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VI. Was Treue sagen will

1. Glückseligkeit

»Liebe Nora! Ich weiß schon im voraus, daß dies kein ordentlicher Brief wird; dazu habe ich keine Zeit. Ja, ich möchte am liebsten, daß Du ihn den andern gar nicht zeigtest; sie würden meine Gefühle kaum begreifen. Schließlich ist da doch immer etwas, das uns beide von den andern scheidet; das habe ich so im Gefühl. Wenn ich mir nur einigermaßen über das klar werden könnte, was ich – fühle, hätt' ich beinah schon wieder geschrieben. Denk nur an, heut habe ich den größten, den schönsten, den wertvollsten Tag meines Lebens erlebt!

Ja, nicht wahr, jetzt wirst Du aber neugierig? Nun, ich will Dich nicht auf die Folter spannen, aber ich muß doch der Reihe nach erzählen, wie das alles gekommen ist.

Als wir hier in Kopenhagen ankamen, wer holte uns da wohl vom Bahnhof ab? Leutnant Fürst! Selbstverständlich war das eine Verabredung zwischen ihm und Papa, das merkte ich gleich; aber Papa kann ja so himmlisch alles für sich behalten. Und weißt Du, woher Nils Fürst kam?

Von Sophienruh!

Ja, nun ist's raus, und nun wird Dir wohl bald alles klar, nicht? Ich habe Dir wohl erzählt, daß Papa bereits vor längerer Zeit die Ehre hatte, von Sr. Majestät nach Sophienruh eingeladen zu sein, wenn er wieder ins Ausland reiste. Nicht vielen Norwegern ist diese Ehre zu teil geworden; es ist also außerordentlich schmeichelhaft für Papa.

Davon aber hatte er gar nichts zu mir gesagt. Er wollte mich nicht zu früh »aufregen«, wie er sagte. Fürst kam direkt von Sophienruh. Denke nur! Er wird vielleicht Ordonnanzoffizier bei dem einen der Prinzen, der Marineoffizier ist, nämlich Sr. Königl. Hoheit dem Prinzen Oskar. Fürst erzählte uns, wann die Züge am nächsten Tage abgingen. Du großer Gott, schon am nächsten Tage! Wir wurden also erwartet!

Irgend welche Toilette zu machen wurde mir nicht gestattet. Ich sollte gerade ganz einfach im Reisekostüm kommen, wie Papa. Der maliziöse Leutnant Fürst – Du weißt, er ist mit uns verwandt, er nennt mich Kusinchen, aber das bin ich gar nicht – sagte zu mir, ich sei so, wie ich ginge und stände, gerade hübsch genug. Kennst Du ihn eigentlich?

Nun galt es also, sich die Reiseanstrengungen wegzuschlafen; denn wenn man schlecht geschlafen hat, sieht man nicht gut aus. Aber nie ist mir das Schlafen so schwer gefallen; Du kannst Dir wohl denken, in welcher gräßlichen Aufregung ich war. Ich dachte fortwährend an etwas recht Langweiliges. Weißt Du noch Oberzollkontrolleur Jakobsens Nase? Die starrte ich in einemfort an, bis ich endlich über ihr und dem ganzen Oberzollinspektor wirklich einschlief. Und so müde war ich, daß ich nun aber auch schlief wie ein Dachs. Gott sei Dank fühlte ich mich leidlich, als ich aufstand. Aber später ging's mir gräßlich, – rein zum Verzweifeln! Du bist wohl nie in einer ähnlichen Lage gewesen, wirst es also vielleicht komisch finden, daß ich, je mehr ich an den großen Augenblick dachte – ich hatte ja nicht eine einzige Dame zum Fragen, und Männer verstehen sich auf so etwas nicht, die lachen einen nur aus – um so ängstlicher wurde. Es war auch recht morgenkühl, und das eine zusammen mit dem andern, ich meine die Kühle und die Angst – Fürst nannte es Kanonenfieber –, hatte schließlich Folgen. Es war schauderhaft peinlich, denn auf die Dauer ließ es sich natürlich nicht verheimlichen ... du verstehst wohl, nicht? Aber ich muß mich damit trösten, daß ich nicht das erste junge Mädchen bin, dem so etwas passiert ist, wenn es bei Hofe vorgestellt werden sollte.

Schließlich wurde ich ganz krank, so daß ich von der Reise und von dem, was wir sprachen, gar keine Vorstellung habe. Trotzdem geriet ich in einen Streit. Fürst sagte, das Königtum suche in allen Ländern den Reichtum um sich her zu sammeln, gegen die niedern Klassen. Das war mir aber denn doch zu arg. Ist denn das Königtum dazu da, um sich zu verteidigen? Ich dachte, es wäre dazu da, um die niedern Klassen zu verteidigen, und das sagte ich denn auch. Da fing Papa an, mich zu necken, mit der Schule, mit dem Verein und Karen Lotes Geschichtsstunden – Du hörst ihn wohl, nicht? Fürst fragte, wer dann den Reichtum verteidigen solle. Der verteidigt sich schon selbst, meinte ich. Jedenfalls wäre es häßlich von ihm, die untern Klassen zu verraten. Nicht wahr?

Gott, wie entzückend der Öresund ist! Als wir übersetzten – ach, richtig, ich habe vergessen, Dir zu sagen, daß wir bis dahin, bis Helsingör, mit der Eisenbahn fuhren – daran kannst Du sehen, wie ich heute bin! ... Nein, ich streiche alles wieder aus. Sonst werde ich überhaupt nicht fertig. Papa will mich heute vormittag mithaben – Du wirst gleich erfahren, weshalb.

Ich fange an mit dem Schloß, das man vom Sund aus sieht. Es liegt wundervoll. Aber so groß, wie wir es uns gedacht hatten, ist es nicht. Dann kamen wir nach Helsingborg. Dort – denk nur, ja, nun wirst Du aber staunen! – dort erwartete uns ein königlicher Wagen. Papa und Fürst taten, als wäre das gar nichts weiter; aber ich bin fest überzeugt, sie waren mindestens ebenso überrascht wie ich. Der Wagen war übrigens wie alle andern Wagen, nur auf die Livree kommt's an. Aber ich saß da in Todesangst. Wie sollte das gehen? Obwohl das Wetter jetzt herrlich geworden war, so mußte ich, ehe wir in den Wagen stiegen, doch erst noch mal »wohin« gehen. Wie sehr mir dadurch die ganze Freude verdorben wurde, kannst Du daran sehen, daß meine Handschuhe vor Angst ganz naß waren. Aber natürlich hatte ich noch andre Handschuhe bei mir. Papa brachte mich vollends zur Verzweiflung mit seiner Bemerkung: »Wie blaß du aussiehst, Kind!« Ich glaube sogar, die Tränen kamen mir in die Augen; denn Fürst, der mir gegenübersaß, fing an, mich zu necken. Aber ich hörte fast gar nicht, was er sagte. Mitten drin sah ich, daß die Formation Sandstein- und Steinkohlenschicht war, und daß die Bäche stark eisenhaltig waren – und ich dachte an Rendalen mit seinen Karten und Sammlungen. Du kannst Dir nicht denken, was mir in meiner Angst alles durch den Kopf fuhr. Hätte mich jemand für alles, was ich Hübsches besitze, wieder nach Hause bringen können, wahrhaftig, ich hätt's getan ... Nun fuhren wir durch einen kleinen Wald und kamen auf einen großen, freien Platz – das Schloß!

Als ich den Schloßplatz und das Gras darauf sah, erinnerte ich mich – komisch, wie so was kommen kann – so deutlich einer Stunde in der Schule, als ich lernte, ein solcher Platz heiße auf Englisch bowlinggreen, und daß Frau Rendalen gerade in dem Augenblick in die Klasse kam und fragte, warum er bowlinggreen heiße, und daß Tora es mir vorsagte – wie geschickt Tora so was immer machte! ... Ja, wo wir nun hielten, weiß ich nicht mehr. Ich kam aus dem Wagen heraus, indem ein sehr vornehmer Herr auf uns zukam und mir den Arm reichte. Ein Toilettenzimmer wurde uns angewiesen; eine Dame folgte mir. Gott sei Dank! Bis zu diesem Augenblick war ich überhaupt nicht Mensch gewesen. Das wurde ich erst wieder, als ich auch hier erst mal »wohin« konnte – na, Du weißt schon. Wenn ich das nicht miterzählte, obschon es mir gräßlich peinlich ist – würde der ganze Tag nicht die rechte Farbe bekommen. Du sollst eben alles genau wissen, wie es war. Es war einfach entsetzlich. Wie unzertrennlich ist doch das Erhabene vom Lächerlichen! Ich guckte mich in den Spiegel: na, wie ich aber aussah! Ich konnte es Papa auch deutlich anmerken, als wir wieder zusammentrafen – denke Dir, ich merkte nicht einmal, in welcher Richtung wir gingen und wo das Zimmer lag! Weißt Du, wo wir hin sollten? In den Garten, um dort mit Ihren Majestäten den »Lunch« einzunehmen. Nicht wahr, größer kann die königliche Gnade gegen einfache Bürgerliche aus einem norwegischen Kleinstädtchen nicht sein? Weißt Du noch, wie wir unsere Puppen zum Hofball putzten?

Derselbe vornehme Herr – Fürst erinnert sich seines Namens nicht mehr, ich glaube, er war Kammerherr – führte mich wieder und sagte etwas auf Schwedisch zu mir, – was, das verstand ich nicht; ich war ganz außer Fassung. In größerer Herzensangst ist sicherlich nie ein Menschenkind gewesen ... Als ich den Garten sah und hineinging – da schwamm mir alles vor den Augen: Bäume, Menschen, Tische, Diener, Stühle; in der tödlichen Angst, die mich ergriffen hatte, wär ich beinah in Ohnmacht gefallen. Du kannst mir glauben, ich mußte alle meine Kräfte zusammennehmen ... Der Herr, der mich führte, mußte wohl meinen Arm zittern gefühlt haben, oder er las mir alles vom Gesicht ab, denn er sagte, ich müßte ja nicht ängstlich sein; die Majestäten seien so liebenswürdig ...

Und du himmlischer Vater, wie strahlend gütig waren sie auch wirklich. Besonders der König! Nein, dieses Lächeln, dieser Händedruck, diese Augen! Ein wahres Meer von Güte. Was sag ich, Güte! Er hat etwas an sich, namentlich in den Augen, das geradezu entzückt – oder »berückt«, wie Tora zu sagen pflegt. Ich möchte aber doch die Augen lieber mit dem Himmel als mit dem Meer vergleichen, denn dann wirst Du besser verstehen, was der Schwede » tjusande« nennt. Ja, sie sind » tjusande«. Nur Südländer können solche Augen haben. Wie kalt und egoistisch werden wir – ich muß es sagen – wenn wir in solche Augen hineinblicken. Wenigstens hatte ich dies Gefühl.

Nun sollst Du aber von meinem Wunder hören, denn ein Wunder war es wirklich. Von dem Augenblick an – ja, ich kann sagen, von der Sekunde an, da die Augen Sr. Majestät auf mir ruhten, war ich ganz gesund. Was sage ich, gesund! Ich fühlte, wie dieser Blick mein ganzes Wesen erfüllte und erwärmte. Ich fühlte es – ist es nicht merkwürdig? aber bei Gott, es ist wahr – in den Knieen. Ja, in den Knieen. Unter allen Worten in unserer Sprache gibt es nur ein einziges, das voll und ganz meinen Zustand bezeichnen kann. Ich fühle mich jetzt beinah wieder in derselben Verfassung bei dem bloßen Erzählen. Dir, Dir allein sage ich's, die andern würden es nicht verstehen, also – ich war glückselig. Vielleicht ist es profan, oder gar sündhaft, das Wort in dieser Verbindung zu brauchen, aber wahr ist es.

Und weißt Du, was der König sagte? »Willkommen in meinem Hause, mein Fräulein!« Und zwar in dem schönsten, klangvollsten Norwegisch, das ich je gehört.

Die Königin lächelte. Sie fragte, aus welcher Stadt ich sei. Der König antwortete für mich. – »Wie heißt denn der Ortsgeistliche dort?« fragte die Königin. – »Karl Wangen,« entgegnete ich. Aber das war verkehrt; ich hätte natürlich den Propst oder die ältern Geistlichen nennen müssen. – In demselben Augenblick begrüßte der König meinen Vater, der mit Fürst zusammenstand, und dann sagte er: »Ich finde, der Herr Leutnant hat einen ausgezeichneten Geschmack.« – Ganz genau so fielen seine Worte. Ich habe später viel darüber nachgedacht; denn das zeigte ja, daß Nils Fürst an diesem Allerhöchsten Ort von mir gesprochen haben muß. Ich dachte gar nicht, daß man sich hier mit etwas so Geringem beschäftigen könnte.

