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IV. Der Generalstab

Nun denkt wohl der verständige Leser: jetzt kommt die Beschreibung einer Schule. Und ich bin ganz einig mit ihm, so müßte es sein.

Aber die Logik des Lebens ist nicht immer die unsre, und wir halten uns an die des Lebens.

1. Eine große Rede und eine kleine Stadt

Schon an demselben Abend wußte Tomas, was Pastor Green dachte; Karl kam mit der Nachricht zu ihm herauf.

Tomas ging ihm draußen entgegen, als er ihn die Allee heraufkommen sah, und die beiden machten einen langen Gang weit ins Land hinein.

Pastor Green hatte als sicher vorausgesetzt, daß Tomas, wenn er seinen Schulplan vorlegen wolle, eben über diesen Schulplan und über nichts wesentlich anderes reden würde; nicht einen Augenblick hatte er sich die Möglichkeit gedacht, daß er eine Programmrede im großen Stil halten würde, worin der Plan selbst nur angedeutet wäre.

»Möglich,« meinte er, »daß heute eine solche Rede über ein solches Thema hier in unserm Lande gehalten werden kann; aber jedenfalls nur in einigen unsrer größten Städte; in einer kleinen auch in zehn Jahren kaum. Und vor allen Dingen, und wo es auch sei, die Rede muß von einem Manne gehalten werden, der unabhängig dasteht. Ein Mann, der eine Schule daraufhin gründen will« – nein, ein unbesonneneres Unterfangen konnte der alte Herr sich nicht denken.

Er hatte Karl beauftragt, ihm dieses wortgetreu mitzuteilen. Tomas müsse sich nämlich ja keine Illusionen darüber machen, was jetzt kommen würde. Wenn die Schule nach diesem Vorfall überhaupt noch bestehen bleibe, so wäre das einzig und allein dem Ansehen zu danken, daß seine Mutter begründet habe. Nach einer solchen Herausforderung würde man die Schule nicht mehr nach dem beurteilen, was gelehrt würde, sondern nach einem jeden Mädchen, das schon in diesem Jahr aus ihr hervorgehe. Begehe sie einen Fehltritt, würde ohne weiteres die Schule die Schuld dafür bekommen.

Der Pastor hätte ja doch aus Tomas Rede herausgehört, daß auch er selbst diese Befürchtung hege. Warum in aller Welt hätte er da nicht lieber geschwiegen? Ein einziger Fall könne jetzt die ganze Schule über den Haufen werfen.

Es ist nicht zu beschreiben, welchen Eindruck das auf Tomas machte. Und während Karl erzählte, fühlte er, daß auch der bereits mit dem Propst einig war. Er fühlte, auch seine Mutter würde übergehen, alle, alle würden übergehen! Er hatte eine große Torheit begangen.

Sie kamen nicht vor Mitternacht nach Hause. Heute abend konnten sie also nicht mehr mit der Mutter sprechen. Alles war auch schon still, als sie in ihre Zimmer gingen.

Tomas bewohnte sein altes Zimmer, das neben der Badestube, aber es war jetzt zur Feier seiner Heimkehr neu eingerichtet worden; Karl hatte das daranstoßende Eckzimmer. Wie alle Zimmer des Gutes waren auch diese so tief, daß der Vorhang, der den Raum, wo das Bett stand, abteilte, kaum zu bemerken war.

Das Abendessen war ihnen aufs Zimmer gestellt worden; aber sie waren beide so niedergeschlagen, daß sie nichts anrührten.

Als Karl schon lag, saß Tomas noch auf seinem Bettrand. Und es blieb nicht bei der einen Nacht.

Früh am andern Morgen – es war ein Sonntag – ging Frau Rendalen zu Niels Hansens hinunter; sie wollte nach ihrer Gewohnheit direkt auf die Sache los gehen.

Sie kam zu der Zeit des Kirchganges zurück. Von seinem Fenster, das nach der Allee ging, sah Karl sie kommen und kündigte es Tomas an; er selbst wollte gerade in die Kirche. Tomas ging mit ihm hinaus und seiner Mutter entgegen. Sie sah betrübt aus. Also nicht einmal Hansens – –?

Nein, Niels Hansen selbst hatte gesagt, es passe ihm nicht, in der Kirche den Buckel voll geschimpft zu kriegen. – Was er denn damit meine? – Ja, wenn er in einen öffentlichen Vortrag ginge, dann tue er das, um etwas zu lernen oder um ein paar gemütliche Stunden zu haben, aber nicht, um angeschnauzt zu werden, oder andere anschnauzen zu hören.

Frau Rendalen hatte ihm geantwortet, in einem Vortrag müsse man doch auf die Fehler der Menschen aufmerksam machen dürfen. »Nee, aber nich die Leute extra einladen, um ihnen ihre Fehler unter die Nase zu reiben ...«

– – Aber Frau Hansen?

Laura fand seine Vorschläge nicht richtig, Kinder dürften nicht alles wissen. Dagegen hatte jedoch Schuster Hansen eingewendet, seine eigne Bauernerfahrung habe ihn das Gegenteil gelehrt. Auf dem Lande wüßten die Kinder von klein auf alles; und wenn trotzdem auf dem Lande die Unsittlichkeit groß sei, so komme das nicht davon, daß sie Bescheid wüßten, sondern davon, daß diese ganze Frage auf dem Lande sehr vernachlässigt sei. Er selbst wäre in einer engen Gemeinde ausgewachsen, wo Kinder beider Geschlechter in dieselbe Schule gingen und dieselben Spiele spielten, bis sie erwachsen wären; sie hätten alles gewußt; aber er denke an jene Zeit als an etwas sehr Geborgenes zurück.

Das hatte Niels Hansen aber schon so oft gesagt, daß Tomas sich wunderte, wie die Mutter das nur wiederholen mochte. Sie tat es ja auch nur, um die Zeit in die Länge zu ziehen.

Frau Emilie Engel war nämlich krank geworden. Man hatte sie gestern aus dem Wagen direkt ins Bett tragen müssen. Der Doktor war gestern dagewesen, und auch in der Nacht, und eben jetzt wieder; Frau Rendalen war ihm begegnet.

Sie fing zu weinen an. Wenn Emilie jetzt unterläge, so wäre sie schuld daran. Sie hätte doch wissen müssen, daß Emilie es nicht ertragen konnte, von der Treulosigkeit der Männer reden zu hören, wenn ihr eigner Mann neben ihr saß – Emilie war ja so schwach und zart! Um jeden Preis hätte sie ihren Sohn verhindern müssen, so etwas zu tun, und statt dessen hatte sie sich noch obendrein drüber gefreut! Das käme aber nur daher, weil sie und alle andern im Verkehr mit Tomas immer nur seiner Ansicht wären – einerlei, ob sie es wirklich wären oder nicht. Natürlich wäre Tomas zu weit gegangen; der Doktor hätte es auch gesagt.

Was denn der gesagt hätte?

Er hätte gesagt, das wären »wieder mal die vermaledeiten Nerven« – »die Kurtsche Maßlosigkeit in andrer Fasson«.

Und von neuem fing sie zu weinen an.

Und als wollte Tomas ihr auf der Stelle beweisen, daß sie und der Doktor recht hätten, wurde er fuchsteufelswild vor Wut. Schauderhaft, in so ein Nest mit so erbärmlichen Verhältnissen zurückzukommen; unter haltlosen, feigen Menschen arbeiten zu müssen, die sofort in alle Ecken auseinanderstöben, wenn eine Reform auf Widerstand stieße.

»Es ist ja nicht die Reform selbst, sondern die Art und Weise!«

Die Art und Weise! Eine Reform könne nicht eingeschmuggelt werden! Unverhüllt müsse sie kommen und sich zeigen, wie sie wirklich sei. Gestern abend, als er müde war, habe auch er diese Eisbergkälte empfunden, geschaudert habe ihm. Aber das hier ginge doch wirklich über die Hutschnur. Seinetwegen könnten alle durchbrennen, er wollte schon standhalten. Seine Mutter hätte er freilich für fester gehalten; das meiste von dem, was er gestern vorgetragen, sei doch wahrlich nur die Summe ihrer eignen Erfahrungen ...

Das war am Sonntag vormittag draußen im Garten.

Am Dienstag mittag wurde die Zeitung der Stadt, » Der Zuschauer«, an seine Abonnenten ausgetragen. Unter einem großen Fragezeichen als Überschrift wünschte ein Einsender zu wissen, ob es denn wirklich möglich sei, daß in einer großen Schule hier in der Stadt der größte Teil der Kinder der Unsittlichkeit verfallen sei? Wenn auch der Direktor der Schule selbst es vor mehreren hundert Menschen gesagt habe, so gestatte man sich dessen ungeachtet doch, daran zu zweifeln. Daß man ihn nicht etwa mißverstanden habe, dafür bürge die Tatsache, daß er seine Behauptung wiederholt habe. »Dieses (die Unsittlichkeit nämlich) sei die Regel,« habe er behauptet; »das andere wäre die Ausnahme«.

Der Artikel war nicht unterzeichnet. Nun machte sich die stumme Gärung Luft; das Mißfallen brach in hellen Flammen aus! Man sprach von nichts anderem. Die Schülerinnen saßen am nächsten Morgen in bleichem Schrecken da. Zum Morgengebet fanden sich alle, Schülerinnen und Lehrerinnen, wie zu einem Strafakt ein. Auch Karl Wangen war angegriffen und konnte nicht von Herzen beten. Still und mutlos ging alles an die Tagesarbeit. Rendalen zeigte sich nicht.

Er antwortete unter vollem Namen, in der nächsten Nummer, am Donnerstag, wenn dieses »Mißverständnis« beabsichtigt sei, wäre es eine »Erbärmlichkeit«, wäre es ein unabsichtliches, so hätte man sich unter allen Umständen lieber auf privatem Wege Aufklärung verschaffen sollen. Nicht einmal annähernd sei etwas derartiges gesagt worden. Er habe einzig und allein gesagt, daß die Übergangszeit vom Kind zum Erwachsenen für die meisten Kinder eine schwere Zeit sei, und daß sie Gefahren mit sich bringe; sie verlange daher eine sorgfältige Überwachung.

Was die Schulvorsteherin beobachtet habe, sei, daß die Kinder in jenem Alter ein andres Wesen annähmen, daß sie ihren Fleiß, ihre Ordnungsliebe verlören; »das sei die Regel, das andere die Ausnahme«. Ob wirklich jemand in diese Worte so furchtbare Dinge hineinlegen könne, wie der Einsender behauptet habe?

Die Antwort war gut, aber sie verschlug nicht; die Aufregung war bereits so groß, daß mit Worten nichts mehr auszurichten war. Warum sei denn »die Übergangszeit so gefährlich«, meinte man, wenn nicht eben wegen jener Sache, um die er sich jetzt herumdrücken wollte.

Unmittelbar unter Rendalens Antwort stand in derselben Nummer eine neue Frage, nur ein einziger Satz, unterzeichnet: »eine Mutter«. Warum es eigentlich von so großer Wichtigkeit sei, daß kleine Kinder lernten, wie die Fortpflanzung vor sich gehe?

Diese Frage gab einer anderen Seite der Erbitterung, die die Stadt erfüllte, Ausdruck.

Darunter stand noch eine: »An den Herrn Realkandidaten und Schulvorsteher Tomas Rendalen!« Die Frage ward »in aller Ehrerbietung« gestellt, und es handelte sich darum, ob er die Rede, die er am vorigen Sonnabend in der neuen Turnhalle der Mädchenschule gehalten, nicht drucken lassen wolle. Denen, die sie mit angehört hätten, wolle man den Genuß gern noch einmal gönnen, und die, die nicht das Glück gehabt hätten, dürften doch ja nicht die Gelegenheit vorbeigehen lassen, etwas in seiner Art so Einziges kennen zu lernen. Unterschrieben: »Ein Freund gesunder und wahrer Aufklärung.«

Die nächste (Sonnabend-) Nummer brachte Rendalens Antwort. Die Kinder lernten bekanntlich schon jetzt Naturgeschichte, folglich also auch die Bedingungen für die Fortpflanzung der Arten; warum sie das lernen müßten, das zu beantworten liege somit jedem Schulvorsteher oder Rektor ebenso nahe oder vielmehr noch näher als ihm. Dieser Punkt sei übrigens durchaus nicht das Neue in seinem Vorschlage und käme für die Anfängerschule nur in Betracht, soweit es den Umfang und die Art und Weise des Unterrichtes betreffe.

Auf die zweite Frage antwortete er, daß ein Vortrag, zu dem nur Eltern zugelassen worden wären, sich selbstverständlich nicht für die volle Öffentlichkeit eigne.

Nur wenige fanden diese Antworten befriedigend. Das waren eben alles nur Ausflüchte. Da doch mindestens dreihundert Menschen den Vortrag gehört hätten, so könne er auch getrost in der Presse verhandelt werden.

In derselben Nummer drei neue Artikel.

Der erste gab der Freude des Publikums über die prompten Antworten Ausdruck. – Ob nun Herr Rendalen nicht auch noch erklären möchte, wie der sündige Trieb in jungen Menschen durch Mikroskope gezähmt werden könne?

An diesem Witz erkannte man sofort den Franzosendöse.

Nummer zwei unterzeichnete sich »Arithmetikus« und rechnete aus, was es dem Lande kosten würde, wenn von jetzt an jede Schule einen Arzt als Lehrer habe. Er kriegte für diesen einen Posten allein eine Summe von jährlich einer Million Kronen heraus. Und wenn jede Schule auch noch dazu einen Pastor haben solle, so ergebe das also noch eine Million! Ein loser Überschlag über die nach Rendalens Plan notwendigen Apparate und sonstiges Material ergab eine ungefähre Summe von 100 000 Kronen an jährlichen Zinsen. Das bedeute eine Mehrbelastung des Schuletats mit beiläufig zwei Millionen einmalhunderttausend Kronen jährlich.

Ob das denn überhaupt Sinn und Verstand habe?

Dann kam eine Anrede an »Herrn Tomas Kurt, auch Rendalen genannt«.

Ein Kind der Stadt habe »sein eignes Nest beschmutzt«. Wenn diese Stadt wirklich ärger wäre als andre, was Einsender sich zu bezweifeln gestatte, so trage sicherlich daran die Hauptschuld die eigne Sippe des geehrten Vortragenden. Und zwar von alter und neuer Zeit her. Er habe also am allerwenigsten Grund, sich darüber zu beklagen.

Der Einsender unterzeichnete sich » suum cuique«.

An demselben Tage hielt Tomas einen zweiten Vortrag. Zu diesem Vortrage, der als ein ausschließlich technischer Vortrag angekündigt war, fanden sich, einschließlich der Lehrerinnen – zwanzig – zwanzig Menschen ein. Weitere zehn stellten sich noch während des Vortrages ein. Man konnte Tomas, Frau Rendalen und Karl ansehen, daß diese acht Tage sie hart mitgenommen hatten. Der Redner von heute war anfangs ein andrer Mensch – zaghaft, matt, tastend; seine Nervosität war noch um zwanzig Prozent gestiegen. Das Taschentuch wanderte in einem fort aus der Tasche und wieder in die Tasche; die Karaffe wurde vollständig geleert, das Haar hochgepufft, die Hände spielten, die Füße bewegten sich, als träten sie eine Orgel.

Doch allmählich, wie er in den Schulplan hineinkam und sein Material und seine Apparate zu zeigen und zu erklären begann, fing er Feuer und war bald wieder der Alte. Seine überlegene Begabung, die Dinge klar auseinanderzusetzen und das Interesse dafür wachzurufen, kam wieder heraus.

Während er redete, ging ein Mikroskop mit einem Präparat darunter herum; unaufhörlich hielt er ihnen etwas Neues vor, entweder ganze Sammlungen oder große, farbige Zeichnungen, oder gar vollständig ausgeführte Modelle, die auseinandergenommen und bis in ihre kleinsten Teile studiert werden konnten, wie z. B. die Brust, der Magen, der Hals, der Kopf des Menschen. Einige der feineren Teile waren in vergrößertem Maßstabe vorhanden. »Nie,« erzählte er selbst, »ist hierzulande ein ähnliches Material gesammelt wurden; dem Interesse der großen Welt haben wir es zu danken, daß auch wir in unsrer Abgeschiedenheit und Geringheit so etwas zu sehen bekommen, – daß es überhaupt möglich gewesen ist, das alles anzuschaffen; einiges davon ist uns sogar geschenkt worden.«

Die wenigen, die den Vortrag mit anhörten, waren außerordentlich befriedigt; sie meinten, es könne doch noch ganz gut werden mit der Schule, trotzdem er mit seiner Antrittsrede so hereingefallen sei.

