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Niemand wußte, wie Tonet seine Rückkehr in die Taverne des verstorbenen Cañamel eigentlich bewerkstelligte.

Die Gäste sahen ihn eines Tages, an einem der kleinen Tische sitzend, mit Sangonera und anderen Müßiggängern Karten spielen. Und niemand erstaunte. Ganz natürlich, daß Tonet ein Wirtshaus besuchte, dessen Besitzer Neleta war!

Wieder verbrachte der Kubaner dort sein Leben und ließ seinen Vater, der an eine völlige Besserung geglaubt hatte, von neuem in Stich. Doch jetzt gab es zwischen ihm und der Wirtin nicht mehr diese verdächtige, brüderliche Vertraulichkeit, an der Palmar früher Anstoß genommen hatte. Neleta saß in Trauerkleidung hinter dem Schanktisch, noch hübscher durch ein gewisses Etwas von Autorität – ja, sie erschien imposanter, seit sie sich reich und frei wußte. Sie scherzte weniger mit den Gästen, zeigte eine herbe Tugend und nahm die üblichen Späße mit gerunzelter Stirn und zusammengepreßten Lippen auf. Und streifte jemand beim Entgegennehmen seines Glases ihre nackten Arme, so genügte dies, daß sie ihn vor die Tür zu setzen drohte.

Die Kundschaft mehrte sich, seitdem das klägliche Gespenst des aufgedunsenen Cañamel verschwunden war. Der Wein, den die Witwe servierte, mundete, und die kleineren Kneipen von Palmar standen wieder leer.

Tonet wagte aus Scheu vor den Bemerkungen der Leute nicht mehr, mit Neleta wie einst zu verkehren. Samaruca schwatzte schon genug, nun er wieder zu den Gästen der Taverne zählte! Er spielte, trank, setzte sich in Cañamels frühere Ecke, scheinbar unbekümmert, doch von weitem durch diese Frau beherrscht, die nach jedem freundlich schaute, ausgenommen nach ihm.

Paloma, der alte Fuchs, verstand die Lage seines Enkels. Der Junge tat Dienst! Die Witwe konnte nicht ohne ihn auskommen und wünschte ihn ständig vor Augen zu haben, aber niemand sollte es merken ...

Sie, die in der letzten Zeit von Cañamel viel hatte erdulden müssen, hielt sich jetzt schadlos, indem sie Tonet ihre Macht fühlen ließ.

Der arme Teufel, noch ganz betäubt von der Schnelligkeit, mit der der Tod alles regelt, vermochte sein Glück, ohne Furcht vor einem plötzlichen Auftauchen des gereizten Schankwirts in der Taverne weilen zu können, noch nicht recht zu fassen. Angesichts des Reichtums, über den Neleta als Alleinherrin verfügte, zeigte sich Tonet gefügig für alle ihre Wünsche.

Sie bewachte ihn mit einer rauhen Zärtlichkeit, die der Strenge einer Mutter glich.

»Trink nicht mehr!« entschied sie, wenn Tonet auf Sangoneras Betreiben neue Gläser am Schanktisch zu bestellen sich erdreistete.

Und der Enkel des alten Paloma verzichtete gehorsam wie ein Kind auf weitere Getränke und blieb ruhig auf seinem Platz sitzen, von den Stammgästen mit Zuvorkommenheit behandelt, denn allen schien es eine Selbstverständlichkeit, daß nach Ablauf der gesetzlichen Trauerzeit der Kubaner die Herrin des Hauses heiraten und als rechtmäßiger Besitzer hinter dem Schanktisch stehen würde, den er so oft als Liebhaber übersprungen hatte.

Die einzigen, die nicht an diese Lösung glaubten, waren Samaruca und ihr Anhang.

»Neleta heiraten? ... Das wird sie nicht tun, dessen bin ich gewiß! Dieses Frauchen mit der flötenden Stimme ist zu verderbt, um zu handeln, wie Gott es befiehlt. Ehe sie das Opfer bringt, uns das abzutreten, was uns von Rechts wegen ohnehin gehört, wird sie lieber mit dem Kubaner heimlich zusammenleben. Übrigens nichts Neues für sie ... der arme Cañamel hat schlimmere Sachen vor seinem Tode erlebt!«

Angespornt durch das Testament, das ihnen die Möglichkeit zum Reichwerden bot, wie auch durch die Überzeugung, daß Neleta ihnen den Weg nie mittels einer Heirat ebnen würde, umgaben Samaruca und ihre Gefolgschaft das Liebespaar mit einem Netz sorgfältigster Spionage.

Jede Nacht stand das schreckliche Weib, in ihren Manton gehüllt, auf der Lauer, um festzustellen, ob sich Tonet bei Schluß der Taverne unter den Heimkehrenden befand.

Manchmal schlich sie auch Sangonera nach, der unsicheren Schrittes seiner Hütte zustrebte und jählings Samaruca wie einen Geist aus der Dunkelheit auftauchen sah.

»Wo ist Tonet?«

Der Vagabund, ihre Absichten erratend, grinste spöttisch. Ihm mit so etwas zu kommen! Und seine Hände ausbreitend, als wollte er die ganze Albufera umfassen, antwortete er:

»Tonet? ... Dort ... dort – irgendwo auf der Welt!«

In ihren Nachforschungen war Samaruca unermüdlich. Bevor der Tag anbrach, stand sie schon vor Palomas Hütte, und sobald sich Borda zeigte, begann sie eine Unterhaltung mit dem jungen Mädchen, wobei ihre Augen durch die offenstehende Tür das Innere des Häuschens nach Tonet durchsuchten.

Bald war der schönen Wirtin unversöhnliche Feindin auch sicher, daß der junge Mann nachts in der Taverne blieb. Was für ein Skandal! So kurze Zeit nach Cañamels Tode!

Aber sie mußte gültige Beweise haben, und so legte sie sich ganze Nächte lang in der Nähe der Taverne in Hinterhalt, von einigen Verwandten begleitet, die ihr als Zeugen dienen sollten. Immer hoffte sie Tonet vor Tagesanbruch herauskommen zu sehen! Doch die Türen der Taverne öffneten sich während der Dauer der Nacht nicht ein einziges Mal; dunkel und still lag das Haus, als schliefen dort drinnen alle den Schlaf der Unschuld. Am anderen Morgen sah man Neleta ruhig, lächelnd, frisch hinter der Theke, allen geradeaus ins Auge sehend wie jemand, der sich nichts vorzuwerfen hat. Und erst viel, viel später erschien Tonet, wie durch Zauberei, ohne daß irgendein Gast mit Sicherheit gewußt hätte, ob er durch die Tür zur Dorfstraße oder durch die zum Kanal eingetreten war. Sehr schwierig, dieses Paar zu ertappen! Samaruca verzweifelte, da sie Neletas Verschlagenheit erkannte. Um jede Indiskretion zu vereiteln, hatte die Witwe ihre Magd entlassen und durch ihre Tante ersetzt, diese willenlose, ergebene Alte, die dem Temperament ihrer reichen Nichte einen mit Furcht gemischten Respekt entgegenbrachte.

Don Miguel, dem die dunklen Machenschaften der Samaruca zu Ohren gekommen waren, nahm sich den Kubaner mehr als einmal vor.

»Ihr müßt heiraten«, drängte er. »Jeden Tag könnt ihr von der anderen im Testament erwähnten Partei überrascht werden, und dann gibt es einen Skandal, von dem die ganze Albufera reden wird. Wenn auch Neleta einen Teil der Erbschaft herausgeben muß, ist es trotzdem nicht besser, nach Gottes Geboten zu leben, ohne Heuchelei und Lüge?«

Tonet zuckte mit den Achseln. Was konnte er machen? Er wollte ja gern heiraten – aber die Entscheidung darüber lag bei Neleta!

Die Wirtin war die einzige Frau Palmars, die dem rauhen Vikar die Stirn zu bieten wagte. Ohne von ihrer gewohnten Sanftmut zu lassen, beklagte sie sich bitter wegen seiner Zurechtweisungen.

