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Der junge Heinrich von Ofterdingen erwacht aus seinem Morgentraum von der blauen Blume und spricht mit seinem Vater vom Träumen. Zuerst meint der Alte, »Träume sind Schäume«, und läßt sich aber dann doch herbei, einen Traum zu erzählen, den er einst in seiner Jugend hatte. Und wie seltsam! Auch er träumte damals »von Quellen und Blumen, und unter allen Blumen gefiel mir eine ganz besonders, und es kam mir vor, als neigten sich die andern gegen sie. – Ach, lieber Vater, sagt mir doch, welche Farbe sie hatte, rief der Sohn mit heftiger Bewegung. – Dessen entsinne ich mich nicht mehr, so genau ich mir auch sonst alles eingeprägt habe. – War sie nicht blau? – Es kann sein.« ...
Es ist der alte Erasmus von Hardenberg, Friedrich von Hardenbergs Vater, der das Beste seines Traumes vergessen hatte. Der frühe Tod seiner ersten Frau gab ihm wohl den frommen Traum seiner Jugend zurück, daß er sich unter dem Einfluß der Herrenhuter, deren ›Freund‹ er war, Gott zuwandte, mit der Herzenseinfalt des Kindes wohl, aber auch mit dem geraden Verstande eines gesunden Körpers. Er übte eine Frömmigkeit, die mächtig genug war, seine starke Lebenslust zu bändigen, ohne sie ganz zu zermürben. Tieck hörte einmal, da er bei Hardenberg zu Besuch war, den alten Herrn im Nebenzimmer in nicht eben glimpflicher Weise schelten und fluchen. »Was ist denn vorgefallen?« fragt er besorgt einen eintretenden Bedienten. »Nichts,« sagt der trocken, »der alte Herr hält Religionsstunde.« Das Gewaltsame dieser Natur gab keine Brücke, auf der Vater und Kinder zu einander gekommen und vertraut geworden wären. Deren Seelen hat die Mutter gewartet, die, weich und zart, dem im Hause launisch befehlenden Herrn gehorchend, die Zuflucht der Kleinen vor dem Gestrengen war und ihnen manches Geheimnis vor ihm zu bergen half.
Geduldig sich in ein Schicksal fügend, hatte Auguste – so nannte sie ihr Gatte, da ihm Bernhardine, der wirkliche Name, zu langwierig war – ihrem Manne ein Kind ums andere geboren, neun im ganzen. Als zweitältestes kam nach einer Schwester Friedrich zur Welt, am 2. Mai 1772 auf dem Familiengute Wiedestedt. Den Ort, wo Friedrich seine Kindheit verlebte, beschreibt eine Verwandte der Familie so: »Das alte Haus in Wiedestedt war ebensowohl geeignet, Träumereien zu befördern wie auch als Tummelplatz fröhlicher Kinder zu dienen. Wie schön spielte es sich in dem dämmerigen grossen Hausflur, in den langen Gängen, auf der steinernen Wendeltreppe mit den kleinen runden Fensterscheiben, durch welche das Licht so seltsam gebrochen hereinfiel, und welche vom Turm herab durch die kleine verborgene Tür in den engen Hof geleitete, wo eine Menge alter hochstämmiger Fliederbäume im Frühling so köstlich blühten. Und Haus und Hof belebt von Spukgeschichten, die die alte Kinderfrau so schön zu erzählen wußte.« – Friedrich war krank und schwächlich und zurückgeblieben bis in sein neuntes Jahr, wo ihn schwere Krankheit befiel. Gesund erwacht er eines Tages als ein anderer: sein Körper bekommt Stärke, sein Geist Leben, und bald ist er vor allen andern Kindern Stolz und Freude der Eltern. Sie schicken ihn zu seiner völligen Erholung einem Bruder des alten Hardenberg, der als deutscher Herr und Landkomtur auf Lucklum ein großes Haus führt. Hier sieht Friedrich zum ersten Mal bewegtes Leben um sich. Doch nur ein Jahr währt die Freude: er muß heim, wo es ihm nicht leicht wird, sich wieder an die eintönige Herrnhuter Strenge zu gewöhnen. Der Landkomtur schreibt einige Zeit nach dem Besuche des jungen Friedrich an seinen Bruder: »Es ist mir lieb, daß sich Friedrich wieder findet und ins Gleis kömmt, aus welchem ich ihn gewiß nicht wieder herausnehmen will. Mein Haus ist für seinen jungen Kopf zu hoch gespannt, er wird zu sehr verwöhnt, und ich sehe viele fremde Leute und kann nicht verhindern, daß an meinem Tisch viel gesprochen wird, das ihm nicht dienlich und heilsam ist.« – Friedrich besucht das Gymnasium in Eisleben, wohin die Familie übersiedelte, und 1792 schickt man ihn nach Jena, wo er Jurisprudenz studieren soll.