Aber die Zahl derer, die diese wohlwollende Auffassung vertraten, war leider allzu gering, um eine Gegenströmung schaffen zu können.

In der Dienstagsnummer fragte ein Einsender den Mann, der sich » suum cuique « unterzeichnet hatte, ob das bedeuten solle: für jedes Schwein?

Doch mochte auch diese Frage zu Gunsten Rendalens sein, so war die nächste Frage unbedingt das Ärgste, was noch zu seinem Nachteil gedruckt worden war. Der Einsender fing nämlich damit an, wie unverschämt es sei, daß ein junger Mann, der obendrein, seit er erwachsen war, kaum daheim gewesen wäre, sich trotzdem mit prahlhänsischer Überhebung über die Sitten seiner Vaterstadt verbreite!

Noch dazu tue er, als kenne er sämtliche Schiffer im ganzen Lande! Als hätte er sie rings um den ganzen Erdball herum verfolgt und Verhöre mit ihnen aufgenommen! Und um das Maß seiner Unverschämtheit voll zu machen, rede er auch noch, als kenne er den Kaufmannsstand der ganzen Welt.

Ein Mann mit einer so großen Unverfrorenheit und einer so leichtfertigen Ausdrucksweise eigne sich durchaus nicht zum Lehrer an einer Erziehungsanstalt, geschweige denn zum Leiter einer solchen.

Unter solchen Umständen müsse unbedingt sofort die Aufforderung zur Errichtung einer neuen Schule an die Bewohner ergehen.

Es sei hinlänglich bekannt, daß eine wohlgemeinte Aufforderung an die frühere Vorsteherin der Schule, diese ohne Herrn Rendalens Hilfe in der früheren Weise weiterzuführen, vergeblich gewesen sei. Nun wohl, so fordre denn hiermit der Einsender Männer von Ansehen auf, sich an die Spitze eines Komitees zur Errichtung einer neuen Schule zu stellen. Der Zustimmung der ganzen Stadt könne man sich versichert halten.

Verwundert fragte man sich in der Stadt, wer wohl dieser Einsender sein möchte. Im Klub wurde noch an demselben Abend der Vorschlag zur Diskussion gestellt, aber auch hier gab sich der Betreffende nicht zu erkennen. Man einigte sich dahin, um Konsul Engels willen zu warten; man bezweifelte nicht, daß auch er mit dabei sein würde; wußte man doch nur zu gut, welche Folgen Herrn Rendalens Rede im Hause des Konsuls nach sich gezogen hatte; aber es ging nicht an, ihn jetzt mit dem Plan zu behelligen, denn Frau Engel lag schwer krank.

Obschon die Beratung nur wenige Minuten dauerte, erzielte man doch sofortige Einstimmigkeit. Nach der Beratung war es erst neun Uhr, so daß Doktor Holmsen, der passiver Zuhörer gewesen war, direkt vom Klub, der am Markte lag, durch die Allee nach dem Gute hinaufging und Tomas alles berichtete. Je früher er es erführe, um so besser, meinte Holmsen. »In diesem Lumpennest mag der Deubel Schulmeister sein, das ist nun mein Rat!«

Tomas nahm den Doktor zu seiner Mutter mit, erzählte ihr alles und fügte hinzu, er wolle sofort abreisen.

Gleich darauf kam auch Karl nach Hause. Auch ihm wurde die Sache unterbreitet, und auch er meinte, nach dem, was er heute in der Stadt gehört habe, könne es nichts nützen, die Geschichte fortzusetzen.

Aber Frau Rendalen wollte unter keinen Umständen zugeben, daß er den Rückzug antrete. Dann wenigstens den ganzen Schulplan und die Motivierung in einem Buche niederlegen, und von der Stadt aus an das Land appellieren. So viele verständige Eltern müsse es doch in Norwegen geben, daß sie ihre Schule voll bekämen. Das sei übrigens nicht ihr eigner Vorschlag, sondern der ihres Sohnes, fügte sie hinzu, und den müsse er nun auch ausführen!

Sie kannte ihren Tomas; es galt nur, ihn über die einzelnen aufreibenden Eindrücke hinwegzubringen; dann würde er schon standhalten.

Man trennte sich erst um Mitternacht, und da hatten alle den festen Entschluß gefaßt, an ihrer Sache festzuhalten.

Die Schultätigkeit war es, die Tomas aufrecht erhielt. Er war Schulmann par excellence; die Schule mit allem, was drum und dran hing, war sein Lebenselement. Und jetzt legte er seine ganze Kraft in diese Arbeit hinein. Er machte die amüsantesten und lehrreichsten Experimente, die ihm einfielen, und erzählte und erklärte und trug vor. Die oberste Klasse hatte er seit seiner Rückkehr allwöchentlich einmal des Abends zu einer Extra-Sitzung im Zimmer seiner Mutter versammelt. Dort hatte er sie mit der großen Frauenfrage bekannt gemacht, die damals in der ganzen zivilisierten Welt die Gemüter bewegte. Er las den Mädchen vor und musizierte mit ihnen. In dieser Zeit des Kampfes bekamen nun diese Zusammenkünfte noch eine ganz besondere Bedeutung für ihn. Nicht mit einem Worte berührte er den Streit des Tages; aber durch die Wahl des Lesestoffes und der Gespräche, ja sogar der Musik, gab er ihnen unwillkürlich eine Idee von seinem Glauben an die große Sache, aber auch von seinem Leiden, wenn sein beweglicher Sinn getroffen wurde. Die oberste Klasse glaubte unverbrüchlich an ihn, und das hatte auf die andern Klassen einen großen Einfluß. Bald übernahm er den Gesangunterricht der ganzen Schule und studierte größere Chöre und muntre Lieder ein. Auch das knüpfte ein neues Band der Gemeinsamkeit.

Aber trotz alledem meldeten sich Aufruhrzeichen. Daß diese immer wieder verflogen, war besonders Karl Wangens Morgenandachten mit den Schülerinnen und Lehrerinnen zu danken.

Karl war kein hochbegabter Geist, aber er hatte eine Eigenschaft, die viel Geist aufwog; er hatte noch nie eine Unwahrheit gesagt. Er sagte alles genau so, wie er es fühlte, davon vermochte niemand und nichts ihn abzubringen. Und da sein Leben durch Kummer eingeweiht und später in Freude verwandelt worden war, so fand er Ausdruck für beide, schon allein durch den Klang der Stimme, der direkt zu Herzen ging.

Er betete so innig zu Gott um Schulfrieden; der Streit da draußen dürfe nicht über die Schwelle dieses Hauses dringen. »Nicht wahr, wir hier meinen es doch nur gut miteinander?« ... Mehr gehörte nicht dazu, um vielen die Tränen in die Augen zu treiben.

Einmal fügte er hinzu, er sei bevollmächtigt, zu sagen, daß ein jeder, der auch nur den geringsten Zweifel an der Schule hätte, sie jeden Augenblick verlassen dürfte; die Kündigungsfrist solle als aufgehoben gelten. Das möchten sie auch zu Hause ihren Eltern mitteilen, sie möchten ihnen erzählen, ob sie hier zufrieden seien oder nicht – wahrheitsgetreu, genau so, wie es wäre.

Hatten die Feinde der Schule Wind davon bekommen, welche Macht Karl Wengen da oben besaß? Jetzt richteten sich nämlich die Angriffe gegen ihn. Der »Zuschauer« brachte einen Artikel mit der Überschrift: »An den Hilfsprediger Herrn Karl Wangen!«

Man habe die größte Hochachtung vor seiner Moral wie vor seinem guten Willen; darum wundere man sich im höchsten Grade darüber, daß er sich Anschauungen, wie den dort oben kundgegebenen, anschließen könne. Kein Mensch – er sei denn geistig gar zu beschränkt oder gar zu vertrauensselig – vermöge sich darüber zu täuschen (wortgetreu), daß es sich hier darum handle, die Religion beiseite zuschieben und die Naturwissenschaften auf den Thron zu setzen.

Das löste eine ganze Lawine von Angriffen. Ein einziger mag hier mitgeteilt werden.

»Schreiber dieser Zeilen,« hieß es, kann nicht umhin, seiner tiefen Betrübnis Ausdruck zu geben über das, was er jüngst erleben mußte, daß, als nämlich eine freche Stimme im Turnsaal der Mädchenschule vom Katheder herab fragte, ob es nicht wahr sei, daß nur auf sehr wenige die Religion einen bleibenden Einfluß übe, daß da 4 – sage und schreibe vier – Geistliche sitzen blieben! Hatten sie wirklich in ihrem Herzen ja gesagt zu einer so gotteslästerlichen Rede?

Ist denn nicht Jesu Christi große Botschaft ergangen an alle Völker? (Siehe Matth. 28, 19; Mark. 16, 15; Luk. 24, 47; Apostelgesch. 10, 42, 43; Koloss. 1, 23.)

In so ausgesprochener Weise ist diese Botschaft an ›alle‹ ergangen, daß sie sogar zu allererst von den Einfältigen im Herrn erfaßt werden konnte. (Siehe Matth. 11, 25; Luk. 10, 21; 1. Kor. 1, 19 bis 27; Römer 1, 21, 22.)

Wenn es also nicht unbedingt allen gegeben wäre, von der göttlichen Wahrheit dauernd ergriffen zu werden, welche furchtbaren Schlußfolgerungen müßte man daraus ziehen können?

Ja, könnte dann die Bibel überhaupt göttliche Wahrheit sein?

Der Mann, der diese vermessene Frage tat, lebt mitten unter den Lehrern der Kirche; ja, er gehört zu ihren Freunden. Darum darf ich getrost sagen, es ist die Stimme des Unglaubens, ausgegangen aus unserer eignen Mitte. (Siehe 1. Joh. 2, 19; Apostelgesch. 15, 24 und 20, 30; Gal. 2, 4.)

Wo waren denn da die vier Zionswächter? Ich saß auf dem Sprunge, mich zu erheben; aber ich harrete ihrer. Mit Kummer im Herzen wiederhole ich die Frage: Wo waren sie?

Sie schliefen doch wohl nicht? (Siehe Matth. 24, 42, 43 und 25, 5; Mark. 13, 33; Luk. 21, 36; 1. Kor. 15, 33-34; 1. Thess. 5, 6; Eph. 5, 14.)

Wenn ich meinen Namen als Unterschrift unter diese Zeilen setzte, so wäre damit nichts gesagt, was irgend einen zum Nachdenken anregen könnte. Darum setze ich lieber folgende heilige Worte hierher: Psalm Davids 80, 7.«

– Die ganze Stadt schlug den achtzigsten Psalm Vers sieben auf und las:

»Du stelltest uns auf zur Zanklust; unsere Nachbarn und unsere Feinde spotten unser.«

Dieser Citathinweis gab der allgemeinen Erbitterung darüber Ausdruck, daß die Stadt durch diesen Streit zum Gespött der Nachbarorte geworden war.

Denn für die eifersüchtige Presse der Nachbarstädte war dieser Skandal natürlich ein gefundenes Fressen. Es hagelte geradezu spöttische Berichte und Enthüllungen. Die Stadt hatte nie im Rufe der Gottesfurcht gestanden, ebensowenig in dem der Sittlichkeit wie der Tugendhaftigkeit überhaupt. Um so mehr im Rufe des Reichtums, der Verschwendungssucht und Unternehmungslust. Und nun standen in den Blättern dieser kleinen »Lumpennester« fortwährend die unverschämtesten Lobpreisungen über den plötzlichen Umschwung, über den großartigen, sittlichen Ernst, der ganz und gar wie ein Wunder über dieses »Klein-Babylon« gekommen sei.

Vor ein paar Tagen hatte einer dieser kläffenden Köter ein Feuilleton begonnen, das offenbar aus der Mitte der Stadt selbst heraus entstanden war. Es war auch aus »Kurtheim« datiert und erzählte mit viel Witz die » chronique scandaleuse« der Stadt – natürlich mit erdichteten Namen; aber jeder erkannte die Geschichtchen sofort. Das Feuilleton schloß damit, daß es leicht einzusehen sei, warum es für »Kurtheim« solch eine heilige Pflicht sei, eine Reform der Sitten dieser Stadt zu verhindern.

Da dieser letzte Satz das einzige war, was zugunsten von Rendalens neuer Schule in die Öffentlichkeit gelangte, so glaubte man – ein Beweis, wie blind-fanatisch man geworden war – daß Rendalen selbst diese Artikel, wenn auch nicht geschrieben, so doch redigiert habe.

Jetzt lud der Seemannsverein die Bürger mit großen Buchstaben zu einer Versammlung ein »aus Anlaß der Beschuldigungen, die von gewisser Seite wider unsern wackern Seemannsstand geschleudert worden sind«.

Die Versammlung hatte die Eigentümlichkeit, daß kaum drei Seeleute zugegen waren. Den Vorsitz führte der Eigentümer einer Schiffswerft, der nie auf See gewesen war. Als Hauptredner trat der Hafenmeister der Stadt auf, der allerdings einmal Schiffer gewesen war, aber vor recht langer Zeit. Er donnerte furchtbar. Er hatte auch den schriftlichen Protest verfaßt, der »die Verachtung des Seemannsstandes« gegen eine solche Rede kundgab; eine Abschrift dieses Protestes wurde auf der Stelle an Tomas Rendalen geschickt.

Soweit war alles in schönster Ordnung. Aber als dann der Punsch kam und man diesem gleich von Anfang an recht tüchtig zusprach, wurde man bald ein wenig zu feurig. Da beliebte es dem einzigen anwesenden Schiffer Kaspar Johannsen, zu behaupten: »Der Tomas Rendalen hat, hol mich der Deibel, doch recht, der Kerl!«

Na, die Aufregung! Schließlich stellte der Hafenmeister den Antrag, »diesen neuen Ehrenschänder« sofort hinauszuwerfen. Kaspar Johannsen aber ließ sich durchaus nicht hinauswerfen »von so einem Kerl, der selbst Prozente in die Tasche gesteckt hat

Der Werftbesitzer wollte die Sache mit Würde beilegen; Kaspar Johannsen aber hieß ihn, »sich gefälligst zum Deibel scheeren«. Als ob sie nicht alle miteinander wüßten, daß er durch schlechte Schiffe reich geworden wäre! Hätte der Agent vom Lloyd das nicht selber gesagt? »Ja, das is – hol mich der Deibel – ne nette Liebe für den Seemann!« usw. usw.

Es endete mit einer Prügelei auf der Straße.

Endete? Es endete überhaupt den ganzen Sommer nicht, den ganzen Herbst nicht. Von der Schule wurde überhaupt nicht mehr gesprochen. Wochenlang sprach man von nichts als von seinen Geschäften, und welche Schiffer ehrlich und welche Prozentdiebe seien, – von seinen Geschäften, und welche Schiffer geradezu Großdiebe seien, und welche nur Kleindiebe seien; von seinen Geschäften, und welche Schiffer vollkommen ehrlich wären; – von seinen Geschäften und vom Schiffer N. N., der sich schon jetzt zurückziehen und ein eignes Geschäft gründen könnte usw.

Als im Herbst die Fahrzeuge heimkehrten, wurden die Schiffer selbst mit hineinverwickelt, einige wurden verabschiedet; diese verpetzten wieder andre, die nicht verabschiedet worden waren. Steuermänner und Matrosen weigerten sich, als Zeugen aufzutreten, und wurden dazu gepreßt. Der bitterste Haß wurde gesät – oder auf der Stelle ausgekämpft. Der »Schifferkrieg« rettete die Schule. Die Stadt war nicht groß genug, um zwei brennende Fragen auf einmal im Gange zu halten, und so wurde natürlich die, die auf das liebe Geld losging, auf die Dauer die wichtigste.

Aber wenn der »Schifferkrieg« auch die Schule vorläufig rettete, so rettete er doch keineswegs Tomas Rendalen. Der sollte schon bei Gelegenheit seine Abrechnung kriegen.