»Niemand kann mir etwas vorwerfen! Warum denn heiraten? ... Ich habe gar kein Bedürfnis nach Männern! Nur muß ich für die Taverne eine männliche Hilfe haben, und dafür nahm ich Tonet, den Jugendfreund. Darf ich mir nicht den aussuchen, der mir das meiste Vertrauen einflößt? Ich weiß schon, wie Samaruca mich anschwärzt, damit ich ihr die Reisfelder des Seligen abtrete – die Hälfte des ganzen Vermögens, zu dem meine Arbeit redlich ihr Teil beigetragen hat! Aber eher trocknet der See aus, als daß dies Weib eine Peseta sieht!«

Mit unverhüllter Heftigkeit brach bei Neleta die Habgier von Generationen elender Fischer durch, der Neid auf Besitzer rentablen Grund und Bodens. Sie erinnerte sich an ihre hungrige Kindheit, wenn sie demütig in der Tür der Palomas darauf wartete, ob Tonets Mutter sich ihrer erbarme; sie erinnerte sich an die Anstrengungen, die es sie gekostet hatte, Cañamel zum Traualtar zu bringen und sich während seines langen Siechtums in Geduld zu fassen. Und jetzt, da sie die reichste Frau von Palmar war, sollte sie wegen ein paar nichtiger Skrupel ihr Vermögen mit Leuten teilen, die ihr immer Schaden zugefügt hatten?

Ihre schönen Reisfelder, um die sie sich mit so vieler Liebe kümmerte, in den Besitz der Samaruca übergehen lassen! Rot stieg es vor ihren Augen auf, ihre Hände krallten sich in derselben rasenden Wut zusammen wie damals in Ruzafa, als sie wie ein wildes Tier auf ihre Feindin stürzte.

Der Reichtum hatte sie geändert. Gewiß liebte sie Tonet, aber bei einer Wahl zwischen ihm und ihrem Vermögen bestand für sie kein Zweifel, daß sie ihren Liebhaber opfern mußte. Früher oder später würde er doch zu ihr zurückkehren – sein Leben war für immer an das ihrige gekettet; gab sie hingegen das kleinste Teilchen ihrer Erbschaft frei, so sah sie es niemals wieder.

Deswegen hörte sie auch mit Entrüstung die zaghaften Vorschläge, die Tonet ihr nachts im stillen Schlafzimmer des oberen Stockwerks machte.

Den Kubaner bedrückte dieses Leben, bei dem sie wie flüchtige Verbrecher ständig auf der Hut sein mußten. Ihn verlangte danach, rechtmäßiger Besitzer der Taverne zu werden, dem Dorf mit dieser neuen sozialen Stellung zu imponieren und denen gleichgestellt zu sein, die ihn geringschätzig behandelt hatten. Außerdem – doch dies verheimlichte er ihr sorgfältig – sagte ihm sein Empfinden, daß er als Neletas Gatte weniger unter ihrem herrschsüchtigen Charakter zu leiden haben würde, unter diesem Despotismus der reichen Frau, die ihrem Liebhaber nach Laune die Tür weisen kann. »Da wir uns doch lieben, Neleta, warum wollen wir denn nicht heiraten?«

Aber im Dunkel des Alkovens raschelte, während Tonet sprach, das Maisstroh der Bettsäcke unter Neletas heftigen, ungeduldigen Bewegungen.

»Fängst du auch an? ...« Ihre Stimme hatte wieder den rauhen Klang der Wut. »Nein, mein Junge! Ich weiß, was ich zu tun habe, und brauche keine Ratschläge. So wie es jetzt ist, ist es ganz gut für uns beide. Fehlt dir vielleicht etwas? ... Verfügst du nicht über alles, als wenn es dir gehörte? ... Nur für das Vergnügen, von Don Miguel getraut zu werden, soll ich die Hälfte meines Vermögens den Dreckhänden Samarucas ausliefern? Und ferner: was hier in Palmar als Reichtum gilt, langt außerhalb der Albufera kaum zu einem bescheidenen Dasein. Ich aber habe gar keine Lust, ewig hier Gläser zu füllen und mich mit Bezechten herumzuplagen; ich will den Rest meines Lebens in Valencia verbringen, in einer schönen Wohnung, wie eine richtige Señora, die von ihren Renten lebt. Deshalb werde ich Geld auch zu viel höheren Zinsen ausleihen als Cañamel, und wenn ich wirklich reich geworden bin, entschließe ich mich vielleicht, Samaruca mit einer Summe abzufinden, die dann für mich eine Lappalie bedeutet. Wenn es so weit ist, dann kannst du mir von Ehe reden, vorausgesetzt daß du dich stets gut führst und mir gehorchst. Aber vorläufig, Recordons! nichts von übereilter Heirat; nichts vom Geldhergeben! Eher lasse ich mir wie eine Schleie den Bauch aufschlitzen!«

Ihre Worte verrieten einen solch unbeugsamen Willen, daß Tonet nichts zu erwidern wagte. Dieser Bursche, dessen Streben immer dahin ging, durch seine Bravour das ganze Dorf einzuschüchtern, duckte sich vor Neleta, um so mehr, da er sich ihrer Liebe nicht mehr so sicher wußte wie im Anfang. Nicht, daß die schöne Witwe seiner überdrüssig geworden wäre, aber ihr Wohlstand gab ihr ein großes Übergewicht. Zudem hatte mit der Gewohnheit, sich während der langen Winternächte in der festverschlossenen Taverne anzugehören, nach und nach für sie das Aufreizende der Gefahr sich verflüchtigt, die mit Angst gepaarte Wollust, die sie zu Lebzeiten Cañamels auskostete, wenn sie sich – stets einer Überraschung gewärtig – hinter den Türen küßten oder außerhalb Palmars heimlich trafen.

Schon vier Monate währte dieses beinahe eheliche Leben, ohne andere Störung als die unschwer zu vereitelnde Überwachung Samarucas, als ein Ereignis eintrat, das Tonet für einen Augenblick die Verwirklichung seiner Wünsche vorgaukelte. Neleta sah nachdenklich und ernst aus. Die senkrechte Falte, die ihre Stirn zwischen den Augenbrauen furchte, deutete unfrohe Gedanken an. Unter den nichtigsten Vorwänden schalt sie mit Tonet, beschimpfte ihn, stieß ihn von sich, beklagte ihre verhängnisvolle Liebe und verfluchte die Stunde der Schwäche, in der sie sich ihm gegeben hatte. Dann wieder fiel sie, von Sinnenlust getrieben, ihrem Geliebten in die Arme und überließ sich ihm rückhaltlos.

Ihre wechselnde Laune und ihre Nervosität machten die Liebesnächte zu Stunden erregter Auseinandersetzungen – Zärtlichkeiten wechselten ab mit bitteren Vorwürfen, und es fehlte wenig, daß der Mund, der eben noch küßte, gebissen hätte. Endlich enthüllte ihm Neleta mit zornigen Worten ihr Geheimnis.

»Ich habe bisher geschwiegen, weil ich immer noch an meinem Unglück zweifelte ... doch jetzt, nach zwei Monaten geduldiger Beobachtung, bin ich sicher ... Ich werde Mutter...«

Tonet erschrak. Aber gleichzeitig fühlte er eine gewisse Genugtuung.

»Was hätte mich das zu Cañamels Lebzeiten geschert? Welche Gefahr lief ich damals?« fuhr sie erbittert fort. »Der Teufel jedoch, der seine Hand im Spiele haben muß, zieht vor, es gerade jetzt passieren zu lassen, da ich alles Interesse habe, unsere Liebe geheimzuhalten!«

Als Tonet sich von der ersten Überraschung erholt hatte, fragte er sie schüchtern, was sie zu tun gedächte, und das leichte Zittern in der Stimme ihres Geliebten offenbarte Neleta seine geheimen Gedanken. Sie brach in ein Lachen aus, in ein lautes hohnvolles Lachen.

»Ha, ha! Schon glaubst du, daß ich dich deswegen heiraten werde! Deswegen?... Da kennst du mich nicht. Heiraten! ... Für alles auf der Welt gibt es ein Mittel!«

Nach diesem Wutausbruch über den Schabernack, den sich die Natur mit ihr erlaubte, sie überrumpelnd, als sie sich vollkommen in Sicherheit dünkte, wurde Neleta wieder sanfter, und beide setzten ihr bisheriges Leben fort, als hätte sich nichts ereignet. Hinfort vermieden sie jede Anspielung auf die Schwierigkeit, die sich vor ihnen auftürmte; sie gewöhnten sich daran – ruhig, da die Lösung noch in weiter Ferne schwebte – und vertrauten auf irgendeinen unverhofften Umstand, der sie retten könnte.