Dann ging's zur Tafel. Derselbe elegante Herr führte mich. »Nun?« sagte er auf schwedisch, und ich beeilte mich zu antworten, ich sei ganz begeistert. »Das sind alle,« versicherte er. Wir setzten uns nicht zu Tisch, sondern gingen nach Belieben umher; und jetzt kam der eine nach dem andern und ließ sich mir vorstellen – denke Dir! Der eine nach dem andern! Der eine war Graf, der andre Baron; die eine Gräfin, die andre Freifrau; einer war Oberstallmeister, und der besonders sprach fortwährend mit mir. Nicht gerade in dem, was sie sagten, sondern in ihrem ganzen Wesen und Benehmen war etwas so Geistvolles und Gewinnendes. Aber das lag wohl zum Teil auch in der Umgebung und dem Ort; ich war überhaupt nicht auf der Erde.

Bloß die Diener, Du, die machten mich ganz unsicher und klein, so genau, so aufmerksam, so überlegen in ihrem Wissen, wie alles sein sollte. Ich habe mich sicher nicht immer ganz richtig benommen; wir Norwegerinnen lernen doch rein gar nichts.

Wirklich, es lag ein Adel, eine Schönheit in allem, und dabei so viel Liebe und Hoheit. – Aber von den Prinzen war keiner anwesend.

Was wir aßen – ich rührte übrigens kaum etwas an – weiß ich trotzdem auswendig; ich habe mir vorgenommen, alles in mein Tagebuch zu schreiben und es für Tora abzuschreiben, sowohl das Menü, wie die Einrichtung des Schlosses und tausend andre Dinge, die Dir doch einerlei sind, – Du verstehst Dich ja nicht einmal auf gutes Essen. Aber dann mache ich's eben so, daß ich Dir das mehr Geistige schicke – aber Du zeigst es keiner Menschenseele, hörst Du? Gott, wenn Du das tätest! Nora, ich weiß nicht, aber ich muß doch einen Menschen haben, dem ich's sagen kann, sonst wird das Glück mir zu schwer zu ertragen. Noch nie bin ich so wie gestern und heut gewesen; ich bin – ich möchte sagen aufgelöst.

Tora werde ich meine Toilette schildern; natürlich habe ich doch eine neue, mit der ich Euch eigentlich alle überraschen wollte, obgleich man aus Schwarz ja nicht allzuviel machen kann. Aber ich glaube, sie steht mir gut. Auch sah ich gar nicht mehr angegriffen aus; ich sah mich ein paarmal ganz schnell in einen der vielen Spiegel im Schlosse; denn, Du mußt nämlich wissen, wir wurden herumgeführt. Erst auf der Seite, von wo wir kamen; von dort nach dem großen Saal, wo die königlichen Banketts in all ihrer Pracht gefeiert werden. Ach, wer doch einmal dabei sein könnte! Der Salon ist ganz in Weiß gehalten mit Arabesken auf blauem Grunde und großen, großen Gemälden; eins davon ist von Markus Larsson – eine Sonnenstudie – ich weiß nicht, was das ist, es war so seltsam; Divane und Stühle in blauer Seide, ein riesiger Kronleuchter von buntem Glas – prachtvoll! – An der Wand halten zwei Negerinnen, in roten Trachten und reich vergoldet, Lampen – wahre Kunstwerke! – Ein ungeheurer Marmorkamin – der Form nach dasselbe, was wir Peis nennen, aber das Wort ist so ordinär – und reich vergoldete Uhren und Porzellanvasen. Ein höchst merkwürdiger Blumentisch aus japanischem Porzellan. Zu komisch! Ebenso ein chinesischer oder japanischer Schreibtisch aus schwarzem Holz mit Goldbeschlag; d. h. der stand im Kabinett.

Aber, da bin ich ja richtig mitten im Beschreiben! Das wollte ich doch gar nicht; ich will das Kabinett nur wieder streichen. Das alles kannst Du ja in Toras Brief lesen. Das eine mußt Du aber hören, solche Aussicht, wie die von dem großen Balkon über den Sund und alle die Segel- und Dampfschiffe und Helsingborg und Kronborg – gibt's überhaupt keine zweite im ganzen Norden. Wo sollte das wohl sein?

Und denk mal, sogar in den Schlafgemächern waren wir! Ich weiß nicht, ob es eigentlich richtig war, aber wir waren drin. Ich muß mich wirklich bezwingen, sie Dir nicht gleich zu beschreiben, die, sowie die Wohnzimmer Ihrer Majestäten. Gott, Du hättest nur den weißseidnen Überzug an Wänden und Decke im Gemach der Königin sehen sollen! Und die Zimmer des Königs – wie edel und einfach! Im Schlafkabinett Sr. Majestät entdeckte ich auf dem Kopfkissen zwei Haare – Du weißt ja, wie gute Augen ich habe. Da blieb ich ein bißchen zurück und, ohne daß jemand es merkte, stiebitzte ich sie und tat sie schnell in meine Uhr.

Aber das erinnert mich an mein großes Erlebnis. Als wir wieder in den Garten kamen, fiel das Licht ungemein scharf gerade auf das Tor. Da bemerkte ich etwas Geschriebenes, nämlich am Pfosten. Ich hin. Es war französisch und ohne Zweifel von einer Dame geschrieben. – – – Ja, Du siehst, ich habe es auch wieder ausradiert. Denn wenn man sich selbst heilig versprochen hat, nie und nimmer zu erzählen, was da stand, so darf man's auch nicht. Es war abscheulich. Ich kratzte es mit dem Finger aus; aber das mußte ich so schnell machen, daß ich mir dabei den Handschuh zerriß und den Finger an einem Splitter ritzte, so daß er tüchtig blutete – und da wischte ich die Inschrift mit meinem Blute aus. Keinem Sterblichen habe ich bis jetzt ein Wort davon gesagt. Und auch Du darfst es niemand verraten. Papa machte ich weis, ich hätte mich gestochen, als ich mir eine Rose pflücken wollte.

Daß niemand mich gesehen hat? Aber alle die andern betrachteten gerade irgend etwas im Garten. Und daß niemand gesehen hat, was da stand, ehe ich es sah? Ist das nicht seltsam?

Die Hohen Herrschaften und ihr Gefolge waren nicht mehr im Garten. Aber der Herr, der uns empfangen hatte, fand sich jetzt wieder ein. Da er keine Miene machte, uns zu der übrigen Gesellschaft zurückzuführen, bat Papa, den Majestäten unsere untertänigsten Grüße zu überbringen, und dann verließen wir den Garten. Der Wagen fuhr wieder vor, und mein eleganter Kavalier überreichte mir ein herrliches Bukett »aus dem königlichen Garten« – denk Dir nur! Das steht während ich dies schreibe, hier vor mir. Es ist ganz in schwedischen und norwegischen Farben gehalten. Fürst behauptet zwar, das wären die meisten Blumen, aber ich glaube sicher, es liegt ein tieferer Sinn darin.

Entzückend sind vor allem eine Lilie und eine Rose. Ein paar Vergißmeinnicht lege ich Dir in den Brief.

Denn nun sollst Du auch wissen, meine geliebte Nora, daß ich vorläufig nicht nach Hause komme. Ich hoffe, daß diese Nachricht Dir ebenso überraschend kommt wie mir, als Papa es mir heut morgen mitteilte: ich soll nämlich nach Paris, um perfekt französisch zu lernen.

Ist das ein kürzlich gefaßter Beschluß und warum hat er mir nicht schon früher was davon gesagt? fragst Du natürlich. Denk nur, schon morgen reisen wir ab. Was sagst Du dazu? Papa hat keine Zeit mehr zum Reisen. Wir müssen uns also beeilen. Aber warum sind wir da nicht direkt nach Paris gereist, fragst Du wieder. Nicht wahr? Auch ich habe mich das gefragt, obgleich ich, wahrhaftig, den gestrigen Tag um nichts in der Welt in meinem Leben missen möchte.

Papa antwortete mir, er habe diesen Beschluß erst gestern gefaßt. Leutnant Fürst hätte ihn darauf aufmerksam gemacht, daß alle schwedischen Damen von guter Erziehung ebenso gut französisch wie schwedisch sprächen; und ebenso alle deutschen und russischen Damen – überhaupt müßte jede gebildete Dame französisch wie ihre Muttersprache sprechen können.

Es ist mir übrigens gar nicht unangenehm, nach Paris zu reisen. Freilich wird ein Jahr drüber hingehen. Ich muß mich also von euch trennen. Aber umsomehr haben wir uns dann zu erzählen, wenn wir uns wiedersehen.

Noch eins muß ich Dich fragen. Leutnant Fürst erzählt, daß – – –

So weit war ich heut vormittag gekommen, als Papa hereinkam und ich den Brief schnell verstecken mußte. Er nahm mich mit hinaus und ließ mir keine Zeit, und erst jetzt, neun Uhr abends, sind wir wieder im Hotel – und weißt Du, warum!? Um zu packen und zu reisen! Sofort! ... Ein neuer Plan. Leutnant Fürst macht Papa das Vergnügen, mitzureisen! Ich werfe also den Brief, so wie er ist, auf dem Bahnhof in den Kasten. Eine Ahnung sagt mir, wenn ich ihn noch einmal durchlese, erhältst Du ihn nie.

Deine Milla.

Nora hatte mit ihrer Mutter bereits das Bad verlassen, als der Brief ankam. Er wurde ihnen nach Christiania, wo sie sich gerade aufhielten, nachgeschickt. Bei ihrer Ankunft in der Heimat fand sie ein in Hamburg aufgegebenes Telegramm vor. Es lautete: »Nicht den Brief lesen, der kommt. Schick ihn Paris, Hotel Continental.«

Aber da war der Brief bereits gelesen.

2. Eine Unglückliche

Kurz nach Beginn des Schuljahres eröffnete Miß Hall einen Vortragszyklus für die Damen der Stadt; es war Mode geworden, auch etwas von all dem Unanständigen zu hören, was ihre Töchter und ältern Geschwister im verflossenen Jahre zu hören bekommen hatten.

Die Vorlesungen fanden zweimal wöchentlich im großen Laboratorium statt, und der Saal war in der Regel ganz voll. Auch die, die im vorigen Jahre die erste Klasse besucht und die Schule verlassen hatten, hörten zum größten Teil diese Vorlesungen mit an.

Gegen Ende Oktober trat eines Tages auch Tora in Begleitung ihrer Freundinnen in den Saal. Allgemeines Staunen und Begrüßen. Wo sie denn nur gesteckt habe? Warum sie so blaß aussehe? Himmel – wie mager sie geworden sei! Also wirklich krank gewesen? Ob sie denn an der Westküste gewesen sei? Wann sie denn zurückgekehrt sei? Ob sie jetzt wieder hier oben wohnte?

Die Unterhaltung wurde durch das Erscheinen von Frau Rendalen und Miß Hall unterbrochen. Wer noch keinen Platz hatte, beeilte sich, einen zu finden. Aber es zeigte sich, daß Platzmangel war; so groß war der Andrang noch nie gewesen. Miß Hall war nämlich gerade mit dem Studium gewisser Nervenphänomene beschäftigt, die man früher übersehen oder sogar abgeleugnet hatte; und das wurde mit jeder Stunde interessanter. Um Platz zu schaffen, wurde heute die große Doppeltür nach dem äußeren Gang, der zugleich abgeschlossen wurde, geöffnet. In den Gang setzte man eine Anzahl Stühle; ebenso wurden vorn neben den Laboratoriumstisch noch ein paar Reihen Stühle hingestellt. Frau Rendalens ordnende Kommandostimme klang überall, bis endlich Stille eintrat. Tora und ihren Freundinnen wurden Plätze auf diesen vordersten Stuhlreihen angewiesen.

Miß Hall setzte da ein, wo sie das letzte Mal geschlossen hatte: »Die Gesundheit und Moral der Menschheit verlangt, daß die Nerven der Frau gekräftigt werden. Dazu genügt es nicht allein, daß sie sich materiell wohlfühlt, auch ihre Willenskraft muß durch Kenntnisse reifen; sie muß ein Lebensziel haben, auf daß sie nicht so leicht zum Spielball für jeden beliebigen Menschen werde.«

Nach Professorenart gab sie zunächst für diejenigen, die das letzte Mal nicht zugegen waren, einen kurzen Überblick über das Letztgesagte.

Nervenschwache und namentlich hysterische Naturen könnten durch gewisse mechanische Einwirkungen in »hypnotische«, »somnambule«, »magnetische« Zustände versetzt werden. Dieser Zustand sei eine Ohnmacht mit Bewußtsein; in dieser Ohnmacht tue man dem Betreffenden, der uns hineinversetzt habe, alles zu Willen. Man würde seine Beute, und zwar nicht allein, solange man schlief, auch später, wenn man wieder erwacht wäre, gehorche man unbedingt den Befehlen, die man erhalten hatte, während man sich in jenem Zustand befand. Miß Hall erinnerte an einige Beispiele, die sie angeführt hätte.