Daran wurde er gemahnt, als er kurz nach Ausbruch des Schifferkrieges eines Sonntagmorgens ganz früh mit einem Wagen nach dem Hafen hinunter mußte. Er wollte Miß Hall abholen, die mit dem englischen Dampfer ankommen sollte. Der Gesangverein und der Turnverein wollten gerade an diesem Tage eine Lustfahrt machen. Trotz der frühen Stunde waren also schon einige hundert junge Leute unten am Hafen versammelt. Unter allen diesen Menschen fühlte Tomas sich recht unbehaglich. Mit knapper Not ließen sie ihn persönlich unbehelligt; böse Blicke und drohende Anspielungen erreichten ihn. Als er ins Boot stieg, wurde das Tau so geworfen, daß es ihm den Hut vom Kopfe schlug und ihn bespritzte – natürlich aus Versehen.

Man konnte sich schon denken, was er mit seinem Wagen hier wollte; natürlich wollte er die neue Tugendwächterin der Stadt, die amerikanische Doktor-Miß, abholen. Der mächtige Bug des englischen Dampfers war ganz nah; man verzögerte die eigne Abfahrt, um die Miß noch zu sehen zu bekommen. Jetzt hob Rendalen sie und ihr Gepäck in sein Boot. Sie war der einzige Passagier, der ausgebootet wurde. So was Merkwürdiges mußte man sich doch ansehen.

Und was da zum Vorschein kam – das war ein Kind! Ein kleines, behendes Frauenzimmerchen, das jede Hilfeleistung ablehnte, als sie jetzt ans Land sprang; gleich war sie aber wieder die Treppe hinunter, weil die Leute im Boot ihr eine Kiste auf den Kopf gestellt hatten und sie sich nicht auf norwegisch ausdrücken konnte; dann wieder hinauf, an den Wagen, in den Wagen hinein, eins, zwei, drei, leicht und lächelnd. Aber als sie nun drin saß, blickte sie verwundert auf diese schwerfällige, mißtrauische Menge zurück. Ein langer, forschender Blick aus ein paar großen Augen glitt darüber hin. Tomas gab inzwischen Bescheid wegen des Gepäcks, ordnete etwas an den Zügeln und stieg dann auf.

Gerade soviel Zeit brauchten diese weiblichen Doktoraugen. Sie hatten jetzt den Ausdruck klarer, kalter Beobachtung angenommen. Sie schwebten nicht mehr ziellos umher, sondern griffen sich da und dort ein Gesicht aus der jugendlichen Schar heraus; fest, rasch, sicher. Die dieser Blick traf, fühlten ihn bis ins Innerste. Und da war keiner von allen den zweihundert jungen Leuten auf der Schiffsbrücke, der noch daran gezweifelt hätte, daß diese Augen so mancherlei zu entdecken vermöchten.

* * *

Als der Schifferkrieg eine Zeitlang gewütet hatte, nämlich kurz vor dem Ende der Ferien, verbreitete sich in der Stadt die Kunde, daß die von allen geliebte Emilie Engel, die Freundin aller Armen, die Freundin aller Menschen, von den Ärzten aufgegeben sei.

Frau Rendalen hatte zu allem andern die ganze Zeit heftige Gewissensbisse Frau Engels wegen gehabt – jetzt traf diese Nachricht sie wie ein betäubender Schlag. Von allen ihren Schülerinnen war – seit Augusta Hansens Tode – keine so gewesen wie Emilie, so schön, so verständig und so gut. An Frau Rendalen hatte sie sich angeschlossen wie an eine Mutter und hatte ihr auch – ihr allein – alles anvertraut, als sie unglücklich wurde – unglücklich, weil sie den Mann, der sie betrog, liebte. Längst hatte die ganze Stadt gewußt, was sie selbst erst in den letzten Jahren erfuhr. Gerade wegen dieser Leidensgeschichte Emiliens war ja Frau Rendalen so froh darüber gewesen, daß Tomas »alles mitnahm«, wie sie's nannte.

Und jetzt?

Weder sie noch Tomas waren auch nur einen Augenblick im Zweifel, daß alle es so auslegen würden, als hätte er durch seine brutale Rede sie getötet. Das würde die Erbitterung gegen ihn heftiger denn je wecken. Frau Rendalen hatte vom Arzt nicht die Erlaubnis bekommen, mit Emilie zu sprechen. Doktor Holmsen hatte in seiner ungehobeltsten Weise gesagt, sie sei »zu nah verwandt mit dem Vortrage«. Diese Äußerung war bekannt geworden.

Emilie Engel starb eines Morgens in der Frühe; am Nachmittag kam ihr Seelsorger, der alte Pastor Green, aufs Gut gefahren. Er überbrachte Frau Rendalen den letzten Gruß der Entschlafenen und übergab ihr Emiliens Sparkassenbuch. Darein hatte Emilie mit großen zittrigen Buchstaben geschrieben:

»Für die Schule.
Eure E.«

Der Pastor teilte ihr mit, daß es mit Einwilligung ihres Mannes geschehen sei. Das Sparkassenbuch lautete auf fünftausend Kronen.

Frau Rendalens Rührung und Freude, ihr Schmerz und ihre Dankbarkeit waren so groß, daß sie den Alten allein lassen mußte und sich nicht wieder zu zeigen vermochte. In dem Augenblick, als Pastor Green mit Hilfe des Dieners die große Treppe hinuntersteigen wollte, kam gerade Tomas nach Hause. Der Alte bat ihn, zu seiner Mutter hineinzugehen, sie wollte ihn sicher sprechen. Tomas erschrak, beherrschte sich aber und half dem Geistlichen in den Wagen.

Frau Rendalen war im Schlafzimmer, wo sie heftig weinend auf und ab ging. Als sie Tomas sah, warf sie sich ihm um den Hals, und er beschwor sie, doch um Gottes willen zu sagen, was geschehen sei. Endlich gewann sie es über sich, auf das Buch zu deuten.

Er sah es und nahm es.

In derselben Sekunde fühlte er's, das war die Rettung; jetzt erst kam es heraus, was er gelitten hatte; auch ihm stürzten die Tränen hervor.

Am andern Morgen erging an die Eltern der Schülerinnen eine Einladung. Frau Rendalen fragte an, ob sie den Kindern gestatteten, im Namen der Schule Frau Engels Gedächtnis zu ehren. In dem Falle möchten sich alle am Begräbnistage in weißen Kleidern an der Kirchhofspforte versammeln, um vor dem Sarge herzugehen, die Kleineren Blumen streuend, die anderen sollten einen Choral singen und am Grabe nochmals einen Chorgesang.

Wenn sie die Erlaubnis bekämen, dann sollten alle sich Punkt zwölf in der Schule einfinden.

Da die Schule in wenigen Tagen wieder anfing, waren fast alle Schülerinnen schon in der Stadt; die letzten kamen auch noch dazu. Nicht eine einzige fehlte.

Was Tomas nun in diesen sieben bis acht Tagen alles ausrichtete, grenzte ans Unglaubliche; er wußte, hier galt es eine Schlacht zu liefern.

Die nächste Nummer des »Zuschauers« meldete den Todesfall mit ein paar kurzen Worten über Frau Engels große Mildtätigkeit und fügte folgendes hinzu:

»Dem Vernehmen nach soll sie einer hiesigen Anstalt eine Summe vermacht haben.«

Was diese Mitteilung an Deutlichkeit zu wünschen übrig ließ, wurde durch den übrigen Inhalt des Blattes wieder gut gemacht – an diesem Tage stand nicht eine Zeile des Angriffs auf die Schule darin.

Unter diesen Umständen gestaltete Frau Engels Beerdigung sich zu einer einzig dastehenden Begebenheit. Als solche kündete sie sich bereits durch die Vorbereitungen an, die überall getroffen wurden, und die Gerüchte, die umliefen. Sämtliche Schulen waren geschlossen; man beschloß auch, alle Läden zu schließen, die Straßen, durch die der Zug ging, mit Tannenzweigen zu bestreuen und von einem Flaggenschiff alle Minuten Ehrensalven abzufeuern. Man hörte, daß die Regimentsmusik der nächsten Garnisonstadt bestellt sei und Erlaubnis erhalten habe, herüberzukommen.

Die bedeutendsten Kaufleute der Stadt und der Nachbarstädte wollten an der Kirchhofspforte den Sarg vom Wagen heben und zur Grabstätte tragen. Von allen Seiten kamen Dampfschiffe mit Leuten, die sehen und hören wollten.

Als am Begräbnistage die Kirchenglocken zu läuten begannen, waren alle Straßen bereits mit Menschen angefüllt. Draußen und drinnen an der Kirchhofspforte war bald kein Platz mehr zu finden.

Hätte man ein solches Gedränge nicht vorausgesehen und die Polizeimannschaft durch Freiwillige aus der Bürgerschaft verstärkt – dann hätten Damen sich überhaupt nicht hinein wagen können. Doch so bekamen die Schule und außerdem noch die Angehörigen der Kinder gut Platz. Trotzdem entstand, als das Ehrenschießen begann und die Musik sich näherte, und noch mehr, als der Zug sichtbar wurde, ein Gedränge. Man hörte hier und dort Schreie, einige begannen, sich zu ängstigen, aber es ging vorüber – nur die Spannung wuchs.

Die Musik zog an der Pforte vorbei, nahm dann Aufstellung und spielte draußen an der Kirchhofmauer weiter, während der Leichenwagen hielt, die Kaufherren vortraten, den Sarg emporhoben und die unendlichen Blumenmassen, die nicht darauf Platz gefunden hatten, gesammelt und nachgetragen wurden.

Gleichzeitig hatte Tomas sich aus dem Zuge herausgearbeitet und seine weiße Schar an der Innenseite der Kirchhofspforte geordnet. Der Sarg wurde hereingetragen, aber man blieb stehen, bis der Wagen vorübergefahren war und das Gefolge sich angeschlossen hatte.

Die Musik verstummte. Die Kinder stimmten ihren Gesang an, kräftig, anmutig – und dieser Übergang von der Hornmusik zu den Mädchenstimmen wirkte ergreifend. Von diesem feierlichen Augenblick an, und dann später, als der Zug sich wieder in Bewegung setzte – die blumenstreuenden Kleinen in weißen Kleidern voran, dann der Mädchenchor und endlich der Sarg –, von diesem Augenblick an nahm die Begräbnisfeier einen andern Charakter an.

Bisher war es ein Festzug gewesen: die Trauer war in Schönheit verwandelt, der Verlust in eine aus vollen Händen ausgestreute Ehrenbezeugung; der Triumphzug des Reichtums hatte draußen an der Pforte des Totenreichs Halt gemacht. Alle hatten sich selbst als Beitrag ausgestellt. Frau Emilie Engel wurde wie eine regierende Fürstin beerdigt.

Aber in dem Augenblick, als da vorn der Choral von Mädchenstimmen emporstieg und alle die winzigen Händchen in die Körben nach Blumen griffen, wandten aller Augen sich dorthin, aller Gedanken folgten diesem weißen Zuge, wie er sich den Hügel hinaufschlängelte inmitten der dunklen Frauenschar; denn die strömte beständig mit.

Alle gedachten des Kampfes, der noch jüngst getobt hatte; er folgte mit in der dräuenden Luft über ihnen und inmitten des schwarzen Leichenzuges. Man sah mit einem Mal Frau Engels blasses Gesicht hinter der Choralmelodie. Die arme, arme Emilie war es, die man hier in die Erde bettete; die hundertfältig betrogene Emilie, die alle die Älteren als Kind gekannt und später Sonntag für Sonntag in der Kirche gesehen hatten, blaß und traurig. War es nicht, als hätten diese weißen Mägdlein sich vorgedrängt, um ihnen die Tote zu entreißen? Durch ihr Vermächtnis hatte sie sich selbst diesen Kleinen gegeben.

Und wie dann diese weiße Schar sich da oben auf der für sie erbauten Brettertribüne neben dem Grabe ordnete, war es nicht wieder, als ob nur sie, sie allein hier vor der Toten das Wort führe?

Rendalen stieg, mit dem Hut in der Hand, zu ihnen hinauf. Alle die kleinen Blumenstreuerinnen hatten ihre Körbchen wieder gefüllt und stellten sich jetzt vor ihm in geordneten Reihen auf. Der Sarg wurde in die Gruft gesenkt; tiefe Stille, dann gab Rendalen ein Zeichen.

Eine gedämpfte Musik intonierte, und der Chor fiel ein. Mit leichter Handbewegung leitete er den Gesang, sonst stand er regungslos, ganz vom Augenblick beherrscht.

Alle diese Stimmen brachten Antwort von ihm; sie sangen über dem Grabe einen Dank von der Schule der Zukunft.

Die Frauen waren tief ergriffen. Karl Wangens sorgende Augen suchten Frau Rendalen. Er sah, wie erschüttert sie war, und drängte sich zu ihr hin. Doch als sie seinen Arm fühlte, wollte sie nach vorn und zu den Singenden hin; sie mußte das Grab sehen. Und er führte sie dorthin.

Aber wie nun auch sie da drüben stand, fuhr es allen durch den Sinn, daß es etwas war, was auf die andre Seite kam und nicht hierher gehörte. Man fühlte es vielleicht nur dunkel, aber es wurde klarer, als nach beendetem Gesang der ehrwürdige Pastor Green mühsam zu den Mädchen hinaufstieg und redete. Er führte Äußerungen der Entschlafenen an, die er bei verschiedenen Gelegenheiten gesammelt hatte; sie gaben zusammen ein Bild von ihr. Alles wurde in diesen Worten gesagt, und doch wieder nichts; alle verstanden, ohne daß irgend jemand verletzt wurde. Und der am meisten ergriffen sein mußte, war Konsul Engel; denn einige dieser Worte offenbarten ihre große Hingebung für ihn. Und ehe es ihm bewußt wurde, zwangen eben diese Worte ihn zu einem heftigen Weinen. Er konnte seine Tränen nicht halten.

Da schloß Pastor Green. Er schloß mit ihren eignen Worten, die sie ihrer Gabe für die Schule beigelegt hatte:

»›Es gibt in dieser Sache zwei Parteien ...‹ Sie hatte die ihre gewählt,« fügte er hinzu.

Von neuem fiel die Musik ein und dann der Chor. Man half dem Alten herunter, während die Kleinen sich an die Balustrade drängten, um ihre letzten Blumen hinunterzustreuen.

In demselben Augenblicke donnerte es im Westen; schwarz lag das Meer dort hinten; es war ein Regenschauer im Anzug; allem Anschein nach stark elektrisch geladen. Man sah nach der Stadt hinüber, wo die Fahnen schlaff gegen den dunkeln Himmel herunterhingen; alles verkündete ein heftiges Gewitter. Wieder ein krachender Donnerschlag, viel stärker und näher. Das Trauergeleite fing an, sich zu rühren und sich dann allmählich zu zerstreuen. Einige eilten davon, ohne auch nur in das Grab hinunterzublicken oder den Angehörigen ihr Beileid auszudrücken. Eine Weile später sah man die weißen Mädchen in großen Schwärmen unten auf dem Wege gegen die dunkle Luft und den dunkelgrünen Hintergrund; einige fingen zu laufen an, – dann mehrere, ja, zu Frau Rendalens Schrecken, sogar zu lachen und zu rufen.

* * *

Oben auf dem Gute hatte man eben zu Mittag gegessen, als Frau Rendalen ein paar kleine anonyme Geschenke erhielt mit dem Motto: »Es gibt zwei Parteien«.

Im Laufe des Nachmittags kamen noch mehr, alle anonym und ziemlich unbedeutend. Aber es war doch ein Beweis, daß die Schule nicht bloß Feinde hatte.

Man hatte übrigens keine Zeit, lange darüber nachzudenken; am Abend nämlich sollte eine kleine Gedächtnisfeier in der Schule gefeiert werden, wozu Frau Engels Freundinnen und die beiden obersten Klassen geladen waren. Frau Rendalen wollte Erinnerungen aus ihrem Zusammenleben mit der Verstorbenen mitteilen. Auch der alte Green hatte versprochen, zu kommen. Dann sollte Musik gemacht und der Chor vom Grabe wiederholt werden u. a.

