel wirken kann, daß das Schiff umgeworfen und eine Beute des Abgrundes wird, so sehen wir auch, daß eine unbeugsame und unkluge Willensfestigkeit den ganzen Menschen zum Untergang führen kann.

Aber noch in einer Hinsicht findet eine merkwürdige Gleichheit statt zwischen dem Wind und dem Willen – den wir gern »frei« nennen. Wohl scheint sich auf den ersten Blick eine reine Ungleichheit zu zeigen: daß nämlich der Wille, aber nicht der Wind in unsrer Macht steht. Aber ob wir uns auch damit trösten können, zu behaupten, daß wir stets Herren über unsern Willen sind? Oder daß uns dieser immer dahin führt, wo wir hinsteuern wollten? Dahin, wo wir recht eigentlich wollten? Ach, meine Kinder, laßt es uns aufrichtig gestehen! Der menschliche Wille kann nicht allein, wie der Wind, oft schlummern – lange schlummern; er ist auch, wie der Wind, flüchtig, unstet – bisweilen verderblich. Nein, nein, wir wollen uns nicht darauf verlassen, noch weniger uns dessen brüsten, daß der Wille so fest in unsrer Macht sei! Oder daß er stets mit unsrer besseren Überzeugung übereinstimme! Müssen wir da nicht oft mit dem edlen Apostel seufzen: »Das Gute, das ich will, tue ich nicht, dagegen das Böse, das ich nicht will!« ich elender Mensch, ich schwaches, flüchtiges, unstetes Wesen! Wie ohnmächtig, wie unsicher ist mein Wille! Herr, lenke und regiere mich nach deinem Willen, Aber der Seemann lenkt und regiert sein Schiff mit dem Winde, am Winde vorbei, ja gegen den Wind. Womit erreicht er das? Es ist nur ein kleines Gerät, das er dazu braucht; aber auf dessen Stärke und richtiger Lenkung beruht die Sicherheit des ganzen Schiffes. Was nun das Ruder für das Schiff, das ist der Verstand für den Menschen. Der Verstand muß alle unsre Bewegungen leiten, alle unsre Triebe lenken, unsre Lüste beherrschen und oft ihnen gerade entgegen arbeiten. Aber ach, ebenso wie das Schiff bisweilen nicht dem Ruder gehorchen will und wie ein Ball vor dem Winde umhergeworfen wird, ebenso nimmt ein unbeherrschter Wille dem Verstande die Macht, ja, was noch trauriger ist, macht ihn zu seinem Sklaven, zu einem verächtlichen Gerät seiner verderblichen Beschlüsse. Und wäre sogar dies nur mit dem schwachen Verstande so, aber leider, es geschieht ebenso oft mit dem starken. Was ist selbst die Weisheit eines Salomo gegen seine noch stärkere Sinnlichkeit? Konnte der Verstand eines David ihn gegen die tyrannische Macht des bösen Willens schützen? – O Mensch, wer du auch seiest, ausgerüstet mit Gelehrtheit, Klugheit, Weisheit, Erfahrung, o Mensch, verlasse dich nicht fest auf deinen Verstand, sondern suche dir ein Licht, das klarer, eine Stütze, die stärker ist! Suche dir eine Weisheit, die den menschlichen Verstand übertrifft! Und wo diese zu finden ist, wird dir das folgende zeigen.

Einige von euch, meine Freunde, haben wohl gesehen und die meisten nennen hören ein höchst merkwürdiges, ja sehr wunderbares Ding: eine Nadel, die stets ihre Spitze nach Norden wendet. Mit Hilfe dieses kleinen Geräts sieht der Seemann stets, wo er steht, wohin er seinen Kurs richten soll. Wenn die Wolken die Sonne verhüllen, zeigt der Kompaß ihm doch, wo er sich befindet. Im dichtesten Dunkel der Nacht, wenn Mond und Sterne fort sind, da ist der Kompaß der unfehlbare Wegweiser des Seefahrers – ein Wegweiser, auf den weder Wind noch Wogen den geringsten Einfluß haben. Mitten auf dem Meere, mitten im Dunkel, im Wüten des Sturms, beim Rasen der Wellen behält die Magnetnadel ihre bestimmte Stellung und zeigt mit unerschütterlicher Sicherheit auf den unsichtbaren Pol. So, o Christen, besitzen auch wir in der himmlischen Lehre, in unserm christlichen Glauben, einen geistigen Kompaß, einen unfehlbaren Wegweiser auf dem gefährlichen Meere des Lebens. Verhüllet sich die Sonne der irdischen Freuden, und das tut sie oft, hinter den Wolken der Sorge: da strahlt diese himmlische stets in unverdunkeltem Glanz. Ist es sonst dunkel rings um uns her, so ist doch Licht in unsrer Seele, das nie dunkel wird. Wenn die Unheilstürme brausen, wenn die Mächte des Abgrunds uns zu verschlingen drohen – die Religion ist unser Schirm, unser Schild, unsre undurchdringliche Wehr. Versagt unsre eigene Weisheit, verdunkelt sich das Licht unsres eigenen Verstandes, dann scheint das himmlische, verjagt die Schatten des Zweifels und klärt die fürchterliche Nacht der Ungewißheit auf.

Aber es ist noch eine höchst merkwürdige Beschaffenheit an jener menschlichen Erfindung: die Wirkungen des Kompasses sind offenbare, unwidersprechliche; aber die Ursachen dazu sind unsern Augen verborgen, unfaßlich unserm Verstande, unauffindbar für unsre schärfsten Untersuchungen. Daß die Magnetnadel sich zu allen Zeiten, aller Orten nach Norden wendet, das sehen wir; doch warum – das wissen wir nicht. Diese Eigenschaft der Nadel kennen wir; doch die Ursache dazu, die geheime Kraft, die hier wirkt – sie hüllt sich in undurchdringliches Dunkel. Und doch glauben wir mit Recht an dieses blinde willenlose Gerät der unsichtbaren Allmacht. O, meine Teuren! Wer sollte da wohl an dem göttlichen Ursprung der Religion zweifeln, weil wir ihn nicht begreifen? Kennen wir nicht seine Wirkungen? Wie sollten wir da seine Ursache verkennen? Glaubt mir, Geliebte! Eine solche Verkennung, ein solcher Zweifel ist die giftige Frucht des menschlichen Stolzes, des Glaubens des Toren an – die eigene Weisheit. Verblendeter Tor! Wie so fest verläßt du dich auf deinen Verstand! Wohin führt er dich, wenn du keinen Glauben hast? – Du willst alles wissen, und kannst nur so wenig begreifen! Du willst das Dunkel deiner Seele mit deiner eigenen Weisheit erleuchten! – Sinnloser Tor! Lausche der warnenden Stimme der ewigen Weisheit: »Wenn das Licht dunkel ist in dir, o welches Dunkel!« Siehst du denn nicht das nackte, unfruchtbare Ufer des Unglaubens? Willst du ihm entgehen, willst du deine Tugend, deine Ruhe, deine Hoffnung nicht verlieren: da wirf den rettenden Anker des Glaubens! – Sieh, wie der Steuermann dort das seine in Ordnung hat! Aber das deine, es könnte noch stärker sein als seins: jenes Eisen kann gebogen, jenes Tau zerrissen werden; aber der Glaube ist der rechte Notanker, denn er ist mächtig, aus der äußersten Not der Seele zu erretten, ja selbst den Tod mit allen seinen Schmerzen und Schrecken zu besiegen.