Man weiß, was Jena damals in Deutschland war; durch Fichte und Reinhold, die hier lehrten, wurde es zur Hauptstadt des Kantianismus, der hier erst seine Macht auf die junge Generation auszuüben begann. Und in Jena brannten um den vergötterten Schiller die Begeisterungsfeuer der schwärmenden Jugend. Hardenberg, der mit den andern schwärmte, schreibt in einem Briefe vom 5. Oktober 1791: »Schillers Blick warf mich nieder in den Staub und hob mich wieder auf. Das vollste, uneingeschränkteste Zutrauen schenkte ich ihm in den ersten Minuten ... denn ich erkannte in ihm den höheren Genius, der über Jahrhunderte waltet... Er wird der Erzieher des künftigen Jahrhunderts werden.« Unter solchen Umständen war in Jena Jura zu studieren nicht leicht, besonders wenn man ein »so ganz unjuristischer Mensch« ist, wie Hardenberg damals von sich sagte, was aber dem Alten in Eisleben gar nicht paßte; und da nun auch Erasmus, Friedrichs jüngerer Bruder, die Universität beziehen soll, so schickt er beide 1792 nach Leipzig, wo sie aber »statt Bücherstaub auf ihre Scheitel zu streuen eine brillante Rolle auf dem Theater der Welt spielen«, wie Friedrich später einmal an Erasmus schreibt. –
Was Hardenberg als Frucht seines Jenaer Aufenthalts nach Leipzig mitbrachte, war nichts an Kunst, manches an Philosophie. Von dieser nicht etwa ein System – er war diesen Beruhigungen des Denkens nie ein Freund – wohl aber die Lust, Probleme zu stellen, die Philosophie zu »vivificieren«, wie später sein Lieblingswort wurde. Die Unruhe vor dem Rätsel der Welt kam ihm aus dieser selbst, nicht aus der Existenz von Philosophie und Professoren, welche sie lehren. Im gelehrten Jena fand Hardenberg Lehrer, vor deren Autorität er sich als ein Jüngling beugte. Im lustigen Leipzig fand er einen Suchenden, der, gleich alt mit ihm und zweifelhafter Jurist wie er, sein Freund ward, sein erster Freund, der ihn durch die Art, wie er sein Leben führte, nicht nur auf den Geist in den Büchern, sondern auch auf den des Lebens wies. Es war Friedrich Schlegel, der nach den ersten im Keime bildenden Einflüssen der Mutter die aufregende Gewalt des männlichen Freundes über Hardenberg gewann, so ganz verschieden er auch von ihm war, und vielleicht gerade wegen dieser Verschiedenheit. In Leipzig zog das Leben zum erstenmal seine aufwühlende Pflugschar durch das Erdreich dieser Seele, das in Jena noch jugendlich jungfräulich war. Der junge Schlegel hatte etwas Dämonisches in seiner Natur, etwas, zu dem man sich mit Widerstreben hingezogen fühlt, wie es wohl zu stande kommt bei gemütlicher Unreife und geistiger Frühreife. »... Sein Geist war in beständiger Gärung; er erwartete in jedem Augenblick, es müsse ihm etwas Außerordentliches begegnen. Ohne Geschäft und ohne Zweck trieb er sich umher unter den Dingen und unter den Menschen wie einer, der mit Angst etwas sucht, woran sein ganzes Glück hängt. Alles konnte ihn reizen, nichts konnte ihm genügen. Daher kam es, daß ihm eine Ausschweifung nur so lange interessant war, bis er sie versucht hatte und näher kannte. Keine Art derselben konnte ihm ausschließlich zur Gewohnheit werden: denn er hatte ebensoviel Verachtung als Leichtsinn. Er konnte mit Besonnenheit schwelgen und sich in dem Genuss gleichsam vertiefen ... Junge Männer, die ihm einigermaßen glichen, umfaßte er mit heißer Liebe und mit einer wahren Wut von Freundschaft. Doch war das allein für ihn noch nicht das Rechte ... Er war mit einer Art von Treuherzigkeit unsittlich.« Dies sind einige Züge von der Art des Dandys am Ausgange des achtzehnten Jahrhunderts, des »modernen Menschen« von damals, wie ihn Schlegel selbst als sein eigenes Bildnis zeichnete, in der Zeit, da er den Hardenberg kennen lernte. Er zeichnete sich so in der Lucinde, wie er war und wie er vorstellen wollte zu sein, nach Wirklichkeiten und Wünschen, diese in der Jugend von nicht geringerem praktischen Werte als die ersten. Man wird in den Untertönen dieses Porträts nicht unschwer auch das des späteren Schlegel erkennen, das dem Helden von Huysman's ›En route‹ so ähnlich ist, nur daß ihm das Wienerische der Metternich-Zeit noch die welken