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Der zweite Sonntag im Juli war für Palmar der wichtigste Tag des Jahres. Die Redolins, die Fischplätze der Albufera und ihrer Kanäle, wurden unter den Ortsangehörigen ausgelost – eine traditionelle Zeremonie, der ein Vertreter der Hacienda Name des spanischen Finanzministeriums. präsidierte, dieser mysteriösen Dame, die noch niemand zu Gesicht bekommen hatte, von der aber alles als der Herrin des Sees und der endlosen Pinienwälder der Dehesa mit abergläubischem Respekt sprach.
Um sieben Uhr morgens hatte die kleine Kirchenglocke das ganze Dorf zur Messe eilen lassen. Sicherlich, die Feste zu Ehren des Jesuskindes nach Weihnachten waren prächtig, doch sie waren immerhin nichts als eine Lustbarkeit, während bei der feierlichen Verlosung der Zufall über das Brot des Jahres entschied, ja, über die Möglichkeit, Ersparnisse zu machen.
Daher hörte man die Messe dieses Sonntags mit ganz besonderer Andacht. Die Frauen brauchten nicht wie sonst ihre Männer durch Püffe zur Erfüllung ihrer religiösen Pflicht zu bringen: sämtliche Fischer saßen in der Kirche, versonnen, nachdenklich, denn ihre Gedanken waren mehr beim See als bei der Messe, und vor ihrer Phantasie defilierten die besten Plätze, mit denen sie das Glück vielleicht bedenken würde.
Das Kirchlein mit den gekalkten Wänden und hohen, von grünen Gardinen verhangenen Fenstern konnte nicht alle Gläubigen fassen. Die Tür war sperrangelweit geöffnet, und viele knieten noch auf dem Kirchplatz, den Kopf unbedeckt trotz der Junisonne. Auf dem Altar zeigte das Jesuskind – Schutzherr des Dorfes – sein lächelndes Gesicht und sein bauschiges Röckchen. Die Statue war nicht höher als die Spanne einer Hand; aber ungeachtet ihrer Kleinheit vermochte sie in stürmischen Nächten die Kähne mit Aalen zu füllen und, wie die Frauen Palmars erzählten, noch andere verblüffende Wunder zu wirken.
Von dem Weiß der Wände hoben sich einige alte, aus Klöstern stammende Gemälde ab, auf denen Engel im Schmuck bunter Papageienfedern Scharen von Verdammten – hochrot, als wären sie soeben gesotten – mit ihren flammenden Schwertern vor sich her trieben.
Über dem Weihwasserbecken hing ein Schild, dessen gotische Lettern besagten:
Wie dem Gesetz der Liebe
Verbrechen bleibet fern,
Darfst du auch nicht ausspei'n
Hier im Haus des Herrn.
Es gab keinen Einwohner Palmars, der diese Verse nicht bewunderte, die nach Palomas Behauptung ein Vikar vor mehr als hundert Jahren verfaßt hatte. Während der zahllosen Messen ihres christlichen Lebens hatten alle die Inschrift entziffert, und obschon sie der Poesie ihre Anerkennung nicht versagten, befolgten sie das Gebot absolut nicht, sondern spuckten ohne Rücksicht auf das »Gesetz der Liebe« mit ihrer chronischen Heiserkeit fortwährend aus, so daß sich der Geistliche, wenn ihm das Krächzen zu arg wurde, zornigen Blicks umwandte.
Noch nie hatte Palmar einen Pfarrer gehabt wie den »Pare Miquèl«. Man wollte wissen, daß die Ungnade seiner Vorgesetzten ihn hierher geschickt hatte, doch schien dieses Mißgeschick nach seinem Geschmack zu sein. Ein unermüdlicher Jäger, zog er sofort nach der Morgenmesse seine Hanfschuhe an, setzte eine Fellmütze auf und begab sich, von seinem Hunde gefolgt, in die Dehesa oder trieb sein Boot durch das Röhricht, um Wasserhühner zu schießen.
»Man muß seine Lage ein wenig verbessern!« pflegte er zu äußern. Seine Besoldung betrug nur fünf Reales Etwa eine Mark. täglich, und er wäre ohne diese Flinte, die dank der Toleranz der Flurhüter seinen Tisch jeden Tag mit Fleisch versorgte, wie seine Vorgänger verurteilt gewesen, am Hungertuch zu nagen. Den Frauen imponierte es, daß dieser energische Seelsorger sie rauh, fast mit Hieben leitete; die Männer lobten sein schlichtes Wesen.