Den ganzen Tag hatte man im Festlokal gearbeitet; aber es haperte mit dem Fertigwerden. Noch einmal wurden sie durch einen Brief unterbrochen, diesmal vom Doktor Holmsen; sein Diener kam damit herauf. Der Name des Doktors stand nicht darunter, aber seine Handschrift war ebenso wohlbekannt wie der Diener. Urd wer anders als der Doktor hätte wohl als Unterschrift: »Ein altes Schwein« setzen können.

Der Brief lautete:

»Lieber Rendalen!

›Es gibt zwei Parteien!‹ Das ist freilich wahr genug. Und wenn ich auch der Ansicht bin, daß die eine dieser beiden Parteien sich ganz blödsinnig dumm benommen hat und ich auch in Zukunft sicherlich nicht fertig kriege, mich ihr anzuschließen, – anbei nichtsdestotrotz eine Anweisung auf drei ›Mikroskope‹ – da Du Dir's nun mal in Deinen verrückten Kurz-Schädel gesetzt hast, daß es mit ›Mikroskopen‹ gemacht werden soll!

Ich gebe nicht einen Pfifferling auf den ganzen Klimbim, weder auf die Macht der Wissenschaft, noch auf die der Religion; es wird wohl alles hübsch beim Alten bleiben, mein Junge. Aber da flatterte heute was Weißes, etwas wie ein Gesang durch die Luft – es könnte ja sein. Na, wie gesagt, anbei das Geld.« – –

Schon sah man die Schülerinnen der obersten Klassen sich oben bei den Pensionärinnen versammeln. Nun mußte es also bald anfangen. Die jungen Damen sollten in Trauer erscheinen – je nach Umständen und Geschmack – und das war ja etwas viel zu Neues und Amüsantes, als daß sie nicht gern ein bißchen zu früh gekommen wären.

Das Fest fand im »Laboratorium«, d. h. in dem ehemaligen Rittersaale statt. Es hatte natürlich viel Mühe gekostet, ihn zu einem Trauersaal umzugestalten; aber als die ersten Damen erschienen, war das Werk vollbracht, – nur Emiliens Porträt war noch nicht zur Stelle.

Langsam kam der Wagen mit den beiden dänischen Pferden und der grauen Livree auf dem Bock die Allee herauf. Frau Rendalen und Tomas empfingen ihn unten an der großen Treppe. Tomas öffnete den Wagenschlag einer jungen Dame in tiefer Trauer, die sich Frau Rendalen an die Brust warf; es war die einzige Tochter der Verstorbenen. Auch sie hieß Emilie und sollte dieses Jahr noch am Schulunterricht teilnehmen. Sie war ein selten schönes Mädchen, mit ihrer schlanken Gestalt und dem überaus hellen, feinen Gesichtchen in der schwarzen Umrahmung. Das Haar – das echte Engelhaar, weder rot noch gelb – bedeckte ein schwarzer Schleier, weiter gar nichts.

Weinend ging sie an Frau Rendalens Arm die Treppe hinauf. Tomas folgte mit dem Porträt, das in ein Tuch gehüllt war. Alle erhoben sich, als sie eintraten. Da weinte die junge Dame noch heftiger und suchte sich ein Winkelchen aus, wo sie sich hinter ihrem Schleier und dem Taschentuch verstecken konnte. Das Porträt wurde über dem schwarzverhängten Laboratoriumskamin aufgestellt. Zu beiden Seiten waren norwegische Flaggen drapiert, und Kränze wurden um das Porträt geschlungen.

Die Feier begann mit einem vierhändig gespielten Trauermarsch, ausgeführt von Tomas und jenem jungen Mädchen, das heute oben auf dem Kirchhof ein kurzes Altsolo gehabt hatte, Augusta Hansens Schwester, der, die an jenem Sonnabend mit unter der Leinwand gesteckt hatte. Dann kamen die Vorträge, und dann der Chor. Alles verlief glücklich; es war Stimmung in dem Ganzen, bisweilen Rührung. Zum Schluß ein Kirchenlied als Einleitung zu einer kurzen Ansprache Karl Wangens. Er hatte kürzlich gelesen, das Leben sei keine geschlossene Bahn, sondern eine offne. Darüber sprach er jetzt.

Inzwischen war das bei allen Schulfesten übliche bescheidne Mahl, heute noch durch Wein und Dessert etwas festlicher gemacht, in Frau Rendalens Zimmer angerichtet worden. Tomas wollte nämlich zum Schluß die Gelegenheit benutzen, in einem Trinkspruch den beiden obersten Klassen und dadurch allen denen, die zur Feier dieses schönen Gedächtnisses beigetragen hatten, seinen Dank auszusprechen.

Alle, die heute da oben am Totenhügel gesungen hätten, die Stadt tief unter sich und einen ansehnlichen Teil ihrer Einwohner vor sich, sagte er, müßten es doch empfunden haben wie einen geheimen Bund mit der Schule, und das reine Andenken der Toten habe über ihnen gelächelt.

»Nicht wahr,« so schloß er, »diesen Bund wollen wir alle halten?«

»Ja, ja!« Die ganze Schar stürmte mit ihren Gläsern zu ihm heran, und alle die jungen Augen glänzten.

Eine der ersten war die Tochter der Verstorbenen; alle andern machten ihr Platz. Sie errötete vor Bewegung und Dankbarkeit, während sie mit ihrem Glase an das seine stieß.

Gegen zehn Uhr war man wieder allein. Als Tomas in sein Zimmer gehen wollte, sagte er zu seiner Mutter:

»Na, am Ende war's doch gar nicht so dumm, daß ich die Rede im Turnsaal hielt – was meinst du, Mutter?«

»Ja, wahrhaftig, Tomas, ich fange beinah auch an – – Nein, nein, es war doch dumm. Krieg mich nun bloß nicht noch mal wieder rum.«

Eines der Zimmermädchen brachte einen Brief herein, den man abzugeben vergessen hatte, da er während des Festes gebracht worden war.

»Siehst du, Mutter! Siehst du!« rief er lachend und öffnete ihn:

»Ja, jetzt bildest Du Dir wohl ein, Du hättest gesiegt, Du Ehrabschneider! Ich sah Deinen Hochmut heute, als Du da oben standest mitten unter allen den kleinen Mädchen, die Du dazu genarrt hast, für Dich zu paradieren. Die Selbstsucht leuchtete Dir förmlich aus Deiner sommersprossigen, grauäuigen Fratze und dem borstigen Judashaar. Pfui Teufel!

Aber wart nur! Du wirst schon getroffen werden, wenn Du's am wenigsten erwartest. Du Schweinehund!

Veritas.«

2. Der Generalstab

 

Die blonde Milla, die braune Tora,
Die breite Tinka, die schmale Nora.

 

Man stritt drum, wo eigentlich dieser ausgezeichnete Vers mit seinem schönen Rhythmus und Reim zum erstenmal aufgetaucht sei, ob in der Prima des Gymnasiums oder in der Prima der Realschule.

Der Streit mußte unentschieden bleiben; aber so oft die bewußten jungen Damen sich zeigten, wurde der Vers ihnen nachgebrüllt, nachgesungen, nachgeplärrt – anfangs abwechselnd mit einem andern von Anton Dösen erfundenen »Verse«, der lautete: » Tora, Nora, ora pro nobis!« – der sich jedoch, unvollkommen wie er war, da die beiden andern Namen, Tinka und Milla, nicht mit drin vorkamen, gegen den ersten Vers auf die Dauer nicht halten konnte.

Doch auch dieser bekam bald Ablösung. Wer der Vater des neuen Wortes war, das lag diesmal auf der Hand; Rendalen selbst hatte die Vier bei einer gewissen Gelegenheit seinen »Generalstab« genannt, und nach ihm die ganze Mädchenschule, dann die Knabenschule und von da an alle, die ihnen diese Ehre antun mochten.

Drei von diesem Generalstab kennen wir bereits, d. h. auch nur flüchtig, nicht genauer. Die blonde Milla ist keine andre als Emilie Engel, die in ihrem Trauerkleide aussah wie ein Emaillebildchen; die breite Tinka ist Katinka Hansen, Augustas Schwester, die Altstimme, und die schmale Nora ist das Amtmannstöchterlein, die unter der Leinwand im Turnsaal – mit den großen Augen und dem »flammenden« Haar. Die braune Tora kennen wir aber noch nicht, – drum mag sie für uns auch noch ein Weilchen in mystischem Dunkel schweben.

Vorm Jahr hatte das Amt einen neuen Amtmann bekommen, den früheren Expeditionssekretär Jens Tue, mit dem Spitznamen der »Mädchen-Jens«. Statt sein Amt gleich anzutreten, war er jedoch erst mit seiner Gattin, die brustkrank zu werden drohte, ins Ausland gereist. Sie hatte aus Eifersucht und steter Unsicherheit allmählich den festen Boden unter sich verloren, so daß sie mit ihren Gedanken und ihrem Körper umherflatterte wie ein Vogel; sie wollte gern so recht tief innerlich zufrieden erscheinen, so ganz erfüllt von geistreichen Fragen und Musik; ... bis es eines schönen Tages mit ihren Kräften aus war und sie zusammenbrach. Da las er sie auf und fuhr mit ihr in die weite Welt hinaus; und da er auf dieser ganzen Reise eitel Sorgfalt und Humor war, so war das für ihre Vogelnatur schon genug; frisch und vergnügt kam sie wieder heim. Doch während sie auf Reisen waren, war ihre Tochter zu Hause.

Es wäre wohl vernünftiger gewesen, sie in Christiania bei Verwandten und Freunden zu lassen. Es hieß freilich, Frau Rendalens Schule und Pension wären so ausgezeichnet; doch das konnte wohl kaum die einzige Erklärung sein. Man war sehr neugierig auf die Amtmannstochter ... als sie auf der Bildfläche erschien.

Eine moderne junge Dame, hochgewachsen und schlank. Wenn auch nicht gerade elegant, so doch flott in der Art, sich zu kleiden, wie überhaupt in ihrem ganzen Wesen, eigentlich recht von oben herab! Nicht etwa verletzend; dazu war sie zu geschmeidig, zu gewandt, und nahm den, mit dem sie sich beschäftigte, ganz gefangen. Sie brachte Leben in die Bude, wohin sie kam; und solchen Wesen verzeiht man viel.

Nur ihr ewiges Briefschreiben wollte niemand ihr verzeihen, auch nicht die unglaubliche Menge von Briefen, die sie wöchentlich bekam. Die Lehrerinnen nicht, weil sie ihre Schularbeiten darüber vernachlässigte, ihre Mitschülerinnen nicht, weil sie darüber sie selbst vernachlässigte. Ja, ihre Kameradinnen hatte sie in der Tat noch kaum angesehen! Nachts schlief sie mit Tintenfingern und einem Haufen Briefe bei sich im Bett. Entweder schrieb sie Briefe, oder sie las Briefe, oder sie weinte über Briefe. In jeder Freiviertelstunde lief sie schnell auf ihr Zimmer, um ein paar Zeilen hinzuzufügen, oder einen Brief, den sie soeben erhalten hatte, noch einmal zu überfliegen.

Als die andern sie mit Nachstellungen plagten, verschwand sie nach dem Essen regelmäßig. Wo steckte sie nur? Man machte Jagd auf sie und fand sie zuletzt oben auf dem Boden, natürlich schreibend; und zwar auf einem großen Faß. Sie war vor Kälte ganz blau gefroren.

Mindestens zwanzig »Busenfreundinnen« hatte sie in Christiania zurückgelassen, und alle zwanzig schrieben ihr, und alle zwanzig bekamen Antworten, ellenlange Antworten; die eine durfte nämlich beileibe nicht kürzer sein als die andre.

Zum Glück hatte sie noch eine andre Leidenschaft; und da geht es oft so, daß die eine uns von der andern erlöst. Sie schwärmte nämlich für Musik. Manchmal sang sie überraschend poetisch, aber einmal konnte sie, da sie noch zu jung war, nicht lange in einem Strich singen, und dann war sie zu wenig ausgebildet, um eine feine Auffassung so durchzuführen, daß sie der Teil eines Ganzen wurde.

Aber von ihren Kameradinnen wurde ihr Talent bewundert, wie es war – und von keiner glühender, als von Tinka Hansen. Denn Tinka war selbst musikalisch, wenn auch in andrer und bescheidnerer Weise. Wie ihre Schwester Augusta war sie früh entwickelt, namentlich in logischem Denken. Katinka war gleichmäßig, klar, sicher; sie konnte alles auswendig spielen; und das war viel. So wurde also sie die Auserwählte, die Noras Gesang ehrfurchtsvoll auf dem Piano begleiten durfte. Aber ihr Vortrag war nicht viel wert; Nora fing gleich an, an ihr zu arbeiten, bis es so war, wie sie es haben wollte. Dafür war Tinka ihr sehr dankbar.

Da entdeckte Nora eines Tages Tinkas prächtige Altstimme. Und von dem Tage an waren Duette und immer wieder Duette die Losung! Aber ihr jugendliches Alter forderte Vorsicht; und wollte Nora nicht Maß halten, so wollte und konnte es Tinka. Nora war gewöhnt, zu befehlen, so daß es manchmal harte Sträuße setzte; aber Tinka war so sehr gewöhnt, immer zu siegen, wo ihr Gewissen ihr recht gab, daß Nora spielend überwunden wurde.

Das wurde die Grundlage ihrer Freundschaft. Ein Wesen, das Nora bewunderte und doch zugleich im Zaume hielt – das gab ihr ein unbeschreiblich gutes und geborgenes Gefühl.

Auf Tinka aber wirkte Nora etwa wie eine Reihe von Kunsteindrücken auf einen, der bisher nichts gesehen hat. Da Nora sie außerdem in alle ihre Herzensgeheimnisse einweihte, meinte die gewissenhafte Tinka, sie müsse Gleiches mit Gleichem vergelten.

Alle wußten es nämlich, aber keiner sterblichen Seele hatte Tinka es eingestanden – Tinka war verlobt! »Er« – die Mannsperson – hatte gerade in diesen Tagen sein Abiturientenexamen bestanden und sollte nun studieren. Jede Woche bekam sie einen Brief von ihm; öfter wollte sie keine haben, aus verschiedenen Gründen. Fredrik war sein Name, Fredrik Tygesen. Sein Vater war der Kreisrichter Tygesen. Nora war »die Allerallererste«, der sie das alles erzählte.

Großer Gott, das war aber eine Wonne für Nora! Wirklich ganz waschecht verlobt – mit wöchentlichen Briefen und mit der stillschweigenden Zustimmung der Eltern! Wie war das denn nur zugegangen? Ja, das war eben das Merkwürdige, das wußte keins von den beiden so recht. Sie hatten einmal, als Tinka acht Jahre alt war, durch eine offene Tür Frau Rendalen und ihre Mutter von Augusta und Tomas Rendalen sprechen hören, – nämlich, was Tomas zu seiner Mutter von Augusta gesagt und was Augusta zu ihrer Mutter von Tomas gesagt hätte. Und seitdem hatten diese beiden Kinder zusammengehalten, genau so wie jene, aber nie hatten sie sich darüber ausgesprochen. Niemals.

Auf der soliden Grundlage dieses anvertrauten Geheimnisses baute sich eine feste Freundschaft auf, und die Freundschaft mit Tinka zog andre nach sich. Einzelne Stückchen von Noras Seele geruhten von Christiania hierher überzusiedeln und eine neue Anbeterinnenschar zu gründen. Bald schrieb Nora den Busenfreundinnen in Christiania nur noch dann und wann, und die Briefe begannen immer ungefähr so: »Nun ist es aber wirklich gräßlich lange her – »Ich bin wirklich ein Ekel, daß ich erst heute –«, oder: »Aufschub ist das Schlimmste, was es gibt« usw.

Doch trotz allem gab es eine bestimmte Grenze dafür, was hier in der obersten Klasse zu erobern war, und das paßte Nora durchaus nicht; am liebsten wollte sie nämlich gerade die haben, die sich abwehrend verhielten. Allein über diese Grenze kam sie nicht hinaus; die Sache war nämlich die, daß schon eine andre Königin dagewesen war; ja, sie thronte sogar noch immer hier. Ihre Machtmittel waren andrer Art; ob aber geringer, das kam auf das Maß an, womit sie gemessen wurden.