Ohne es ihrem Liebsten gegenüber zu erwähnen, suchte Neleta sich dieses neuen Lebens zu entledigen, das sie wie eine Drohung in ihrem Schöße pochen fühlte.

Die ins Vertrauen gezogene Tante faselte von allmächtigen Medizinen, von denen sie gehört hatte, wenn ihre Freundinnen die vielen Geburten in den armen Familien bekrittelten. Auf Verlangen ihrer Nichte fuhr sie, um verschiedene weise Frauen zu konsultieren, deren obskurer Name sich bei der Hefe des Volkes großer Berühmtheit erfreute, nach Ruzafa, ja sogar nach Valencia, von wo sie mit seltsamen, aus widerwärtigen Stoffen zusammengebrauten Mixturen zurückkehrte, die den Magen umstülpten.

Oftmals entdeckte Tonet auf dem Körper seiner Geliebten übelriechende Pflaster, auf die Neleta fest baute, Breiumschläge aus allerhand Waldpflanzen und Kräutern, die ihre Schäferstunden in einen Brodem von Hexerei hüllten. Aber alle Mittel erwiesen sich als unwirksam. Die Monate vergingen, und Neleta überzeugte sich verzweifelnd von der Nutzlosigkeit ihrer Anstrengungen.

»Das Kindchen hat sich zu fest angeklammert«, seufzte sorgenvoll die Tante. Stürmische Nächte kamen; es schien, als rächte sich ein wiederauferstandener Cañamel damit, einen gegen den anderen zu hetzen.

Neleta weinte haltlos und klagte Tonet an. Er war schuld; seinetwegen sah sie ihre Zukunft gefährdet! Wenn sie dann in der Nervosität ihres Zustandes müde wurde, den Kubaner zu beschimpfen, richtete sie ihre Augen zornig auf den Bauch, der frei von dem Zwang, dem er tagsüber – um Neugierige zu täuschen – unterworfen war, jede Nacht wie ein Monstrum anzuschwellen schien.

Und von Haß erfüllt gegen das Wesen, das sich dort bewegte, hieb Neleta mit geballter Faust bestialisch auf ihren Leib, als wollte sie es in seiner warmen Hülle zerschmettern.

Tonet haßte es nicht weniger, denn er sah gleichfalls in ihm eine Bedrohung. Neletas Habsucht hatte auch ihn ergriffen, und mit Schrecken dachte er an den Verlust der Hälfte dieser Erbschaft, die er als die seinige betrachtete. Alle Mittel, von denen die Fischer unter sich sprachen, empfahl er seiner Liebsten. Bald waren es brutale Versuche, wahre Attentate gegen die Natur, die die Haare zu Berge stehen ließen, bald wunderliche Mixturen, über die man nur lächeln konnte. Doch Neletas Gesundheit machte sich über alles lustig.

Allmählich mußte die Wirtin grausame Torturen erleiden, damit dem Dorf ihr Zustand verheimlicht bliebe. Jeden Morgen schnürte sie ihren Leib so qualvoll ein, daß Tonet zusammenfuhr.

Oft fehlten ihr selbst die Kräfte, und mit wilder Geste ihrem Geliebten die Senkel ihres Korsetts hinhaltend, rief sie: »Zieh ... zieh!«

Und Tonet zog ... auf der Stirn einen kalten Schweiß. Ihn schüttelte es angesichts der Energie dieser kleinen Frau, die dumpf stöhnend die Lippen aufeinanderpreßte und die Tränen ihrer Qual hinunterschluckte.

Sie gebrauchte alle billigen Parfüms und legte Rot auf, um sich in der Taverne frisch und schön wie immer zu zeigen. Trotzdem witterte Samaruca, die wie ein Schweißhund um das Haus herumstrich, etwas Anormales, wenn sie einen rapiden Blick durch die offene Straßentür warf, und auch andere Frauen ahnten mit der Erfahrung ihres Geschlechts, was mit der Schankwirtin vorging.

An den Türen der Hütten stritten sich Samaruca und ihre Verwandtschaft mit denen, die ihren Versicherungen keinen Glauben schenken wollten, so daß die Klatschbasen, anstatt ihre Kleinen nach Wein oder öl zu schicken, sich selbst an der Theke der Taverne anstellten und es mit allerlei Vorwänden erreichten, daß die Wirtin aufstand und sich bewegte – eine Gelegenheit, die schleunigst benutzt wurde, um mit Kennerblick die Linien ihrer übermäßig geschnürten Taille abzuschätzen.

»Es stimmt!« sagten die einen triumphierend zu ihren Nachbarinnen.

»Es stimmt nicht!« schrien andere.

Neleta, die die Ursache dieses eifrigen Kommens und Gehens erriet, begrüßte die Neugierigen mit ironischem Lächeln.

»Muß es bei mir schön sein! Welche Fliege hat euch denn gestochen, daß ihr nicht vorbeigehen könnt, ohne nach mir zu sehen? ... Man könnte wirklich meinen, bei mir sei ein Ablaß für ein ganzes Jahr zu gewinnen! ...«

Aber diese freche Lustigkeit, mit der sie den Gevatterinnen trotzte, verflog, sobald sie nach einem langen Tage von erstickter Qual und erkünstelter Heiterkeit die Taverne schloß. Mit dem Ablegen ihres Fischbeinpanzers verging ihr urplötzlich der Mut – wie einem Soldaten, der bei einer heroischen Anstrengung sich übernahm und erschöpft zusammenbricht. Sie wurde verzagt bei dem Blick auf ihren schwellenden Leib und bei dem Gedanken an die Marter des nächsten Tages.

»Ich kann nicht mehr!«

So sprach sie, die Starke, die Energische, zu Tonet im Schweigen der Nächte – nicht mehr Nächte der Liebe, sondern der Beklemmung und peinlichen Zwiesprache. Verfluchte Gesundheit! Wie beneidete sie die kränklichen Frauen, in deren Schoß niemals Leben keimte! ...

In solchen Momenten des Kleinmuts redete sie davon zu fliehen, ihrer Tante die Taverne anzuvertrauen, sich in ein abseits liegendes Viertel Valencias zu flüchten, bis sie aus ihrer fatalen Lage befreit würde. Doch die Überlegung ließ sie sofort das Nutzlose solcher Flucht sehen. Das Bild der Samaruca tauchte vor ihr auf: fliehen hieß, das, was man bisher nur vermutete, zur Gewißheit stempeln! Wohin konnte sie gehen, ohne daß ihr die grimmige Schwägerin Cañamels folgte? ... Wie sollte es im Dorf nicht auffallen, wenn gerade sie, die ihre Interessen mit solchem Eifer wahrnahm, jetzt, kurz vor dem Beginn der Reisernte, eine Reise ohne triftigen Grund angetreten hätte? ...

Sie mußte bleiben; sie mußte der Gefahr ins Auge sehen! Harrte sie auf ihrem Platz aus, so durfte sie hoffen, weniger beobachtet zu werden. Doch mit Entsetzen dachte sie an die Entbindung, dieses schmerzhafte Mysterium, das ihr, weil es für sie in das Dunkel des Unbekannten gehüllt war, noch grausiger erschien. Diese Angst suchte sie zu vergessen, indem sie so viel Zeit wie eben möglich den Erntearbeiten widmete, mit den Schnittern wegen des Taglohns feilschte und Tonet schalt, der in ihrem Auftrage die Arbeiter überwachte, aber in seinem Boot stets Cañamels Flinte sowie die treue Centella mitnahm und sich mehr damit beschäftigte, Federwild zu schießen, als die Reisgarben zu zählen.

Bisweilen räumte sie den Platz am Schanktisch ihrer Tante ein und wanderte zur Tenne, einer Plattform von hartgestampftem Lehm, die sich inmitten des ihre Felder umspülenden Wassers erhob. Diese Ausflüge brachten ihrer Pein ein wenig Linderung.

Hinter Garbenbündeln verborgen, riß sie ihr Korsett auf und setzte sich neben Tonet auf den riesigen Haufen von Reisstroh. Zu ihren Füßen gingen die Pferde rundum bei der monotonen Drescharbeit, vor ihnen dehnte sich die ungeheure grüne Metallplatte der Albufera, in der sich die roten und bläulichen Berge des Horizonts umgekehrt widerspiegelten.