In diesem Zustand könnten die Vorstellungen einzelner andre Orte besuchen, ja, sogar die Gedanken andrer, sowohl Anwesender wie Abwesender erraten. Einige wenige hätten auch Vorahnungen.

Diese Tatsache lasse sich nicht mehr ableugnen; aber erklären lasse sie sich nicht. Früher hätte man angenommen, diese Fähigkeit sei vom Glauben abhängig; jetzt wisse man, daß sie damit nichts zu tun habe. Aber in diesen abnormen Zustand könnten einzelne sich selbst versetzen – die einen durch heftige Anstrengungen, andre durch den bloßen Willen. Das geschehe dadurch, daß man – einerlei, was man auch sonst vornähme – auf irgend einen Gegenstand unverwandt hinstarrte, entweder in Gedanken oder mit den leiblichen Augen.

Die meisten seien wohl hinreichend mit der Wirkung solchen Tuns bekannt, aber nervenschwache Personen mit gewissen Dispositionen könnten sich dadurch in Aufregung und Selbstbetrachtung versetzen. Auf diese Weise seien viele Bekehrungen vor sich gegangen, namentlich unter Frauen ...

»Heute nun kommen wir zu dem, was für die Frau das gefährlichste ist. Gewisse Menschen haben die Fähigkeit, andre, namentlich Frauen, in diesen Zustand zu versetzen, ohne das übliche mechanische Mittel, ohne ihnen ganz nahe zu sein, ohne irgend welche Berührung – bloß durch einen Blick. Sie können die Betreffende zwingen, sie anzusehen, und, die Augen fest in die der andern gebohrt, sich ihren Willen unterjochen!«

Miß Hall erzählte, was sie von einer der größten Sängerinnen der Welt gehört habe. Diese stand eines Tages in einem Eisenbahnkupee – der Zug hatte gerade auf einer Station Halt gemacht, und sie sah zu dem der Station abgewandten Kupeefenster hinaus – als sie sich plötzlich unwohl und gezwungen fühlte, sich umzudrehen, und da traf sie auf ein Paar stechende Augen, die sich sofort in die ihren hineinbohrten. Sie eilte sofort hinaus und ließ sich ein andres Kupee anweisen. Der Mann kam ihr nach; vermutlich kannte er diese seine Macht und wollte davon Gebrauch machen. Sie suchte ihren Impresario auf und bat ihn, sie von den »grünen Augen« zu befreien. Das geschah. Aber sie versicherte selbst, ohne das wäre sie verloren gewesen.

»Nun war die Sängerin sich also zufällig ihrer Schwäche bewußt. Aber wie viele sind das? Besonders wenn die körperliche Berührung hinzukommt, sind sie sofort verloren. Ein Mann, der nicht weiß, was das ist, hält das natürlich für eine Aufforderung, weiterzugehen und handelt danach.

Aber das braucht durchaus nicht der Fall zu sein. Ich kann Sie versichern, daß manches Mädchen, das zu Fall gebracht wurde, ebenso unschuldig daran ist wie ein unwissendes Kind.

Darum – –«

Da – das Poltern eines Stuhles ... der umfiel, etwas Weiches, Schweres, das zu Boden stürzte ... Im nächsten Augenblick dicht daneben Stühlerücken, Schreie und Ausrufe von mehreren, die sich erhoben. Nun sprangen alle auf, die hintersten stiegen auf die Bänke. Durch den Tumult hörte man die Worte: »Platz da!« Es war Frau Rendalens Stimme. Die auf den Bänken konnten trotzdem nichts sehen und fragten sich untereinander in flüsterndem Ton. Nur die allernächsten sahen, was es war, und diese gaben keine Auskunft; sie rührten sich nicht von der Stelle, bis Frau Rendalen und einige andre sich erhoben mit einem leblosen Körper, den Frau Rendalen auf ihren Armen forttrug.

Es war Tora. »Macht Platz!« hörte man von neuem.

Miß Hall eilte sofort nach, dann Nora, dann Tinka und Anna Rogne; dann andre Freundinnen.

Miß Hall lief, sobald sie draußen im Flur waren, schnell voran und öffnete Frau Rendalen die Tür zum Wohnzimmer. Sie eilte hinein und legte auf dem Sofa ein Kissen zurecht. Während Frau Rendalen mit Noras Beistand ihre Bürde hinlegte, wandte Miß Hall sich zu den vielen, die mitgekommen waren, und bat sie, fortzugehen. Sobald Frau Rendalen sich wieder aufrichten konnte, wiederholte sie barsch die Aufforderung. Sie gingen auch alle. Draußen in dem großen Flur stießen sie zusammen mit dem Schwarm aus dem Laboratorium. Man war neugierig geworden; auch aus den Klassen strömte es jetzt heraus.

Nur Nora, die totenblaß geworden war, hielt es für richtig, zu bleiben. Aber als ihre arme Freundin wieder Lebenszeichen zu geben anfing, packte sie eine entsetzliche Ahnung. Sie lief schnell und schloß beide Türen nach dem Flur zu. Kaum war das geschehen, so hörte sie Tora rufen: »Ja, ja, mir ist das passiert!« Und dann ein Schluchzen der Verzweiflung. Das hallte draußen im Flur wider.

Ob jemand da draußen es hören könnte? Nora lief durch den innern Flur, wo sie auf den Strom traf. Es war ihr nicht klar, was sie eigentlich tun wollte, um zu verhindern, daß die Leute sich der Tür näherten. Sie wußte kaum, wie sie sich durch diese ganze Menge von Großen und Kleinen drängte – und woher sie Mut und Stimme bekam, um zu rufen, sie möchten doch bitte nicht weitergehen, sondern wieder hineinkommen.

Sie stieg auf das Katheder, nahm ein Lineal und klopfte mit aller Macht. Jetzt strömte man wirklich von beiden Seiten wieder herein. Sie klopfte noch einmal, und es wurde still. Nun erklärte Nora:

»Tora Holm hat ein schweres Nervenfieber durchgemacht. Die Luft hier im Saal wurde zu dumpf, und das, was gesagt wurde, machte ihr Angst. Und – und – und – ja, jetzt kommt gleich Miß Hall.«

Das letzte sagte sie, weil sie nichts mehr wußte. Sie stürzte fort, um nicht hier im Saal schon in Tränen auszubrechen.

Aber Miß Hall konnte nicht kommen, und das Ende war, daß Frau Rendalen hinein und aufs Katheder mußte.

»Wir bitten um Entschuldigung. Miß Hall muß bei der Kranken bleiben. Ich muß einen Teil der Schuld auf mich selbst nehmen. Fräulein Holm hätte, so angegriffen, wie sie noch war, nicht hier in dem Gedränge sitzen dürfen. Auch bin ich nicht früh genug auf sie aufmerksam geworden. Das Thema nahm mich so ganz hin. Es ist auch wirklich Zeit, daß wir alle, denen die Erziehung der Jugend obliegt, uns endlich einmal davon packen lassen.«

Ihre Stimme bebte; sie war weiß wie ihre Haube; und ohne auf die, die mit ihr sprechen wollten, zu achten, ging sie wieder hinaus ... Aber drinnen in Frau Rendalens Schlafzimmer stand Nora und schmiegte sich eng an Tinka und zitterte und weinte. Tinka war ganz verstört. Jetzt guckte jemand spähend zur Tür herein. Da niemand es ihr verbot, kam sie leise herein. Mit großen, forschenden Augen sah sie die beiden an. Es war Anna Rogne.

»Was mag das bedeuten?« flüsterte sie. Nora hob ihr Antlitz. Beide starrten sie an. Anna hatte vom Sommer her noch einige Äußerungen Toras im Gedächtnis. Auf diesen baute sie jetzt weiter und flüsterte: »Ich ahne das Schlimmste!« Sie faltete die Hände, und die Tränen stürzten hervor. Nora lehnte ihren Kopf wieder an Tinkas Schulter und schluchzte laut.

In demselben Augenblick hörten sie Toras Stimme drinnen im Wohnzimmer. Die Worte vermochten sie nicht zu unterscheiden; sie kamen stoßweise heraus; gehetzt, verzweifelt, wild, tränenfeucht. Dann wurde es ganz still.

Diese Stille war fast noch qualvoller. Auch hier drinnen wurde es totenstill. Das wurde zuletzt ganz unerträglich. Was bedeutete das? Sie wechselten Blicke und wollten gerade hineindringen, als sie schwere, hastige Schritte hörten; die Tür wurde aufgerissen, Frau Rendalen stürzte händeringend herein und an ihnen vorbei ... Was war das? Allmächtiger Gott, was war das? Sie gingen hinaus ... Tora lag jetzt am Boden ... Miß Hall stand über sie geneigt. Auf dem Tische stand eine Schüssel mit Wasser.

Miß Hall sah kurz auf. »Helfen Sie mir! ... Wir müssen sie wieder aufrichten!« Sie gehorchten. Tora war nicht ohnmächtig, das merkten sie, aber sie ließ alles mit sich geschehen. Als sie wieder auf dem Sofa lag, blaß wie der Tod, blau, mager, aufgelöst, wandte Miß Hall sich mit einem seltsamen Blick zu den andern um. Erschreckt sahen diese sie an. Miß Hall antwortete bejahend mit zweimaligem, ernsten Kopfnicken ...

Die drei wichen ein paar Schritte zurück.

Nach einer Weile schlüpfte erst die eine zu Frau Rendalen hinein, dann die zweite und zuletzt die dritte. Frau Rendalen saß regungslos in dem großen Lehnstuhl. Nora kam zu ihr und legte den Kopf in ihren Schoß.

Kein Wort wurde gesprochen.

Aber da hörten sie wieder Tora da drinnen erklären, weinen, jammern. Und dann kam Miß Hall zu ihnen herein.

»Was gibt's nun wieder?« fragte Frau Rendalen fast unwillig.

»Wißt ihr was,« sagte Miß Hall, »er hat sie noch einmal verfolgt!« Alle starrten die Lehrerin an. »Sie hatte sich auf eine Insel zu einer Lotsenfamilie geflüchtet. Das hatte er aufgespürt und ihr da aufgelauert. Der Schurke! Von da floh sie dann nach der Westküste, und da wurde sie krank.«

»Das arme Kind!« rief Frau Rendalen. Ihr Mitleid war wieder erwacht; sie stand auf und ging zurück zu Tora; sie hätte sie doch nicht verlassen sollen. »Mein liebes, liebes Kind!« sagte sie. Aber Tora sah sie erst, als sie sich umwandte, und da hob sie beide Hände abwehrend zu ihr auf und rief: »Nein, nein, nein! Kommen Sie nicht! Sagen Sie nichts! Nein, nein, nein! ... Ich kann ja nichts dafür, ich kann ja nichts dafür, o, mein Gott, doch, ich kann doch was dafür ...« Und wiederum das wildeste Schluchzen.

Frau Rendalen kam doch näher; sobald es nützen konnte, sagte sie: »Nicht so, Kind, so mußt du's doch nicht nehmen! Wir werden dich darum nicht verstoßen.« Das schien sie zu beruhigen. Doch als Frau Rendalen äußerte, es müsse unverzüglich etwas geschehen – sie müsse mit ihrem Sohn darüber reden, da brach es wieder los. »Nein, nein, nein! O Gott, nein, nein!« Sie war wie eine Rasende.

»Aber Kind, geliebtes Kind, du weißt doch selbst, wie es mit dir steht; es muß sein; denn über uns wird es natürlich ...«

»Ich weiß es, ich weiß es ja! Aber ihm nichts sagen! Noch nicht! Bitte, nicht! Erst muß ich von hier fort sein! ... O, sagen Sie nichts! Es ist ja nicht nötig!« Sie war wie wahnsinnig, und ihre Stimme war so herzzerreißend, daß die andern alle hereingeeilt kamen. Sie suchten sie zu beruhigen, indem sie ihr Hände und Kopf hielten; aber sie schien sie gar nicht mal zu sehen. Sie machte immer wieder ihre Hände und ihren Kopf frei, wälzte sich und rang die Hände und weinte und flehte, sie möchten doch schweigen, schweigen, schweigen! ... Darüber kam Rendalen zu.

Zufällig hatte er die Badezimmertür geöffnet und sofort das Weinen und Jammern gehört. Er dachte, es sei im Schlafzimmer und war über den Gang da hineingegangen. Nun stand er da.

Tora fuhr empor, schrie auf – und warf sich vornüber, die Hände vors Gesicht schlagend. Frau Rendalen ging ihrem Sohn entgegen, nahm ihn bei der Hand und ging mit ihm auf sein Zimmer.

Tora sprang auf und wollte hinaus ... Jetzt wollte sie nicht mehr leben, – um nichts in der Welt. Sie rang mit den Freundinnen; wäre Tinka nicht so stark gewesen, sie hätte sich losgerissen; sie war einfach wahnsinnig, sie biß und kratzte. Tinka hielt sie fest, bis ihre Kräfte schwanden, und bat dann um Hilfe. Anna holte Frau Rendalen, und sobald Tora sie sah, ergab sie sich. Von ihr ließ sie sich zum Sofa führen, und dann, als sie ruhiger geworden war, ins Schlafzimmer und dort auf ein Bett legen, das man neben Frau Rendalens Bett gerückt hatte.