Erstens war sie die reichste Erbin der Stadt, zweitens kam bei der geringsten Aussicht auf Regen oder Schnee oder Wind eine Equipage mit einem Diener heraufgefahren, um sie abzuholen; dann kam's drauf an, wer mitfahren durfte. Fast immer hatte sie was Leckres bei sich; ihr Taschengeld war so beschaffen, daß sie um so mehr hatte, je mehr sie ausgab; das kleine, zierliche Portemonnaie war in dieser Beziehung ganz unglaublich. Sie bekam von Mama, sie bekam von Papa, sie bekam von zwei unverheirateten Onkeln. Außerdem war sie hübsch, zartfühlend und sympathisch. Nie hatte man sie ein heftiges Wort brauchen hören oder eine heftige Bewegung machen sehen, nicht einmal in der Turnstunde; alles ging in runden Formen und etwas gedämpft vor sich. In ihren Augen gab es nichts Häßlicheres, als sich selbst zu vergessen. Sie lebte wie in weichen Daunen, und in ihren Bannkreis zu kommen, war auch, als käme man in weiche Daunen.

Wir kennen sie bereits: es ist Milla Engel.

Außerordentlich begabt war sie nicht gerade, aber fleißig; sie gab sich wirklich Mühe, wenn es eine Schwierigkeit zu überwinden galt. Alle hatten sie gern; manche warben um sie, und einige schwärmten geradezu für sie.

Tinka Hansen gehörte jedoch zu keiner von diesen Gruppen; wenn Tinka sich jemand hingeben sollte, so mußte das ein Wesen sein, das ihr Widerspiel war; die ruhige, pflichttreue Milla war ihr viel zu ähnlich.

Als nun Nora kam und sich zu allererst an Tinka und durch Tinka an andre anschloß, da fühlte sich Milla verletzt, und als Nora sich endlich auch an sie wendete, war es zu spät. Sehr viel Artigkeit, sogar Gefälligkeit – aber nie ein Wort über ihren Gesang, nie ein Lächeln bei allen ihren Christiania-Witzen, nicht ein Blick, wenn die ganze Klasse bei einem ihrer sprühenden Vorträge bewundernd an ihren Lippen hing. Diese Gleichgiltigkeit konnte Nora nicht ertragen; sie ließ sich herab, um Milla zu werben, – und zwar mit allen den Mitteln, die nur ein Backfisch zur Verfügung hat ... vergebens.

So entstanden zwei Parteien. Nora fand Milla nichtssagend, egoistisch, kalt, pedantisch, damig. Milla fand Nora – nein, Milla fand gar nichts, – Milla ließ ihre Freundinnen reden und hörte nur zu. Noras flotte, großstädtische Sprache und ihr freies Benehmen wären unpassend; ihr launisches Wesen müsse jedem, der einigermaßen auf sich halte, unausstehlich sein; ihre Talente wären alle oberflächlich, Charakter hätte sie überhaupt nicht. Ferner meinte man aus gewissen Äußerungen schließen zu dürfen, daß sie auch keine Religion habe, und Millas Partei war fromm. Sie selbst wurde zu Ostern konfirmiert, und ihre fromme Mutter wurde immer kränklicher, was einen Schleier von Schwärmerei über das Gesicht und die Gedanken der zarten Frau breitete. Sie fühlte sich hinter diesem Schleier wohl; ja, er war ihr ein Bedürfnis. Und sie bemühte sich, auch ihre Tochter mit hineinzuziehen.

Während der Konfirmationszeit fand diese eine Vertraute in der Nichte der beiden Fräuleins Jensen, der kleinen Anna Rogne, die ein stark religiöses Seelenleben führte. Sie war ein paar Jahre älter, aber im Wuchse zurückgeblieben und von zarter Gesundheit, ja, ein paarmal war sie sogar dem Tode nahe gewesen.

Anna hatte mehr religiöse Kenntnisse als die meisten Erwachsenen und war darum Karl Wangens Entzücken in der Konfirmationsstunde. Etwas von ihrer Schwärmerei übertrug sie auf Milla, die gar nichts dagegen hatte, ein bißchen zu schwärmen. Sobald die kleine Anna den Widerschein bei Milla bemerkte, war sie ganz beglückt und erklärte Milla für »durchgeistigt«; sie fand es ganz unbegreiflich, daß sie sich nicht schon früher entdeckt hatten.

Dann kam die Zeit, wo Millas Mutter im Sterben lag, von den Ärzten aufgegeben. Da wurden Klein-Annas Kräfte geradezu übernatürlich; sie wachte mit ihrer Freundin bei der Kranken; sie las und sang und betete; Frau Engel sollte und mußte gerettet werden. Der Arzt vermochte sie nicht zu retten, aber das Gebet, – o, wie fest sie daran glaubte, wie sicher sie war, wie selig verzückt.

Und als dann Frau Engel dennoch starb, hätte sie buchstäblich gern ihr Leben für die Freundin hingegeben. Schon an und für sich fand sie es so schön, die reiche, von allem Luxus des Lebens umgebene Erbin in inbrünstigem Flehen vor Jesus auf den Knieen zu sehen. Und nun die Gebete nicht hingereicht hatten und sie trotzdem ihren Glauben nicht verlor, ja, trotz aller Trostlosigkeit mit ihr zusammen Gott noch in tiefer Unterwürfigkeit dankte, da wob die kleine Anna in ihrem Herzen einen Bund mit ihr, den nicht einmal der Tod lösen sollte.

Milla kam erst drei Wochen nach den andern wieder in die Schule. Sie setzte sich neben Anna Rogne; mit Anna kam sie fast täglich gefahren, und Anna nahm sie auch nach der Schule wieder mit sich. Engels wohnten nämlich noch auf dem Lande, und Anna war fast immer bei ihr.

Es erregte Aufsehen, als sie wieder in der Klasse erschien. Ihr Trauerkleid stand ihr bezaubernd; ihr blasses Gesicht und ihr gedämpftes Wesen paßten da hinein wie mattes Silber in Samt. Die weiche Sanftmut, mit der sie alle, selbst Noras Feueranbeterinnen, behandelte, gewann ihr rücksichtsvolle Freundlichkeit zurück; es war, als ob anderthalb Tage lang alles nur eine stille Trauerfeier zu Millas Ehren wäre.

Doch da waren ja ein paar neue Augen, ein neuer Rücken, ein neuer Hals und neue Arme, gerade auf der Bank vor ihr. Eine neue Stimme, neue Bewegungen und – bei Milla kam das nicht zuletzt – ein neues Kleid. Besonders wenn der neue Hut und der neue Mantel hinzukamen, mußte man sagen, das war eine kühnere Farbenzusammenstellung, ein eleganterer Schnitt, ein reicheres Detail, als sie je an einem der andern Mädchen gesehen hatte.

Sie wußte, wer diese Neue war – die Tochter des Oberzollkontrolleurs Holm aus Bergen, des Mannes mit dem braunen Gesicht, den großen, schwarzen Augen und den kreideweißen Locken – eines merkwürdig scheuen Menschen, der so unverbesserlich dem Trunke fröhnte, daß man ihn mir aus Nachsicht im Amte ließ; er hatte zehn Kinder!

Tora war die älteste und war von ihrem zwölften Jahre an teils in England, teils in Frankreich erzogen worden, – bei einem Onkel, der erst in dem einen, dann in dem andern Lande Schiffsmakler gewesen war. Jetzt war er tot und hatte seiner Pflegetochter eine kleine Leibrente hinterlassen. Das alles wußte Milla. Anna hatte ihr gelegentlich auch erzählt, daß Tora Holm hübsch sei.

Aber das war ja gar nicht das rechte Wort. Wo hatte Anna denn ihre Augen gehabt? Tora war ja eine Schönheit, eine ganz eigenartige, »ausländische« ... Anna hatte wirklich weder Augen noch Ohren offen gehabt; denn darüber waren doch alle längst einig.

Den ersten Tag tat Milla nichts andres, als Tora ansehen; und trotzdem diese mit dem Rücken zu ihr saß, konnte sie doch nicht still dabei sitzen, sondern drehte sich und drückte sich, als fühle sie die Augen der andern in ihrem Nacken. Je unruhiger Tora wurde, desto ruhiger studierte Milla sie ... Zu Hause in ihrem Salon stand der marmorne Kopf des jugendlichen Augustus; der hatte schon früh Millas ganze Bewunderung genossen. Und hier saß dieser Kopf nun auf einem Mädchenkörper auf der Bank vor ihr und drehte und wendete sich in Sonnenstrahlen und Farben! Ganz dieselbe Stirn, ganz dieselbe Kopfform, breit nach oben, das Oval der Wangen, die Wölbung der Brauen, die Rundung des Kinns – ganz, ganz dasselbe! Die Augen waren anders und lebhafter, – d. h. die des Augustus machten den Eindruck, als wären sie etwas erloschen oder jedenfalls schläfrig gewesen. Diese spielten unablässig in bläulich-grauen Strahlenbrechungen unter langen, dichten, dunkeln Wimpern. Die Lippen waren voll und bogenförmig. Das Haar braunschwarz oder schwarzbraun, je nachdem das Licht darauf fiel. Der Teint spielte ins bräunlich Blasse, Milla fand nicht die rechte Bezeichnung dafür; es war eine Mischung, die sie noch nie gesehen hatte. Und auf der linken Wange ein großes, wirklich viel zu großes Muttermal; das schien sie auch sehr zu genieren; denn sie kehrte ihr nie diese Backe zu, so oft sie sich auch umwendete, um Milla anzusehen. Die Gestalt war schon voll entwickelt; recht kräftig und wie gemeißelt. Vermutlich war sie schon über sechzehn Jahre alt. Augenblicklich machte sie den Eindruck, als fühle sie sich nicht ganz wohl; sie hatte leichte blaue Ränder unter den Augen, und die Haut war feucht. Die ganze Erscheinung war aufsehenerregend; Milla betrachtete sie ohne eine Spur von Neid. Der Geschmack der »Neuen« stand über dem sämtlicher andren Mädchen, die sie kannte; wie viel mußte sie doch kennen.

Milla betrachtete von Zeit zu Zeit ihre Nachbarin, Anna, die da so spitz und mager saß; besonders die unverhältnismäßig langen, dünnen, blau-bleichen Finger beschäftigten Milla heute ganz besonders. Das war so ganz anders!

Sollte sie die Neue anreden, entgegenkommend sein? Vielleicht war das Zu aufdringlich – als sie sie in der zweiten Pause Arm in Arm mit Nora gehen sah, konnte davon natürlich gar nicht mehr die Rede sein.

In den drei Wochen, ehe Milla kam, war noch etwas geschehen; in aller Stille hatte sich eine Umwälzung vollzogen, die noch nicht ganz zu Ende war.

Tora Holm hatte eines Morgens ihren Einzug in die Schule gehalten – und zwar einen ziemlich mißglückten. Sie war zu spät gekommen, hatte niemand in dem großen Flur getroffen und wußte nicht, wohin; alle waren zur Morgenandacht im »Laboratorium« versammelt. Da kam Karl Wangen, der bei einem Kranken aufgehalten worden war, und rannte sie fast über den Haufen. Er wurde so verlegen, wie nur ein junger Prediger werden kann, dachte, sie sei die neue Lehrerin und machte sie und sich durch sein linkisches Wesen ganz verwirrt. Es dauerte daher eine Weile, ehe sie ihm in ihrer Bergenser Sprache vorsingen konnte, wer sie wäre; und als er das hörte und es ihm durch den Kopf fuhr, daß sie nach des Onkels Tode viel Trauriges durchgemacht hatte und zu Hause in sehr betrübende Zustände hineinkam, rief er:

»Wir wollen hier alle so lieb zu Ihnen sein!« und ergriff ihre Hand. »Willkommen, herzlich Willkommen!«

Mehr gehörte nicht dazu, um sie in Tränen ausbrechen zu lassen. Sie war aufgeregt und ängstlich; alles war ihr so neu und unbekannt. Da wußte er sich nicht anders zu helfen, als in die Tür hineinzurufen: »Mutter!« Und heraus kam Frau Rendalen, die Brille schief auf der Nase, und fragte etwas schroff (denn Frau Rendalen war allzeit bündig, was andre auch sein sollten):

»Na? Was gibt's, Karl?«

»Ach – da ist Fräulein Holm, Mutter, die Tochter vom Oberzollkontrolleur Holm.«

»Nun ja, bitte nur herein,« antwortete Frau Rendalen und machte die Tür ganz auf. »Willkommen!« sagte sie in der Tür und reichte ihr in dem nicht sehr hellen Flur die Hand.

Es lag viel zu viel Befehlshaberisches in diesen Worten, als daß Tora nicht sofort gekommen wäre. Nun sah Frau Rendalen, daß sie weinend in die Schule kam – wie kleine fünfjährige Mädchen. Sie war ganz erstaunt, wies ihr einen Platz an, den Tora schüchtern einnahm, und bat eine der Lehrerinnen, ihr beim Ablegen von Hut und Mantel, den das kleine neue Schafsköpfchen noch anhatte – wie sie bei sich dachte –, behilflich zu sein.

Sie sangen einen Choral, und Karl Wangen sprach vom Begegnen. Wenn man dem Guten bei den Mitmenschen begegne, dann begegne man Gott; das war sein Thema.

Im Augenblick klang es Tora im Ohr wie das Rauschen einer schönen Stimme. Ihr unglückliches Debüt und der schlechte Eindruck, den sie, das hatte sie wohl gemerkt, namentlich auf Frau Rendalen, aber auch auf die andern gemacht hatte, peinigte sie.

Sie konnte nicht zur Ruhe kommen, sie drehte sich hin und her, wenn jemand sie ansah, und wendete sich bald zu ihm, bald von ihm ab, als wollte sie gesehen und auch wieder nicht gesehen werden. Sprach jemand sie an, was ja mit der Zeit dann und wann geschah, so wurde sie rot und antwortete etwas, was sie im nächsten Augenblicke wieder verneinte.

Und so war es nicht bloß am ersten Tage, sondern auch am zweiten und dritten. Norwegische Geographie und Geschichte konnte sie gar nicht, überhaupt konnte sie nichts als englisch und französisch und wurde feuerrot, als das herauskam. Als es sich aber zeigte, daß sie diese beiden Sprachen fließend sprach, wurde sie ebenfalls rot. Zum Turnen war sie durchaus nicht zu bewegen; schließlich wendete sie ein, sie habe keinen Turnanzug. Dann schneiderte sie sich aber einen, der ein Meisterwerk der Koketterie war. Das wollte sie aber durchaus nicht Wort haben; er sei ganz gewöhnlich, ja eigentlich häßlich. Sie konnte das Turnen nicht vertragen, obgleich sie sehr kräftig war, ließ sich leicht gehen und fing oft zu weinen an.

Miß Hall, die die Turnstunden leitete und für die verschiedenen Schülerinnen besondere Bewegungen einführte, nahm sie auf die Seite und betrachtete sie. Miß Hall hatte ihr Norwegisch zum Teil vergessen und dachte in der Eile nicht daran, daß Tora ja englisch sprach; und während sie sie untersuchte, suchte sie vergeblich nach dem rechten Wort. Tora mißverstand das, brannte ihr durch, zog sich um, rannte direkt nach Hause und wollte nicht wieder in die Schule.

Es kostete viel Mühe, sie wieder in die Schule zu bringen, und noch mehr, sie in die Pension zu bringen. Sie mußte bessere Kost haben, als sie zu Hause erhielt; denn sie litt an beginnender Bleichsucht. Das war das Wort, auf das Miß Hall nicht hatte kommen können. Tora teilte von nun an das Zimmer mit Miß Hall. Sie war die erste, die das durfte; von da an wohnte fast immer jemand bei Miß Hall.

Nach und nach vergaß die »Neue« sich selbst soweit, daß sie wenigstens still sitzen konnte; aber nicht, wenn jemand sie längere Zeit ansah oder von ihr sprach. Sie müsse das wohl im Rücken fühlen, meinten ihre Kameradinnen.

Sie machten die Probe und amüsierten sich himmlisch, wenn sie wirklich unruhig zu werden anfing, sich schließlich umdrehte und sie wieder ansah.

Nora hatte das ganze vorige Jahr in der Pension gewohnt; deshalb war sie natürlich auch jetzt noch alle Augenblicke mal da. Mit Tora sprach sie nicht anders als nur ganz beiläufig einmal. Eines Sonntags jedoch fragte Tora sie plötzlich, ob sie sie nicht einmal frisieren dürfe.