Er war ein kriegerischer Pfarrer. Wenn der Alkalde eine Nacht in Valencia zubringen mußte, legte er seine Autorität in die Hände von Don Miguel, der, sehr glücklich über diese Metamorphose, den Zollwächter rufen ließ. »Sie und ich, wir beide sind jetzt die einzigen Behörden im Dorf. Wachen wir über ihm!«
Und den Karabiner auf der Schulter, machten sie die ganze Nacht die Runde, säuberten die Schankstuben von den allzu beharrlichen Zechern und vergaßen nicht, bei ihren Rundgängen einige Male in der Sakristei anzuhalten, wo sie sich ein Gläschen Zuckerrohrschnaps gönnten. Das ging so fort, bis der Morgen graute und Don Miguel die Waffe und sein Schmugglergewand ablegte, um den Fischern die Messe zu lesen.
Während des sonntäglichen Gottesdienstes stellte er, nach seiner Herde schielend, fest, wer am meisten ausspuckte, welche Gevatterin mit ihrer Nachbarin schwatzte, welche Jungens sich bei der Tür knufften, und wenn er sich dann zum Segen umdrehte, blitzte er die Schuldigen mit Augen an, die nichts Gutes verhießen. Er war es auch gewesen, der Sangonera mit Fußtritten aus der Kirche befördert hatte, als er ihn zum dritten oder vierten Male beim Trinken des für die Messe bestimmten Weines ertappte.
Seine Moral war einfach – sie residierte im Magen. Wenn sich daher seine Pfarrkinder im Beichtstuhl wegen ihrer Sünden entschuldigten, legte er ihnen stets dieselbe Buße auf: »Ihr sollt mehr essen! Weil der Teufel euch so gelb und mager sieht, ist er hinter euch her. Wer Fett ansetzt, der sündigt nicht!«
Verteidigte sich dann ein Beichtkind, indem es seine Armut ins Treffen führte, so wurde der Herr Vikar so ärgerlich, daß ein grober Fluch seinen Lippen entfuhr:
»Recordons! ... Armut? Und dabei lebt ihr in der Albufera, dem besten Eckchen der Welt! Mir geht es mit meinen fünf Reales besser als einem Patriarchen ... Nicht mit einem Domherrn in Valencia tausche ich! Hat denn unser Herrgott diese dicken Schwärme von Bekassinen in der Dehesa umsonst geschaffen? Umsonst dies Gewimmel von Feldkaninchen und all das Federwild am See, das zu Dutzenden auffliegt, sobald man nur das Rohr bewegt? Wartet ihr vielleicht darauf, daß euch das Wildbret abgezogen oder gerupft in die Pfanne fällt? ... Da sitzt ihr wie Weiber stundenlang in eurem Boot, um Fische zu fangen, die nach Schlamm schmecken. Ah, mehr Liebe zur Arbeit und mehr Gottesfurcht! Ein richtiger Mann soll sich, Recordons! sein Leben mit Flintenschüssen erobern! ...«
Nach Ostern, wenn ganz Palmar seinen Sack voll Sünden im Beichtstuhl entleert hatte, knallte es überall, im Walde wie auf dem See, und die Flurhüter rasten wie verrückt von einer Seite zur anderen, ohne zu ahnen, woher diese plötzliche Jagdwut rührte.
An diesem Sonntage blieb die Menge nach der Messe auf dem kleinen Kirchplatz. Nicht wie sonst eilten die Frauen heim, um den Topf mit dem Mittagessen aufs Feuer zu setzen; sie folgten den Männern zur Schule, wo die Verlosung stattfinden würde. Außer Cañamels Taverne war die Schule das einzige zweistöckige Gebäude Palmars, in dem unten die Knaben und oben die Mädchen unterrichtet wurden. Durch die offenen Fenster des oberen Stockwerks sah man, wie der von Sangonera unterstützte Alguacil den Tisch mit dem Präsidentensessel aufstellte und für die Mitglieder der Genossenschaft sämtliche Schulbänke hereinschleppte.
Die ältesten Fischer hatten sich unter dem schütteren Blattwerk des verkrüppelten Olivenbaums versammelt. Rings um diesen Baum, der von dem Hügelland der Küste hierher verpflanzt worden war, um in einem Schlammboden zu siechen, spielte sich das bürgerliche Leben der Einwohner ab. Unter seinen Zweigen wurden Fischereiverträge abgeschlossen, wurden Boote getauscht und die Aale an die Wiederverkäufer aus der Stadt verhandelt. Fand jemand in den Gewässern der Albufera eine verlorengegangene Reuse, ein treibendes Ruder oder sonstige Geräte zum Fischfang, so legte er sie am Fuß des Olivenbaums nieder, von wo sie der Eigentümer, der sie an der besonderen Marke als die seinigen erkannte, ohne weiteres abholen konnte.