Und dann mußte sie bei ihr sitzen und ihre Hand halten; noch im Schlafe schluchzte und wehklagte sie wie ein Kind.

3. Abrechnung nach innen; Friedensvorschlag nach außen

Als Frau Rendalen sich erboten hatte, sofort mit ihrem Sohn zu reden, und als sie ihn bei der Hand genommen hatte, um es auszuführen, war ihr keineswegs leicht zumut gewesen. Im Gegenteil, sie hatte Angst davor. Das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn hatte, wie wir wissen, längst den Charakter der Vertraulichkeit verloren; in späterer Zeit war es nicht einmal mehr gut gewesen, und jetzt in allerletzter Zeit geradezu schlecht. Von seiner Seite sah es beinah aus, wie ein Bruch. Niemand konnte hier vermitteln, nicht einmal Karl Wangen. Tomas weigerte sich, darüber zu sprechen; er litt, so oft Karl die Sprache darauf brachte.

Äußerlich war diese letzte Wendung ganz zufällig gekommen. Es war ja bestimmt gewesen, daß Tora Holm Frau Rendalen zur Hand gehen solle; aber da sie fern an der Westküste krank wurde, bot Nora ihre Dienste an. Noras Fähigkeiten lagen auf andrem Gebiete als Toras; darum war auch die Hilfe, die sie leistete, andrer Art; so wurde sie unter andrem angestellt, die Bücher zu führen.

Eines Tages, als Nora müßig in den Büchern herumblätterte und früher und jetzt verglich, und Tomas rasch, elegant, zum Ausgehen bereit durchs Zimmer schritt, fragte sie: »Wer ist eigentlich diese Tomasine, die so viel Geld gebraucht hat? Frau Rendalen ist es nicht. Denn bei ihren eignen Ausgaben macht sie immer ganz einfach den Vermerk: ›Für mich selbst‹.«

»Tomasine? ... Ich habe nie was von einer Tomasine gehört.« Er kam näher, stellte den Hut von sich und beugte sich, kurzsichtig, wie er war, tief auf das Buch herab; die hellen Brauen schürzten sich und die grauen, durchdringenden Augen blickten scharf. Sie blätterte und zeigte ihm den Posten Monat für Monat durch eine ganze Reihe von Jahren. Sie machte nicht viel daraus, umsomehr aber er. Für sie hatte die Sache kein besonderes Interesse, aber ihm schien sie von der höchsten Wichtigkeit. Während er die Bücher studierte, beobachtete sie ihn und die Wirkung, die seine körperliche Nähe auf sie übte; es war ein angenehmes Gefühl. Sie betrachtete die Sommersprossen in dem glattrasierten Gesicht; in dieser Stellung schienen die scharfen Linien des Mundes, die Hast der Augen und die Klugheit der Stirn noch klarer; die kräftige Wangenpartie und das widerspenstige rote Haar amüsierten sie. Sie folgte den kurzen, etwas auswärts gebogenen, nervösen Fingern, wie sie da blätterten oder die Seiten des Buches glatt strichen. Eine kräftige, sommersprossige Hand, dicht besetzt mit hellen Härchen, ein breites Handgelenk, den Arm konnte sie gleichfalls fühlen; unwillkürlich glitt ihr Blick daran hinauf bis zur Schulter; er mußte sehr stark sein. Sie hörte das Knittern des Hemdes und das Knirschen des Schlipses, wenn er atmete; sie spürte den leichten Duft des Parfüms, der sich jetzt, da sein Kopf ihr so nahe war, mit dem Duft seiner Haut mischte. Etwas wie eine Angst, ein Rausch hatte sie ergriffen und ein Gefühl geschärfter Intelligenz. Sie dachte leichter und schneller, war in stärkerer Spannung. Sie wünschte, es möchte lange dauern; es war unleugbar wohltuend.

»Wo ist meine Mutter?«

»Ich weiß nicht.«

»Das ist doch wirklich höchst sonderbar.« Er griff nach dem Hut und ging.

Nach kaum fünf Minuten kommen Mutter und Sohn beide wieder hereingestürmt. »Aber, Tomas, wie heftig du bist.«

»Heftig –?« Sobald sie Nora im Zimmer bemerkte, wandte sie sich hastig nach ihr um, »pst« und ging ins Schlafzimmer. Er folgte ihr. Nora hörte ihn in heftigstem Ton unaufhörlich reden. Auch Frau Rendalen hörte sie, wie sie abwehrend und zuletzt weinend sich verantwortete. Endlich ging er. Lange nachher kam sie herein, matt und tieftraurig.

»Da hab ich gewiß was recht Dummes gemacht,« sagte Nora verlegen.

Frau Rendalen antwortete nicht. Sie ging nur langsam auf und nieder. Aber zuletzt wurde es ihr doch zu viel, es war mehr, als sie allein tragen konnte, und Noras sichtliche Teilnahme verleitete sie zum Reden.

»Gott weiß, ich dachte, das wäre einer meiner besten Handlungen gewesen, und nun muß man hören, daß es die schlechteste war!« Die Tränen benetzten ihre Brille, und wie gewöhnlich begann sie sie erst zu putzen, als sie sich setzte.

Nora stand auf und kam teilnahmsvoll zu ihr: »Aber, liebe Frau Rendalen!« Sie kniete neben ihr nieder. Die alte Dame verlangte so nach Freundlichkeit und nach einer Seele, der sie sich anvertrauen konnte, und so bekam denn Nora zu wissen, daß »Tomasine« Tomas Schwester sei. Anfangs hatte sich das Mädchen gut gehalten, aber seit sie nach Amerika gegangen, war sie auf schlechte Wege geraten und wurde später als geisteskrank zurückgeschickt. Frau Rendalen hatte bis zu ihrem Tode für sie bezahlt. Das alles hatte die Mutter ihrem Sohn verschwiegen. Wozu brauchte er es auch zu wissen? Und nun habe er sie mit den furchtbarsten Anklagen überhäuft. Die Verstorbene habe dasselbe Anrecht an das Vermögen ihres Vaters wie er; die Gesetze seien niederträchtig, kein ehrlicher Mensch dürfe danach handeln. Mit den heftigsten Worten hatte er Frau Rendalen das Unglück seiner Schwester ins Gesicht geworfen. Sie hätte es zu verantworten!

Nora war ganz entsetzt. Mancherlei hatte sie freilich gehört, seit sie die Schule hier oben besuchte, aber so was –!

Rendalens Wesen in der Zeit, die nun folgte, ängstigte sie womöglich noch mehr; sie litt ebenso sehr wie Frau Rendalen. Er behandelte nämlich seine Mutter fremd und schroff, wenn er nicht umhin konnte, mit ihr zusammen zu sein; für gewöhnlich scheute er sie.

Schon als Knabe hatte Tomas bisweilen ihre Art als grobkörnig und plump empfunden, als sei sie gar nicht mit ihm verwandt. Diese Empfindung war jedesmal wieder der Dankbarkeit, der Übereinstimmung in ihren Lebensanschauungen und Plänen gewichen; und wie auch seine Gefühle waren, immer nährte er Bewunderung für ihre Energie, ihre Klugheit im Leiten aller Verhältnisse. Die Mißstimmung stellte sich immer jäh bei ihm ein und ging schnell wieder vorüber.

In späterer Zeit dagegen – – –

Die Mutter begriff es nicht; Karl ebensowenig. Aber soviel sahen sie beide, daß er unglücklich war. Es hatte den Anschein, als wäre er in einem Zustand wachsender Selbstquälerei. Und darin irrten sie sich nicht.

Jetzt nun konnte er mit der Spitzfindigkeit eines Kierkegaard herausgrübeln, daß, wenn er nicht existierte, seine Schwester glücklich geworden wäre. Dann hätte sie das Vermögen und eine entsprechende Erziehung erhalten. Dann hätte ihre ererbte Anlage nicht Nahrung genug erhalten, um sie zuletzt in den Wahnsinn zu treiben.

Oder er dachte sich die Schwester mit ihm selbst, mit Augusta, mit all den andern Mädchen hier im Garten und in der Schule aufwachsend. Du ewige Gerechtigkeit, alle diese fremden Kinder hatten Anrecht und Zugang hier gehabt, nur nicht sie, seine Schwester, seines Vaters Tochter. Daß seine Mutter mit ruhigem Gewissen diese unabweisliche Pflicht mit ein paar armseligen Talern per Monat abzubezahlen den Mut gehabt hatte! Daß sie sich nie zu mehr verpflichtet gefühlt hatte! Welches Verbrechen war gegen diese Unglückliche begangen worden! Und das nicht einmal zu begreifen ...!

Und nun mitten in all das hinein das Ereignis mit Tora.

Frau Rendalen wollte mit ihm sprechen. Das erstemal wurde sie, wie wir wissen, unterbrochen. Aber als Tora schlief, ging sie zu ihm hinein und vertraute ihm alles an.

Er übersah sofort die Tragweite dieses Ereignisses für die Schule, für Toras Freundinnen und ihn selbst, und geriet in eine solche Wut auf Nils Fürst, den er nie hatte leiden mögen, daß diese Wut am besten mit seinen eignen Worten gemalt wird: »Hätt ich ihn hier, mit diesen meinen beiden Fäusten zerdrückt ich den Kerl zu Mus.« Obgleich Tomas äußerlich keine sonderliche Ähnlichkeit mit seinem Vater hatte, konnte er ihm doch bisweilen in einer Weise ähnlich sein, daß Frau Rendalen schauderte.

Aber gerade diese Angst verlieh ihr Mut. Nun hatte sie ein Jahr lang seine Unduldsamkeit, seine Gereiztheit, seine leicht erregbare Wut wachsen sehen. So oft sie selbst die Veranlassung zum Ausbruch war, reichte sie nicht weiter, als sich nur zu verteidigen oder vielleicht ihm aus dem Wege zu gehen; er hatte sie wirklich nach und nach ganz unterdrückt.

Aber jetzt galt es eine andre; Toras Verzweiflung trieb sie vorwärts; umsomehr, da diese auch eine beängstigende Ähnlichkeit mit dem, was sie da vor sich sah, hatte ... Als er nach einem neuen überwältigenden Ausbruch davonstürzen wollte, stellte sie sich ihm in den Weg:

»Tomas, du bringst mich noch ins Grab mit deiner Heftigkeit! Du läßt ihr mehr und mehr die Zügel schießen, aber sie kann dir über den Kopf wachsen, mein Junge!«

Er zuckte zusammen und wurde leichenblaß.

»Ja, Maßlosigkeit ist und bleibt Maßlosigkeit; ob sie recht hat oder nicht; und ich meine doch, du solltest dich in acht nehmen.«

Ihre Stimme bebte – ihre Augen begegneten sich und maßen einander; in seinen war etwas Verbittertes und Unglückliches aufgestiegen; das gab ihr einen Stich ins Herz.

»Aber, Tomas, darf ich dich denn nicht einmal mehr warnen, ich, deine Mutter? ... Nein, sieh mich nicht so an, meine Schuld ist es doch nicht! Ich habe, so gut ich konnte, dagegen angearbeitet, ja, Tomas – schon ehe du geboren warst. Und ich denke, es auch fernerhin zu tun. Erst im letzten Jahr hast du nicht mehr wider deine Natur angekämpft. Und namentlich mich läßt du es entgelten.«

Er stand am Fenster und starrte hinaus. Jetzt wandte er sich um; in seinem Blick lag ein tiefer Schmerz.

»Was ist es denn, Tomas – um Gotteswillen, was ist es?« – Aber er wandte sich ab und legte den Kopf auf seinen Arm. »Ich begreife dich nicht, Tomas! Du bist mir ja so überlegen. Du hast einmal gesagt, ich hätte etwas Blindgeborenes an mir. Und das erkenne ich. – Ja, du demütigst mich oft. Oft vor mir selbst, und das mag ja gehen, aber oft auch vor andern, was ja nicht gerade notwendig wäre. Dann aber solltest du es auch ertragen können, daß ich dich darauf aufmerksam mache, wenn du fehlst.«

Das letzte sagte sie fast demütig; das machte einen tiefen Eindruck. Er sagte nichts, aber er wandte sich und begann in sichtlicher Aufregung schnell auf- und abzugehen.

»Wenn ich nur erst mal wüßte, was du gegen mich hast! Es ist ja nicht nur das, daß du mich zurechtweist ... Ja, Tomas, du duldest nicht, daß ich dies Wort gebrauche. Aber – ich – ich muß mehr dulden als das Wort. Es ist aber nicht nur das, es steckt noch mehr dahinter. Was ist es? Warum sprichst du nie mehr, Tomas – weder mit mir, noch mit Karl? Du bist selbst unglücklich. Meinst du, wir merkten das nicht? Und da möchte ich dir so gerne etwas sein. Wenn ich auch unter dir stehe – –«

»Das Wort will ich nicht hören!« schrie er.