Das erregte in der Pension ein Aufsehen, als ob sie Nora neues Haar angeboten hätte. Von Zimmer zu Zimmer ging die Kunde, und alle kamen zusammen, die Großen wie die Kleinen; alle wollten sehen, wie Nora neues Haar bekam. Sie hingen förmlich übereinander, während das große Ereignis vor sich ging. Aber was da geschah, war auch wirklich ein Ereignis, – das Gelächter wurde bald zu Staunen, Jubeln, Händeklatschen.

Eines Tages, als Noras Haar in Unordnung geraten war, hatte Tora nämlich sofort gesehen, daß ihr das famos stand. Das paßte zu diesen großen, weit offnen Augen, die das kleine Gesicht ganz beherrschten. Eine Stirn fehlte fast gänzlich, die Backen hörten auf, kaum daß sie angefangen hatten, und der Mund war eine Kirsche oder zwei; die Nase drängte sich ein wenig vor, aber auch sie war nur dazu da, um den Augen Richtung zu geben, so daß das Gesicht zuletzt doch nichts als ein Paar Augen war.

Nun galt es also, eine Haarfrisur zu erfinden, die auch noch die Augen hob. Tora hatte viel gesehen und war gewohnt, »Inspirationen« zu haben, aber in Punkto Haarfrisur hatte sie noch keine gehabt ... Jetzt aber hatte sie eine!

Natürlich fing sie damit an, das Haar aufzulösen und zu kämmen; dann nahm sie das Vorderhaar und legte es, freigewunden, in zwei große Puffen, eine auf jeder Seite. Das war an und für sich sehr wenig und durchaus nicht abstechend, aber die Wirkung war überraschend. Wenn Leben in die Augen kam, sah das Haar aus, als habe es Schwingen und wolle auf und davon fliegen. Dann wieder war es, als flammte es, – das Haar war ja auch an und für sich ein wenig goldig schillernd.

Bisher hatte man Nora nie für hübsch erklärt; es waren andre Dinge an ihr, die die Aufmerksamkeit fesselten. Aber jetzt mußte sogar Rendalen, der sonst nicht sonderlich auf die einzelnen zu achten pflegte, in der nächsten Unterrichtsstunde, als er zufällig aufblickte und Nora ansah, innehalten. Die ganze Klasse wußte, was er dachte.

Am wenigsten vielleicht machte sich Nora selbst daraus. Jetzt war man eben fertig mit dem dummen Haar und brauchte sich in Zukunft nicht mehr darum zu kümmern. Aber als Tora Holm im weitern Verlaufe ihrer Freundschaft von ihren Talenten zu schwärmen anfing und mit dem ihr eignen Hang zur Übertreibung versicherte, Nora sei »einfach ätherisch«, Noras Klavierspiel »sei geradezu verführerisch«, ihre »geflügelten Worte träfen immer den Nagel auf den Kopf«, ja, das war etwas für Nora! Davon wollte sie mit unersättlicher Gier immer mehr, und sie pflegte diese Freundschaft eifrig. Tora Holm machte immer neue Entdeckungen; vor allem die, daß Nora immer recht habe, selbst wenn sie gegen andere launisch und heftig war, ja sogar, wenn sie ihre kleinen Anfälle von Untreue hatte ... Nora hatte recht, eigentlich immer recht.

Da wurde es Nora klar, Tora Holm war die erste, die sie ganz verstanden hatte. Wie seltsam, daß eine Fremde, eine, die mit neuen, unparteiischen Augen sah, das sofort entdeckt hatte!

Je inniger der Verkehr wurde, um so begabter wurden die beiden. Über Toras Talent für Geschichtenerzählen »ging Nora nichts in der Welt«. Sie sammelte alle die Ihrigen um sie, um zuzuhören – und nun ging's los! Märchen und Romane durcheinander – was hatte Tora nicht alles gelesen, was wußte sie nicht alles. Aus » Tausend und eine Nacht« – nicht etwa die Bearbeitung für Kinder, bewahre, die echte – konnten die Mädchen immer wieder dasselbe hören, wie kleine Kinder. Daneben liebten sie auch »wahre Geschichten«, die nicht höher zielten, als daß sie selber sie erreichen konnten; doch sollten die Liebhaber (und unter gewissen Bedingungen auch sie selbst) am liebsten edel und unglücklich sein. Diese fünfzehn-, sechzehnjährigen Backfischchen (Tora war übrigens schon fast siebzehn) hatten aus verschiednen Gründen außer ihren Schulfächern nur eine ziemlich zusammengestohlene Lektüre mit der ganzen Zufälligkeit, die die Folge davon ist, getrieben. Die Bücher, die Rendalen ihnen dann vorgelesen hatte, hatten schnell ihren Horizont erweitert und ihre Sehnsucht gesteigert, so daß Tora ihnen ungeheuer willkommen war.

Aber zwischen den Erzählstunden wollte Nora sie ganz für sich haben, sie vollständig besitzen; Nora – Tora, Tora – Nora waren förmlich ineinander verschlungen; andre konnten sich nicht dazwischendrängen. Nora erklärte auch ganz offen, daß sie am liebsten allein sein wollten.

Man kannte Nora und wußte, daß es sich nach etlichen Tagen geben würde; man lachte nur darüber. Aber da war eine, die nicht lachte.

Tinka Hansen konnte keine Treulosigkeit ertragen. Sie hatte Nora ein paarmal streng ins Gebet genommen und sie gewarnt. Diesmal schwieg sie und ließ die Strafe darin bestehen, daß sie sich, ganz korrekt nach Noras Wunsch, vollständig fernhielt; Nora konnte sie von da an nie mehr mitbekommen.

Bald kam es Nora in allen den herrlichen, morgenländischen Schlössern öde und leer vor. Sie hatte es nie gewußt, ehe ihr jetzt klar wurde, daß sie sich ohne Tinka nicht mit voller Freiheit hingeben konnte; ohne sie wagte sie nicht einmal, richtig zuzuhören; Toras Romane waren doch oft recht »französisch«. Über ein Jahr war sie nun an Tinkas Grenzen gewöhnt gewesen; jetzt war sie nicht ganz sicher, ob sie innerhalb oder außerhalb dieser Grenzen wäre; es kam ein bißchen böses Gewissen dazu. Und bald ließ sie das Tora entgelten.

Tora wußte gar nicht mehr, was sie eigentlich anfangen sollte; despotisch unterbrach Nora das Angefangene und befahl etwas andres; aber auch davon wollte sie bald nichts mehr wissen. Sie gab Versprechungen und hielt sie nicht – kurz, sie langweilte sich.

Gerade als diese Periode begonnen hatte, kam Milla wieder in die Schule.

Am Donnerstag Abend bei Frau Rendalen – Tomas wollte ihnen heute ein neues Schauspiel vorlesen – blieb Tora Holm zufällig vor Milla stehen und betrachtete ihr neues schwarzes Kleid; es war ein andres als das, das sie für gewöhnlich in der Schule anhatte. Ohne dem Kleide nahe zu kommen, beschrieb sie mit dem Finger Figuren in die Luft und sagte:

»Die Garnierung müßte so gehen, und nicht so – und schmäler wäre sie auch hübscher.«

Sie wartete keine Antwort ab, sondern ging weiter und setzte sich.

Am folgenden Tage, noch ehe die Morgenandacht anfing, kam Milla auf sie zu und dankte ihr, sie hätte es ausprobiert und gefunden, daß sie recht habe. Zu mehr war jetzt keine Zeit, aber in der ersten Pause suchten sie sich unwillkürlich wieder.

»Wie konnten Sie das nur gleich sehen?« fragte Milla.

»Ach, das hatte ich neulich an einer Puppe ausprobiert,« antwortete Tora.

»An einer Puppe?« fragte Milla leicht errötend.

Da fühlte Tora, daß sie das vielleicht nicht hätte verraten sollen, sie war so immer unsicher, was richtig wäre. Gott, was für einen feinen Instinkt Milla Engel haben mußte, daß sie sogar für sie rot wurde!

»So, Sie beschäftigen sich also mit Puppen?« fragte am folgenden Tage Milla Engel lächelnd, indem sie an Tora vorbeiglitt.

Tora versicherte ... ja, es war nicht so recht klar, was sie eigentlich versicherte; ob es war, daß sie wirklich ein paar Puppen habe, oder daß sie ihren kleinen Schwestern gehörten, oder daß sogar verheiratete Frauen oft noch Puppen hätten, es könnte also nichts Schlimmes dabei sein, – oder ob es war, daß sie sehr wohl das Unpassende daran einsehe, da ja doch jedes Alter seine bestimmten Beschäftigungen haben müsse ... Dieses und andres sang die Bergenserin ihr vor und Milla lächelte dazu.

»Hätten Sie wohl Lust, heut nachmittag ein bißchen bei mir vorzukommen? Wir sind jetzt vom Lande zurück.«

Tora wußte nicht, wie es kam, aber sie machte einen Knix. Nachher ärgerte sie sich gräßlich darüber; auch das noch!

Aber gegen sechs Uhr stand sie doch da ... Tora strebte vorwärts und höher hinauf. Sie wollte sich nicht festhalten lassen von einer Häuslichkeit wie der ihren zu Hause, von einem Geschick, wie es ihr da drohte. Selbstverständlich mußte sie tapfer drauf los – aber bange war ihr doch.

Konsul Engels Haus war ungefähr das einzige in der Stadt, das auch am Tage verschlossen gehalten wurde. Wenn man klingelte, kam zu gewissen Zeiten ein Diener und öffnete, zu andern ein Zimmermädchen. Und dann stand man in einem Hause, wo die gleichen Brüsseler Teppiche durch Korridore, Treppen und Zimmer liefen, und wo man sich gleich an der Haustür zwischen zwei Spiegelwänden befand, in denen man sich von den Füßen bis zur Hutfeder sah.

Tora wurde nach oben geführt. Dort waren die Zimmer des »gnädigen Fräuleins«. Sie wurde herzlich empfangen. Diese Gemächer waren Frau Engels Aufenthaltsort während ihrer letzten Jahre gewesen, und selten hatte sie sie verlassen. Hier war sie auch gestorben. Darum war in diesem Jahre die Familie auch so spät aufs Land gezogen und erst jetzt zurückgekehrt.

Alles, was ein Zimmer an Gemütlichkeit und Luxus besitzen kann, war hier. Die Möbel waren wie weiche Daunen um eine Kranke; wo man hinfaßte, gab es nach. Die Bezüge von moosgrüner Seide; ebenso die Gardinen und Portièren. Die Wände von unbestimmter dunkler Farbe. Eine altmodische Chiffonnière von Rosenholz mit eingelegter Arbeit und einer Unendlichkeit von kleinen Abteilungen und Geheimfächern.

Tora konnte sich gar nicht satt daran sehen. Ein Erardflügel mit geschnitzten Köpfen und Emblemen; ein Bücherschrank in demselben Stil. Gemälde, namentlich Landschaften, zogen in ein dunkles Sehnen hinein, gedämpft, fast schwül, mit Abendsonnenschein über sich. Tora ging von dem einen zum andern; jeden einzelnen Gegenstand betrachtete sie wie ein Individuum, zu dem sie gern in ein persönliches Verhältnis gekommen wäre.

Von dort ins Schlafzimmer! Hier bewunderte sie den weichen Teppich, in dem die Füße fast versanken, die kleine Chaiselongue in der einen Ecke, das Bett mit den kostbaren Vorhängen, die Mannigfaltigkeit und Zierlichkeit der Toilettengegenstände.

Millas Freude, ihr dies alles zeigen zu können, zeigte sich in einer Äußerung, die sie machte: es sei ihr, als hätte sie bis heute noch nie jemand in die Zimmer ihrer seligen Mutter geführt.

Nur an einem einzigen Möbelstück ging Tora wieder und wieder vorbei; zuletzt konnte sie es gar nicht mehr ausstehen, das störte ja die ganze Harmonie.

»Nein, was ist denn nur bloß in dem Schrank da?« fragte sie. »Warum steht der hier?«

Milla antwortete lächelnd, er falle freilich sehr aus dem Stil, das wisse sie; früher habe er auch nicht da gestanden. Er gehöre nämlich ihr selbst und sei ihr von jeher überall hin gefolgt.

»Aber könnte er denn nicht wo anders stehen?«

»Nein, das geht nicht gut.« Die Antwort klang etwas reserviert. Tora konnte nicht weiter fragen.

Als Tora ging, bat Milla sie, doch ja bald wiederzukommen. Aber am besten wär's, sie sagte es ihr vorher, damit sie allein sein könnten; das wär doch am gemütlichsten.

Tora merkte, daß dies besonders an Anna Rognes Adresse gerichtet war; aber das ging sie ja nichts an.

So geschah es, als sie das nächste Mal im Halbdunkel Nora und ihren Anfängerinnen, die sich für diese Gelegenheit auf Decken und Teppiche gelagert hatten – ein Märchen aus »Tausend und eine Nacht« erzählte, daß sie die Bemerkung hinwarf: »Die von allen meinen Freundinnen, die Gulnare am meisten gleicht, ist Milla Engel.«

Das in dieser Umgebung! Das war ja, wie wenn in der des Königs gesagt würde, er sei nicht der weiseste Mann im Reiche.

Nora war baff, die Freundinnen waren geradezu empört. Tora fühlte, daß sie eine Dummheit gemacht hatte, sie suchte sich herauszureden, indem sie Milla jene »passive« Schönheit beilegte, auf die es hier ankam. Die Worte »aktiv« und »passiv« waren nämlich gerade Schlagworte in der obersten Klasse; es gab »aktive« und »passive« Menschen; »aktive« und »passive« Augen; »aktive« und »passive« Farben.

»Aber du lieber Gott,« sagte eine der Freundinnen, »Milla hat ja nicht mal schwarzes Haar! Sie ist ja blond!«

»Das ist Nora doch auch,« antwortete die unbesonnene Bergenserin.

»Ich danke aber dafür, so eine passive Schönheit, – so eine orientalische Prinzessin zu sein,« entgegnete diese gekränkt.

»Nein, das meinte ich ja auch gar nicht; ich meinte nur –« Sie stockte, denn sie wußte wirklich nicht, was sie eigentlich gemeint hatte.

»Das ist der ausgemachteste Blödsinn,« sagten die andern und trieben Tora so lange in die Enge, bis sie mit Tränen in den Augen erklärte, Milla sei die Feinste und Reizendste in der ganzen Schule; sie (Tora) sei unendlich glücklich darüber, jemand zu haben, der so taktvoll, so rücksichtsvoll wäre. Das wären wahrhaftig nicht alle.

Das ging denn doch über die Hutschnur! Selbst Gina Krog, die sonst immer so schonend war, besann sich jetzt nicht länger, sie teilte mit, was sie schon seit zwei Tagen wisse, aber keinem hätte sagen wollen: daß Tora zu Milla gehe und daß sie sich duzten!

Es wurde ganz still. Nach einer Weile war Nora verschwunden ... die Gesellschaft war aufgelöst.

Tora versuchte Erklärungen zu geben, aber niemand wollte davon hören. In der Pension war Millas Anhängerschar nicht stark vertreten. Keins von den Mädchen hatte je einen Fuß in Milla Engels Haus gesetzt – aus dem einfachen Grunde, weil sie nie eingeladen worden waren ...

Wie Tora sich selbst und ihr Kopfkissen an diesem Abend auch drehen und wenden mochte, – sie konnte keinen Schlaf finden. Es wurmte sie und peinigte sie, daß sie nicht mit der einen befreundet sein konnte, ohne sich mit der andern zu verfeinden. Jetzt hielt die ganze Pension sie für treulos und falsch – der liebe Gott im Himmel wußte am besten, daß sie das nicht war! Aber diese Sache konnte sie ganz vor die Tür bringen, konnte sie mit einem unauslöschlichen Makel behaften. Für sie galt es stets die Zukunft; sie war so hin- und hergeworfen worden, sie fühlte sich so schrecklich unsicher, sie tastete nach einem Halt, um sich daran zu klammern, aber immer entglitt er ihr wieder.