Alle erörterten die bevorstehende Verlosung mit der bebenden Erwartung von Menschen, die ihre Zukunft dem blinden Ungefähr anvertrauen. Innerhalb einer knappen Stunde würde sich das Schicksal eines jeden für ein Jahr entschieden haben: Elend oder Überfluß. Hie und da sprach man in den Gruppen sehnsüchtig von den sechs besten Plätzen, den einzigen, die viel abwarfen, und die den zuerst gezogenen sechs Namen zufielen. Es waren die Plätze der Sequiota und die in ihrer nächsten Nähe liegenden – der Weg, auf dem die in stürmischen Nächten zum Meer flüchtenden Aale eine Beute der Netze wurden.
Auch die Erinnerung an zwei Glückspilze wurde wieder aufgefrischt, die in einer Nacht, als die vom Sturm gepeitschten Wellen den Boden der Albufera bloßlegten, sechshundert Arrobas in der Sequiota erbeuteten. Sechshundert Arrobas 1 Arroba = 25 Pfund. zu zwei Duros ... Die Augen funkelten gierig. Aber einer sagte dem anderen diese Zahl nur leise ins Ohr aus Angst vor unberufenen Lauschern; denn mit einer ungewöhnlichen Solidarität lehrte man sie von klein auf, daß es zweckmäßiger wäre, sich über schlechte Erträgnisse zu beklagen, damit die Hacienda – jene unbekannte, gefräßige Dame – sie nicht mit neuen Abgaben peinigte.
Paloma sprach von vergangenen Zeiten, als nicht mehr als sechzig Fischer zur Genossenschaft gehörten.
»Wie viele sind wir jetzt?« erboste er sich. »Letztes Jahr nahmen schon mehr als einhundertfünfzig Mann an der Verlosung teil. Wenn das so weitergeht, wird es bald mehr Fischer als Aale geben und unser Privileg, das uns den anderen überlegen machte, nichts mehr wert sein.«
Beim Gedanken an die »anderen«, die Fischer von Catarroja, die mit denen von Palmar die Albufera teilten, wurde der Alte nervös. Er haßte sie – fast ebensosehr wie die Landarbeiter –, weil sie hochmütig betonten, daß sie von den allerersten Fischern am See abstammten.
»Und was trieben die von Palmar?...« hatte er die Rivalen von Catarroja ironisch gefragt.
Man mußte seine Entrüstung sehen, wenn er die Antwort wiedergab. »Oh, Palmar«, sagten sie, »war damals ein mit Palmen bewachsenes Inselchen – daher auch sein Name –, auf dem sich arme Besenbinder aus den Bergen ansiedelten.«
Der Alte schnaufte vor Grimm.
»Ha, wir, die besten Fischer am See, sollen von Besenbindern abstammen? ... Cristo! Aus weniger triftigem Grund gehen Männer mit dem Messer aufeinander los! Verdammte Lügen ... ich weiß Bescheid.«
Als er in jungen Jahren einmal Obmann der Genossenschaft gewesen war, mußte er als solcher den Schatz des Dorfes, das Archiv der Fischer, zu Hause aufbewahren – eine mit alten Folianten, Satzungen, Abrechnungen und Privilegien gefüllte Kiste, die seit Jahrhunderten von Hütte zu Hütte rollte und immer unter dem Bett versteckt wurde, als könnten die Feinde Palmars sie rauben. Und da Paloma nicht lesen konnte – zu seiner Zeit dachte man nicht an solche Sachen –, hatte er den damaligen Vikar gebeten, ihm die alten Pergamente zu entziffern.
»In uralten Zeiten schon schenkte uns der glorreiche Don Jaime den ganzen See. Dann kamen die Privilegien von Don Pedro, Doña Violante und Don Fernando, alles Könige und glückselige Diener des Herrn, die sich der Armen erinnerten. Der eine gab uns das Recht, Stämme zum Beschweren der Netze zu fällen; ein anderer erlaubte uns, das Garn mit der Rinde der Pinien zu färben. Kurz, alle ließen uns etwas zukommen. Dafür begnügten sie sich mit dem fünften Teil vom Fang, während die Hacienda – auch weiter nichts als eine moderne Erfindung der Menschen – alle drei Monate eine halbe Arroba Silber fordert, um uns auf einem See leben zu lassen, der unseren Vorfahren gehörte ... Gibt es anderswo eine solch uralte Organisation wie unsere Genossenschaft? ...«
Dieses Werk der Ahnen begeisterte ihn. Alles für alle! Nicht wie auf dem Lande, wo man die Erde verteilt, wo man Grenzen und Mauern zieht und jeder sagt: »dieses ist dein, dieses ist mein«, als gehörte nicht alles Gott, als könnte man, einmal gestorben, noch andere Erdschollen benötigen als die, welche den Mund für immer schließen.