»Nein – nein, – aber du läßt dich ja nicht mal herab, mit mir zu sprechen. Da muß ich ja denken, daß ... nein, ich sag's ja gar nicht. Aber nun siehst du selbst, wie du bist ... Dir gegenüber darf man so ein Wort nicht mal nennen. Und du –? Aber ich schweige ... Ich sehe, du leidest, mein Sohn. Aber wenn du nun mal ein bißchen dran dächtest, daß auch ich leide! Mein Gott, und das dauert nun bald schon ein Jahr ... Und ich ahne nicht, was es sein kann. Tomas, nicht das geringste weiß ich, außer dem, was mir an Begabung fehlen mag. Ist es etwas, das ich ändern kann, o, so sage mir's doch, ja, sage mir's, was es auch sei. Kannst du mir nicht ein bißchen Vertrauen schenken?«

»Und kannst du mir denn nicht welches schenken?« brach es gewaltsam aus ihm heraus; und das Gesicht mit beiden Händen bedeckend, warf er sich aufs Sofa. – – –

Und dann kam es an den Tag, daß er verschmachtete, daß er eine warme, heftige Natur habe, die Vertrauen haben wollte – Vertrauen und Liebe, wenn er nicht zugrunde gehen sollte. Das »Verhältnislose«,, an das er sich gewöhnt und das er in fieberhaften Studien, in ewigen Reisen und Plänen entwickelt habe, sei hier in den festgefügten Verhältnissen in Entbehrung umgeschlagen, in quälenden Hunger, hier, wo sich tagtäglich dieselbe Innigkeit, dieselbe Hingebung, dieselbe Opferfreudigkeit derselben Menschen für dieselben wiederholte – und nur er außenvor stehe. Daß sein ganzes Wesen schriee nach dem, was er um sich sehe, – nicht etwa das verfluchte »Geklebe«, wie er sich ausdrückte, nein, aber das, wobei Vertrauen, Vertrauen und immer wieder Vertrauen die Grundlage sei. Sie müßten doch Nachsicht mit ihm haben und ihn nehmen können, wie er nun mal wäre, weil sie an ihn glaubten. Sonst ginge er zu Grunde.

Und zuletzt saß Frau Rendalen da mit dem Kopf ihres Jungen in ihrem Schoß ... Sie hörte und hörte, und ihr Herz wurde so groß, und die Brille nahm sie nur gleich ganz ab, denn damit fing sie gar nicht erst an. Sie dachte: er hat recht – Gott, wie recht hat er! Ein Bild nach dem andern stieg vor ihr auf, vor allem dachte sie an das mit den Lehrerinnen. Denen hatte sie sofort vertraut. Und um ihnen gefällig zu sein, hatte sie ihm die Schule einfach weggenommen, ja, seit jener Zeit immer eine Art Oberaufsicht geführt. Bis zu diesem Augenblicke hatte sie in dem seligen Wahn gelebt, das sei ihm ganz gleichgültig, ja, eine Erleichterung.

Und nun fing sie an zu ahnen, was sie auch sonst gefehlt haben konnte – sie hatte diese feine, so leicht verletzbare Natur nicht erkannt. Wenn die zurückgedrängten Kräfte in ihm nun wieder Macht über ihn gewannen, so war sie schuld daran.

»Du meinst das mit den Lehrerinnen, Tomas?« fragte sie, und ihre Stimme war nur ein einziger Selbstvorwurf.

Da nahm er ihre Hände und hielt sie fest, während er aufzählte. Und nun kam eine Reihe, so lang, so lang – von großen und kleinen Dingen, so kleinen, daß sie von ihrer Existenz nicht mal eine Ahnung hatte; – von Antworten, beiläufigen Ratschlägen, von Worten an andre, ja sogar von stummen Blicken bei etwas, das er gesagt hatte ... In ihrer Angst bat die brave Frau Rendalen um Verzeihung mit Hand und Mund und Arm und Brust, und schwur, daß, wenn er künftig sage, er wolle nach dem Monde reisen, sie ihm glauben wollte. Aber kaum hatte sie sich zu dieser soliden Übertreibung, über die auch Tomas lächeln mußte, hinaufgearbeitet, so erwachte auch ihr Gedächtnis wieder. Klar erinnerte sie sich, wie das gekommen war, daß sie zum erstenmal Mißtrauen gefaßt hatte. Das war damals nach seiner großen Rede gewesen. Damit hatte er sie aufs Glatteis gelockt, viel weiter, als sie Mut hatte, ihm zu folgen, und das hatte sie erst hinterher gemerkt. Da lag der Grund! Die Macht seiner Überzeugung, seine Überredungskunst und ein gewisses Etwas, für das sie keinen Namen hatte, beraubte die Menschen ihrer Freiheit; ohne Zweifel hatten auch die Lehrerinnen diese Gefahr empfunden. Aber so sind nun mal wir Menschen, sobald wir entdecken, daß wir uns weiter haben mitziehen lassen, als es uns paßt, dann setzen wir uns nicht bloß zur Wehr – das wäre ja nur in der Ordnung –, nein, von dem Augenblick an betrachten wir alles, was der andre sagt und tut, mit Mißtrauen ...

Frau Rendalen war sich ganz klar darüber, daß es bisweilen mit ihr so gewesen war, und daß sie auch versucht hatte, es wieder gut zu machen; aber daß es so oft vorgekommen war, ahnte sie nicht, noch weniger, daß er das überhaupt gemerkt hatte. Wohl hatte sie gefühlt, daß sie sich selbst dadurch schadete; aber erst jetzt kam es ihr zum Bewußtsein, daß sie auch ihm damit schadete. Er hatte immer so überlegen und so abwesend getan.

Ja, nun kam es also zur Abrechnung. Sie wurde unterbrochen und wieder aufgenommen, sobald in den folgenden Tagen die Gelegenheit kam. Dabei wurde auch über das Schicksal der armen Tora für die nächste Zukunft bestimmt. Es war nur eine kleine Abzahlung auf das Große, das es ausgerichtet hatte. Und jetzt wurde ein gegenseitiges Vertrauen eröffnet, das von seiner Seite mit einem ganz überwältigenden Reichtum hervorquoll. Die große Entbehrung eines ganzen Jahres sättigte sich in zwei Tagen. Er gab sich so unmittelbar, so zärtlich und so treu bis ins Kleinste hinein, daß sie ihn bewunderte – ja mehr, sie war einfach verliebt in ihn. Wenn sie dasaß in ihren eignen Gedanken und er unerwartet ins Zimmer kam, wurde sie rot. Wenn sie nur seinen Schritt hörte, konnte man ihr das ansehen; sie erriet, was er wollte, und alles, was er wollte, war ausgezeichnet. Sah sie ihn in guter Laune, dann sang sie – das Schlimmste, was sie vornehmen konnte, denn noch hat niemand herausbekommen, was sie eigentlich zu singen glaubte. Nora hätte sich unglücklich gefühlt, wenn sie nicht ebenfalls an diesem großen Versöhnungsfest, das vom Morgen bis zum Abend und vom Abend bis zum Morgen währte, teil genommen hätte.

Mitten in dieser Wiederbelebung der Gemüter wurde also Toras Angelegenheit geordnet. Tomas war bald mit sich einig, was geschehen mußte. Fürst war, wie die Zeitungen gemeldet hatten, nach Stockholm kommandiert worden, und Tomas erbot sich, sofort mit Tora dorthin zu reisen. Fürst sollte gezwungen werden, Tora zu heiraten – natürlich sollte Tora nicht mit einem solchen Schurken zusammenleben, sondern nur seinen Namen für ihr Kind und den Lebensbedarf für sich selbst dadurch erhalten, damit sie etwas lernen und für ihr Kind sorgen könne. Und wenn Rendalen sich an Fürsts sämtliche Vorgesetzte, ja, an den König selbst wenden sollte – er wollte schon dafür sorgen, daß der Elende seine Pflicht tat. Keiner von den Eingeweihten, am wenigsten die Mutter, zweifelte einen Augenblick daran. Eine warme, freudige Luft, eine optimistische Stimmung hatte sich aller bemächtigt.

Der armen Tora war Rendalens Vorschlag anfangs sehr zuwider gewesen. Das Entscheidende für sie, trotzdem nachzugeben, war die Rücksicht auf die Schule und ihren Freundeskreis, damit auf beide möglichst wenig Schatten fiele. Man war schonend genug, dies nicht zu erwähnen; aber es drängte sich ihr von selbst auf.

Nur in einem Punkt wurde Rendalens Plan geändert. Statt seiner mußte Frau Rendalen mitreisen – das andre hätte Folgen nach sich ziehen können, mit denen ihnen nicht gedient war.

Zwei Tage, nachdem der Plan entworfen worden war, drei Tage nach der gewaltsam unterbrochenen Vorlesung, reisten sie ab.

Am Nachmittag des letzten Tages wurde Frau Rendalen mit einem Male mißmutig. Man wußte, daß sie Unannehmlichkeiten mit Geld gehabt hatte, – aber das kam hier ja oft vor – und gerade jetzt war alles geordnet worden; trotzdem blieb der Himmel bewölkt. Rendalen ging ihr nach und wollte wissen, was es sei. Mehrere Male wich sie ihm unter irgend einem Vorwand aus; aber als er sie festhielt, mußte sie dann schließlich damit herausrücken, daß sie es unmöglich sagen könnte; es sei ein fremdes Geheimnis – nicht etwa Toras, beeilte sie sich hinzuzufügen. »Sperr deine Augen auf, dann brauchst du mich nicht in Versuchung zu führen!«

Und er sperrte seine Augen auf, aber es war ihm ganz und gar unmöglich, zu begreifen, woher die Verstimmung seiner Mutter rührte. Sie reiste mit ihrem Geheimnis ab. Er ging umher und fragte die andern; aber sie waren alle gleich dumm.

In der Stadt erregte es Aufsehen, daß Frau Rendalen um diese Jahreszeit und mitten in der geschäftigsten Schulzeit nach – Stockholm reiste. Und daß sie, wenn sie durchaus Begleitung brauchte, Tora Holm mitnahm, die doch so krank gewesen war. Toras Mutter erzählte stolz, vielleicht käme die Tochter gar nicht zurück, wenn sich nämlich Stockholm als der rechte Ort für sie erweise, so sollte sie dort »ihre Studien fortsetzen« ... Alle hatten gehört, daß Tora ungewöhnlich begabt war, so daß man dies ganz natürlich fand.

Frau Rendalen war beim Amtmann Tue gewesen und hatte mit ihm und seiner Frau über Nora gesprochen. Nach ihrer Ansicht hatte Nora ganz ausgesprochene Anlage für Erziehungswesen und Administrationstalent überhaupt. Sie sei auch weniger »wichtigtuerisch«, wenn sie mehr Verantwortung bekäme, und dann auch nicht launisch. Sie fragte, ob Nora nicht vorläufig während ihrer Abwesenheit auf das Gut hinaufziehen und die Oberaufsicht über das Haus, die Pension und die Schule übernehmen und die Bücher führen könnte. Später könnte sie ihr dann zur Hand gehen – vielleicht auch sich weiter für das Schulfach ausbilden.

Dazu gaben beide Eltern sofort und unbedingt ihre Einwilligung. Sie hatten genau dieselbe Auffassung von ihrer Tochter wie Frau Rendalen. Lächelnd fügte der Vater hinzu, sie schiene auch keine Anlage zum Verliebtsein zu haben. »Nein,« meinte die Frau Amtmann froh, »zur Ehe fühlt sie gar keinen Beruf.«

Oben in Haus und Schule fand man es freilich merkwürdig, daß die jüngste Lehrerin, die im vorigen Jahre selbst noch Schülerin gewesen sei, über alle andern gesetzt wurde; aber in der Tat offenbarte Nora jetzt ihre besten Eigenschaften; sie war klar, entschlossen und ganz unglaublich gefällig.

Mit Rendalen vertrug sie sich gut; er schien Gefallen daran zu finden, mit ihr zu sprechen, d. h. »mit ihr zu sprechen« ist nicht das rechte Wort; er sprach und sie hörte zu. Aber anders machte er's ja nie; wenn die andern loslegten, machte er sich gewöhnlich aus dem Staube. Obwohl noch nicht dreißig Jahr alt, hatte er sich nach und nach schon ganz putzige Gewohnheiten angeeignet; aber jede dieser Angewohnheiten stand als Wahrzeichen über irgend einer Phase seiner Entwicklung. Wer weiß, ob nicht auch diese seine Angewohnheit, einfach allen Verhandlungen auszuweichen, ursprünglich seinen Grund in einer Reihe trauriger Erfahrungen hatte? Jetzt kämpfte er ehrlich gegen die Wut, in die gewisse Dinge, gewisse Namen ihn versetzen konnten. Die Folge davon war, daß er jedesmal, wenn er sich dabei ertappte und Halt machte, sich räusperte, als wär ihm das bewußte in die Sonntagskehle gekommen. Wurde es ihm zu arg, dann spuckte er auch wohl hastig ein- oder zweimal mit zusammengekniffenen Lippen – kein sichtbares Spucken, nein, höchstens ein ganz feiner Regen, ein unsichtbarer Strahlenschleier.