Sie weinte bitterlich. Sie hatte ja alle beide lieb, Milla wie Nora – jede in ihrer Weise; sie waren ja auch so verschieden. Warum sollte sie denn das nicht dürfen, wenn es ihr doch Bedürfnis war? Was sollte sie tun? Sie wollte weder die eine, noch die andre opfern ...

Der nächste Tag war ein Sonntag; sie wollte in die Kirche, aber sie war nicht imstande, auf die andern zu warten, die auch in die Kirche gingen ... Sie stahl sich fort und huschte schnell zu Milla hinein.

Milla war auch schon zum Kirchgang fertig; sie trafen auf der Diele zusammen. Aber als Tora sie so dringend um eine Unterredung bat, nahm Milla sie überrascht mit sich in ihr Zimmer und drehte den Schlüssel um.

Tora fing zu weinen an und erzählte alles wahrheitsgetreu; sie versuchte nicht zu verhehlen, daß sie alle beide lieb hätte und warum das so wäre; auch nicht, daß sie so ganz verlassen sei und wisse, welche Folgen das für ihre Zukunft haben konnte. Nora habe einen mächtigen Einfluß dort in der Pension und in der Schule.

Mitten in der Erzählung, Tora hatte gerade eine Pause gemacht, um sich ausweinen zu können, hörte Milla etwas an der Tür ... Jetzt klopfte es sogar.

Sie öffnete die Tür nur so weit, daß sie eben hinausschlüpfen konnte. Nach einer Weile kam sie wieder herein und erzählte, sie hätte eigentlich mit Anna Rogne verabredet gehabt, mit ihr in die Kirche zu gehen; aber sie habe sich mit Kopfweh entschuldigt; zwar wäre das nun schon der zweite Sonntag, an dem sie das tue, aber dabei sei eben nichts zu machen. Milla hatte Mitleid mit Tora; sie war ihr aufrichtig gut; das zeigte sich jetzt. Sie versprach, ihr nichts übel zu nehmen, was Tora auch anstellen sollte, um mit Nora und ihren vielen Getreuen wieder auf guten Fuß zu kommen. Milla war wirklich ein liebes Geschöpf.

Tora hatte nur noch Zeit, der Freundin um den Hals zu fallen und ihr einen Kuß zu geben; sie mußte fort, um sich in der Kirche zu zeigen. Aber ob sie nicht heute nachmittag wiederkommen dürfe? Sie fühle sich so getröstet; aber sie bedürfe ihrer noch viel, viel mehr; ihr sei so bang zu Mute; alles müsse sie mit ihr zusammen überlegen. Milla bat sie, doch ja wiederzukommen, sobald sie könnte.

Gleich nach dem Kaffee war sie wieder da, und Milla flüsterte ihr, nachdem sie die Tür verschlossen hatte, ins Ohr, den Arm um sie schlingend – jetzt wolle sie ihr eine Freude machen; wenigstens glaube sie, daß es ihr Freude machen würde. Keiner Menschenseele habe sie es bis jetzt gezeigt. »Nämlich der Schrank da.«

»Der Schrank da –?«

»Ist früher mal mein Puppenschrank gewesen.«

»Dein Puppenschrank!«

»Aber ich sage zu allen, daß er das jetzt natürlich nicht mehr sei,« fuhr Milla fort.

Bei diesen Worten öffnete sie den Schrank – die großen Flügeltüren, die untern sowohl als auch die obern, drehten sich gleichzeitig, und die Mädchen blickten in die vier Etagen eines Hauses, in der untersten waren eine vollständig eingerichtete, unglaublich kokette Küche, eine Speisekammer und Waschküche, darüber ein Salon, ein großer, eleganter Salon, mit den feinsten, seidengepolsterten Möbeln, einem Tisch aus Jakaranda, einem Kamin, einem Spiegel, einer Uhr. Im dritten Stock die Schlafzimmer mit den reizendsten Bettchen, ganz wirkliche echte Betten durch und durch, und mit Waschtischen, in denen bis auf gewisse kleine unaussprechliche Gegenstände alles komplett war. In der vierten Etage die Garderobe – eine großartige Puppengarderobe zum Wechseln, in Seide, Samt und Moiré antique von verschiedenen Farben; ein ganzes Lager von Stoffen, die noch nicht zugeschnitten waren, allerlei Reste, offenbar durch Jahre mit Fleiß und Sorgfalt aufgespeichert. Und Hemden und Strümpfe, andre Unterkleider, alles doppelt, ebenso Hüte, Mäntel, Gürtel, Schmucksachen!

Tora schrie hell auf! Bald lag sie auf den Knien, bald stand sie auf den Zehenspitzen; aber noch hatte sie nichts auch nur mit einem Finger angerührt, nur alles mit den Augen verschlungen, ohne es übersehen zu können. Mit einem Blick war das nicht möglich, es war zu viel, zu verschiedenartig, zu überraschend im Detail. Eins, zwei, drei, vier – fünf – sechs! sieben!! acht!!! – – sie hatte leise angefangen, aber bei jeder neuen Nummer hob sie die Stimme, so daß Milla schnell rief: »Zwölf, zwölf! – Es sind zwölf!«

»Zwölf! Ein ganzes Dutzend! Himmel! Du hast also alle Puppen aufbewahrt, die du in deinem ganzen Leben bekommen hast? Nicht eine einzige kaput gemacht?«

»O doch; aber seit ich sieben Jahr alt war, nicht mehr.«

»Wart mal!« Und mit einer Feierlichkeit, als fürchte sie, sie könnten verschwinden, steckte Tora behutsam die Hand hinein und holte die allerwonnigste Puppe heraus, die große in rosa Seide, mit Schuhen und Hut in derselben Farbe, dunkelrotem Sonnenschirm und einem kleinen Fächer im Gürtel, Unterkleidern wie für eine erwachsene Dame, mit Spitzen und Stickereien, einer Tasche im Kleide mit einem Taschentuch drin, und eleganten, französischen Handschuhen, die wirklich paßten; und dann noch eine reizende, kleine Brosche in Vergißmeinnichtform, und Armband und Uhr dazu passend ...

Sie war ganz stumm vor Bewunderung, und während sie die Puppe drehte und wendete, den Schnitt, die Garnierung des Kleides, die Wäsche musterte, sie bald weit von sich ab, bald ganz nahe hielt – da klopfte es leise an die Tür. Jemand war die Treppe herauf und dicht bis ans Zimmer gekommen, ohne daß die aufgeregten Mädchen etwas davon gehört hatten. Erschrocken fuhren sie auf.

Milla hielt einen Finger in die Höhe: jetzt keinen Ton! Sie wurde rot und dann wieder blaß. Natürlich Anna! Aber Anna hatte die Puppen noch nie gesehen, sie durfte sie nicht sehen. Sie würde gar kein Verständnis dafür haben! Hier seien, erklärte sie später, sogar zwei Puppen in Trauer; aber Anna hätte Milla in der letzten Zeit so überlaufen, daß sie nicht mehr als die zwei fertig bekommen hätte, obwohl ihr Plan gewesen wäre, sie alle in Trauer zu sehen; das hätte sich doch sicher ganz reizend gemacht ... Da klopfte es zum zweitenmal, zögernd, matt ... Sie hielten den Atem an; Milla war ganz außer sich ... Dann hörten sie, daß der Besuch sich entfernte; und jetzt war ihr Gehör so geschärft, daß sie sogar die Schritte auf der Treppe hörten. Das war doch ein grenzenloses Pech.

Milla hatte doch den Bescheid gegeben, sie sei für jeden andern als Tora ausgefahren, ihrer Kopfschmerzen wegen.

Aber das Mädchen, das den Auftrag bekommen hatte – ihr eignes Kammermädchen – mußte nicht dagewesen sein, obgleich es ihre Zeit war. Was sollte sie nur tun?

Aber aus diesen Betrachtungen wurde sie durch einen Sturmwind herausgerissen.

* * *

Nora lag in Tinkas Zimmer auf dem Bette. Es war ein kleines, blaugetünchtes, paneliertes Giebelstübchen in Schuhmacher Hansens neuem Hause am Markt. Außer dem Bette war noch ein braun gestrichenes offnes Bücherbord da, ein paar Stühle, ein großer Waschtisch, der eigentlich für zwei Personen bestimmt war, aber sonst nirgend Platz gefunden hatte, ein kurzes, hochbeiniges Sofa, auf dem jetzt Tinka saß und ihre Freundin betrachtete, während sie den rechten Arm auf ihr kleines Schreibpult auf dem Tische vor sich stützte.

Nora lag da und schluchzte herzbrechend, und Tinka sah ganz gelassen zu. Jetzt hätte also auch Nora mal erfahren, wie Untreue täte; jetzt wüßte sie, wie es schmecke, um einer andern willen verschmäht zu werden.

Aber es wäre mehr als nur Verschmähtwerden. Sie wäre abgesetzt, in den Staub getreten, vernichtet. Erst hätte Tora sie so hoch erhöht: »sie sei nur Geist«, »sie könne sich nie irren«, und nun hätte diese selbe Tora sie fallen lassen, – um einer Milla Engel willen!

O, die Welt wäre nichts als Lug und Trug!

»Gott, Tinka, warum magst du mich denn nicht mehr? Du ahnst ja nicht, wie verzweifelt ich bin!«

Tinka schwieg beharrlich.

»Ohne dich kann ich nicht leben, Tinka; nein, nein, ich kann nicht. Seit heute früh weiß ich, daß ich nichts als Fehler habe. Ich habe überhaupt keinen Halt in mir; – ja, es ist wirklich wahr.«

»Stimmt,« tröstete Tinka.

»Keine Spur von Halt. Ach Gott, was soll ich denn nur machen? Willst du denn gar nicht ein bißchen mit mir reden?« Und sie weinte noch herzbrechender.

»Du willst eben nur angebetet sein, Nora.«

»Nein, Tinka, bitte, sag nicht: nur.«

»Na ja, aber ohne Anbetung bist du nicht glücklich ... und das bekommt man eben satt.«

»Was soll ich denn nur tun, Tinka? Wahrhaftig, ich hab es ja selbst satt, glaub mir doch. Ganz sicher. Namentlich jetzt, seit Milla auch angebetet wird. Pfui, so was widert einen ja an!«

»Wohl nur, weil es jetzt Milla gilt und nicht dir.«

»Nein, auf Ehre, Tinka,« – und sie richtete sich auf dem Ellbogen auf.

»Tora hat's zu arg getrieben, deshalb hängt's mir jetzt zum Halse heraus. Ja, wirklich! Und denk nur, denk nur, jetzt ist sie bei Milla!« Und sie warf sich wieder hin und weinte vor Gram und Scham.

Plötzlich richtete sie sich auf: »Aber ich will das loswerden, es ist ja widerwärtig; ich verachte mich selbst! Du weißt nicht, was mir seit heute morgen alles durch den Kopf gegangen ist! Hilf mir doch, Tinka! Du bist die einzige von allen, die wahr gegen mich ist.«

Tinka saß unbeweglich. Nora warf sich wieder hin, drehte sich um und weinte.

»Ich kann gar nicht begreifen,« sagte endlich Tinka, »du schwärmst doch so für ...«

»Pfui, sag das Wort nicht mehr, Tinka!« unterbrach Nora sie und machte mit der Hand eine Geste der Abwehr; »es ist mir so widerlich, seitdem auch Milla es braucht; Milla ›schwärmt‹ auch! Kannst du dir nur was – –«

»Gut, also dann nicht ›schwärmen‹ – –«

»Nein, bitte, bitte nicht.«

»Also lieber ›interessieren‹; also ein Mädchen wie du, das sich so für alles interessiert, was gerecht und groß ist, und so mutig ist – denn das bist du wirklich ... Du könntest, glaub ich, in den Tod gehen für etwas, was du für recht hältst ...«

»Ja, das könnte ich, Tinka! Ich glaube wirklich, das könnte ich!« Sie richtete sich halb auf. »O, wie wohl das tut, endlich einmal wieder was Gutes zu hören – und gar von dir, Tinka; – ich war schon ganz kaput gegangen!«

»Ja, aber jetzt kommt's erst, siehst du: Ist es nicht eine Schande, daß eine, die so 'n famoser Kerl ist, gleichzeitig so ein Pfau sein kann! ...«

»Ein Pfau, Tinka?!«

»Ja, ein Pfau ... Du siehst aus wie ein Pfau.«

»Ich? Ich glaube, du – –«

»Ja, von mir stammt das nicht –«

»Na, das könnt ich mir denken.«

»Tora hat es gesagt ...«

»Tora –? O, die Schlange!«

»Ja, aber Tora hat recht: du siehst einem Pfau furchtbar ähnlich, Nora ... Mit dem spitzen, kleinen Gesicht ... Und dann so mager ...

»Aber, Tinka?!«

»Ja, es ist die Wahrheit. Darüber sind wir Freundinnen alle einig. Und wir sollen die Augen auf deinem Pfauenschweif sein ... Na, ich danke!«

Nora warf sich hin, schluchzte und heulte, Kopf und Hände in die Kissen gewühlt.

»Sicher hast du Tora gekränkt; du bist ja so launisch, so verwöhnt ...«

»Ja, das bin ich, das ist wahr,« kam es aus dem Kissen heraus.

»Das ist eben dein Fehler. Fredrik sagt es auch.«

»Was sagt Fredrik?«

Augenblicklich tauchte das rote Gesicht aus den Kissen empor. Fredrik war eine Autorität.

»Ich will's dir mal vorlesen,« antwortete die andre, klappte das Pult auf und nahm einen Brief von mindestens fünf Bogen heraus. »Hier steht's,« fuhr sie fort, indem sie die vierte Seite des vierten Bogens aufschlug, mit derselben bedächtigen Sicherheit, mit der sie auch das Pult aufgeklappt, den Brief herausgeholt und das Pult wieder zugeklappt hatte, und las:

»Du darfst aber auch nicht zu streng mit ihr sein. Denn wäre das ihre wahre Natur, dann würde sie sich anders benehmen und besser verstehen, ihre Anbeter festzuhalten. Nein, sie ist bloß ein verzognes Kind, das nie etwas getan hat, ohne dafür gelobt zu werden; dadurch ist sie so launisch geworden, daß sie heute den satt bekommt, der sie gestern in den Himmel gehoben hat.«

»Gott, wie wahr, Tinka!«

»Aber vielleicht bekommt sie auch das mal satt. Denn sie will ja doch etwas Bessres; den Eindruck habe ich in diesem Sommer gehabt. Aber du, Tinka, mußt ihr dabei helfen – –«

»Ach, bitte, ja, tu das!« Nora hatte sich aufgerichtet und saß jetzt auf der Bettkante; sie hatte ihre Hände gefaltet und sah Tinka an. »Du mußt immer, immer bei mir sein, Tinka! Ich bin mit mir nicht zufrieden, wenn du es nicht bist, Tinka! ... Ach, liebe, einzige, beste Tinka, nie, nie, nie will ich wieder so sein! Wenn du auch nur das geringste Anzeichen davon entdeckst, so nimm mich gleich ins Gebet! Ich möchte doch so brennend gern, daß etwas Bessres aus mir würde ... Ich möchte so gern ein ganz vorzüglicher Mensch werden, – ja, lach mich nur aus. Im Grunde macht es mir gar keinen Spaß, den andern immer was vorzusingen und Komödie vorzuspielen und gelobt und gelobt zu werden. Aber das hat sich nun mal so gemacht: ich will etwas können, bei etwas dabei sein, was begeistern kann! Ja, dazu hab ich Lust! Manchmal hab ich ein Gefühl, als müßte ich in den Krieg ziehen, oder mit den Nihilisten in Rußland sterben ... ja, wirklich. Oder in der Welt herumreisen und Reden halten, um verhöhnt und gesteinigt zu werden. Ja, ich könnte wirklich ... Ich weiß selbst nicht, was eigentlich, aber dazu hätte ich Lust ... Das sage ich nicht etwa, um zu renommieren, Tinka, nein, nur, weil ich es wirklich so fühle, – bei Gott, so fühl ich's! ... Irre ich mich, so ist es, weil nur ein unbestimmtes Sehnen ist, – vielleicht tauge ich zu gar nichts; aber die Sehnsucht ist doch da, du. Wenn's auch nichts weiter ist, die habe ich doch. Alles das, weswegen ich immerzu so gerühmt werde, ist mir ganz, ganz schnuppe. Aber eine unsagbar große, große, große Sehnsucht hab ich.«

Sie hatte sich erhoben; ihre Augen funkelten durch die Tränen, das Haar flammte; sie hatte die langen Arme ausgebreitet, als die Tränen kamen, jetzt warf sie sich wieder hin.