Und also hisse du denn, o Mitchrist, mit unerschütterlichem Glauben, mit unschwächbarem Willen, mit unzerstörbarer Freude das heilige Banner des Kreuzes! Seht die alte dänische Flagge gehißt, unter der unsre Vorfahren sich so manchen Sieg über Dänemarks Feinde erkämpft haben! Kämpft unter dieser Flagge gegen die weit grimmigeren Feinde: Aberglauben, Unglauben, Lüste und Laster! Und ein weit herrlicherer Sieg wird dein Lohn ewiglich sein!

Diese Worte habe ich zu euch gesprochen, meine Geliebten, damit ihr euch ihrer erinnern könnt, wenn ich nicht mehr unter euch bin. Ich bin schon weit befahren auf dem Meer des Lebens. Mein Leib altert und kommt jeden Augenblick seiner Auflösung näher. Es kommt die Zeit heran, da er in seinen letzten stillen Hafen geführt werden wird. Die Zeit kann nicht weit entfernt sein, da ihr mich nicht mehr seht: o, aber auch dann könnt ihr mich lange hören, wenn ihr wollt. Ihr könnt euch meiner Belehrung erinnern, meiner Warnungen, meiner Ermunterungen, meines Trostes. Wenn eure Augen auf dieses Schiff fallen, das lange nach mir hier bleiben wird: dann denkt daran, was ich euch heute gesagt habe! Bedenkt die Kürze des Lebens, die Gebrechlichkeit des Leibes, die Stärke der Gelüste und die Schwäche des Willens! Lasset Gottes Wort »sein das Licht für eure Füße, die Leuchte auf euren Wegen!« Den getreulichen Wegweiser zwischen Klippen und Schären! Richtet euren Glauben auf den festen Ankergrund, der Jesus Christus ist! Und hißt dann getrost die Flagge der Hoffnung, die heilige Fahne des Kreuzes! Das Zeichen, in welchem ihr streiten und siegen werdet! – Vater der Hoffnung, Geber des Glaubens, allweiser Lenker des Schicksals geleite und sammle uns alle in den Hafen der ewigen Freude! Amen!


Auf die beiden Seemänner mindestens verfehlte diese Predigt nicht, einen kräftigen Eindruck zu machen; beim Ausgang der Kirche drückte der Kapitän dem Pastor die Hand und nickte ihm zweimal langsam zu; aber sein Mund blieb geschlossen über den Gefühlen und Gedanken drinnen.

Aber Ole brummte ein hohles: »Danke, Herr Pastor!« nahm sein Sonntagstaschentuch aus der Rocktasche und trocknete sich die Augen.

 

9.
Das Erntefest A.

Als wir am Montag Frühstück gegessen hatten und von Tisch aufgestanden waren, sagte unser heiterer Wirt, der Kammerrat: »Meine Herren und Damen! Wir leben in einer strengen Zeit; und der, der essen will, muß auch arbeiten. Ich ersuche Sie daher alle miteinander, mir auf das Feld hinaus zu folgen und sich seine Nahrung zu verdienen!«

Heiter folgten wir der Aufforderung: Jeder nahm seine Dame – wenn er eine hatte – und ernannte sie zu seiner »Schnittermaid«, wie alle weiblichen Erntearbeiter hierzulande genannt werden; aber Mamsell Dubois, die gern männliche Rollen spielte, nahm Fräulein von Schlüssel.

Als wir auf das Feld kamen, fanden wir, daß fast nichts mehr zu tun war; die richtigen Arbeiter standen im Begriff, den Rest der Lese zu sammeln. Um so leichter wurde es uns nun, unsern Fleiß zu zeigen. Jeder bekam seine Harke in die Hand; aber sie wurden nicht alle mit der gleichen Geschicklichkeit gehandhabt, und manche linkische Behandlung dieses einfachen Geräts rief manches Lächeln auf den braunen Gesichtern der dabeistehenden Arbeiter hervor. Doch die Französin rief ihre Verwunderung und ihren hörbaren Beifall hervor, und das verdiente sie wirklich. Das fühlte sie selbst; denn als sie lange vor den meisten andern mit ihrem Schwaden fertiggeworden war, schwang sie den Rechen triumphierend über dem Kopf, in der Luft eine Acht beschreibend – die sogenannte Schwadronade der Fechter.

»Jetzt bin ich Großknecht Nummer zwei!« rief sie, »wehe euch, wenn ihr nicht arbeitet.«

Mit dieser Drohung war es ernst gemeint; denn die hintersten, darunter die beiden Lehrer, bekamen mit dem Harkenhaupt kräftige Ermunterungen auf das »Hinterviertel«.

Da nun auf dem Feld nichts mehr zu verrichten und das letzte Fuder der Ernte heimgefahren war, kam ein Wagen vom Hof mit Vesperbrot, Branntwein, Starkbier und Meth zur Erfrischung der Arbeiter, ehe sie nach Haus gingen und sich zum Erntefest umkleideten. Sie lagerten sich auf den Stoppeln in einem Halbkreis um den Wagen und genossen unter lustigem Geschwätz und Scherz die mitgebrachten guten Gaben. Wir andern ließen uns auf dem dicht dabei verlaufenden Deichrücken nieder und betrachteten die frohe Mahlzeit.

Gegen Ende derselben kam Pe' Siebensprung mit seinem Leierkasten dazu, und nachdem er einige Lebensmittel eingenommen hatte, machte er sich bereit, eine Musiknummer zum besten zu geben.

Aber einer der Bauernknechte stand auf und sagte: »Jetzt hängen wir unsre Grassensen für dieses Jahr auf und da brauchen wir nicht mehr deinen Schleifstein; aber wir wollen lieber sehn, wie du deine Bezeichnung »Siebensprung« verdienst!«

»Ja, komm!« rief ein andrer Knecht, nahm seine Sense, lief nach der dicht dabei liegenden, festbodigen Wiese und steckte darauf mit der Spitze eine schmale Kerbe ab.

Mit einem Harkenschaft, der als Maßstab eingerichtet war, steckte er eine halbe Elle ab, machte noch eine Kerbe, steckte eine halbe Elle ab, und fuhr damit fort, indem er sieben Abstände machte, den einen immer eine halbe Elle breiter als den vorigen; das letzte Stück wurde daher 3½ Elle lang.

Die altjütische Leibesübung »Siebensprung« erfordert, daß man mit geschlossenen Füßen ohne Anlauf in einem Zuge und mit sieben Sprüngen von einem Stück zum andern hüpft, von dem schmälsten zum breitesten. Der Spielmann wurde nun wieder aufgefordert, seinen Namen Ehre zu machen. Aber er sträubte sich und brachte sein Alter als triftige Entschuldigung vor. – Nun fingen die jungen Burschen an, diesen mir ganz neuen Zweig des Turnens zu üben, zur großen Heiterkeit aller Zuschauer. Nur zweien von ihnen gelang es, den letzten großen Sprung auszuführen.