Tinka konnte das unvergleichlich nachmachen. Sie schnitt ein Gesicht – bei kleineren Dingen, als habe sie zu viel Senf gegessen, bei größeren, als habe sie grüne Seife verschluckt –, drehte den Kopf und räusperte sich, ein trocknes Katzenräuspern. Tat sie auch, als ob sie spuckte, dann geschah es mit einem Gesicht voll meilenferner Vornehmheit. Bald konnten die Mädchen es alle; nichts gelang ihnen so gut wie das.

In der Schule war Tomas Rendalen jetzt wie in der ersten Zeit nach seiner Heimkehr, ganz Feuereifer, unglaublich erfinderisch, wenn es galt, ein Ding klar zu machen, oft hinreißend. Freilich wurde er den Lehrerinnen wieder ein rechter Quälgeist, aber jetzt war kein Grund mehr da, ihn mißzuverstehen, trotzdem sie oft Angsttropfen schwitzten, wenn er sich in den Unterricht mischte. Aber es ging doch jetzt an, zu ihm zu gehen und mit ihm darüber zu reden, und dann war er unwiderstehlich liebenswürdig.

Auch die ungleichmäßige Behandlung der Kinder und die Veränderlichkeit seiner Stimmungen dauerten leider fort; aber es geschah so unmittelbar, und das, vereint mit dem absoluten Gerechtigkeitsgefühl und vor allem der Freimütigkeit, mit der er um Verzeihung bat, wenn er von seinem Unrecht überzeugt worden war, machten vieles wieder gut. Miß Hall mußte einräumen, daß sie diese seine unverbesserliche Schwäche, wie überhaupt auch andres zu streng beurteilt habe. Denn selbst die Feueranbeter mußten zugeben, daß er nicht vollkommen war. So z. B. wenn er angesichts mehrerer Klassen in der Physikstunde sich daran machte, ein Gesicht in den Tisch zu schnitzen, das ein Zufall begonnen hatte ... und kurz darauf wie ein Türke raste, weil so ein kleines Ding einen winzigen Buchstaben in ihr Pult geritzt hatte. »Ob die Schulbänke etwa zum Zerschneiden da wären, he? Solche Dinge sollte man in der Schule hübsch bleiben lassen.«

* * *

Frau Rendalen meldete aus Stockholm: Fürst sei leider abwesend, würde aber in einigen Tagen zurückkommen; sie müsse also warten; inzwischen wolle sie die Zeit benutzen, um Tora bei einer achtbaren Familie unterzubringen und die Bedingungen für den Unterricht zu erfahren.

Trotz der ungünstigen Jahreszeit hatte die Reise, die sie ganz in aller Ruhe zurückgelegt hatten, sie sehr erfrischt. Auch Tora erholte sich zusehends mit jedem Tage.

Rendalen war begeisterte; wer ihn nicht kannte, hätte glauben können, er betrachte Toras Unglück als das größte Glück. »Da sieht man's mal wieder!« rief er froh, wenn er einen der Eingeweihten traf. Was er damit meinte, war nicht recht klar.

Aber sowohl er wie die andern Freunde erfuhren einen argen Stoß in ihrer Siegessicherheit, als sich in der Stadt das Gerücht verbreitete, Nils Fürst sei verlobt! Und mit wem? Mit »eurer treuen Freundin, eurer ewig dankbaren – Milla Engel! ...«

Das Gerücht wurde von Anton Dösen, Fürsts bestem Freunde, verbreitet. Er gab es nur als eine Vermutung aus, aber er glaubte seiner Sache ganz sicher zu sein. Die beiderseitigen Familien verhielten sich diplomatisch, »sie wußten nichts davon.«

Man hätte nur sehen sollen, welche Gesichter die Mitglieder des »Vereins« machten, so oft sie sich in diesen Tagen begegneten. Namentlich Tinka Hansen, wenn sie feierlichst das Protokoll aufschlug und ihnen Millas Namen zeigte. Darauf konnte sie einen Eid ablegen, daß alle bei »absolut unsittlich« an Nils Fürst gedacht hatten. Und Milla war eine der strengsten gewesen. Das Vermächtnis ihrer Mutter machte das ja auch selbstverständlich. Nein, das mit der Verlobung war einfach unmöglich! So schlecht konnte man nicht von Milla denken; das wäre ja Treulosigkeit gegen Lebende wie gegen Tote.

Millas verschiedene Pariser Briefe an Nora wurden jetzt wieder durchgelesen. Sie wohnte zusammen mit einer amerikanischen Dame bei einer französischen Familie, die schwere Verluste erlitten, aber vornehme Freunde und Verwandte hatte. Sie bewegte sich in »legitimistischer« Luft, doch nicht von der allerstrengsten Art; sie hatte Gelegenheit, alles »Aristokratische« und »Feine« zu bewundern, unabhängig von Religion und Politik, alles Moderne, alles was Schönheit und Talent hieß. Und sie wußte die Gelegenheit gut zu benutzen. »Du kennst ja mein schwärmerisches Temperament,« schrieb Milla.

Sie hatte als treues Mitglied des »Vereins«, als treue Schülerin der Rendalenschen Schule anfangs auf französischen Geist gestichelt. Aber ganz plötzlich vollzog sich der Umschlag. Gemälde, Romane und Theatervorstellungen entzückten sie. Das äußere Leben – wenn auch in einer gewissen Distanze – übte einen prickelnden Reiz auf sie ... Ganz selbständig war nun zwar diese neue Auffassung nicht; man hörte aus allem die Amerikanerin heraus, trotzdem es Millas Handschrift war. Aber just darum hatte man ihren Beichten nicht die nötige Aufmerksamkeit geschenkt.

Milla schrieb, was sie daheim in der Schule alles sich eingebildet hätten, das passe nicht; ihr Vater habe ganz recht gehabt. In jedem Briefe erzählte sie das eine oder andre als Beweis – nicht im entferntesten schlüpfrig; im Gegenteil, sie schrieb mit einer Feinheit, die nicht ohne Kunst war. »Man dürfe sich keine Illusionen machen,« schrieb sie, »dann werde man auch am wenigsten unglücklich.«

Nora hatte ihr geantwortet, wie sie fühlte und dachte.

Alles das erhielt jetzt neue Bedeutung. Sollte diese neue Anschauungsweise Millas mehr sein als zufällige Schlagschatten des vorüberrauschenden Lebens? Sollte es wirklich eine wohlüberlegte Einleitung sein zu der Verlobung mit Nils Fürst? Unmöglich! Nora war viel zu erhaben, um so schlecht von ihrer Freundin zu denken.

Sie hatte Tora das feierliche Gelübde gegeben, »Milla nichts zu sagen«. Jetzt glaubte sie sich ihres Versprechens entbunden und schrieb aus ihres Herzens Fülle heraus. Auch Tinka schrieb tief ergriffen von der Sünde, die an Tora begangen worden war, und mehr noch von dem Gerücht, daß mit einem solchen Kerl Toras beste Freundin sich verlobt habe – sie, deren Namen im Protokoll stand! – –

Fünf lange Tage vergingen, ehe wieder ein Brief von Frau Rendalen kam, ein ganz kurzer, trockner Brief; Fürst war nämlich noch immer nicht zurückgekehrt. Gleich darauf kam ein langer, rührender Brief von Tora; aber dann gingen wieder mehrere Tage dahin, ohne daß irgend eine neue Nachricht von den beiden einlief.

Seitdem Nora und Tinka an Milla geschrieben hatten, waren nun auch bereits zehn Tage verflossen. Wenn sie gleich geantwortet hätte, so müßten sie jetzt schon einen Brief von ihr haben; und das hätte sie nach einer solchen Mitteilung und einer solchen Beschuldigung doch sofort tun müssen ...

Sie wurden nach und nach ganz aufgeregt, namentlich, als jemand, der nicht eingeweiht war, äußerte: als sie gehört habe, Milla und Fürst reisten zusammen, habe sie sich gleich gedacht, das sei eine sehr passende Partie.

Natürlich war es Anna Rogne, die diese Bemerkung machte.

Warum sie denn nicht früher was gesagt hätte? »Weil die andern das mit Mißtrauen aufgefaßt hätten,« meinte sie, »und,« fügte sie lächelnd hinzu, »es wäre auch nicht recht von mir gewesen.«

Endlich eines Nachmittags, Nora kam gerade von der Singstunde, fand sie ein versiegeltes Kuvert auf ihrem Tische. »Da haben wir's«, stand mit Rendalens großen Buchstaben oben drauf. Sie ahnte nichts Gutes, da Rendalen ihr den Brief nicht sofort selbst gebracht hatte. Sie hatte den andern versprochen, den Brief nicht eher zu lesen, bis alle zusammen seien; aber derartige Versprechen kann man doch unmöglich halten.

Frau Rendalen hatte also ihre große Unterredung mit Nils Fürst gehabt. Er hatte ihre lange Rede mit höflicher Ruhe angehört, als wäre er darauf vorbereitet gewesen, und als er dann endlich antworten mußte, hatte er bloß gesagt, das sei eine heikle Sache; die Auffassungen von der bewußten Person, um die es sich handle, seien eben verschieden. In seinen Augen sei Tora Holm ein ungewöhnlich sinnlich veranlagtes Frauenzimmer, die sich in Gegenwart eines Mannes kaum zu beherrschen wisse. Die Frage, ob er wisse, welche Macht er in solchen Dingen besitze, hatte er mit ja beantwortet. Doch wirke diese nur auf eine gewisse Sorte von Weibern, und eben zu dieser gehöre Tora.

Er habe durchaus nicht mehr Verpflichtung, sie zu heiraten, als andre, mit denen er früher Verhältnisse gehabt hätte. Für das Kind wolle er sorgen und gern auch für sie selbst – das heißt eine angemessene Reihe von Jahren.

Frau Rendalen drohte ihm, die Sache seinen Vorgesetzten zu erzählen – ja, wenn es nötig wäre, sogar zum König zu gehen.

»Bitte sehr, meine Gnädigste! Ich reiche vielleicht doch ebenso weit.«

Sie sagte ihm, es würde einen erbitterten Kampf geben. Darauf erwiderte er, er wisse ganz genau, wie dieser geführt werden müsse. Er lasse sich nicht von einer Bande von Intriganten aus seiner Karriere drängen. Die Dame, um die es sich hier handle, sei zur » femme entretenue« der höheren Gesellschaft bestimmt; so eine Person ihm zur Gattin aufzwingen zu wollen, sei geradezu empörend.

Aber er merke nur zu gut, was es hier gälte – er sollte sich für die Schule opfern. Allein er habe durchaus keine Lust, so gutmütig zu sein. Er wisse, was für eine Sorte von Vorträgen da oben auf der Schule gehalten würde, sowohl im »Verein«, wie auch sonst; welche Lektüre und Gespräche den Schülerinnen gestattet würden; dabei sei es eben gar nichts Merkwürdiges, daß sinnliche Naturen erregt würden. Also, meinte er, müsse die Schule auch die Folgen tragen; es würde wohl auch noch andre nach sich ziehen.

Frau Rendalen hatte den bestimmten Eindruck erhalten, daß etwas geschehen sei, das ihn aufgebracht und ihn schon im voraus instruiert hätte, was er zu sagen habe.

Diese Unterredung hätte sie derartig angegriffen, daß sie krank wurde; das wäre auch der Grund, daß sie nicht eher geschrieben hätte. Sie hätte auch nicht schreiben wollen, ehe sie gleichzeitig melden könne, daß sie am nächsten Tage zurückreise; und das könne sie jetzt. Sie habe keinen Mut, hier an diesem fremden Orte weitere Schritte zu unternehmen, auch glaubte sie nicht, daß das klug sein würde. Wenn sie Fürst richtig verstanden hätte, so wünschte er geradezu offenen Kampf.

Er sei ein fürchterlicher Mensch, vor dem man sich in acht nehmen müsse.

Sie mache kein Hehl daraus, daß diese Sache ihre Schule in Gefahr bringe und auch Tora und ihren unschuldigen Freundinnen viel Leid bringen würde. Tora sei ganz außer sich. Beiden graute vor dem Abschied morgen.