»Bei uns hat jeder gleiches Recht: der Bummler aus Cañamels Taverne wie der Alkalde, der seine Aale weithin versendet und beinahe so reich geworden ist wie dieser Fettwanst von Wirt. Und für den Armen gibt es ein Fensterchen, wo das Glück nach Laune hereinschlüpfen kann. Ich war bei mehr als achtzig Verlosungen, bekam einmal den fünften, einmal den vierten Platz – nie den ersten; aber ich beklage mich nicht, denn ich brauchte weder zu hungern, noch mußte ich mir den Kopf warm machen, um meinen Nächsten auszuziehen, wie das bei den Städtern üblich ist ... Und einmal im Jahr haben wir den großen, gemeinsamen Fischzug durch den ganzen See, dessen Ertrag gleichmäßig zwischen allen verteilt wird. So sollen die Männer miteinander leben, wie Brüder. Gott sieht uns ...
Umsonst«, schloß der alte Paloma seine Ausführungen, »bat der Herr, als er auf Erden wandelte, nicht an Seen gepredigt, die mehr oder weniger wie die Albufera aussahen, und seine Jünger statt unter den Bauern unter Aal- und Schleifischern gewählt ...
Während der Alkalde mit den Beisitzern am Kanal die Barke erwartete, die den Vertreter des Finanzministeriums bringen mußte, wuchs die Menge auf dem Kirchplatz immer mehr an, denn auch die Notabilitäten der Umgegend trafen ein, um die Feierlichkeit der Zeremonie durch ihre Gegenwart zu erhöhen. Gefolgt von einem robusten Burschen, der die Archivkiste auf der Schulter trug, erschien der Obmann, ein wenig später Padre Miguel in Soutane und Käppi.
Auch Cañamel wohnte, trotzdem er als Zugewanderter kein Los ziehen durfte, stets dem festlichen Akte bei. Manchmal, wenn ein armer Teufel, der nur wenige Netze und einen kleinen Nachen besaß, den Platz an der Sequiota gewann, bot sich ihm die Möglichkeit, den Ausfall der Schmugglergeschäfte etwas wettzumachen.
Neleta, in ihrem Sonntagsstaat einer Señorita aus Valencia ähnelnd, begleitete ihn, und sofort höhnte die Samaruca in einem feindseligen Chor über den hochgetürmten Haarknoten, das rosaseidene Kleid mit der silbernen Gürtelschnalle und über den »Geruch nach schlechtem Weib«. Die graziöse blonde Frau parfümierte sich sehr stark, seit sie über ein Vermögen verfügte, gerade, als wollte sie dadurch dem Dunst des Sees entgehen. Wie alle Frauen der Insel wusch sie selten ihr Gesicht, unterließ aber nie, eine dicke Puderschicht aufzulegen, und bei jedem Schritt atmeten ihre Kleider eine Moschuswolke aus, die von den Nasen ihrer Kunden glückselig eingeschnüffelt wurde. Plötzlich geriet die Menge in Erregung.
»Sie kommen! ... Sie kommen!«
An ihnen vorbei schritt der Alkalde mit dem Zeichen seiner Würde, dem quastengeschmückten Stock, seine Beigeordneten und der Delegierte des Ministeriums – ein armseliger, kleiner Beamter, den die Fischer jedoch in ihrer konfusen Vorstellung seiner ungeheuren Macht über die Albufera voller Bewunderung anschauten, aber auch mit heimlichem Haß: schluckte doch dieser Grünschnabel die halbe Arroba Silber!
Langsam erklommen alle hintereinander die schmale Treppe. Rechts und links der Tür verwehrten zwei Zollwächter mit quergehaltenem Gewehr Frauen und Kindern den Eintritt. Manchmal indes wurde das Drängen der Buben so stark, daß die beiden ein paar derbe Schläge austeilen mußten. Oben hatten die Bänke nicht genügt; sogar auf den Balkons standen die Fischer eng nebeneinander. Die ältesten trugen die althergebrachte rote Mütze, andere das Kopftuch mit den lang über den Nacken hängenden Zipfeln oder den Strohhut aus Palmblättern. Neben Hanfsandalen gab es viele nackte Füße. Und von dieser schwitzenden, zusammengepferchten Masse stieg der feuchte, stickige Geruch von Wesen auf, die ewig im Schlamm leben.
Auf dem Podest hatte das Pult des Lehrers dem Präsidententisch Platz gemacht. In der Mitte saß der Finanzbeamte, seinem Schreiber die Einleitung des Aktenstücks diktierend, und zu seinen beiden Seiten der Vikar, der Alkalde, der Obmann und andere Honoratioren, unter ihnen der Arzt von Palmar, ein armer Paria der Wissenschaft, der sich für sechs Reales zweimal in der Woche zum Dorf einschiffte, um die Fieberkranken in Bausch und Bogen zu kurieren.