Hier fühlten sich die beiden glücklicher als in dem verschlossenen Schlafzimmer, dessen Dunkel sich mit Schreckgespenstern bevölkerte. Die Wasser des Sees lächelten süß, während er die jährliche Ernte hergab, die sein Schoß getragen hatte; die Lieder der Schnitter und der Mannschaften in den großen, mit Reis beladenen Barken schienen die Mutter Albufera zärtlich einzuwiegen nach dieser Geburt, die das Leben ihrer Söhne sicherte.

Die heitere Ruhe besänftigte auch Neletas erregten Charakter. An den Fingern zählte sie die Monate ab und rechnete den Zeitpunkt ihrer Entbindung aus. Schon sehr bald mußte das peinliche Ereignis eintreten, das ihr Schicksal ändern konnte – im kommenden Monat, im November ... vielleicht gerade dann, wenn auf dem See die großen Jagden von San Martin stattfanden. Bei dieser Berechnung erinnerte sie sich, daß noch kein Jahr seit Cañamels Tod verstrichen war, und in ihrer unbewußten Perversität, begierig, Genuß und Leben in Übereinstimmung zu bringen, bedauerte sie, daß sie sich Tonet nicht bereits Monate früher hingegeben habe. Ohne Bedenken hätte sie ihre Schwangerschaft zeigen können, indem sie die Vaterschaft des Kindes dem Ehemann zuschob.

Eine schwache Hoffnung keimte auf.

»Tonet ... wer weiß, ob das Kind, nachdem ich so viel Schreckliches erlitten habe, nicht tot zur Welt kommt? Es wäre nicht das erstemal, daß so etwas geschieht.«

Und das Paar, eingelullt in diese Illusion, sprach von dem totgeborenen Kind wie von etwas absolut Sicherem, Unvermeidlichem, während Neleta die Bewegungen in ihrem Leibe belauschte, ganz glücklich, wenn das kleine, dort verborgene Wesen kein Lebenszeichen gab.

»Kein Zweifel, Tonet! Es wird sterben! Das Glück, das mir stets zur Seite stand, wird mich nicht im Stich lassen.«

Das Ende der Ernte lenkte sie von diesen Gedankengängen ab. Die vollen Säcke türmten sich in der Taverne. Der Reis füllte alle Zimmer, häufte sich neben dem Schanktisch, wo er den Gästen den Platz streitig machte, ja, nahm sogar die Ecken von Neletas Schlafzimmer für sich in Anspruch. Sie war begeistert über den Reichtum, den die Säcke einschlossen, war trunken vor Freude über den scharfen Geruch des Reisstaubes, den ihre Nase wollüstig einsog. Und die Hälfte von diesem Schatz hätte der Samaruca gehören können! ... Der Gedanke allein genügte, um Neleta ihre ganze Stärke zurückzugeben.

»Dieses Verheimlichen ist eine unerhörte Marter, aber eher sterben als mich plündern lassen!«

Es tat not, solche energischen Entschlüsse zu fassen. Ihr Zustand verschlimmerte sich; die Füße schwollen an. Sie hatte den unwiderstehlichen Wunsch, sich nicht zu rühren, im Bett zu bleiben – und nichtsdestoweniger stieg sie jeden Tag die Treppe hinunter zu ihrem Platz am Schanktisch, denn der Vorwand einer Krankheit konnte dem Argwohn ihrer Feinde neue Nahrung geben. Ihre Bewegungen waren langsam, wenn sie eine Bestellung ihrer Gäste zum Aufstehen nötigte, und ihr gezwungenes Lächeln war nichts als eine schmerzliche Verzerrung, die Tonet frösteln ließ. Die Taille, wie in einen Schraubstock eingezwängt, schien den starken Fischbeinpanzer sprengen zu wollen.

»Ich kann nicht mehr!« ächzte sie verzweifelt beim Auskleiden und warf sich, das Gesicht nach unten, aufs Bett.

Vor ihr reckte sich ein drohendes Gespenst. Und wenn das Kind nicht tot zur Welt kam? ... Neleta war dessen nur zu sicher – sie fühlte, wie es sich in ihrem Innern mit einer Kraft bewegte, daß ihre sündhafte Hoffnung in Nichts zerfloß.

Die Rebellion der Habgierigen, die unfähig ist, ihren Fehltritt zum Schaden ihres Vermögens zu bekennen, ließ in ihr den verwegenen Entschluß der großen Verbrecher reifen.

»Tonet, unmöglich können wir das Kind einer Frau in irgendeinem entlegenen Dorf der Albufera in Pflege geben. Wir müßten ständig unbedachtsame Äußerungen der Amme fürchten, dann aber auch die Verschlagenheit unserer Feinde, ja, möglicherweise unsere eigene Unvorsichtigkeit . . . vielleicht würden wir das Kleine liebgewinnen und so uns selbst eines Tages die Entdeckung verdanken.«

Neleta überlegte, den Blick auf die aufgestapelten Reissäcke geheftet, mit grauenerregender Kaltblütigkeit.

»Ebensowenig dürfen wir daran denken, das Kind in Valencia zu verbergen. Wenn Samaruca einmal auf der Spur ist, wird sie die Wahrheit selbst in der Hölle suchen!«

Die Wirtin wandte die grünen Augen, denen die körperliche Qual und das Bewußtsein der Gefahr einen halbirren Ausdruck gaben, nach ihrem Geliebten.

»Wir müssen das Kind sofort nach seiner Geburt aussetzen«, fuhr sie fort, »auf jeden Fall! ... Hab' Mut! In der Gefahr erkennt man den Mann. Du bringst es nachts nach Valencia und läßt es da in einer Straße, an einer Kirchentür, irgendwo. Valencia ist groß... Da soll einer erraten, wer die Eltern sind!«

Nachdem sie das Verbrechen vorgeschlagen hatte, suchte die unerbittliche Frau nach Entschuldigungen für ihre Grausamkeit.

»Kann man wissen, ob es nicht ein Glück für das Kind ist, daß wir es aussetzen? Wenn es stirbt, so ist's für alle das beste. Und wenn es am Leben bleibt – wer weiß, in welche Hände es fällt! Vielleicht erwartet es Reichtum – erstaunlichere Dinge hat es doch schon gegeben!«

Und als Bekräftigung ihrer Worte frischte sie die Geschichten aus ihrer Kindheit wieder auf, in denen im Wald ausgesetzte Bankerte von Schäferinnen, anstatt durch die Wölfe zerrissen zu werden, zu Glanz und Macht aufstiegen. Tonet hörte sie voller Entsetzen an. Er versuchte sich aufzulehnen, aber Neletas Blick lähmte seinen stets zu schwachen Willen. Auch fühlte er selbst wieder den Stich der Habgier: Teilen? Neletas Vermögen den Feinden ausliefern?... In seiner Ratlosigkeit schloß er die Augen und vertraute der Zukunft.

»Nur nicht verzweifeln, Neleta! Ich werde schon alles in Ordnung bringen, Es kann ja im letzten Moment noch irgendeine Hilfe nahen.«

Er genoß die momentane Ruhe, ließ die Tage kommen und gehen, ohne noch weiter an die verbrecherische Absicht zu denken.

Die Taverne war jetzt sein einziges Heim. Der Vater hatte mit ihm nach einem kurzen, schmerzlichen Wortwechsel gebrochen.

»Was du tust, Tonet, entehrt die Palomas. Ich kann nicht dulden, daß ein Mann, der auf Kosten einer Frau lebt, ohne mit ihr verheiratet zu sein, sich mein Sohn nennt. Wenn du uns nicht in unserer Arbeit unterstützen willst, wenn du die Schande vorziehst – deine Sache! Aber wir kennen uns nicht mehr. Den Vater hast du verloren!«

 

Die Zeit der großen Jagden, der Feste von Saler, war gekommen.