Als alle diesen Kursus absolviert hatten, schlug die Mamsell uns andern Mannsleuten vor, unsre Tüchtigkeit zu versuchen. Einige weigerten sich, und die, die es versuchten, erreichten nur die vierte oder fünfte Kerbe; doch besaß ich die Muskelkraft, auch den sechsten Sprung auszuführen. Die Mamsell lachte und verspottete uns.

»Hat sie nicht selbst Lust, sich auch einmal zu versuchen?« fragte ein dreister Bauernbursch.

»Jawohl!« antwortete sie rasch; »aber ich möchte zwei Sprünge mehr haben!«

Der Knecht warf einen mißtrauischen Blick auf sie und steckte noch einen Abschnitt von 4 und 4½ Ellen ab.

»Musik!« rief sie und warf einen Blick auf den Leiermann. Der machte große Augen, stellte sein Instrument auf ein leeres Bierfaß und ließ es seine summenden, schnarrenden Töne hervorbringen. Er war mit der ersten Wiederholung fertig, bis die gallische Amazone den »Neunsprung« vollendet hatte.

Mit einer Art von Erstaunen, der gar nichts mit Beifall zu tun hatte, betrachtete ich dieses unweibliche Kunststück. Doch als mein Blick auf den Leierdreher fiel, der mir gerade gegenüber auf dem leeren Bierfaß saß, zeigten sich in seinem Gesicht sogar Unbehagen und Widerwillen. Er hob erst die eine, dann die andre Schulter, indem er seine Augen über den gegenüberstehenden Halbkreis von Zuschauern laufen ließ. Seine Mienen und Bewegung drückten ziemlich deutlich die Vermutung aus, daß es mit diesem weiblichen Voltigeur nicht ganz richtig zusammenhing, und daß sie – volkstümlich ausgedrückt – »noch etwas mehr als ihr Vaterunser konnte«, wie die Bauern von den Pastoren sagen, die zu mahnen und zurechtzuweisen verstehn. Um seinen Verdacht richtig zu erkennen zu geben und seine dunklen Gedanken herauszusingen, gab er uns unaufgefordert nachstehendes Scherzgedicht:

Zur Pfingstzeit steht voller Blätter der Wald,
Und lustig tanzen die Schatten.
Die Vöglein pfeifen und sind gar froh,
Sie bauen ihr Nest in den Bäumen.
Hoh – oho – ja ja! Komm' zu mir zur Mitternachtsstund'.

Und zwischen den kleinen Blumen im Wald,
Waldmeister und Sumpfdotterblüten,
Gehen die Liebespaare zu zwei'n
Und halten sich an den Händen.
Hoh – oho – ja ja! Komm' zu mir zur Mitternachtsstund'.

Ell und Visti waren dabei,
Die beiden Herzensfreunde.
Wer gern will, geht wohl selbst davon,
Keiner hält ihn zurücke.
Hoh – oho – ja ja! Komm' zu mir zur Mitternachtsstund'.

Sie sprachen so manches freundliche Wort
In Lust und Seligkeit.
Zur Erntezeit sollten im eignen Haus
Sie gar liebevoll leben vereint.
Hoh – obo – ja ja! Komm' zu mir zur Mitternachtsstund'.

Da es nun ging auf die Mitternachtsstund'
Wurd' es so düster im Walde.
Mit dem Scheine des Mond's war es lange vorbei,
Und die Wolken dunkelten droben.
Hoh – oho – ja ja! Komm' zu mir zur Mitternachtsstund'.

Visti ward es so traurig zu Sinn.
»Ell, ich muß dich verlassen!«
Er küßte sie wohl auf Mund und Wang:
»Laß dich von niemand verführen!«
Hoh – oho – ja ja! Komm' zu mir zur Mitternachtsstund'.

Ell, sie eilt auf dem Wege hin.
Sie geht so einsam nach Hause.
»Visti, du hast ein getreues Lieb,
Könnt' sein, daß du sie vergäßest!«
Hoh – oho – ja ja! Komm' zu mir zur Mitternachtsstund'.

Als sie zum Hügel des Berggeistes kam,
Hört einen Sarg sie sich schließen.
Und der Berg, der zitterte und wankt',
Und innen es donnert' und krachte.
Hoh – oho – ja ja! Komm' zu mir zur Mitternachtsstund'.

Und der Berggeist steckt seinen Kopf heraus,
Mit der güldenen Krone er wackelt –
Ell überlief es kalt und klamm,
Wie er so winket und nicket.
Hoh – oho – ja ja! Komm' zu mir zur Mitternachtsstund'.

Ell, sie eilet den Weg entlang,
Das ging wie Donner und Blitzen.
Und allsobald sie nach Hause kam,
Versteckt sie den Kopf unterm Kissen.
Hoh – oho – ja ja! Komm' zu mir zur Mitternachtsstund'.

Als die Johannisnacht näher kam,
Kam Visti vom Regiment.
»Wie geht es wohl Ell, dem armen Kind,
Hat sich nach mir wohl gesehnt!«
Hoh – oho – ja ja! Komm' zu mir zur Mitternachtsstund'.

Und als er kam, wo Ell nun wohnt',
Da war es so lustig drinnen;
Und einer war da, der juchheite und sang
Mit Hussa und vielem Geschreie.
Hoh – oho – ja ja! Komm' zu mir zur Mitternachtsstund'.

Sie rief, als er unter die Türe trat:
»Was willst du, du närrischer Bauer.
Gehe nur, Visti, woher du kamst,
Jetzt bin ich des Berggeistes Fraue!
Hoh – oho – ja ja! Komm' zu mir zur Mitternachtsstund'.

Visti, der wandte sich um und ging,
Er trauert wohl Tage und Nächte.
Am ersten November trug man ihn hin,
Und Ell wankt' hinter dem Sarge.
Hoh – oho – ja ja! Komm' zu mir zur Mitternachtsstund'.

Und Ell, sie lebet jahraus, jahrein.
Verweinet die Nächte und Tage.
Und wenn das Käuzchen am Kirchhof schreit,
Dann singt sie wohl auf dem Grabe:
Hoh – oho – ja ja! Komm' zu mir zur Mitternachtsstund'.

Dieses Gedicht ist aus jütländischer Mundart frei ins Deutsche übertragen.

Ich glaube, daß nicht eigentlich der Inhalt der Ballade auf die Zuhörer wirkte, sondern der Sänger selbst und sein Vortrag. In der jütischen Mundart waren außerdem nur wenige von uns bewandert und verschiedene Kraftausdrücke des Liedes mußte ich mir nachher erklären lassen. Aber der »kuhäugige«, rotäugige Barde in seinem nebelfarbigen Wams, seine unmelodische zitternde Stimme, das Rockenschnurren des Leierkastens, der einen noch stärkeren und hohlbrummenden Ton durch den Resonanzboden – das hohle Faß – bekam, all das zusammen brachte wohl einen tief anwidernden Eindruck hervor. Dabei war in seinem groben Wildengesicht etwas Düsteres und Schreckliches, besonders wenn er den Kehrreim »Ho – oh – ho jaja!« sang, da riß er den zahnlosen Mund noch weiter auf, wie zum Verschlingen; und da war gleichzeitig in Gesicht und Ton ein fast teuflischer Hohn und Mutwille. Jedenfalls: sowohl meine Alice als auch ich sowie die ganze, kurz vorher so muntere Gesellschaft ging nun zum Schlosse in langsamerem Takt zurück; die Unterhaltung war kalt, unterbrochen und unzusammenhängend, und sie berührte durchaus nicht die beschriebenen Auftritte – so wie der Furchtsame im Dunkel Kirchhöfe und Richtstätten scheut.