Vor dem Platz des Obmanns lagen die Rechnungsbücher der Genossenschaft, an Stelle der Buchstaben mit wunderlichen Hieroglyphen ausgefüllt. So war es von den des Schreibens unkundigen Vorfahren eingeführt worden, und dabei blieb man. Jedem Fischer gehörte ein Blatt. Doch stand nicht sein Name am Kopf der Seite, sondern die Hausmarke, die er an seinen Booten und Netzen anbrachte: ein Kreuz, eine Schere, ein Entenschnabel, ein Halbmond ... Und der Schöffe brauchte nur einen Blick auf die Zeichen zu werfen, um gleich sagen zu können: »Hier ist die Abrechnung von dem und dem.« Auf dem Rest der Seite befanden sich nichts als Striche und wiederum Striche, jeder gut für einen Monatsbeitrag. Die alten Fischer priesen dieses Buchhaltungssystem, das jedem die Revision ermöglichte und bei dem Betrügereien ausgeschlossen waren, wie sie in diesen modernen, mit Zahlen und enger Kritzelei gefüllten Büchern, die nur für gebildete Herren verständlich sind, vorkommen.
Der Obmann, ein pfiffig aussehender, vierschrötiger Fischer mit ganz kurz geschorenem Haar und unverschämten Augen, stand auf, räusperte sich und spuckte verschiedene Male aus, worauf die Honoratioren am Präsidententisch sich zurücklehnten und leise miteinander zu plaudern begannen, da nun interne Angelegenheiten der Genossenschaft zur Erörterung gelangten.
»Caballeros!« begann der Schöffe, und sein herrischer Blick forderte Schweigen. Doch von unten herauf drang ein solcher Lärm, daß der Alkalde seinen Alguacil aussenden mußte, um Frauen und Kinder zur Ordnung zu rufen.
»Caballeros! Klare Worte! Mich habt ihr zum Obmann gemacht, damit ich von jedem seinen Beitrag einziehe und alle Vierteljahre der Hacienda fünfzehnhundert Pesetas bezahle. Aber so wie bisher kann es nicht weitergehen! Viele Mitglieder sind ihre Beträge schuldig, und die besser Situierten müssen dafür aufkommen. Um solche Unordnung in Zukunft zu vermeiden, schlage ich vor, daß alle mit ihren Zahlungen im Rückstand Befindlichen von der Verlosung ausgeschlossen werden.«
Ein Teil der Versammlung nahm diesen Vorschlag beifällig auf, verbesserten sich doch so ihre Aussichten, einen der guten Fischplätze zu erlangen. Aber die Mehrheit – alles Leute von armseligem Äußern – protestierte laut, so daß der Schöffe sich minutenlang nicht verständlich machen konnte.
Als wieder Ruhe eintrat, erhob sich ein blasser Mann mit krankhaft glänzenden Augen.
»Ich gehöre zu den Rückständigen, und vielleicht schuldet keiner so viel wie ich. Bei der vorjährigen Verlosung erhielt ich einen der schlechtesten Plätze, auf dem ich nicht einmal so viel fischte, um meine Familie ernähren zu können. Zweimal in einem Jahr stakte ich nach Valencia mit zwei Kindersärgen, weißen Särgen mit goldenen Kanten, für die ich mir erst Geld leihen mußte. Sie waren allerliebst – aber kann ein Vater weniger tun, wenn seine Kleinen für immer von ihm fortgehen? ... Sie starben, so sagte mir Padre Miguel, weil sie zu schlecht ernährt wurden! Dann packte mich wochenlang, monatelang die Terciana. Ich zahlte nicht, weil ich nicht konnte, und deswegen wollt ihr mir mein Recht auf das Glück nehmen?«
Die Antwort auf seine langsam vorgebrachte, immer wieder von Fieberschauern unterbrochene Erklärung kam sofort.
»Nein! Und nochmals nein!« rief eine energische Stimme.
Paloma, helle Entrüstung in den blitzenden Äuglein, war aufgesprungen und wetterte los, jedes Wort mit Kernflüchen aus seinem Gedächtnis unterstreichend. Seine alten Freunde zupften an seinem Gürtel, um ihn auf seine Respektlosigkeit gegen die Señores am Präsidententisch aufmerksam zu machen. Doch der Greis wehrte sie unwirsch mit dem Ellenbogen ab.
»Einen Dreck scheren diese Einfaltspinsel mich, der ich mit Königinnen und Helden verkehrt habe! ... Ich spreche, weil es mein Recht ist. Cristo! Ich bin der älteste Fischer vom See, aus meinem Munde sprechen eure Väter und Großväter, und was ich sage, hat Gewicht! Die Albufera gehört allen. Verstanden? Und es ist schamlos, einem Mann das Brot zu nehmen, weil er die Hacienda nicht bezahlt. Bedarf diese Dame vielleicht der elenden Pesetas eines Fischers, um zu Abend essen zu können? ...«
Die letzte Bemerkung verwischte den peinlichen Eindruck, den die Klage des Fieberkranken hinterlassen hatte. Von den hinteren Bänken ertönte unterdrücktes Lachen.