In allen Zusammenkünften der Kahnfischer sprach man mit Begeisterung von der außergewöhnlichen Menge Federwild, die es in der Albufera gab. Die Jagdhüter, die von fern die Röhrichtinseln beobachteten, an denen sich die Krickenten sammelten, berichteten, wie ihre Zahl rapide zunahm. Große schwarze Flecken bildeten sie auf dem Wasser. Kam ein Boot in ihrer Nähe vorbei, so hoben sie die Flügel und flogen in dreieckigem Schwärm ein wenig weiter, um sich von neuem wie eine Wolke von Heuschrecken niederzulassen, hypnotisiert von dem Gefunkel des Sees und unfähig, diese blinkenden Wasser aufzugeben, wo der Tod sie erwartete.

Die Nachricht von den glänzenden Jagdaussichten hatte sich in der ganzen Provinz verbreitet, so daß man auf eine stärkere Beteiligung als sonst rechnete.

Die große Jagd in der Albufera setzte alle valencianischen Flinten in Bewegung. Es waren uralte Feste, über deren Entstehen der alte Paloma sich informiert hatte, als die Archive der Fischereigenossenschaft sich in seinem Gewahrsam befanden.

»Als die Albufera den Königen von Aragon gehörte und nur die Monarchen hier jagen durften«, erzählte er beim Wein seinen Freunden, »wollte der König Don Martin den Bürgern von Valencia einen Festtag gewähren und bestimmte als solchen den Tag seines Namenspatrons. Jedermann durfte sich an diesem Tage auf dem See tummeln, um mit der Armbrust das Federvieh zu erlegen.«

Dieses Privileg hatte sich Jahrhunderte hindurch erhalten. Heute jedoch gab es vor dem Abschuß zwei Tage, an denen man von den Pächtern des Sees das Recht kaufen konnte, sich einen Platz nach Belieben zu erwählen. Und aus allen Städten und Dörfern der Provinz, ja selbst aus Madrid, eilten die Jäger herbei.

Es fehlte sowohl an Booten wie an Bootsführern. Der alte Paloma, allen Nimrods durch Jahre bekannt, wußte nicht, wie er die vielen Begehren zufriedenstellen sollte. Er selbst war seit langer Zeit von einem reichen Herrn verpflichtet, der die Erfahrung des Alten und seine Kenntnis der Albufera generös bezahlte. Nichtsdestoweniger wandten sich auch andere Jäger an diesen Patriarchen der Kahnfischer, und der Greis rannte kreuz und quer auf der Suche nach Fahrzeugen und Führern für alle, die ihm von Valencia schrieben.

Am Tage vor der Jagd sah Tonet seinen Großvater die Taverne betreten und auf sich zukommen.

»Hör, Tonet! Dieses Jahr wird es in der Albufera mehr Flinten als Vögel geben. Und jetzt, nachdem alle Fischer von Saler, Catarroja und Palmar engagiert sind, bittet mich ein alter Gönner, dem ich nichts abschlagen kann, für einen seiner Freunde, der zum erstenmal an der Jagd teilnimmt, um ein Boot mit Führer. Willst du den Posten übernehmen und mir dadurch aus einer großen Verlegenheit helfen?«

»Nein!« sagte der Kubaner kurz.

Neleta hatte vormittags den Schanktisch verlassen müssen, weil sie die Schmerzen nicht zu ertragen vermochte. Vielleicht konnte der so gefürchtete Augenblick sehr schnell eintreten – wie durfte er also daran denken, die Taverne zu verlassen?

Der Alte aber faßte diese lakonische Weigerung als ein Zeichen von Mißachtung auf. Wütend tobte er los:

»Weil du jetzt reich bist, erlaubst du dir, deinen armen Großvater wie Dreck zu behandeln? ... Alles habe ich geduldet, selbst deine unverschämte Faulheit beim Fang in der Sequiota! Und zu deinen Beziehungen zu Neleta, die den Ruf der Familie schädigen, machte ich die Augen zu! ... Aber mich in der Klemme sitzenlassen, wo es sich um eine Ehrensache handelt! Cristo! Was sollen meine Freunde in Valencia sagen, wenn ich, den sie als Herrn der Albufera ansehen, ihnen nicht einen einzelnen Mann stellen kann? ...«

Seine Niedergeschlagenheit spiegelte sich so deutlich in den alten verwitterten Zügen, daß Tonet Reue empfand. Ihm bei den großen Jagden die Hilfe verweigern, bedeutete für Paloma eine Verhöhnung seines Prestiges und gleichzeitig etwas wie Verrat gegen dieses Land von Schilf und Schlamm, wo sie beide geboren waren.

Resigniert gab der Kubaner nach. Ein wenig tröstete ihn der Gedanke, daß möglicherweise Neleta auch dieses Mal, wie schon häufiger in der letzten Zeit, nur durch vermeintliche Wehen alarmiert wurde.

Beim Einbruch der Nacht langte Tonet in Saler an, um als Bootsführer pflichtgemäß an der Seite seines Jagdherrn der Sitzung beizuwohnen, in der die Plätze zur Verteilung kamen.

Das Dorf Saler, in ziemlicher Entfernung vom See am Ende eines Kanals gelegen, zeigte außergewöhnliches Leben.

In der kleinen Bucht des Kanals, die man den Hafen nannte, lagen zu Dutzenden die schwarzen Fahrzeuge, so dicht gedrängt, daß die dünnen Bordwände knirschend aneinanderscheuerten. Sie bebten unter der Last der riesigen Holzbütten, die am nächsten Tage auf den schon im See eingerammten Pfählen befestigt werden sollten. In diesen Trögen versteckt, lauerten die Jäger auf ihr Wild.

Zwischen den Häusern von Saler hatten wackere Mädchen aus Valencia ihre mit gerösteten Kichererbsen und schimmeligem Mandelkuchen beladenen Tische aufgestellt, über die Kerzen in bunten Papiertüten ihr Licht ergossen, während die Frauen des Dorfs an den Türen der niedrigen Hütten mit dampfenden Kannen hantierten, um »Kaffee mit Schuß« zu verkaufen, bei dem der Rum meist vorherrschte.

Ein ungeheures Menschengewühl verstopfte die Straßen, und jeden Augenblick brachten Wagen und Kutschen noch Nachzügler aus der Stadt. Außer Bürgern Valencias – wie Cowboys in hohen Gamaschen und breitkrempigen Filzhüten –, die sich wichtig in einer Bluse mit zahlreichen Taschen blähten und voller Stolz das gelbe Lederfutteral mit der Flinte zur Schau trugen, sah man auch reiche Bauern aus den Provinzdörfern in bunten Mantas, die Patronentasche am Gürtel, alle aber mit einem Tuch um den Kopf. Teils trugen sie es in Form einer Mitra, teils zu einem Turban zusammengerollt; und wieder andere ließen die Zipfel lang auf den Hals herunterflattern, so daß jeder durch seinen Kopfschmuck den valencianischen Winkel kundgab, aus dem er gekommen.

Die Waffe machte alle Schützen gleich. Sie schwatzten von dem englischen Pulver, von den belgischen Flinten, von den Vorzügen der hahnlosen Jagdgewehre und schwelgten mit der Wildheit der Mauren in der Vorfreude des Pulverrauchs. Ihre Hunde, große, kluge Tiere, gingen von Gruppe zu Gruppe, schnüffelten an den Händen und Hosen der Jäger, um dann unbeweglich neben ihren Herren zu verharren. Eifrig, wie es sich für Festtage gebührt, bei denen man den Lebensunterhalt für einen Teil des Jahres verdient, kochten und brieten derweile die Frauen in den Hütten, die sich sämtlich in Herbergen verwandelt hatten.

Tonet war bis zum »Hause der Infanten« gekommen, einem einstöckigen Gebäude aus Stein, dessen hohes Ziegeldach mehrere Luken durchbrachen. Seitdem die Jäger aus königlichem Geblüt die Albufera nicht mehr aufsuchten, zerfiel dieser Bau aus dem XVIII. Jahrhundert langsam und wurde augenblicklich sogar als Taverne benützt. Schräg gegenüber stand die »Demaná«, mit ihren zwei Stockwerken wie ein Gigant die Hütten überragend, gekrönt von einem Turm, dessen Glocke die Jäger zur Sitzung rief.

Hier trat Tonet ein und warf einen Blick in den unteren Saal, wo die Feierlichkeit stattfinden sollte. Das trübe Licht einer riesigen Laterne blinzelte über den Tisch und die Sessel auf dem Podium, das ein eisernes Gitter vom übrigen Raum abtrennte.