 

Erntefest B.

Es war, als hätte man auf dem Heimwege alle Schreckhaftigkeit verloren oder vertrieben; denn als wir uns in der Wohnstube versammelt hatten, wurde das bisher vermiedene Thema aufgenommen; und der Leiermann und sein Lied wurden nun allgemein, aber ebenso verschieden wie jede andre Künstler- oder Dichterneuigkeit beurteilt.

Es ging uns wie den gelehrten Kunstrichtern; wir befaßten uns am liebsten mit dem, was wir glaubten verurteilen zu dürfen. Hier war es jedoch nicht so sehr die Dichtung selbst, als ihr Sänger, der herhalten mußte; man fand ihn elend, jämmerlich – ganz als wollte man sich für den Eindruck rächen, den der Verurteilte gleichwohl gemacht hatte.

Doch jemand, der bisher gar keinen Anteil an dieser kritischen Konversation genommen hatte, die Französin nämlich, trat ganz unerwartet als Verteidiger des Leiermannes auf.

»Ich finde,« sagte sie, »daß er eine bestimmte Manier hat, und ist sie nicht schön, so ist sie doch gut, insoweit als sie dem Texte entspricht. Das Spuklied scheint für ihn gedichtet zu sein, und er dafür geschaffen. Stellen Sie sich einmal dieses Lied auf einem Theater von einem Virtuosen gesungen vor, mit Begleitung eines ganzen Orchesters! Das würde ebenso grell wirken, als wenn man diesen Leiermann »Du Flecken Erde« vortragen lassen wollte.

Ohne auf irgendwelchen Beifall oder Widerspruch zu warten, verließ sie das Zimmer mit ihrer Dame, dem Fräulein.

Der Altertumsforscher, der bisher schweigend dagesessen hatte, nachlässig zurückgelehnt, so daß nur das unterste Weiße der Augen zu sehen war, als verlöre er sich selbst in der grauen Vergangenheit, richtete sich plötzlich auf, stützte beide Hände auf die Knie, lächelte klug und sagte: »Der Laut, der bisweilen in den Grabhügeln zu vernehmen ist, ist ganz natürlich und wird dadurch hervorgebracht, daß ein Stein sich von der Decke der Grabkammer löst und herabfällt. Stößt er nun auf ein Schwert oder andres Metall, dann muß es ja so klingen, als würde ein Geldkasten hart zugeschlagen.«

»Na, er glaubt also nicht, daß es Bergmännchen gibt?« rief der Küster, »da will ich mal eine Geschichte erzählen, die weder Lüge noch Geschwätz ist; denn mein Vater hat erzählt, daß sein Vater erzählt hatte, daß er sich entsinnen konnte, daß sein Großvater gesagt hatte, daß seine Großmutter sie von ihrer Urgroßmutter gehört hatte, die das Jahr darauf auf den Tag getauft worden war, nachdem es passiert war. Sie erzählte denn: da war ein Bursche und ein Mädchen, die hatten einander gern, und sie wollten auch heiraten, glaube ich. Sie waren dreimal von der Kanzel aufgeboten, und der Hochzeitstag war anberaumt, und sie hatten gebacken und gebraut und Kochfrau und Spielmann bestellt. Da geschah es eine Nacht, daß das Mädchen ihren Bräutigam besucht hatte und nach Hause wollte, da mußte sie um einen Hügel, wo man sagte, daß da Bergmännchen waren – und es waren da auch Bergmännchen – da war die Frau des Bergmännchens, aber das wußte sie nicht – und fragte: ob sie ihr nicht weissagen sollte. Sie sagte ja; und da weissagte sie ihr, daß sie sehr alt werden würde, wenn sie keine Männer zu sich ließe; doch wenn sie sich je verheiraten würde, dann würde sie in dem ersten Kindbett sterben. Das war ja gut, aber es war auch wieder nicht gut; denn nun besann sie sich, und wollte den Bräutigam nicht mehr haben, weder im guten noch im bösen. Und sie blieben auch dabei, und es gab keine Hochzeit, und sie diente weiter und blieb allein für sich, bis sie in die Jahre kamen, alle beide. – Da war nun ein Heiligabend, und es war Sonntag, und sie waren alle beide in der Kirche, und beide waren während der Predigt eingeschlafen. Als nun die Leute aus der Kirche gingen und der Pastor und der Küster auch und sie hatten sie nicht gesehn, da schlossen sie die Kirchentür. – Es kann so gegen Mitternacht gewesen sein, da erwachte der Knecht und da lag das alte Weibsbild auf ihren Knien vor dem Altar. Und da kamen vom Gewölbe herab zwölf kleine Kinder wie Engel geflogen. Und die gaben ihr jedes eine Maulschelle und sagten: das hast du dafür, denn du hättest Mutter von uns allen sein können, wenn du gewollt hättest. Und da kam eine ganze Schar und gab ihr ebenso jeder davon eins ins Gesicht und sagten: da hast du dafür, denn du hättest unsre Großmutter sein können. Und nun kam ein gräßlich größerer Schwarm und schlug sie auch und sagte: das hast du dafür, denn du hättest unsre Urgroßmutter sein können. Und es kamen immer mehr und mehr, so daß die ganze Kirche voll von ihnen war. Aber da flogen sie alle auf einmal davon. Und als er nun zu ihr kam, da lag sie da und war steintot. – Sehen Sie, so erging es ihr, und das ist, laus mich der Affe, wahr! Denn sonst würde ich es nicht erzählt haben.«

»Ach, das hat ein Pastor oder Küster des Opfers wegen gemacht,« rief lachend unser Hardesvogt, der in diesem Augenblick von seiner Reise zurückgekommen war.

Sein herzlicher Empfang befreite den Küster davon, die skandalöse Behauptung zu widerlegen; aber später tat er es doch, jedoch nicht in Gegenwart des Spötters, woran er sehr weise tat.

 

Erntefest C.

Es war mir und andern sehr auffallend, daß der Hardesvogt ziemlich bald mit der Französin verschwand, und zwar nach einem von ihm gegebenen Wink. Er war allerdings Junggeselle, und durchaus nicht so alt; und sie war recht hübsch und hätte wirklich schön sein können, wenn sie nicht so männlich gewesen wäre. Aber es war doch die allgemeine Auffassung, er würde sich nie verheiraten, da er nun mehrere Jahre ein sehr gutes Amt hatte und haben konnte, »wen er sich nur aussuchte«. Und außerdem entschlüpften ihm nicht selten in Herrengesellschaft solche Äußerungen, die nicht ihren Ursprung in Heiratsgedanken hatten. Doch glaube ich, daß solche Frauenzimmerhasser bisweilen plötzlich bekehrt werden und sich als reuevolle Sünder unter das süße und weiche Joch beugen.