»Auch ich bin Obmann gewesen«, fuhr Paloma fort. »Damals hieß es: harte Faust gegen die Arbeitsscheuen, aber offene Hand für die Armen. Cordones! Nicht einmal Mauren würden so infam handeln! Wir sind Brüder, und der See gehört uns gemeinsam. Daher: alle Mann zur Verlosung!«
Tonet gab das Signal zu dem lebhaften Beifall, während sein Großvater fast zusammenknickte unter zärtlich gemeinten, aber sehr kräftigen Schlägen, die von Seiten der dankbaren Armen auf seine Schulter hagelten.
Entmutigt schloß der Obmann seine Bücher. Es war immer dasselbe! Mit diesen Alten, die ewig jung blieben, konnte man keine Ordnung in die Genossenschaft bringen. Und mürrisch legte er den Lederbeutel mit den Losen auf den Tisch.
»Ich erbitte das Wort!« klang es von der Tür.
Die Nächststehenden machten Platz, und allgemeines Grinsen begrüßte das Auftreten Sangoneras, der sich bemühte, eine der Zeremonie würdige Haltung anzunehmen.
»Was willst du?« fragte ihn kurz der Schöffe, dessen üble Laune durch das Erscheinen des Vagabunden noch erhöht wurde.
»Was ich will? ... Nur wissen, warum mein Name nicht in jedem Jahr auf der Ziehungsliste steht. Bin ich nicht in Palmar geboren? Stamme ich nicht von Fischern ab?«
Die Anmaßung dieses Tunichtguts war unerhört.
»Habt ihr, dein liederlicher Vater und du, ein einziges Mal in eurem Leben ein Netz angerührt?« schnaubte der wütende Obmann. »Hat einer von euch je einen Centavo Beitrag gezahlt? ... Die Marke der Sangonera, ehrenhafter Fischer anderer Zeiten, ist seit vielen Jahren in unsern Büchern gelöscht. Also 'raus mit dir, du Faulenzer!«
Gezwickt und gestoßen wurde Sangonera unter Trampeln und Johlen der jüngeren Fischer zur Tür zurückbefördert.
Über dieses unziemliche Verhalten entrüstet, sprang der Vikar auf.
»Was bedeutet das? Wo bleibt der Respekt vor euren Obern?« Kampfbereit beugte er den Oberkörper vorwärts. »Soll ich mal herunterkommen und dem ersten besten das Maul stopfen?«
Augenblicklich herrschte Ruhe. Voll Stolz auf seine Macht setzte sich Don Miguel wieder auf seinen Stuhl, wobei er seinem Nachbarn, dem Leutnant der Zollwächter, zuflüsterte:
»Sehen Sie? Mit dieser Herde würde keiner so gut fertig werden wie ich. Man muß ihr nur dann und wann das Ende vom Hirtenstab zeigen.«
Aber noch wirksamer als des Vikars Drohung war die Bewegung des Präsidenten gewesen, der von dem Obmann eine Liste in Empfang nahm, um festzustellen, ob sämtliche Mitglieder sich eingefunden hatten. Sie enthielt die Namen aller Fischer Palmars, ganz gleich, ob jemand das Gewerbe selbständig ausübte oder seinem Vater half – es genügte, volljährig zu sein.
Der Präsident verlas die Namen, und jeder Fischer antwortete: »Ave Maria Purisima« – in salbungsvollem Ton wegen der Gegenwart des Pfarrers. Einige jedoch, Widersacher von Don Miguel, begnügten sich mit einem »Weiter« und freuten sich über sein ärgerliches Gesicht.
Dann entleerte der Obmann den schmutzigen Ledersack – fast so alt wie die Genossenschaft selbst. Über den Tisch rollten die Lose, hohle Kugeln aus schwarzem Holz, mit einem Loch versehen, in das ein Zettelchen mit dem Namen gesteckt wurde.
Einer nach dem anderen traten die Fischer vor, um ihre Kugel und ein Papierchen in Empfang zu nehmen, auf das man klugerweise schon den Namen des Betreffenden notiert hatte.