Mitten im Saal scherzte der alte Paloma mit einer Schar fanatischer Liebhaber der Albufera, die ihm seit einem halben Jahrhundert bekannt waren. Eine Aristokratie der Flinte: Reiche und Arme, Großgrundbesitzer, städtische Metzger und kleine Bauern. Sie sahen sich weder den Rest des Jahres, noch suchten sie irgendeinen Verkehr miteinander – trafen sie sich aber hier gelegentlich der großen Jagden, so herrschte unter ihnen eine brüderliche Kameradschaft; sie boten sich Tabak an, halfen sich mit Patronen aus und lauschten, ohne mit der Wimper zu zucken, wenn einer von ihnen ganz wunderbare Jagderlebnisse zum besten gab, die er während des Sommers in den Bergen erlebt haben wollte.

Die Unterhaltung wurde durch das Kommen der Bootsführer unterbrochen, die ihre Jagdherren zum Abendessen abholten. In kleinen Gruppen verließen sie den Saal, um sich hier und dort auf die Hütten zu verteilen, deren Herdfeuer das rote Viereck ihrer Tür auf die Dorfstraße zeichnete.

Die Jäger, aus Angst vor Fieber dem Wasser der Albufera nicht trauend, führten ganze Ladungen von Absinth und Rum mit sich, und sobald die Flaschen entkorkt wurden, durchzog die Luft das scharfe Aroma der Schnäpse.

Noch im Saal hatte der alte Paloma Tonet seinem Jagdherrn vorgestellt. Der korpulente Herr mit der gutmütigen, friedlichen Miene war ein Industrieller aus Valencia, der nach einem Leben der Arbeit es an der Zeit hielt, sich wie ein reicher Mann zu vergnügen. Seine Ausrüstung – Jagdtasche, Flinte, hohe Wasserstiefel, alles funkelnagelneu – schien ihn zu belästigen. Aber wenn sein Blick auf den Patronengurt fiel, der als Bandelier quer über seine Brust hing, lächelte er sanft unter dem enormen Filzhut und verglich sich in Gedanken mit berühmten Wildwesthelden der illustrierten Zeitschriften. Da er zum erstenmal auf dem See jagte, verließ er sich auf Tonets Erfahrung und bat ihn, beim Aufruf einen guten Platz zu wählen.

Alle drei aßen mit Freunden des dicken Valencianers in derselben Hütte zu Abend. Es ging laut zu, wie immer bei solchen Gelegenheiten. Der Rum wurde aus Wassergläsern getrunken, und um den Tisch herum standen wie hungrige Hunde die Einheimischen, lachten über die Witze der Herren, schluckten gierig, was man ihnen anbot, und tranken jeder für sich allein eine Ration, von der die Jäger geglaubt hatten, daß sie für alle ausreichte.

Tonet rührte das Essen kaum an. Wie in einem Traum hörte er das Schreien der Dörfler und den lustigen Widerspruch, mit dem sie das Jägerlatein ihrer Gäste aufnahmen. Er dachte an Neleta, sah sie sich in dumpfem Stöhnen auf dem Boden des Schlafzimmers krümmen, ohne zur Erleichterung ihrer Pein schreien zu dürfen.

Es läutete vom Turm der Demaná, dünn und zitternd wie das Glöckchen eines Eremiten.

»Zweimal«, sagte der alte Paloma, der andächtig die Anzahl der Schläge zählte, denn lieber hätte er eine Messe versäumt, als daß er zur Sitzung zu spät gekommen wäre.

Beim dritten Läuten sprang alles auf und eilte zum Saal, wo das Licht der Laterne inzwischen durch zwei Lampen auf der Estrade noch vermehrt worden war.

Hinter dem Gitter saßen die Pächter der Albufera, zwischen ihnen und der rückwärtigen Wand die lebenslänglich abonnierten Jäger, die allein das Recht auf diesen Ehrenplatz zu beanspruchen hatten. Jenseits des Gitters drängten sich bis auf die Straße hinaus die Bootsführer, die weniger bemittelten Jäger und all das kleine Volk, das die Jagden herbeilockte. Ein Geruch von feuchter Wolle, Branntwein und billigem Tabak schwebte über der Versammlung. Aus dem Dunkel, um das die große, weitgeöffnete Tür ihren Rahmen spannte, hoben sich Flecken von unbestimmter Färbung ab. die hellen Fassaden der benachbarten Hütten.

Trotz der Überfüllung im Saal störte nichts das Schweigen, dessen sich jeder befleißigte, sobald er die Schwelle überschritt. Wenn jemand ein paar Worte fallen ließ, so tat er es leise, zaghaft flüsternd wie in einem Krankenzimmer.

Der Hauptpächter erhob sich:

»Caballeros ...«

Es wurde noch stiller. Die Wahl begann.

Zu beiden Seiten des Tisches standen – Herolde der Macht des Sees – feierlich und starr die beiden ältesten Jagdhüter der Albufera, zwei dürre, sonnenverbrannte Männer. Einer von ihnen rief jetzt die Liste auf, um festzustellen, ob sämtliche Stände bei der morgigen Jagd besetzt sein würden.

»Der Eins! ... Der Zwei! ...«

Nach der Höhe ihrer jährlichen Zahlungen und nach ihrer Anciennität waren alle in diese Liste eingereiht. Die Bootsführer, die die Zahl ihres Jagdherrn aufrufen hörten, antworteten für diesen:

»Weiter!«

Nunmehr kam der große Moment, die »Demaná«, die Forderung des Standorts, die jeder Bootsführer im Einverständnis mit seinem Jagdherrn oder nur auf Grund eigener Erfahrung abgab.

»Der Drei!« sagte einer der Jagdhüter.

Und sofort nannte der Inhaber dieser Zahl den Platz, den er sich erwählt hatte. »Das Dickicht Gottes« ... »Die verfaulte Barke« ... »Der Winkel der Antina!« So vernahm man alle die Namen dieser bizarren Geographie der Albufera, und manchmal waren es gar derbe Bezeichnungen, mit denen die Laune der Fischer die verschiedenen Stellen des Sees belegt hatten. Aber wer hätte hier über sie zu lächeln gewagt? ...

Sobald der zweite Jagdhüter, dessen Stimme wie eine Posaune schmetterte, den Namen des Reviers vernommen hatte, warf er seinen Kopf hoch, um mit geschlossenen Augen, die Hände auf das Gitter gestützt, in die Nacht hinauszubrüllen:

»Der Drei geht zum Dickicht Gottes ... Der Vier geht zur Ecke des Heiligen Rochus ... Der Fünf zum Kack des Barbiers.«

Eine Stunde dauerte die Verteilung, die ein Junge, die Leuchte der Dorfschule, in ein großes Buch eintrug.

Hieran schloß sich die Erteilung der Jagderlaubnis an die kleinen Leute, denen eine Zahlung von zwei Duros das Recht gab, den ganzen See – allerdings in gewisser Entfernung von den Standorten der Reichen – zu befahren und alles, was deren Flinten entkam, abzuschießen.

Mit Händedruck verabschiedeten sich die Jäger. Manche, die erst beim Morgengrauen ihre Plätze aufsuchen wollten, verbrachten die Nacht in Saler, während die Heißsporne sofort zum See aufbrachen, um persönlich das Aufstellen der enormen Bütte zu beaufsichtigen, die sie am morgigen Tage beherbergen würde.

Tonet befand sich schon nicht mehr in Saler. In dem tiefen Schweigen der Demaná hatte ihn eine entsetzliche Angst ergriffen, Angst um Neleta, der niemand zur Seite stand. Unauffällig war er aus dem Saal geschlichen, entschlossen, unverzüglich nach Palmar zurückzukehren, mochte es darob zu noch so erbitterten Auseinandersetzungen mit dem Großvater kommen.

Nahe beim Haus der Infanten rief in dem Dunkel der Nacht jemand seinen Namen ... Sangonera! Ein hungriger und durstiger Sangonera, der vergeblich die Tische der reichen Jäger umkreist hatte. Alles verschlangen die scharfen Zähne der Dörfler!

Tonet durchzuckte eine Idee. Konnte er sich nicht durch Sangonera vertreten lassen? ... Aber dieser Sohn des Sees geriet außer sich darüber, daß man ihm vorschlug, ein Boot zu führen, was ihn schlimmer dünkte, als wenn der Vikar ihn beauftragt hätte, die Sonntagspredigt zu halten.