Der Brief schloß mit einer Klage darüber, daß diese Kämpfe, die doch mit der Tätigkeit der Schule gar nichts zu tun hätten, nie und nimmer ein Ende nehmen wollten. »Unsre Feinde haben gefährliche Hilfstruppen bekommen; bald wird sich's zeigen, ob auch wir welche bekommen haben.«

Spät an demselben Abend – Miß Hall, Tinka und Anna Rogne hatten alle den Brief gelesen und saßen bei Nora im Wohnzimmer – kam ein Telegramm. Sie glaubten, es sei von Frau Rendalen an Tomas, und Nora stand sofort auf, um eins der Mädchen damit zu Tomas zu schicken, als Tinka rief: »Es ist ja gar nicht an Rendalen, es ist ja an dich.«

»An mich?« fragte Nora und kehrte wieder um. Ganz richtig, es war an sie und zwar von Milla. Darin stand:

» Abscheulich; Gerücht unwahr

Vierzehn Tage waren verflossen, seit Nora und Tinka geschrieben hatten. Seit zehn Tagen also hatte Milla den Brief schon gehabt und schickte nun – ein Telegramm! Was hatte das zu bedeuten?

Während die andern die Depesche bald wieder über den Nachrichten von Frau Rendalen vergaßen, gegen die ja diese Neuigkeit ziemlich gleichgültig war, saß Anna Rogne mit Millas Telegramm in der Hand und sann und sann.

Die andern fragten sich, ob nun auch sie mit in den Tora-Skandal hineingezogen werden sollten. Wer weiß, ob nicht der »Krieg« schon erklärt war, ob nicht Nils Fürst vielleicht schon an jemand in der Stadt geschrieben und seine Auffassung der Sache auseinandergesetzt hatte. Was würde dann geschehen? Dann kam wohl eine Zeit, wo keine von ihnen sich mehr auf der Straße zeigen durfte. Wer weiß.

Anna Rogne unterbrach sie. »Sollten wir dies Telegramm nicht Rendalen mitteilen?« – »Ja, natürlich« – und es geschah sofort.

Alle erwarteten, daß Tomas sofort zu ihnen herauskommen würde; aber vergebens – nach einer Weile horten sie ihn sogar am Klavier.

»Ja, wenn auch Herr Rendalen der Depesche keine Bedeutung beilegt, so darf ich vielleicht meine Meinung aussprechen, wie das zusammenhängen muß,« bemerkte Anna Rogne zeremoniell.

Der Zusammenhang, meinte sie, müsse der sein, daß Milla und Fürst wirklich verlobt seien. Aber auf Noras Brief habe sie sofort energisch die Verlobung gelöst und ihm dabei solche Andeutungen gemacht, daß er den Grund verstanden habe. Eben darum sei er vorbereitet gewesen, als Frau Rendalen zu ihm gekommen war; eben darum wünsche er Öffentlichkeit und Krieg; sonst könne er seine Sache nicht gewinnen. Und gewinnen müsse er; die Heirat mit der reichsten Erbin der ganzen Küste wäre die unerläßliche Bedingung für seine Karriere.

Eben weil Milla schon mit ihm verlobt gewesen, sei es ihr so schwer geworden, zu schreiben. Sie habe so lange überlegt – sich vielleicht auch geprüft – bis sie den Ausweg gefunden habe, zu telegraphieren.

Anna Rogne schloß mit den Worten: »Meiner Vermutung nach befindet sich Leutnant Fürst in diesem Augenblick in Paris.«

Es mag gleich gesagt werden: Annas Verhältnis zu Milla wurde für die letztere verhängnisvoll. Dieses Verhältnis übte seinen Einfluß – zunächst auf alle diejenigen, mit denen sie täglich verkehrte, und später auch auf Frau Rendalen. Nils Fürst befand sich wirklich auf dem Wege nach Paris; aber hätten die Freundinnen Milla sofort Frau Rendalens Brief zugeschickt – sie hätte Fürst kaum angenommen. Und hätten sie dann Tora gebeten, an Milla zu schreiben, – so wie sie später, als es notwendig wurde, an sie selbst schrieb – er wäre sicherlich nie und nimmer vorgelassen worden. Denn selbst wie es jetzt stand, ließ sie ihn nicht vor. Dazu bedurfte Fürst erst der wiederholten Unterstützung aus der Heimat. Aber auch dafür hatte er gesorgt. Er hatte seine Zeit wohl benutzt.

4. Krieg

Schon am Tage, ehe Frau Rendalens Brief und Millas Telegramm das Gut erreichten, hatte Anton Dösen von Fürst einen Brief erhalten. Der Brief war wohldurchdacht, ehe er losgelassen wurde, und augenscheinlich darauf berechnet, vorgelesen zu werden oder die Runde zu machen.

In seiner Erzählung von Tora legte er jener Begegnung bei Frau Gröndal große Bedeutung bei. Er habe sie vorher nur einmal flüchtig gesehen und keine Ahnung gehabt, daß er sie da draußen treffen würde. Bis zu seiner Ankunft sei sie unterhaltend und liebenswürdig gewesen, habe Frau Gröndal ihm erzählt; aber von dem Moment an sei sie sofort unnatürlich geworden. Sie konnte nicht ertragen, daß er sich mit Frau Gröndal unterhielt. Sie versteckte sich, ließ sich suchen und nahm dann ganz unmotiviert Reißaus. Natürlich sei er ihr gefolgt, um ein bißchen näher zu sehen, was das eigentlich für eine Art Geschöpf sei. Sobald er sich ihr auf dem Dampfer genähert habe, habe sie zu weinen angefangen! An der Landungsbrücke habe sie jede Hilfe abgelehnt; aber seitdem sei sie Tag für Tag an seiner Wohnung vorbeigelaufen und habe verstohlen hineingeguckt, ob er zu Hause sei! Dann sei sie weitergegangen in den Wald oder nach den »Hainen« – ganz allein.

Sodann erinnerte er an »gewisse Vorlesungen« und Verhandlungen, die oben auf der Schule abgehalten worden seien. Seiner Ansicht nach konnte ein junges Mädchen, das aus einer solchen sinnlich erregenden Luft käme, sich kaum anders benehmen. Er meinte, das seien »magnetische Einflüsse« genug, andrer bedürfe es nicht einmal.

Er wolle es natürlich nicht entschuldigen, daß er sich schließlich habe verlocken lassen, ihr in den Wald hinaus zu folgen, wo sie sich den Scherz gemacht habe, Verstecken mit ihm zu spielen – so fingen ja die kleinen Mädchen alle an. Aber er wolle doch fragen, ob ein Mann mit Selbstachtung ein Mädchen heiraten könne, das täglich an seinen Fenstern vorbeilaufe, um ihn in den Wald hinaus zu locken.

Frau Rendalen scheine anders darüber zu denken. Sie sei ihm nach Stockholm nachgereist, um eine Heirat zustande zu bringen. Das würde eine nette Ehe geben, eine nach dem Muster ihrer eignen.

Er seinerseits habe eine viel zu hohe Vorstellung von der Ehe, um sie in solcher Weise entheiligen zu wollen.

Er habe sich erboten, für sie zu sorgen – jedenfalls so lange, als das Kind der Mutter bedürfe; auch sich bereit erklärt, das Kind als das seine anzuerkennen. Soweit geböten ihm Ehre und Pflicht zu gehen. Aber weiter – nein! Das hieße eine törichte Handlung durch eine noch törichtere wieder gut machen wollen. – – –

Und darin gaben ihm alle recht, alle, denen Dösen den Brief vorlas. Und das geschah im Laden, auf der Straße, im Klub. Verschiedene nahmen den Brief mit nach Hause. Obgleich das Papier sorgfältig ausgewählt war, wanderte der Brief doch so lange von Hand zu Hand, bis er nur noch ein unleserlicher Fetzen war.

Von diesem Brief wurden zwei Abschriften angefertigt: die eine für Tomas Rendalen (auf dessen eignen Wunsch) und die andre für – ja, Dösen trug einen Augenblick Bedenken, aber auf wiederholtes Bitten konnte er es nicht länger verweigern – eine für Tora Holms Mutter.

Das machte ihm ganz besonderes Pläsier. Toras Mutter war eine heftige, robuste, durch den Kampf ums Dasein verbitterte Frau. Sie betrachtete fast alle Verhältnisse mit höhnischem Zweifel. Geriet sie in Zorn, so kannte sie keine Rücksicht.

Und eines Morgens, mitten in der Schulzeit, stand sie oben im Flur in einem schweren, schäbigen Düffelmantel, einem Hut mit kampflustiger Feder, die bloßen Hände in einem alten Muff, sie fuchtelte damit herum und schrie vor Weinen. Im breitesten Bergensisch verlangte sie ihr Kind zurück! Man hätte sie verhext und gestohlen! Sie sei hierhergekommen als ein braves Mädchen, aber in diesem alten, verwünschten Kurt-Haus sei sie verdorben worden. Und jetzt, Gott verzeih ihnen, sei sie im Mund der Leute und mit Schande bedeckt! Aber wart nur, das sollten sie schon büßen! Vors Gericht sollten sie – die Polizei würde sie ihnen auf den Hals schicken!

Ihr Zorn war unbeherrscht; aber ihr Schmerz war echt. Alle rückten vor ihr aus. Dann brach sie in eine der Klassen ein, die sich sofort auflöste, da die Lehrerin Reißaus nahm. Auf diese Weise gelang es ihr, drei Klassen zu sprengen. Sie brachte eine ungeheure Verwirrung hervor. Einige der Mädchen wurden so ängstlich, daß sie auf den Boden hinauf flüchteten, wo sie eine Weile stehen blieben, vor Kälte zitternd und lauschend, ob sie sich wieder hinunterwagen dürften.

Einige der älteren Schülerinnen, die sich von der Weltgeschichte her erinnerten, bei gewissen Gelegenheiten müsse man Mut an den Tag legen, hielten stand, um ihr gütlich zuzureden. Aber da geriet sie erst recht außer sich. Offenbar lebte sie in einer Art Vorstellung, daß die Mädchen hier oben lernten, unanständig zu sein. Es empörte sie, daß »anständiger Leute Kinder« so etwas verteidigen wollten ...

Zuletzt ergriffen auch diese Wenigen die Flucht, einige hielten sich die Ohren mit den Händen zu.

Nur die Kleinen hatten einen Heidenspaß an ihr. Sie umringten sie und zogen im Triumph hinter ihr her. Der ganze Schwarm kam schließlich zur Küche hereingestürmt, wo sie dieselbe Vorstellung zum besten gab. Dort hatte man Mitleid mit ihr; aber man hütete sich wohl, auch nur ein Wort zu sagen. Dann ging's wieder hinaus in den Flur vor Rendalens Tür – die verschlossen war. Darauf vor Karl Wangens Tür – die ebenfalls verschlossen war. Dann zurück an Frau Rendalens Tür, die offen stand. Dort drang sie hinein; sie wollte sehen, ob Rendalen wirklich nicht zu finden sei.

Rendalen war in der Stadt und wurde erst zur nächsten Stunde erwartet.

Aber da erschien Karl Wangen. Mit großem Ernst gebot er Ruhe, entfernte die Kinder und nahm die arme Mutter mit sich in sein Zimmer. Dort saß sie etwa eine Stunde und schüttete ihm ihr Herz aus. Sie brachte alles durcheinander – ihre Verzweiflung über Tora, über ihren Saufbold von Mann, über ihre Not ... Mit hundert Kronen in der Tasche und still weinend ging sie endlich die Allee hinab.

In der Schule sah es aus wie in einem Hühnerhof, in den der Marder eingebrochen ist. Habt ihr das wohl mal beobachtet? Erst fliegen die Hühner unter entsetzlichem Gegacker an Fenstern, Wänden und Leitern hinauf, bis sie ganz betäubt und ermattet sind und nicht mehr fliegen können. Dann rennen sie laut gackernd auf der Erde durcheinander und gegeneinander, gegen Eimer und Bottiche. Und selbst, wenn die Gefahr vorüber ist, ist sie darum doch nicht vorüber; sie gackern und jammern und krähen alle auf einmal mit ungeschwächtem Lärm; und das nimmt kein Ende; denn sobald das eine aufhören will, setzen die andern, die nicht aufhören wollen, um so eifriger ein; und so lebt der Schrecken von neuem in ihnen auf und die ganze Schar gackert ärger denn je.

Endlich putzt man sich die Federn, schüttelt die Flügel, sträubt die Federn, bis man wieder im alten Geleise ist ...

Aber die Schule konnte den ganzen Tag nicht wieder ins Geleise kommen. Die Wirkung hielt lange an, ja, sie drohte sogar, gefährlich zu werden. Und draußen in der Stadt, welche Schadenfreude! Welch ein Siegesgeheul, – in den Kontors, auf den Straßen, auf den Schiffsbrücken. Man sprach überhaupt von nichts anderm.