Daß seine hohe Weisheit demselben Schicksal ausgesetzt sein würde, bezweifelte ich kaum mehr, als er bei der Rückkehr sich an den Küster wandte und – mit einem mild ernsten Gesicht, jedoch ohne den leisesten Anflug von Scherz – sagte: »Ich hoffe doch, daß Sie nicht über das böse wurden, was ich vorhin vom Opfer sagte! Sie werden vielleicht bald die Überzeugung erhalten, daß ich es mit Pastor und Küster nicht so schlimm meine.«

Dieser verneigte sich tief, der Hardesvogt beantwortete die Verbeugung mit einer ebenso tiefen, und die ganze Gesellschaft tauschte verschmitzte und schelmische Blicke aus.

Beim Mittagstisch herrschte eine ganz ungewöhnliche Stille. Nichtssagende Bemerkungen, gleichgültige Fragen und Antworten von gleicher Beschaffenheit brachten nur wenig Abwechslung in die einförmige »Tellermusik« – wie der Hardesvogt das nannte. Einige beschäftigten all ihre Gedanken mit ihrem eigenen bevorstehenden Schicksal, das nun vor seiner Entwicklung stand – wie sich bald zeigen wird –; die übrigen grübelten vergebens über das Unerklärliche in der plötzlichen Bekehrung des Hardesvogtes.

Der Gegenstand so vieler Gedanken – der übrigens mit größerer Essenslust gespeist hatte, als ein Verliebter empfinden darf – brach zuerst das lange Schweigen dadurch, daß er das Gespräch auf eine allgemein beliebte Materie brachte, nämlich das Spuken.

»Die merkwürdige und glaubwürdige Begebenheit,« sagte er, »die der Küster uns neulich erzählte, erinnert mich an eine noch wunderlichere, die ich selbst erlebt habe. Es gibt wohl niemanden in dieser verehrten Gesellschaft, der etwas von Bergmännchen weiß oder doch von ihnen gehört hat. Da ich in dieser Sache aus eigener Erfahrung sprechen kann, hoffe ich, daß man die Richtigkeit meiner Erzählung nicht in Zweifel ziehen wird. – Ich weiß nicht, ob keiner der Anwesenden einen höchst merkwürdigen Berg kennt, der Daabjerg oder Dagbjerg Dos heißt?«

»Das tue ich,« nahm der Küster das Wort; »und wenns da kein Bergmännchen gibt, dann gibt es keine im ganzen Lande.«

»Das kann ich bezeugen, wie Sie bald hören werden«, fuhr der Hardesvogt wieder fort. »Ich hatte einmal in meiner Jugend eine längere Fußreise unternommen und kam an ihrem Schluß eines Nachmittags nach Dagbjerg, Ich ging zu dem Küster, obwohl er mir bisher ganz unbekannt war; doch wo ich den Pastor nicht kenne, besuche ich am liebsten den Küster, und das habe ich selten bereut. Denn von den richtigen alten Küstern kann man viel lernen, wovon man sonst nicht träumt. Das erfuhr ich auch hier. Da ich mich nämlich nach Dagbjerg Dos erkundigte, der sich bereits im Abstande von mehreren Meilen mir in Gestalt eines runden Hutes gezeigt hatte, gab er mir folgende Aufklärungen. Im Berge wohnte – und wohnt noch, glaube ich – ein Bergmännchen mit Familie. Er tut keinen andern Schaden – der doch groß genug sein kann –, als daß er hin und wieder Kinder bei Bauern vertauscht. Wenn es sich nämlich trifft, daß seine Frau zu derselben Stunde ins Kindbett kommt wie eine von den Bauern im Dagbjerger Kirchspiel, dann schleicht er sich heran – wenn er kann – nimmt das Kind des Bauern und legte sein eigenes an die Stelle. Das wird dann ein Wechselbalg und bekommt niemals so viel Verstand wie ein stummes Tier, daß es auch nur Feuer und Wasser meiden kann.«

»Ja, das ist sicher«, fiel der Küster bestätigend ein, »denn da ist eins in Dagbjerg, wenn es nicht kürzlich gestorben ist; es ist erwachsen, sieht aber nicht anders aus, wie ein langes kleines Mädchen.«

»Sehr richtig«, sagte der Hardesvogt. »Der Küster dort erzählte mir nun weiter, daß ihr Bergmännchen so reich ist, daß er es selbst gar nicht weiß. Unter vielen guten Sachen hat er einen Kessel voller Silber und Gold, der ganz oben in der Erde steht – wie die Hirten oft gesehen haben, wenn sie auf dem Grabhügel sitzen und er unten in seinem Geld wühlt. »Das solltet ihr ihm abnehmen,« sagte ich zum Küster. »Ja, faß ihn!« antwortete der Küster, »das ist leicht gesagt, doch nicht so leicht getan. Die Dagbjerger haben es oft versucht, aber phh! Es ist nicht lange her, es war zur Zeit des Vorgängers meines Vorgängers,« sagte der Küster, »daß sie es zum letztenmal versucht haben. Der Vorgänger meines Vorgängers – er war viel gelehrter als ich, denn er war sogar auf dem Gymnasium in Viborg gewesen – ihm überredeten ein paar von den Männern, eine Osternacht mitzukommen, um ihnen bei einem Zug nach dem Geldkessel des Bergmännchens zu helfen. Nun, er ging auch mit, bat sie aber erst recht eindringlich darum, kein einziges Wort zu sprechen, ehe sie nicht den Kessel vom Berge herab in Sicherheit gebracht hätten; denn länger hatte der Besitzer keine Macht darüber. Nun wohl, sie fingen an zu graben, und es ging schnell, und sie waren bereits so dicht daran, daß der eine Handgriff des Kessels zum Vorschein kam, und sie hätten ihn auch ganz bestimmt bekommen; doch was geschieht? Plötzlich schlagen Flammen aus drei Höfen unten in Dagbjerg. Und als sie das sehn, fangen sie alle an, den Berg hinunterzulaufen und nach Haus, um zu retten. Doch je näher sie kamen, desto schwächer wurde das Feuer, und als sie ins Dorf kamen, war da nicht mehr Feuer, als jetzt in meiner Perücke. Da eilten sie wieder auf den Berg zurück; aber Prost die Mahlzeit! Das Loch war wieder geschlossen, als ob da nie gegraben worden wäre, und der Küster lag da und schlief, war aber seit dem Tage nie mehr gesund.«

»Jetzt weiß ich, daß er ein Wissenschaftsmann ist,« rief nun der höchlichst erbaute Ulstruper Küster aus, »denn das ist wahr, jedes Wort, was er sagt; ich habe es oftmals gehört.«