Farben einer etwas dekrepiden lüsternen Frömmigkeit beimischt. – Friedrich Schlegel schreibt an seinen Bruder August Wilhelm über den Eindruck, den Hardenberg auf ihn gemacht hat: »noch ein sehr junger Mensch von schlanker, guter Bildung, sehr feinem Geist, mit schwarzen Augen und herzlichem Ausdruck, wenn er mit Feuer von etwas Schönem spricht – die schnellste Fassungskraft und Empfänglichkeit. Das Studium der Philosophie hat ihm üppige Leichtigkeit gegeben, schöne philosophische Gedanken zu bilden; er geht nicht auf das Wahre, sondern auf das Schöne; mit wildem Feuer trug er mir einen der ersten Abende seine Meinung vor, es sei gar nichts Böses in der Welt, alles nahe sich wieder dem goldenen Zeitalter. Nie sah ich so die Heiterkeit der Jugend.« Indem, was Hardenberg nach Leipzig mitbrachte, »wittert« Schlegel, »was den guten, vielleicht den grossen Dichter macht – es kann alles aus ihm werden, aber auch nichts.« Und dann weiter: »Ich kam ihm entgegen; da er mir denn bald das Heiligtum seines Herzens weit öffnete. Darin habe ich nun meinen Sitz aufgeschlagen und forsche.« Dies ist der junge Schlegel der ›Lucinde‹, der nach Erlebnissen lüstern und in jugendlichem Stolze auf seine psychologischen Kunststücke den neuen Freund anzieht und abstößt, der mit der gemütlichen Perversion des frühreifen Menschen sich und die andern beobachtet, sie mit dem Cynismus einer affektierten Aufrichtigkeit beleidigt, um in Tränen auszubrechen, wenn der Beleidigte sich von ihm abwendet. Auch zwischen Schlegel und Hardenberg kam es vorübergehend zu einem Bruch. Der Grund davon mochte in der Natur Schlegels sein, doch die unmittelbare Ursache ist in den Briefen Friedrichs an Wilhelm nicht erwähnt; er schreibt, 20. November 1792: »Auch sah ich immer deutlicher, daß er [Hardenberg] der Freundschaft nicht fähig, und in seiner Seele nichts als Eigennutz und Phantasterei sei. Ich sagte einmal: Sie sind mir bald liebenswürdig, bald verächtlich ... Die Schwäche seines Herzens wird ewig bleiben und ewig mit schönen Talenten spielen wie ein Kind mit Karten. Ich sagte ihm noch zuletzt: Sie sehen die Welt doppelt; einmal wie ein guter Mensch von fünfzehn, und dann wie ein nichtswürdiger von dreißig Jahren ... Du weisst, ich kann Dolche reden.« Doch die Verstimmung zwischen den beiden ging vorüber und sie wurden Duzfreunde; aber später noch, nach Jahren, schreibt Hardenberg in sein Tagebuch: »Hüte dich vor Schlegeln.« Schlegel löste in dem Jüngling den Künstler; nicht den, der gestaltet – das war dem inneren Erleben und der späteren mild zusprechenden Freundschaft Tiecks vorbehalten – aber den Künstler, der sich zu fühlen beginnt, der aufmerksam auf sich selbst wird. Schlegel hat Hardenbergs Seele die Fenster geöffnet. »Für mich bist du der Oberpriester von Eleusis gewesen; ich habe durch dich vom Baume der Erkenntnis gekostet,« schreibt Hardenberg an ihn nach seinem Abgange von Leipzig. Der erste Dichter und der erste Kritiker der neuen Zeit blieben in Freundschaft verbunden mit dem »Hüte dich!«, das Poesie und Kritik gegen einander heimlich haben.
Denn wie wir es von Novalis sagen müssen, daß mit ihm ein durchaus Neues in die deutsche Literatur kam, so auch von Schlegel, der der erste deutsche Kritiker großen Stiles ist. Die Besten um Goethe suchten in den Künsten die bewusste Absicht des moralischen Prinzipes und waren darin völlig achtzehntes Jahrhundert. Frau von Stein empörte sich über die Erhebung Klärchens, der ›Dirne‹, zu einer Prophetin der Freiheit, und zu Schiller neigte sich alles Alte, da er den Aufklärungsidealen des achtzehnten Jahrhunderts den stärksten Ausdruck – und den geziemenden – gab. Erst die junge Generation gab der Kunst die Formel wieder, die nichts vom Zweckgemäßen und Moralisch-Schönen im Sinne der Durchschnittswerte des tüchtigen Mannes enthält. Und Friedrich Schlegel schrieb zuerst und am besten davon in seiner Frühzeit, bevor dem Sybariten das Fett über die körperliche und geistige Konstitution wuchs und er den Müssiggang als aller Tugenden Anfang feiert und als das »einzige Fragment von Gottähnlichkeit, das uns noch aus dem Paradiese blieb«.