»Dazu tauge ich nicht. Staken? ... Für niemanden auf der Welt! Außerdem kennst du meine Ansicht: Arbeit ist Teufelswerk.«

Doch der ungeduldige, von Angst gemarterte Tonet war nicht in der Laune, Sangoneras Blödsinn anzuhören.

»Kein Widerwort!« herrschte er ihn an, »oder du fliegst in den Kanal. Wie gut du das Staken verstehst, wenn es sich darum handelt, deine Finger in fremde Netze zu stecken und Aale zu stehlen! ... Deinen hungrigen Magen kannst du morgen vollstopfen wie noch nie, denn mein Jagdherr aus Valencia hat massig Proviant bei sich.«

Als er sah, daß Sangoneras Weigerung durch diese Aussicht ins Wanken geriet, brachte er ihn mit einigen rücksichtslosen Stößen zum Boot des Valencianers, wo er ihm die Obliegenheiten des nächsten Tages auseinandersetzte.

»Wenn der Herr kommt, so bestellst du, daß ich erkrankt wäre und du als Ersatz für mich einträtest.«

Bevor noch der verblüffte Sangonera Zeit fand zu mucksen, stand Tonet schon auf seinem Nachen und stakte mit der Energie der Verzweiflung heimwärts.

Die Fahrt war lang, die ganze Albufera zu durchkreuzen – und das ohne Wind! Doch die Angst, die Ungewißheit spornte ihn an, und wie ein flinkes Weberschiffchen sauste sein kleines Boot über den dunklen Stoff, den die leuchtenden Pünktchen der Sterne sprenkelten.

Nach Mitternacht legte er in Palmar an, erschöpft, die Arme zerbrochen durch diese irrsinnige Fahrt. Wenn doch nur Ruhe herrschen möchte in der Taverne, damit er wie ein Klotz ins Bett fallen könnte! ...

Als er das Boot gegenüber dem Hause festmachte, sah er, daß es wie alle anderen im Dorf verschlossen und still dalag; aber durch die Ritzen der Tür sickerten dünne Lichtfäden.

Neletas Tante, die ihm öffnete, gab ihm sogleich ein Zeichen, vorsichtig zu sein, wobei sie nach einigen Männern am Ofen hinschielte: Bauern von Sueca, alte Stammgäste, denen man das Bleiben nicht verwehren konnte, ohne sie stutzig zu machen. Sie hatten in der Taverne zu Abend gegessen und erwarteten die Morgendämmerung, um von der Jagd zu profitieren.

Tonet begrüßte sie und plauderte noch ein Weilchen mit ihnen, ehe er nach Neletas Schlafzimmer hinaufstieg.

Er fand sie auf ihrem Bett, bleich, das Gesicht entstellt. Einen irren Ausdruck in den Augen, preßte sie beide Hände auf ihre Lenden. Der Schmerz ließ sie alle Vorsicht vergessen, und sie stöhnte so laut, daß die Tante erschrak.

»Sie werden dich hören!« mahnte sie, und Neleta stopfte sich eine Faust in den Mund oder biß in die Bettlaken, um ihr Ächzen zu ersticken.

Tonet wurde von der Alten wieder nach unten geschickt.

»Hier kannst du doch nicht helfen. Unterhalte lieber die Gäste, damit sie nicht achtgeben auf das, was hier oben vorgeht.«

Der Kubaner gehorchte. Über eine Stunde wärmte er sich an der Glut im Ofen und sprach mit den Bauern über ihre Ernte und die glänzenden Aussichten für die Jagd am nächsten Tage. Aber einmal brach die Unterhaltung brüsk ab. Alle hörten einen durchdringenden Schrei, einen Schrei so wild, wie ihn ein Mensch unter Mörderhänden ausstößt. Doch Tonets Gleichmütigkeit beruhigte sie.

»Die Patronin fühlt sich nicht wohl«, sagte er leichthin. Ohne auf die eiligen Schritte zu achten, unter der die Decke über ihren Köpfen erzitterte, unterhielten sie sich weiter. Indes erst als die Mehrzahl, vom Schlaf übermannt, mit dem Kopfe nickte, getraute sich Tonet, die Treppe wieder hinaufzusteigen.

Oben lag Neleta weiß wie Kalk, regungslos, ohne anderes Lebenszeichen als das Blitzen ihrer Augen.

»Tonet ... Tonet!« flüsterte sie.

Aus ihrer Stimme, aus ihrem Blick erriet er, was sie sagen wollte. Es war ein Auftrag, der Befehl eines unbeugsamen Willens. Diesen grausamen Entschluß, der Tonet so oft entsetzt hatte, bekundete Neleta jetzt von neuem, mitten in ihrer ohnmächtigen Schwäche, nach einer Krisis, die sie aufgerieben hatte. Sie sprach langsam, kaum vernehmbar – eine Stimme wie ein ferner Seufzer.

»Der schlimmste Augenblick ist vorbei ... jetzt ist ... die Reihe an dir .. . Laß sehen, daß du Courage hast.«

Die an allen Gliedern zitternde Tante, die vollkommen den Kopf verloren hatte, reichte Tonet, ohne recht zu wissen, was sie tat, ein Wäschebündel, in dem sich etwas Schmutziges, Übelriechendes, etwas von bläulichroter Farbe bewegte.

Als Neleta das Neugeborene so nahe bei sich sah, erstarrte ihr Gesicht. »Ich will es nicht sehen!« keuchte sie vor Angst, daß die Mutter in ihr erwachen könnte.

»Tonet ... bring es weg ... sofort!«

Der Kubaner gab der Tante schnell seine Anweisungen und stieg die Treppe hinunter zum Lokal, wo die Bauern längst schnarchten. Er verließ das Haus – und durch ein Fenster im Erdgeschoß, das zum Kanal ging, empfing er aus den Händen der Tante das kleine Paket.

Sobald sich das Fenster wieder geschlossen hatte und Tonet allein in der Finsternis stand, schwand sein ganzer Mut. Ihm graute vor diesem Bündel Leinen und weichem Fleisch unter seinem Arm. Eine seltsame Nervosität schärfte seine Sinne. Er hörte alle, selbst die unbedeutendsten Geräusche vom Dorf. Und die Sterne ... färbten sie sich nicht rot? ... Der Wind schüttelte einen verkrüppelten Olivenbaum neben der Taverne, und das Rauschen der Blätter ließ Tonet fortrennen, als wäre das ganze Dorf erwacht, als forschte ein jeder, was er unter dem Arm trüge.

Er glaubte, daß Samaruca, stutzig geworden durch Neletas Fehlen am Schanktisch, wie früher mit ihren Verwandten die Taverne umschliche, er bildete sich ein, daß die entsetzliche Hexe am Kanalufer auftauchen würde. Ah, wenn man ihn mit diesem Bündel anträfe! ...

Erbarmungslos warf er das Paket, aus dem ein klägliches Schreien hervorzudringen anhub, in sein Boot, und zur Stange greifend hetzte er mit toller Eile durch den Kanal. Wie ein Verrückter stakte er, aufgepeitscht durch das Jammern des Neugeborenen, in ständiger Furcht, die Fenster der Hütten sich erleuchten zu sehen und von neugierigen Schatten nach dem Zweck und Ziel seiner Fahrt befragt zu werden ... Schnell blieben die stillen Häuschen Palmars hinter ihm. Er fuhr in die Albufera ein.

Der Frieden des Sees, das Halbdunkel einer Sternennacht schien ihm seine Ruhe zurückzugeben. Über ihm der tiefblaue Himmel, zu seinen Füßen die schimmernde Flut, von mysteriösen Schauern bewegt, die den Reflex der Sterne erzittern ließen. Im Röhricht zirpten Vögel; das Wasser murmelte beim Schwanzschlage der sich verfolgenden Fische. Und in diese Geräusche mischte sich dann und wann die jämmerliche Klage des Kindes.

Ganz zermürbt durch diese Nacht unablässiger Fahrten, stakte Tonet sein leichtes Boot weiter in der Richtung nach Saler. Sein Körper war am Versagen, doch das Hirn war wach und arbeitete rascher als die Arme.