Ah, zu welch listigen Vorsichtsmaßregeln ließ der Argwohn diese armen Menschen greifen! ... Wer nicht lesen konnte, befragte einen befreundeten Schriftgelehrten, ob der Name auf dem Zettel auch stimmte, war jedoch erst nach mehreren Konsultationen überzeugt. Und nun kam der große Trick: sie stellten sich mit dem Gesicht zur Wand und klemmten mit dem Papierröllchen noch heimlich ein Strohhalmstückchen, ein schmales Streifchen Pappe oder sonst ein Erkennungsmerkmal in die Kugel hinein, das irgendeine Manipulation mit dem Lose verhüten sollte. Doch die Besorgnis wich erst, wenn die Kugel in den Ledersack versenkt worden war – dieser aus Valencia gekommene Señor rief in ihnen das ganze Mißtrauen wach, mit dem die ländliche Bevölkerung einem Beamten des Staates stets begegnet. Der feierliche Akt begann. Don Miguel zog sein Käppchen, welchem Beispiel sämtliche Fischer folgten. Dann sprach er, wie es die Sitte erheischte, ein »Salve Regina«. Das brachte Glück, und während einer guten Weile murmelten die Fischer, die Mütze in der Hand, das Gebet an die Himmelskönigin nach.
Totenstille! Der Präsident schüttelte den Ledersack so kräftig, daß das Klappern der Kugeln in dieser Stille wie ferner Hagelschlag klang. Von Arm zu Arm, über die Köpfe hinweggereicht, gelangte ein Kind zur Estrade und tauchte seinen Arm in den Beutel. Bebende Erwartung. Aller Augen hingen starr an der schwarzen Kugel, aus der der Beamte langsam das Papierröllchen hervorzog.
Er verlas den Namen, und sekundenlang konnte man unter den Anwesenden, die nur an die Spitznamen gewöhnt waren und sich erst schwerfällig des ungebräuchlichen Familiennamens erinnerten, eine gewisse Unschlüssigkeit bemerken. Wer war diese Nummer eins? ...
Doch schon war Tonet mit einem Satz aufgesprungen. »Hier«, schrie er, »hier!«
Ah ... Palomas Enkel? ... Wie das Glück diesen Burschen verfolgte! ...
Seine nächsten Nachbarn gratulierten ihm, nicht ohne Neid; aber er blickte ängstlich, wie jemand, der noch nicht an sein Glück glaubt, zum Präsidenten. »Kann ich mir einen Platz aussuchen?« Auf das bejahende Nicken hin rief er:
»Ich nehme die Sequiota!«
Kaum sah er, daß seine Angabe vom Schreiber eingetragen wurde, so schoß er wie ein Blitz aus dem Zimmer, stieß rechts und links alles beiseite, schüttelte die Freundeshände ab, die sich ihm glückwünschend entgegenstreckten.
Auf der Plaza fieberte die Menge in derselben Erregung wie die Fischer oben. Es war üblich, daß die ersten Gewinner sich sofort zeigten und ihren Hut zum Zeichen ihres Triumphes in die Luft warfen. Sobald man daher Tonet die Treppe beinahe hinunterfallen sah, erhob sich ein ungeheures Geschrei.
»Der Kubaner!... Er ist es!... Der Kubaner zog die erste Nummer!«
Die Frauen stürzten auf ihn los und umhalsten ihn.
»Wie würde sich deine Mutter gefreut haben, wenn sie das noch erlebt hätte!« weinten sie vor Rührung.
Und der durch diese Ovationen etwas verwirrte Tonet umarmte in dem Durcheinander von Röcken instinktiv Neleta, deren grüne Augen ihm freudig zulächelten.
Der Kubaner wünschte seinen Triumph zu feiern. Kistenweise ließ er Brauselimonade und Bier für die Señoras heranschleppen. Alle sollten sie trinken, soviel wie sie wollten ... Er würde zahlen!
Im Nu verwandelte sich der Kirchplatz in ein Lager. Sangonera mit seiner stets wachen Aktivität, sobald es sich ums Trinken handelte, brachte, den Wünschen seines großzügigen Freundes entgegenkommend, sämtliche hartgewordenen Biskuits aus den Glasschalen von Cañamels Schanktisch und rannte von einem zum anderen, um die Gläser zu füllen, nicht ohne sich selbst häufig zu bedenken.
Wieder flogen Hüte in die Luft: die Gewinner der anderen guten Plätze kamen herunter. Doch nur ihre Freunde und Familien begrüßten sie mit einem Vivat; die ganze Aufmerksamkeit gehörte der Nummer eins, dem freigebigen Tonet.
Der alte Paloma mußte bei jeder Gruppe haltmachen, um Glückwünsche in Empfang zu nehmen. Heute war er mit seinem Enkel restlos zufrieden. »Hi, hi! ... Die Taugenichtse haben, wie mein Vater schon sagte, stets Dusel! Beteiligt sich der Bengel zum erstenmal an der Ziehung und holt sich das große Los. Na, ganz schön für die Familie.«
Und er begeisterte sich bei der Idee, daß er ein Jahr lang der erste Fischer der Albufera sein würde.