»Aber das, was jetzt kommt, hat er wohl nicht gehört,« fuhr der Hardesvogt fort, »denn ich habe es stets als ein Geheimnis bewahrt, das zu offenbaren ich mich jetzt berufen fühle. – Ich verließ Dagbjerg bei Sonnenuntergang mit der Absicht, denselben Abend bis nach Grönhöj zu kommen. Da der Berg für Fußgänger nicht weit ab vom Wege liegt, fiel es mir ein, da hinüber zu gehn. Noch ehe ich den Gipfel erreicht hatte, wurde ich plötzlich so müde, daß ich mich setzen mußte; und als ich etwas gesessen hatte, war es mir, als könnte ich mich nicht wieder erheben. Ich legte mich also ins Heidekraut, um etwas zu schlafen. Es war bereits dunkel geworden; der Himmel war bezogen, aber es war sonst ganz still und mild in der Luft. Ich sah auf meine Uhr, es war elf. – Plötzlich höre ich unter mir im Berge ein hohles Poltern und Rumoren, auch ein Klingen wie von Glas und Flaschen und Schüsseln und Tellern. Und nun erhob sich der Kamm des Berges auf zwölf roten Pfosten, die aussahen wie glühendes Eisen. Zwischen ihnen tauchte nun ein Tisch aus weißem Marmor auf und Stühle aus Elfenbein rings herum. Darauf kamen zwölf Wichte oder Zwerge, die den Tisch mit einem feinen Damasttuch und ebensolchen Servietten deckten, mit goldenen Tellern und silbernen Schüsseln, Weinflaschen aus Jaspis und Bechern aus Kristall. Kurz gesagt: die ganze Anrichtung war königlich. Kurz darauf stiegen die Gäste herauf, Paar um Paar, und setzten sich in bunter Reihe um den Tisch.

»Wie sahen sie aus? Was hatten sie an?« fragte die jüngste Jungfer Hansen.

»Oh«, sagte er, »sie sahen ganz so aus wie andre Menschen, schienen aber auch wie wir der Natur zu Hilfe gekommen zu sein, indem sie, Herren wie Damen, mit einem Schnürleib ihre Taillen so eingezwängt hatten, daß man wirklich fürchten konnte, sie würden mitten durchbrechen. Ich entsinne mich weiter – es ist auch nicht so leicht zu vergessen, daß die Damen tief ausgeschnittene Kleider trugen, so tief, daß man ihnen zwischen Brüsten und Schulterblättern hineinsehen konnte, und bei gewissen Bewegungen bis unter die Achselhöhlen.«

»Ih, pfui doch!« erscholl es von den meisten weiblichen Lippen.

»Ja, ja,« sagte der Erzähler, »wenn diese Halbnacktheit hier Mode wird, wie ich hoffe, dann werden wir ja sehn!«

»Wovon durften nun diese eingeschnürten Magen leben?« fragte Kammerrat Hansen.

»Von sehr feinen und leichten Speisen natürlich,« erwiderte der Hardesvogt. »Und ich freue mich, einen ziemlich vollständigen Speisezettel vorlegen zu können; denn die Wirtin nötigte ständig ihre Gäste, und es ging in einem fort: »Herr Geheimer Bergrat von Jelshöhe, noch ein paar Rattenschwänze? – Herr Bergjunker von Hohöhe, darf ich Ihnen noch ein Stückchen Ringelnatter reichen? – Frau von Elmannsberg, einen Löffel Mäusefrikasse? – Fräulein von Himmelberg, Sie essen ja gar nichts! Einen kleinen Maikäfer mit Ameisensauce? – Herr Unterbergrat, ist das Maulwurfsragout nicht nach Ihrem Geschmack? – Frau Oberbergrat, Sie müssen noch eine kleine Eidechse nehmen! – Herr Kammerherr von Blocksberg, Sie haben eine lange Reise hinter sich: eine kleine Fledermaus oder vielleicht ein paar Spinnen? – Frau von Risenberg, bitte greifen Sie zu! Einen kleinen Ohrwurm? – Berghauptmann von Schwarzwald, Sie stehen hungrig von Tische auf! Noch eine einzige Schwabe?« usw. Doch zeigte die Wirtin eine gute Lebensart, indem sie die Gäste nötigte und quälte, so stand der Wirt nicht hinter ihr zurück, was den Wein betraf, und schien in seinen Bemühungen noch glücklicher zu sein. Die Unterhaltung wurde immer lauter und undeutlicher, und da ich nichts Zusammenhängendes auffassen konnte –«

»Doch welche Sprache sprach man denn?« fragte einer.

»Ja, es ging alles durcheinander,« erwiderte der Hardesvogt, »man sprach sowohl Elfensprache wie Zwergensprache; doch Herr von Blocksberg und Herr von Schwarzwald sprachen meist deutsch. Aber von der Koboldsprache hörte ich kein Wort, denn seitdem Thor diese Nation ausgerottet hat, ist es eine tote Sprache, die nur von den Gelehrten unter der Erde verstanden und gesprochen wird. Nun also: zum Schluß begann man »Bergmannsleben« von Novalis, »Glück auf!« und mehrere unterirdische Lieder zu singen. Schließlich erhob sich einer der Gäste und stimmte mit hoch erhobenem Becher an: »Und dies sei der Wirtin ein Hoch! Hurra!« – Von sympathischen Gefühlen ergriffen und hingerissen, setzte ich mich ganz über Ort und Zeit hinweg und fiel vielleicht etwas zu früh ein mit: »Und schämen soll sich, wer nicht –«; doch ich kam nicht weiter; denn da verschwanden plötzlich Gesellschaft und Tisch und Pavillon und das ganze.«

Hier endete der Erzähler und ergriff sein Glas. Doch der Küster von Ulstrup, der die ganze Zeit in stummer Aufmerksamkeit dagesessen hatte, rief nun: »Zum Donnerwetter! Und was weiter?«

»Da erwachte ich,« lautete die Antwort; und darauf brach ein allgemeines Gelächter aus, an dem teilzunehmen jedoch der arme Küster nicht in Stimmung war.

 

Erntefest D.

Wir waren noch nicht von Tisch aufgestanden, als der klassische Stadtmusikant Fiedler mit seinen Gesellen und Lehrlingen auf den Hof rollte.

»Kennen Sie den Domherrn von Mailand?« rief ihm der Hardesvogt in der Tür zu, und zwar ohne Willkommen.

»Ich kenne den Domprobst in Viborg!« erwiderte der Musikant kurz und stieg aus dem Wagen.

»Kennen Sie auch nicht den kleinen Matrosen?« fragte jener wieder.

»Nein!« schnarrte Fiedler, »was wollen Sie mit dem Matrosen und dem Domherrn sagen?«

»Zwei neue Gesangsstücke!« lautete die Antwort.

»Ist das vielleicht der Auszug?« rief freudig der kurzsichtige Spielmann und griff nach der zusammengerollten Serviette des Vogts, die dieser unter dem Arm hielt.

»Nein!« war die Antwort, »aber kommen Sie nun und halten Sie Ihren Einzug! Kammerrat Hansen hat uns gerade ein kräftiges Stück geboten, und Sie können noch etwas vom Finale bekommen.«

Mit diesen Worten führte er ihn zu seinem eigenen Stuhl und blieb selbst als Diener dahinter stehn. Alle andern erhoben sich nun; denn die Wirtin nötigte den Ankömmling, mit dem ersten Gericht zu beginnen.

Der Hardesvogt flüsterte dem jungen Hansen etwas zu, und dieser lief mit pfiffigem Lächeln hinaus. Ich vermutete ganz richtig ein Schelmenstück.