Als Frau Rendalen ein paar Tage darauf zurückkehrte, war die ganze Landungsbrücke dicht gedrängt voll Menschen – meist männliche Jugend –, um sie zu empfangen. Man hatte am Sonnabend in der Schule erfahren, daß sie am Sonntag Nachmittag mit dem Dampfer käme. Zu etwas Besserem konnte man natürlich seine Mußestunden nicht benutzen, als zu sehen, wie ein großer Feldherr aus einer verlorenen Schlacht heimkehrt. Der Skandal, den sie durch diese Reise hatte decken wollen, war jetzt mindestens so groß wie eben diese Reise.

Als Rendalen mit dem Wagen ankam, konnte er nicht durch die Menge; er mußte jemanden bitten, die Zügel zu halten, während er selbst vorwärtszudringen versuchte. Nora, Tinka, Anna und einige andre Freundinnen, die sich verabredet hatten, wurden stutzig, als sie die Menschenmenge erblickten – und kehrten um, St. Peters Beispiel folgend, natürlich mit der Abweichung, die unsre moderne Zeit gestattet. Nur die kleine Miß Hall trotzte den dräuenden Kriegsrüstungen. Sie schlüpfte soweit vor, bis sie neben den nervösen Rendalen gelangte, gerade in dem Augenblick, als er an Bord gehen wollte.

Frau Rendalen sah angegriffen aus, die Blicke, die sie hastig mit ihrem Sohn und Miß Hall wechselte, sagten deutlich, daß sie sehr wohl begriff, warum diese Menge sich hier drängte, und daß sie sich nicht sicher fühlte. Sie hielt sich krampfhaft am Arm ihres Sohnes fest.

Aber der Respekt vor ihr, vielleicht auch, da man nun Aug in Auge ihr gegenüberstand, das Mitleid, bewirkten, daß niemand etwas unternahm. Man machte ihr Platz. Natürlich las man in aller Mienen und Augen, daß die Leute hier nicht als Ehrengarde standen. Sogar einige ältere Bekannte waren zugegen. Unter andern der Stadtschultheiß nebst Frau. Sie grüßten kaum. Mit der ganzen Strenge einer edlen Moral ließen sie die Sünder vorbeiziehen.

Die der Anlegebrücke am nächsten standen, suchten sich jetzt seitwärts an den Wagen vorzudrängen. Nach und nach alle, an denen die drei vorübergekommen waren. Der Wagen war vollständig umringt, als sie sich hineinsetzten. Nun mußten sie natürlich ganz langsam, Schritt für Schritt, die Menge noch einmal passieren. Jetzt war sie lästiger geworden. Kaum aber waren sie aus dem Schwarm heraus, als Tomas heftig auf die Pferde losschlug – er war einfach wütend.

Da sah er oben von der Straße her Anton Dösen mit einer ganzen Schar Freunde so schnell sie konnten, ihnen entgegenlaufen. Ihre Gesichter glühten, offenbar kamen sie direkt von einem Mittagsgelage. Alle grüßten außerordentlich ehrerbietig. Sei es nun, daß Dösens Gruß unartig war, oder daß Tomas in seiner Erregung das nur so schien – im Nu hatte er die Pferde zum Stehen gebracht, warf Miß Hall die Zügel zu, sprang ab, stand im nächsten Augenblick Dösen gegenüber und gab ihm eine Ohrfeige, sodaß dieser auf die Seite kugelte. Wie der Blitz war er wieder im Wagen – und ehe man noch recht zur Besinnung kam, rasselte der schon weiter auf dem Pflaster.

Oben standen die drei Ausreißer, Tinka, Anna und Nora im Flur. Miß Hall kam zuerst die Treppe hinausgelaufen und erzählte mit strahlendem Gesicht, was geschehen war. Aber Frau Rendalen fand es durchaus nicht amüsant. Auch Tomas verschwand, sobald er seine Mutter in ihr Zimmer geleitet hatte. Es dauerte geraume Zeit, eh er wieder zum Vorschein kam, und da war er verstimmt.

Das Gespräch drehte sich ausschließlich um jenen dunklen Punkt in Toras Geschichte, auf den sie selbst gar kein Gewicht gelegt, ja, den sie kaum erwähnt hatte – ihre Begegnung mit Fürst bei Frau Gröndal. Das hatte in der Stadt alle Versuche, die Schuld auf Nils Fürst zu schieben, völlig zerstört. Frau Grondal hatte Fürsts Auffassung in allen Punkten bestätigt. Tora Holm sei ganz toll vor Verliebtheit gewesen und nur nach der Stadt zurückgekehrt, um Fürst mit sich zu locken.

Frau Rendalen konnte versichern, das einzige, was Tora »toll« gemacht habe, sei die Intimität gewesen, in der Frau Gröndal und Fürst miteinander verkehrt hätten; die habe sie verletzt. Möglicherweise hätte dazu beigetragen, daß sie auf dem Wege gewesen sei, sich für ihn zu interessieren; erst später sei ihr das klar geworden.

Man kam überein, Tora selbst den Sachverhalt darstellen zu lassen. Tinka schrieb noch denselben Abend an sie.

Inzwischen war Rendalen hinzugekommen, und jetzt erzählte die Mutter von der Reise und wie Tora gewesen sei. Gerade, als Frau Rendalen ihre jetzige Auffassung von Tora auseinandersetzen wollte und alle sehr gespannt zuhörten, wurden sie durch Karl Wangens Eintritt unterbrochen; er kam aus der Kirche. Das Wiedersehen zwischen ihm und seiner Pflegemutter war ungewöhnlich herzlich; dann ging sie mit ihm hinein auf ihr Zimmer.

Den ganzen Abend ließ sie sich nicht wieder blicken.

Denn der, den Toras Unglück am tiefsten getroffen hatte, war Karl Wangen; aber das wußte niemand außer Frau Rendalen.

Er war nämlich so ganz in aller Stille als der glücklichste Mensch auf Gottes weiter Erde umhergegangen. Nie traf er Tora, ohne daß sie sichtlich froh wurde, was er jedoch nicht so auszulegen wagte, als liebte sie ihn – Gott behüte! Aber er liebte und meinte, wenn Frau Rendalen ihm einst ein wenig helfen wollte, so könnte die geschmeidige Tora vielleicht dahinkommen, ein wenig seine Interessen zu teilen. Und tat sie das erst, so ging ihr vielleicht ein Licht auf über seine große Liebe zu ihr. Dann würde sie vielleicht fühlen, daß er alles tun konnte, um sie glücklich zu machen.

Frau Rendalen hatte ihn freilich mit Tora und über Tora reden hören, aber nicht eher etwas geahnt, als bis sie ihm an jenem Morgen erzählte, was geschehen war. Da sah sie, wie er totenblaß wurde; und statt ein Wort des Mitleids zu äußern, statt seine Hilfe anzubieten, war er verstummt. Auch dieser Vorfall schien ihr noch nicht entscheidend; ihr neues Verhältnis zu ihrem Sohn nahm sie ja damals ganz in Anspruch; aber es dämmerte doch eine Art Verständnis in ihr auf. Als dann das Geld, auf das sie für die Reise gerechnet hatte, nicht gleich zu beschaffen war und Karl sie mit sich zog und ihr seine Sparpfennige und eine kleine Erbschaft anbot – da las er in ihren Augen, daß sie alles verstand. Und da konnte er nicht mehr, er breitete die Arme aus –

»Ja, Mutter, es ist so!«

* * *

Meine geliebte Nora!

Was magst Du wohl von mir denken, daß ich solange nicht geschrieben habe?

Aber Dein letzter Brief hat mich in eine solche Aufregung versetzt um unsrer lieben armen Tora willen, daß ich wirklich nicht wußte, was ich schreiben sollte. Wie verlegen und hilflos und – laß mich's gleich hinzufügen – wie schamerfüllt steht man doch angesichts solcher Dinge da, liebste Nora! Wenn man bedenkt, daß einem Mädchen, mit dem wir verkehrt haben, so etwas widerfahren konnte! –

Nie vergesse ich, was mein Vater sagte, als er sie zum erstenmal bei mir sah. Damals war ich sehr böse darüber; wir mochten uns ja so gern leiden.

Bist Du auch ganz sicher, liebste Nora, daß es sich wirklich so zugetragen hat, wie Tora es erzählt hat? Du weißt ja, sie nahm es nicht immer so genau. Und namentlich bei einer solchen Sache, denk ich mir, ist man später geneigt, andre Farben aufzutragen. Meinst Du nicht auch?

Ich will nicht weiter erzählen, was ich gehört habe; das kann ja auch auf Irrtum beruhen. Aber Du weißt ja selbst, liebste Nora, vorsichtig ist sie nie gewesen. Weißt Du noch, wie oft Du ihr ins Wort fallen mußtest, wenn sie etwas erzählte? Sie war ja in Frankreich gewesen, – sie wußte mehr als wir andern. Wenn ich jetzt an alles das zurückdenke, was sie mir bisweilen erzählt hat, so muß ich sagen, es war – na ja – gar mancherlei Merkwürdiges ...

Ob ihr nicht etwas davon im Blute steckte?

Damit will ich natürlich keinen Vorwurf ausgesprochen haben! Das könnte mir am allerwenigsten jetzt, da sie unglücklich ist, in den Sinn kommen. Aber vielleicht wird dadurch das eine oder andre erklärlich.

Sie tut mir furchtbar leid, und Du würdest mir einen großen Gefallen tun, wenn Du mir sagen könntest, auf welche Weise ich, ohne sie zu verletzen oder sie verlegen zu machen, ihr nützlich sein könnte.

Heut komme ich noch nicht dazu, unserer lieben Tinka zu antworten. Grüße sie freundlichst von mir und sage ihr, der Ausdruck »Toras beste Freundin« – den sie in ihrem letzten Briefe gebraucht habe – passe auf mich jedenfalls nicht.

Es mochte zwar damals so aussehen, das leugne ich nicht; aber es war ganz allein Toras Schuld. Nicht, daß sie sich mir aufgedrängt hätte – das will ich durchaus nicht gesagt haben –; aber wer mit ihr verkehrte, konnte es eben nicht vermeiden, zu weit zu gehen. Ich mußte mehr daraus machen, als mir angenehm war; und das bis zur letzten Stunde des letzten Tages. Denk Dir nur, ich war noch keine drei Tage allein gewesen, da empfand ich geradezu eine Art Entrüstung gegen sie. Das war aber vielleicht häßlich von mir.

Ihr Einfluß auf mich machte sich übrigens auch nach unserer Trennung noch lange geltend. Das wurde mir zwar nicht gleich klar, aber ich habe hier neben mir einen Beweis liegen – den Brief, den Du so freundlich warst, mir auf meine Bitte zurückzuschicken, in dem ich in aller Hast einige meiner Eindrücke aus Sophienruh niedergekritzelt hatte. Den werde ich zu meiner eignen Strafe aufheben. Soeben erst hab ich ihn wieder durchgelesen. Da Du ihn leider ebenfalls gelesen hast (was ich mir nie verzeihe), so kannst du selbst beurteilen, ob ein Brief mir weniger ähnlich sein kann als dieser. Ich weiß nicht, aber ich sehe immer nur Tora in diesem Briefe. Seitdem habe ich nicht mehr an sie schreiben können.

Hier, wo alles seine Form hat, wo kein Raum ist für sentimentale Vertraulichkeit, verletzt es einen so unglaublich, an so was auch nur erinnert zu werden. Es ist fast, als ginge man ohne eine ordentliche Coiffüre und – in bloßen Unterkleidern auf die Straße.

Aber vielleicht urteile ich zu streng; denn daß so was passieren kann, daran ist zum Teil der gesellschaftliche Ton bei uns zu Hause schuld. Daran mußte ich erst neulich wieder denken, als ich mit ein paar Deutschen zusammen war; die sind gerade so. Aber Tora war doch die schlimmste, die mir je begegnet ist.

Aber wie talentvoll war sie! Ich kann kein neues Kleid anziehen, keinen Schnitt studieren, ja keine neue Mode sehen, die mich interessiert, ohne daß ich an Tora denke. Sollte sie nicht Modistin werden? Wenn ich in dieser Beziehung etwas für sie tun könnte, wäre ich mit großem Vergnügen bereit. Was soll sie auch sonst anfangen? Sie tut mir wirklich von Herzen leid.

Ich hätte Dir, liebe Nora, noch viel zu erzählen; fast Tag für Tag erlebe ich ja etwas Neues. Aber das mit Tora hat mich in eine schrecklich trübe Stimmung versetzt; es fehlt mir die Lust, von etwas Heiterem anzufangen.

Die arme Tora! Bitte, grüße sie ja von mir; aber teile ihr nichts von dem mit, was ich Dir hier in aller Vertraulichkeit geschrieben habe; es würde sie verletzen, ohne daß es einem von uns etwas nützen könnte. Das Schicksal hat ja jetzt eine Scheidewand zwischen uns errichtet, wir brauchen es also nicht selbst zu tun.

Grüße Tinka, Frau Rendalen und alle, die sich erkundigen nach Deiner treuen – und in andrer Beziehung sehr glücklichen – Freundin

Milla Engel.


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