In seiner freudigen Rührung näherte er sich seinem Sohn, der wie gewöhnlich ernst und vergrämt beiseitestand. Warum war Toni nicht froh, jetzt, da das Glück seinen Einzug in ihre Hütte gehalten hatte? Man mußte es sich zunutze machen ... er jedenfalls würde dem Kleinen helfen, der doch nicht viel vom Fischfang verstand. Und es sollte ein glänzendes Geschäft ...
Dem Alten stockte die Rede angesichts der Gleichgültigkeit, mit der sein Sohn seine Worte aufnahm.
»Ja, es ist ein Glück, den ersten Platz zu bekommen«, begann Toni endlich, »vorausgesetzt daß man über die nötigen Geräte verfügt. Doch tausend Pesetas braucht man allein für die Netze. Haben wir vielleicht diese Summe?« Paloma lachte. Pah, da würde man sich ein Darlehen geben lassen!
Aber Toni zuckte schmerzlich zusammen, als er das Wort Darlehen hörte. »Ich habe genug damit zu tun, meine Schulden zu tilgen, in die mich die früheren schlechten Ernten stürzten, und denke nicht daran, mir wegen des Fischfangs neue Sorgen aufzubürden. Mein einziger Wunsch ist, meine Felder bald aus dem Wasser auftauchen zu sehen ...«
Der greise Fischer drehte seinem Sohne den Rücken. Und so etwas war Blut von seinem Blut! ... Besser doch noch Tonet, trotz all seiner Faulheit! Und der Alte machte Miene, sich wieder zu diesem zu gesellen, damit sie beide ausklügelten, wie man sich am besten aus der Verlegenheit ziehen konnte. Der Herr der Sequiota würde das Geld schon finden!
Tonet, von Freunden umdrängt, von den Frauen umschmeichelt, fühlte, wie ihn jemand am Ärmel zupfte. Es war Cañamel, der ihn mit liebevollen Blicken einzuhüllen schien. Er hatte mit Tonet ein paar Worte zu reden . . . eine Sache, die er nicht bis morgen verschieben möchte.
Von den neugierigen Blicken der Menge gefolgt, gingen die beiden ein wenig abseits. Der Schankwirt steuerte ohne Umschweife auf den Kernpunkt los.
»Tonet, dir fehlen die Mittel, um die Sequiota auszubeuten. Stimmt das?... Nun gut, ich, dein aufrichtigster Freund, bin bereit, dir zu helfen. Du hast den Platz, ich habe das Geld. Machen wir die Sache gemeinsam.«
Und als Tonet, der nicht wußte, was er sagen sollte, schwieg, setzte ihm Cañamel, in Angst, das lukrative Geschäft zu verlieren, noch dringlicher zu. »Du denkst doch etwa nicht daran, dir Geld bei diesen französischen Halsabschneidern in Catarroja zu leihen? Schnüren sie deinem Vater nicht die Kehle zu mit ihren Wucherzinsen? ... Bei mir hast du es mit deinem besten Freund zu tun, denn nie, zum Teufel, kann ich vergessen, daß Neleta in eurer Hütte groß wurde und daß sie dich wie einen Bruder liebt. Und wenn du zu mir kein Vertrauen hast, will ich sie rufen, damit sie dir sagt, wo dein Vorteil liegt. Soll ich sie rufen?«
So verlockend auch das Anerbieten klang, schwankte der Kubaner doch, ob er es annehmen sollte. An die ernsten Ratschläge seines Vaters denkend, ließ er sein Auge unschlüssig über die Plaza schweifen. Da sah er, wie der Großvater ihm eifrig mit dem Kopfe zunickte.
Paloma, der selbst schon die Hilfe des reichen Cañamel in Betracht gezogen hatte, ahnte, was dieser so eifrig seinem Enkel zutuschelte. Und er ermutigte Tonet durch neue Zeichen.
Der Kubaner entschied sich. Neletas Gatte, der in Tonets Gesicht die Zustimmung las, beeilte sich, sofort die Bedingungen des Vertrages festzulegen. »Also, ich gebe alles notwendige Geld, und du übernimmst mit deinem Großvater die ganze Arbeit. Der Gewinn geht zur Hälfte an mich. Einverstanden?...«
»Einverstanden!« Die beiden Männer bekräftigten ihr Abkommen durch Handschlag, um dann Neleta und den alten Paloma herbeizuwinken. Der Vertrag sollte durch ein gutes Essen in der Taverne gefeiert werden. Schnell wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht, daß der Kubaner und Cañamel Halbpart machen würden.
Die Samaruca mußte auf Befehl des Alkalden mit Gewalt fortgeschafft werden. Wie eine Besessene tobte sie auf der Plaza umher und schrie unter Anrufung ihrer toten Schwester aus vollem Hals:
»Dieser schamlose Cañamel! Um eines fetten Geschäfts willen entblödet er sich nicht, den Liebhaber seiner Frau ins eigene Haus zu setzen! ...«