»Wir müssen,« rief der Scherzmeister, »doch unserm Musikkönig mit seinem Leibgericht bei der Tafel aufwarten; die Musik verdoppelt stets meinen Appetit.«

»Meinen nicht,« sagte Fiedler, indem er zwischen jedem zweiten oder dritten Wort einen vollen Löffel in den Hals jagte, »wenn ich esse – dann esse ich – und – musiziere nicht – und wenn musiziert wird – esse ich nicht.«

Der hungrige »Notenschlucker«–wie der Hardesvogt ihn auch nannte – war ein gutes Stück in den zweiten Akt hinein gelangt und arbeitete bereits etwas langsamer, als sich der Leierkasten mit dazu gehörigem Gesang hinter ihm vor der offenstehenden Tür hören ließ. Er hatte einen Bissen Braten auf der Gabel und bereits am Munde; doch weiter kam er auch nicht. Erst hielt er ihn ein paar Sekunden in der Nähe seiner Bestimmung; aber dann warf er ihn mit der Gabel auf den Teller und sagte mit gedrückter Stimme und wild starrenden Augen: »Tod und Pestilenz! Das ist das reine Gift.«

Die Wirtin, die sich am äußersten Ende des Zimmers befand und diese Tafelmusik auf dem Gange nicht bemerkt hatte, wurde halb erschrocken und halb gekränkt; denn sie konnte nichts andres annehmen, als daß er den Braten meinte. Doch ehe sie sich hierüber noch geäußert hatte, sprang Fiedler auf und – ohne sich Zeit zu nehmen, für die Mahlzeit zu danken – in die anstoßende Gartenstube, wo er die Tür hinter sich zuschlug.

»Ihm nach! Ihm nach;« schrie Frau Hansen. »Der verrückte Mensch kann sich ein Unglück antun!«

Doch der Urheber dieser Szene klärte sie bald über den Anlaß zu der Marter und dem Entsetzen des Stadtmusikanten auf.

Und ihnen folgte Zorn: »hätte der Hardesvogt nicht ein neues Violinduo von Viotti als Sühneopfer gehabt, glaube ich wirklich, der Musiktyrann wäre augenblicklich mit seinen Sklaven wieder abgereist. – Ihm diesen Leckerbissen nun ohne weiteres anzubieten, hätte vielleicht die Absicht verfehlt. Der Hardesvogt, der seinen Mann kannte, ergriff deshalb in größter Eile die Instrumente, gab mir das eine und zwei von den jüngeren Mädchen die Noten. Sie hielten sie uns, und dicht an der zugeschlagenen Tür begannen wir nun die etwas barocke aber doch schwärmerisch schöne Komposition des Tondichters vorzutragen.

Wir hatten noch nicht ein Viertel davon gespielt, als die Tür vor uns ein wenig aufging; doch als das Stück aus war, wurde sie ganz geöffnet, und wie eine Bildsäule, wie der personifizierte »Penseroso«, stand der paralysierte Tonkünstler vor uns. Er vermochte kaum die Lippen so weit zu öffnen, daß ihnen der Erguß entschlüpfen konnte: »Wenn das kein Viotti ist, dann soll der Teufel meinen Bogen zerknicken!«

Dies war, wie zu bemerken, sein höchster Fluch, den er nur bei sehr feierlichen Anlässen gebrauchte.

Der Küster, in dessen Brust es nicht einen einzigen reinen Ton gab, und für den folglich ein Duetto concertanti von Viotti nicht besser war, als ein Solo von Pe' Siebensprung, schüttelte die Perücke und sagte: »Ich glaube, schind' mich der Kater, die Musikanten hier sind verrückt.«

 

Erntefest E.

Nachdem man den Rest des Nachmittags mit allerhand Zeitvertreib, ganz nach Geschmack und Laune, verbracht hatte, versammelte sich wieder die zahlreiche Gesellschaft um den Abendtisch. – Dasselbe Schweigen wie beim Mittag fand auch hier zu Anfang statt. Doch als das erste Gericht gegessen war, erhob sich der Hardesvogt, ergriff sein Glas und sagte langsam und feierlich: »Hiermit habe ich die Ehre, Mariage zwischen Herrn Wakkeltop, früher Gehilfen auf unserm Hardesamt, doch jetzt Besitzer und Eigentümer von Bompgaard, und der wohledlen Jungfer Hansen, die bei ihm sitzt, zu deklarieren – auf das Wohl der Verlobten!«

Überrascht, die meisten noch zweifelnd, erhob man sich, stieß an und trank; und siehe, die Betreffenden dankten wirklich für den Zutrunk; doch die Braut sah sehr verlegen und verwirrt aus. Und die andern jungen Mädchen machten Mienen, die nicht als aufrichtige Glückwünsche ausgelegt werden konnten, sondern ehe als Anspielungen auf das alte Sprichwort: »Erst verschmäht, dann erfleht!«

Doch weckte das erste Hoch Verwunderung, so war die Wirkung des zweiten Erstaunen: kaum war jenes getrunken, als der Einleiter, noch immer stehend, wiederum sein Glas füllte, ein Dokument hervorholte und es der gegenüber sitzenden Französin reichte. Als diese einen Blick auf das aufgeschlagene Papier geworfen hatte, wechselte sie ein paarmal die Farbe und hielt es darauf ihrer Dame, Fräulein von Schlüssel, hin, die sogleich erblaßte und einer Ohnmacht nahe zu sein schien. Aber der Hardesvogt erhob das Glas – sein Gesicht bekam ganz das gewöhnliche Aussehn gutmütiger Schulmerei.

Die Aufmerksamkeit der Gesellschaft war aufs äußerste gespannt: Ob er wohl ein Hoch auf sich selbst und die männliche Braut vorschlagen würde? So fragte man sich selbst; aber es kam ganz anders. Der Hardesvogt erhob seine Stimme und sagte: »Auf Grund allerhöchster Resolution – vom Datum, das das Dokument aufweist – wird hiermit Mariage zwischen dem hoch wohl geborenen Herrn Leutnant von Skow von den Husaren und dem hochwohlgeborenen Fräulein von Schlüssel, die bei ihm sitzt, deklariert – auf das Wohl der Verlobten!«

»Attendez!« rief die Französin und machte eine abwehrende Handbewegung.

Der Hardesvogt setzte sein Glas ab und sich selbst nieder; die Mamsell verschwand.

Wiederum wurde es nun so still, als hätte diese Gesellschaft aus lauter geistigen Wesen bestanden. Daß etwas Wichtigeres mit der Französin im Werden war, das schloß ich um so sicherer daraus, daß der Doktor, der ebenso Hals über Kopf am Morgen gereist, wie er am Abend gekommen war, nach Tisch dem Hardesvogt ein Papier zugesteckt und darauf seine Augen auf sie gerichtet hatte, die dieses Dokument demnach wahrscheinlich angehen mußte. Doch es dauerte keine drei Minuten, bis der Husarenoffizier in Uniform eintrat, der Gesellschaft für den soeben ausgesprochenen Glückwunsch dankte und sich zu seiner Braut setzte. Ich bemerkte mit einiger Verwunderung, daß er keinen Schnurrbart und das Gesicht daher eine weit größere Ähnlichkeit mit dem der Schwester hatte. Doch warum der Hardesvogt ihn Skow genannt hatte, konnte ich nicht fassen, obwohl das ja eine Übersetzung seines französischen Namens ins dänische war.