Er befand sich schon weit entfernt von Palmar, trotzdem aber beanspruchte der Weg bis Saler noch mehr als eine Stunde. Und von dort bis Valencia zwei weitere Stunden ... Tonet blickte zum Himmel – es mußte drei Uhr sein. In zwei Stunden kam die Morgendämmerung, und die Sonne würde am Horizont stehen, wenn er die Stadt erreichte. Nicht ohne Sorge dachte er auch an den langen Marsch durch die ständig von Gendarmen überwachte Huerta von Ruzafa, an die städtischen Steuerbeamten am Eingang von Valencia, die auf einer Besichtigung des Pakets bestehen würden, an die Frühaufsteher, unter denen vielleicht Bekannte waren. Und dazu dieses durchdringende Schreien, das, stärker und stärker werdend, selbst mitten in der Einsamkeit der Albufera eine Gefahr für ihn bedeutete.

Vor sich sah er einen Weg sich endlos hinziehen, und er fühlte, daß die Kräfte ihn verließen. Nie würde er bis zu jenen frühmorgens noch leeren Straßen gelangen, nie bis zu den Kirchenportalen, wo man ein Kind wie einen lästigen Pack zurückläßt. Es war leicht, in dem stillen Schlafzimmer in Palmar zu sagen: »Tonet, tu es«; aber die Wirklichkeit schickte sich dann an, unüberwindliche Hindernisse zu errichten.

Selbst auf dem See wuchs zeitweise die Gefahr. Sonst konnte man nachts von einem Ufer zum anderen steuern, ohne jemandem zu begegnen; doch in dieser Nacht war er voller Leben. Aus jedem Röhricht, aus jedem Gestrüpp vernahm man die Arbeit unsichtbarer Menschen.

Eine ganze Bevölkerung kam und ging in der Dunkelheit auf schwarzen Kähnen. In dem Schweigen der Albufera, die die Geräusche bis zu erstaunlichen Entfernungen forttrug, dröhnten Hammerschläge zum Einrammen der Pfähle, und wie rote Sterne blitzten an der Oberfläche des Wassers die brennenden Grasbündel, bei deren Licht die Bootsführer ihre Jagdvorbereitungen beendigten. Wie sollte er vorwärtskommen, zwischen Leuten hindurch, die ihn kannten, mit diesem weinenden Neugeborenen, dessen Klage inmitten des Sees unerklärlich erscheinen mußte? ... Ein Boot kreuzte seinen Kurs, in ziemlicher Entfernung, doch in Rufweite. Und ohne Zweifel verwunderte man sich über diese ungewohnten Laute, denn eine Stimme rief herüber:

»Hallo, Kamerad! Was hast denn du bei dir?«

Tonet antwortete nicht, sondern sank kraftlos am Heck des Nachens nieder. Er gab es auf – wie ein Nachzügler, der sich zu Boden wirft trotz der Gewißheit, daß er dem Feind in die Hände fallen wird. Die Angst hielt ihn ab weiterzufahren ... er fühlte sich unfähig, sein Versprechen einzulösen. Mochte man ihn überraschen, mochte man alles erfahren, was geschehen war, mochte Neleta ihre Erbschaft verlieren ... Er konnte nicht mehr! Aber kaum hatte er diesen verzweifelten Entschluß gefaßt, so glomm in ihm eine Idee auf, die sein Hirn versengte. Zuerst ein zuckendes Fünkchen, dann eine glühende Kohle, dann eine lodernde Flamme, die zur Feuersbrunst wurde und seinen heißen Kopf zu sprengen drohte, während ein eiskalter Schweiß seine Stirn bedeckte.

Warum auch weiterfahren? ... Neleta wollte, daß dieses Zeugnis ihres Fehltritts verschwände ... Welches Versteck war dafür geeigneter als die Albufera, wo so oft von der Justiz gesuchte Männer den schärfsten Verfolgungen entgingen? ...

Zwar zitterte er bei dem Gedanken, daß der See dieses gebrechliche Körperchen nicht lebend bewahren würde. Aber war das Leben des Kindes gesichert, wenn er es in irgendeiner Gasse der Stadt aussetzte?...

»Ah, Tote kommen nicht wieder, um die Lebenden bloßzustellen!«

Und Tonet fühlte bei diesen Betrachtungen die Härte der alten Palomas in sich erwachen, die ihre Kinder ohne eine Träne sterben sahen, mit dem egoistischen Gedanken, daß ihr Tod für die Familie der Armen etwas Gutes bedeutet, weil dank ihm für die Überlebenden mehr Brot bleibt.

In einem lichten Moment schämte er sich seiner Schlechtigkeit, der Kaltblütigkeit, mit der er den Tod des kleinen Wesens in Erwägung zog, das zu seinen Füßen lag und jetzt verstummt war, wie erschöpft von dem wütenden Jammern. Einen Augenblick hatte er es in Palmar betrachtet, aber ohne die geringste Rührung empfunden zu haben. Er rief sich das blaurote Gesicht wieder in sein Gedächtnis zurück, die abstehenden Ohren, den spitzen Schädel, den enormen Mund, der sich von einem Ohr zum anderen zog: ein lächerlicher Froschkopf, der ihn kalt ließ. Und trotzdem war es sein Kind! ...

Er dachte wieder an Neletas Vermögen und ihr Bemühen, sich diesen Besitz ungeschmälert zu erhalten. War es klug, seine glücklichen Chancen, die ihm ein faules Wohlleben ermöglichten, aufs Spiel zu setzen, um eine kleine, häßliche Kreatur – in nichts anders als alle Neugeborenen – zu schonen, bei deren Anblick sein Herz auch nicht ein bißchen schneller schlug?

Sein Schwanken war kurz. Mit der Verbrechern eigenen Blindheit, die Grausamkeit und Mut verwechselt, machte er sich Vorwürfe wegen seiner Schwäche, die ihn wie angenagelt am Heck festhielt, während die Zeit verging. Die Dunkelheit lichtete sich mehr und mehr; man ahnte den Anbruch des Tages. Am grauen Morgenhimmel glitten gleich fortlaufenden Tintentropfen ein paar Vogelschwärme vorbei. Weit fort, nach Saler zu, klangen die ersten Schüsse. Von Hunger und Morgenkälte gequält, begann das Kind von neuem zu wimmern.

»Kubaner, bist du es?«

Tonet glaubte von einem fernen Boot diesen Ruf zu hören. Und die Furcht, entdeckt zu werden, brachte ihn auf die Füße. In seinen Augen blitzte ein Fünkchen, ähnlich dem, das manchmal in den grünen Augen Neletas aufglimmte. Er stakte sein Boot ins Röhricht, zwängte sich in die schmalen Wasserarme, die sich kreuz und quer hindurchschlängelten. Von einem Dickicht jagte er ins andere. Der Bug seines Nachens schob Binsen und Schilf beiseite, knickte das widerstrebende Rohr, um sich Bahn zu brechen, und bisweilen ließen die irrsinnigen Stöße ihn knirschend auf beinahe trockenem Grund über dicke Wurzeln rutschen.

Tonet floh, ohne zu wissen vor wem. Mehrere Male beugte er sich zum Boden des Boots, streckte die Hand aus nach dem Leinwandpaket und zog sie sofort wieder zurück. Aber als das Boot mit einem Ruck in einem dicken Wurzelknäuel festsaß, griff der Elende, als wollte er es um ein ungeheures Gewicht erleichtern, nach dem Bündel, das er mit aller Kraft über seinen Kopf nach rückwärts schleuderte.

Das Paket verschwand in dem knackenden Rohr. Die Tücher bewegten sich einen Moment im schwachen Licht der Morgendämmerung wie die Flügel eines weißen Vogels, der tot in die unergründliche Tiefe fällt.

Und von neuem empfand der Schurke die Notwendigkeit zu fliehen. Wie von Sinnen stakte er blindlings los, bis er einen Wasserarm traf. Zwischen hohem Dickicht folgte er allen Windungen des schmalen Kanals, und als sein Boot, frei von jedem Gewicht, endlich in die offene Albufera hinausstieß, atmete er auf.

Am Horizont lag der bläuliche Streifen des anbrechenden Tages.

Gleich darauf streckte sich Tonet auf dem Boden seines Fahrzeugs aus und versank in jenen todesähnlichen Schlaf, der auf die großen Nervenkrisen folgt und fast immer nach einem Verbrechen eintritt.


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