Es wurde wiederum still, bis Frau Hansen den Husaren fragte: »Wo ist denn Ihre Schwester geblieben, Herr Leutnant?«

»Verzeihen Sie, gnädige Frau!« erwiderte er, »sie kommt nicht wieder. Wenn sie da ist, kann ich nicht da sein – wenn ich da bin, kann sie nicht da sein!«

»Das ist eine dunkle Rede,« murmelte Urold für sich selbst.

Der Küster, der diese Äußerung hörte, sagte laut und dreist: »Ich glaube, ich kann das aufklären: der Leutnant kann sich selbst zum Frauenzimmer machen, wenn er will; hier gibts wohl keine andre Mamsell als ihn.«

»Sehr richtig!« sagte der Doppelgänger, »ich bitte die geehrte Gesellschaft im allgemeinen und Herrn und Frau Kammerrat im besonderen für meine Maskerade um Verzeihung! Aber sie hier« – er küßte mit Zärtlichkeit die Hand der Geliebten – »muß mir als Entschuldigung dienen. Eine Französin können Sie schon wieder bekommen, doch ich nicht eine Braut.

Nun breitete sich die froheste Stimmung über die ganze Gesellschaft aus: die Gesichter bekamen einen klareren Schein, gerade als ob sich die Anzahl der Lichter auf dem Tische verdoppelt hätten. Sogar Urold schien – um eine seiner eigenen Redensarten zu gebrauchen – den edlen antiken Rost abgerieben, Grabkammern, Urnen und Steinmesser sich aus den Gedanken geschlagen zu haben und endlich einmal für die Anwesenden zu leben. Selbst Quintus zeigte mehr von seinen Zähnen, als vielleicht irgendein Lebender bis dahin gesehen hatte.

Mitten in der Lustigkeit erhob sich wiederum unser Hardesvogt und sagte: »Meine Herren und Damen! Meine Funktion als Ehevermittler ist noch nicht zu Ende. Ich habe noch mehr zusammenzufügen, was Menschen nicht trennen dürfen.«

Er ging zu Frau Hansen und flüsterte mit ihr; und sobald er aus der Tür war, ließ sie zwei ihrer Kinder, die unten nebeneinander saßen, aufstehn und reine Teller vor die Plätze beider setzen.

Was sollte nun wohl kommen? Das konnte niemand begreifen, ausgenommen der Kapitän und seine Frau, deren sicheres Lächeln zeigte, daß sie in das neue Geheimnis eingeweiht waren. Seine Offenbarung blieb nicht lange aus. Beide Flügeltüren wurden weit geöffnet, und herein trat der alte Ole mit einem ältlichen Frauenzimmer, in seinem besten Seemannsanzug, und sie ebenso geschmückt wie jemand aus dem Volke vor zwanzig Jahren. Der Kapitän stand auf, nahm Ole bei der Hand und führte ihn an den Platz; seine Frau tat dasselbe mit der Unbekannten. Der Hardesvogt stellte sich hinter das Paar und sagte wie folgt:

»Ich habe abermals das Vergnügen, ein Paar in der langen Ehestandsquadrille aufzustellen. Sie kommen etwas spät; aber sie haben einander auch lange gesucht. Und es nimmt Zeit, wenn man aus Norwegen in der ganzen Welt herumreisen muß, um eine Dame in Jütland zu engagieren. Indessen, wenn man sie auch nicht in einer Galopade amoureuse vorwärtsstürmen sehen wird, wird man ihnen doch gestatten, ein ehrbares Menuett zu treten, bis zu dem großen Kehraus aufgespielt werden wird. Den Tänzer kennen Sie alle. Seine Tänzerin ist dreißig Jahre an einer Stelle gewesen, nämlich bei einer Tante von mir, mehr als Freundin denn als Dienerin. Bei ihrem Tode zog sie im letzten Frühjahr zu mir; doch nun darf ich sie nicht länger des guten Ole wegen behalten. Er beruft sich auf ein älteres Engagement; und ich denke, er kann es beweisen. Alter Kavalier, zeige uns, wie du deine Behauptung begründest!«

Der Seemann erwiderte nicht auf diese Aufforderung, sondern nahm langsam das früher erwähnte Riechfläschchen hervor. Er drehte es ein paarmal, wie um sich selbst zu überzeugen, daß es das richtige war. Darauf neigte er den Kopf zu seiner Dame, sah mit tief herabgezogenen Augenbrauen und einem düsteren, fast bösem Gesicht sie von der Seite an.

»Siri!« brummte er, »kannst du sehn, ich habe es behalten?«

(Beim Laut dieses Namens fuhr es wie ein elektrischer Schlag durch uns, die ihn aus Oles eigener Erzählung so gut kannten. Und sie war es wirklich. Nach dem Tode der Mutter war sie zu der Tante des Hardesvogts in Dienst getreten, deren Mann damals Zollbeamter in Sandefjord war, aber kurz darauf nach Dänemark versetzt wurde.)

Die alte Braut des Seemanns trocknete sich die Augen mit der Ecke ihres Halstuchs, führte darauf die Hand zu einem Kranz unechter Perlen, der weit um den runzligen Hals hing. Sie drehte den Kranz – bis sie eine Seidenschnur fand, an der sie ein kleines goldenes Herz heraufzog. Das öffnete sie und reichte es so mit abgewandtem Blick dem Bräutigam. Er starrte darauf – seine Augen schimmerten.

»Ist das eine Feder,« sagte er, »von Siri – dem Kanarienvogel?«

Die alte Siri nickte langsam und legte die rechte Hand auf die Brust, als wollte sie sich davon überzeugen, daß die alte Liebe noch in dem treuen Herzen lebte.

Es lag etwas Wehmütig-rührendes in dieser späten Wiedervereinigung, etwas, das an jene erinnerte, die wir dort erwarten, wo der Wogengang der Sinnlichkeit zu geistiger Windstille abflauen wird. Es war mir, als reichten sie einander die Hände über das Grab zur Versöhnung mit der Welt und ihren Drangsalen, zur baldigen Reise aus dem »engen und dunklen Hause« dahin, wo »die reinen Herzen in Hoffnung und Glaube harren«, wo die Liebe das einzige ist, was nicht bei all den wahren und falschen Freuden des ersten Lebens zurückbleibt.

Störend, meine Gefühle beleidigend – die ich wohl heilig nennen darf – klang mir die auf Fiedlers Wink einfallende Tanzmusik. Doch das mag so sein: alles hiernieden ist unsicher, flüchtig, selbst jenes Licht in der Seele ist ein Leuchten, das bald von irdischen Dünsten verdeckt wird.

Bald bekam die Musik ihren wirklichen Klang und zog mich mit meiner geliebten Alice in die Reihen der Tanzenden. In lebhaftem Genuß meines irdischen Daseins hielt ich bis in den hellen Tag aus, und erst am Nachmittag verließen wir dieses Haus der Freude und das heiterste Erntefest, dem ich früher oder später beigewohnt habe.


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