Tinka konnte doch auf die Dauer nicht all den lieben Erinnerungen, die Nora in ihr hervorgerufen hatte, widerstehen. Drum kam sie in ihrer ganzen Fülle und Breite angewatschelt und legte sich über sie.

Und nun saßen sie eine Weile zusammen in jenem traulichen Geplauder, wie es dem Glücksgefühl der Versöhnung eigen ist. Tinka versuchte loszuwerden, was sie in diesen Tagen in ihr Gedächtnis eingeschrieben und Nora zugedacht hatte; allein jetzt hatte es gar keinen rechten Reiz mehr. Noras muntre Antworten machten es fast langweilig. Schließlich mußte sie über das, was ihr noch vor kurzem so außerordentlich ernst, so ungeheuer bedenklich erschienen war, lachen.

Und mitten dahinein hörten sie plötzlich jemand die Treppe herausgestürmt kommen; trapp, trapp, die erste Treppe, wie Trommelschläger; dann die zweite, dann die dritte, und nun über den dunklen Boden mit demselben rasenden, ungeschwächten Ungestüm. Es gab nur eine, die zuweilen so kam ... aber die konnte es doch nicht ...?

Hier oben gab's keine verschlossnen Türen; hier oben klopfte man nicht an, hier riß man die Türe ohne weiteres auf. – Ja, es war Tora. – – Du gerechter Himmel!

Das Erstaunen, das Beleidigttun, die Würde der beiden Mädchen! ... An einem Fürstenhof hätte man es nicht besser spielen können. Tinkas dicke Unwissenheit, daß es auf der Welt ein Wesen namens Tora Holm gab, und Noras adeliges, durchgeistigtes und wortloses »Rührmichnichtan« – ausgezeichnet!

Doch nie ist eine köstlichere Komödie jämmerlicher zu Ende gespielt worden. Tora strahlte Freude und Siegesjubel; schwatzte etwas von zwölf Puppen, von denen mehrere so groß wie richtige Kinder seien, und von – sie glaube wohl einem halben Hundert – ja, so viel waren's mindestens – Puppenkleidern in allen Sorten von Moiré antique, Seide und Samt bis zu den Morgenröcken herab. Von Röcken mit Stickereien daran, Höschen und seidenen Strümpfen, Handschuhen, Sonnenschirmen usw.; von Betten mit Vorhängen, Waschtoiletten mit allem drin, bis auf den unnennbaren, schon genannten Gegenstand; von allem, von der Küche bis zum Salon und seiner Einrichtung, von einem großartigen Plan, daß alle diese Puppen an Königs Geburtstag zum Hofball sollten, von Milla, die hunderttausendmal besser wäre als sie ahnten, und die nichts dagegen hätte, nein, es sogar wünsche, daß sie beide zu ihr kämen, jetzt sofort, und alles angucken und die ganze Sache mit dem Hofball mitmimen sollten ... natürlich im allertiefsten Schweigen. Ja, es war wahr! wirklich und wahrhaftig wahr! Und dann erzählte sie, wie es zugegangen sei; von Millas Zimmern und wie sie aussähen, und daß sie selbst schon oft dort gewesen sei, ohne auch nur eine Silbe von den Puppen zu hören, aber heut hätte Milla ihr aus purer Herzensgüte, nur um sie zu trösten, alles gezeigt, und jetzt wolle sie es auch den andern zeigen; wenn dann nur alles wieder schön und gut sei und sie von jetzt an alle vier Freundinnen sein wollten! Den Vorschlag hätte sie gemacht. Milla wäre erst ganz erschrocken gewesen, aber dann wäre sie auf den Plan eingegangen, und schließlich hätte sie ihn ganz entzückend gefunden. Milla wäre so gut – und jetzt müßten sie ebenso lieb sein! Kein Bedenken – sie müßten! Wozu sollten denn durchaus zwei Parteien sein? Im Grunde hätten sie sich ja doch gar nichts getan; nicht das allergeringste, nicht so viel!

»Zieht euch nur fix an, aber recht, recht schnell, unterwegs können wir ja weiter drüber reden!«

Die beiden sahen sich an – aber Tora ließ sie gar nicht zu Atem kommen. »Wir müssen zu Hause bestellen, daß wir zum Abend dableiben; das sollen wir nämlich! Es geht doch nicht, eine Einladung abzulehnen? Eine förmliche Einladung zu Engels!?«

Tora war wie ein Sturmwind; sie riß die andern mit sich, sogar körperlich. Und unter dem Ansturm hatten ihre Augen und ihre Bewegungen Feuer gefangen; sie sprühte Funken. Sie behexte die andern vollständig.

– Nicht lange drauf standen sie alle vier vor dem Schrank. Einleitung, Übergangsverlegenheit, Entschuldigungen, Gegenbeschuldigungen nahmen kaum einige Minuten in Anspruch. Tora faßte Milla und schob sie sanft vor den Schrank hin:

»Schließ auf! Schließ doch auf! Reden können wir ja immer noch! Schließ auf!«

Milla fühlte selbst, daß hier handeln besser als reden sei – und schloß auf!

Noras und Tinkas Ausrufe des Entzückens waren ihr Lohn genug. In dieser kleinen Sammlung lag eine Summe von Fleiß, Ordnung und Schönheitssinn, dessen sie sich bewußt war, und dadurch war sie ihr ans Herz gewachsen. Sie war ihr Schatz; nie hatte sie ihn gern gezeigt; ja, in den letzten Jahren hatte nicht eine Menschenseele außer ihr selbst ihn gesehen; es umschwebte ihn also ein ganz eigner Schimmer des Geheimnisvollen. Und der sollte, wenn er einmal den überraschten Augen andrer enthüllt wurde, genossen werden – und jetzt wurde er genossen!

Jede fand etwas nach ihrem Geschmack. Tinka sah in den Puppen ebenso viele kleine Kinder, und sie redete in der Kindersprache mit ihnen, »liebe Dott« für lieber Gott, und »jüße Teine« für süße Kleine. Sie machte sich gleich daran, eine auszuziehen, nur um das Vergnügen zu haben, sie wieder anzuziehen.

Tora jubelte über die Stoffe, befühlte sie, hielt sie bald gegen das Licht, bald gegeneinander. Namentlich ein Stück Brokat, das sie erst jetzt entdeckt hatte (Milla suchte es ihr hervor), entzückte sie; es weckte Idee auf Idee in ihr, und sie plauderte unablässig.

Nora betrachtete den Schrank als Ganzes, als Kunstsammlung. Milla erschien ihr in ganz neuem Lichte; man fühlte, was Nora jetzt von ihr dachte – auch an Millas leichtem Erröten. Den ganzen Abend behandelten die zwei sich mit einer Auszeichnung, die die andern ganz natürlich fanden.

Bald saßen sie alle um den Tisch, die Puppen zwischen sich. Alles, was an Stoffen und an Garderobe für den großen Zweck – den Hofball – geeignet schien, lag auf dem Tische ausgebreitet, und acht Augen und vierzig Finger wühlten darin herum. Man konnte sich nicht einigen; Tora wollte durchaus einen Maskenball, und ihr unaufhaltsames Geplauder füllte die Luft mit Bildern und Farben; es wimmelte förmlich von Ritterfräuleins und Rokokodamen mit Bändern, Federn und Hüten.

Milla war für die Gegenwart, sie hielt sich an die Modejournale, besonders an ein Paar ganz neu herausgekommene. Nora stellte sich bald auf Millas, bald auf Toras Seite, je nachdem eine Einzelheit ihre Phantasie anregte. Tinka opponierte gegen die Idee selbst. Jede sollte ihre Puppen herausputzen, wie es ihr gerade paßte.

Das empörte Nora und Tora; die Sache mußte doch Stil haben! Milla behandelte den Vorschlag mit mehr Rücksicht, war aber ebenfalls dagegen. Bei Nora mischte sich bald ein bißchen Ungeduld hinein; und infolge eines Kunstgriffs, auf den sich nur Backfische verstehen, verwandelte sich die ganze Debatte in einen Streit über – Tomas Rendalen und Karl Wangen! Und nicht etwa zwischen Tinka und den andern, nein, zwischen Tora einerseits und Nora und Tinka andrerseits. Toras Nervosität konnte Rendalen nicht vertragen; entweder war es das, oder ihre Oppositionslust – anders konnte man sich's nicht erklären, daß sie Rendalen vom ersten Tage an nicht hatte leiden können. Ein gewagter Vergleich zwischen einem Stück rotpunktiertem Zeug und Rendalens Händen hatte den Streit entfacht; Nora widersprach nämlich sofort, seine Hände seien lebhaft, geradezu sprechend; Wangens Hände seien dagegen dumm und lang, oben und unten egal breit!

Wenn in einer Mädchenschule nur zwei männliche Lehrer sind, so können die Schülerinnen nicht leicht beide loben, der eine muß immer auf Kosten des andern gelobt werden. Und in unsrer Schule war es der brave Karl Wangen, der in der Regel herhalten mußte, wenn man das Bedürfnis fühlte, sich für den »geistvollen« Rendalen zu begeistern. Tora war jedoch ganz entgegengesetzter Meinung. Von jenem Augenblick an, da Karl Wangen ihre Hand mit einem so warmen Willkommen in die seine genommen und sie zugleich mit seinen so guten Augen angestrahlt hatte, ja, noch obendrein dies Begegnen zum Text seines Morgengebets gemacht hatte – seitdem war sie für ihn eingenommen. Und je linkischer und naiver er war, um so mehr verteidigte sie ihn; sie schlug sich so eifrig für ihn, daß die andern sie necken mußten.

Diesmal fing es ganz unschuldig an. Sie warfen ihr nur Karl Wangens »schweren, leeren« Schädel, seinen langen Mund, seine langen Finger, seine langen Beine, seine großen Füße an den Kopf. Nun schoß sie mit Rendalens roten Haaren, seiner weibischen Zierlichkeit, seinen parfümierten Taschentüchern.

Aber dann wurde es ärger. Toras Scharfsinn zog Beispiele hervor von Rendalens unbeherrschtem Jähzorn, – und wie er sich dann festrennen könnte, von seinen wechselnden Launen. Manchmal liefe er viertelstundenlang in der Klasse auf und ab, ohne zu reden, noch zu hören, noch zu sehen; dann wieder sei er lauter Lebendigkeit, geradezu übermütig lustig, viel zu übertrieben.

Das fanden die andern ungerecht, denn wenn man es so einzeln herausschälte, bekäme niemand auch nur einen annähernden Begriff von Rendalen, der doch trotz allem der liebenswürdigste und tüchtigste Lehrer wäre, den man sich nur denken könnte. Tinka hatte ein launiges Nachahmungstalent und nicht die mindeste Anlage zur Frömmigkeit, so daß Karl Wangen ihr leicht komisch vorkam; jetzt fing sie an, ihm nachzupredigen, oder besser nachzublöken – mit starren, gen Himmel gewandten Augen. Nora lachte sich halbtot und Tora fing zu weinen an.

Auch Milla hatte das Lachen nicht verbeißen können; aber sie nahm nun doch Partei für Karl Wangen. Sie bemerkte ruhig, sie fände ihn reizend. Über Rendalen sagte sie nichts.

Da Milla die Wirtin war und Nora und Tinka zum erstenmal bei ihr waren, machten sie der Sache jetzt ein Ende. Aber Tora gab nicht klein bei; sie sang nun erst recht Karl Wangens Lob.

Um nichts entgegnen zu müssen und zugleich anzudeuten, jetzt dürfte es wohl genug sein, stand Nora auf und sah summend zum Fenster hinaus.

»Himmel, da geht ja Anna Rogne!« rief sie.

»Kommt sie von hier?« fragte Milla, wurde ganz blaß und kam auch ans Fenster.

»Ja.«

Sie sah Anna davonrennen, sie schien in heftiger Erregung zu sein. Milla selbst lief mit aller geziemenden Hast zur Tür hinaus und die Treppe hinunter. Es dauerte ein Weilchen, ehe sie zurückkam.

Da war sie ganz still und wirklich erregt. Anna war wirklich hier oben gewesen, also bis vor der Türe!

Allgemeine Verwunderung Milla erzählte nun, was heute vormittag passiert wir, und wie unschuldig sie im Grunde daran sei. Tora nahm alles auf sich und war furchtbar unglücklich darüber.

»Nein, ich bin allein daran schuld,« meinte Milla.

Was sollte sie nur tun? Sie hatte anspannen lassen.

Niemand antwortete; aber unwillkürlich sah sie auf Tinka.

»Ja,« meinte Tinka, »das beste ist, wir fahren alle miteinander zu Anna, holen sie ab und erklären ihr, wie es zugegangen ist.«

Nora und Tora waren sofort einverstanden. Das war das einzig richtige!

Auch Milla gab zu, daß es sicher das beste wäre. Aber sie hatte Anna noch nie etwas von den Puppen gesagt; so etwas lag nicht in Annas Geschmack. Und nun konnte man Anna das mit den Puppen doch nicht gut erklären, ohne sie zu verletzen. Nora und Tora sahen es ein; das ging nicht.

Tinka meinte, es ginge doch. Sie wollte die Sache schon einrichten, ganz allein.

Nein, wenn jemand, so müsse Milla selbst es tun.

Das brachte Milla auf die Idee, zu schreiben! Ganz einfach ihr mitzuteilen, die andern wären bei ihr, ob sie nicht auch ein bißchen kommen wolle; und dann wollte sie ihr den Wagen schicken. – Ja, meinten die andern, so ginge es.

»Fahr doch selbst hin,« sagte Tinka.

»Na, hört mal, so unhöflich bin ich doch nicht gegen meine Gäste,« lachte Milla und setzte sich, um zu schreiben.

Die andern waren solange still. Aber Nora unterbrach das Schweigen:

»Tinka hat ganz recht: fahr doch lieber selbst zu ihr! Wir können ja solange hinausgehen.«

»Nein,« antwortete Milla und sah von ihrem Briefe auf, »Anna braucht ja gar nicht zu wissen, daß wir sie gesehen haben. Da ist es doch das Allernatürlichste von der Welt, daß ich zu ihr schicke, wenn ihr gekommen seid.«

Das fanden die andern ausgezeichnet. Sie schrieb den Brief fertig und lief hinunter. Als sie wieder oben war, hörten sie den Wagen schon zum Torweg neben dem Hause hinausfahren.

Milla lächelte: »Ich habe ihr geschrieben, ein andermal würde ich ihr erklären, weshalb ihr gekommen wäret. Dann habe ich Hans gebeten, recht schnell zu fahren und einen kleinen Umweg zu machen, um nicht an Anna vorbeizufahren; vielleicht ist der Wagen dann eher da, als sie selbst.«

Sie war offenbar froh, daß sie einer so heiklen Situation gewachsen war.

Wieder wurden die Verhandlungen über das Puppenfest aufgenommen; aber ehe der Wagen mit Anna zurück war, mußten die Puppen und all ihr Zeug ja wieder im Schrank sein.

Plötzlich platzte Nora heraus: »Wenn wir nun Anna doch nichts von den Puppen sagen sollen, warum in aller Welt konnten wir da nicht alle zusammen hinfahren?«

Eine Weile sahen sie sich ganz verdutzt an ... Das war aber auch wahr!

Sie brachen in lautes Gelächter aus ... Wie waren sie denn nur auf den blödsinnigen Gedanken gekommen, daß ihr Puppengeheimnis dadurch verraten würde, daß sie alle miteinander hinführen?! Sie versuchten den Verlauf des Gesprächs wieder zurückzuverfolgen, aber sie bekamen es nicht wieder zusammen. Dann wurden sie einig, jedenfalls sei das ein Beweis von bösem Gewissen.

Tinka machte den Vorschlag, die Puppen, die Garderobe und die Stoffe beizeiten und unter Millas Aufsicht wieder in den Schrank zu packen; aber Milla erbot sich, später alles selbst in Ordnung zu bringen. Dagegen protestierten aber die andern, das Einräumen und Ordnen machte ja gerade solch riesigen Spaß. Und so taten sie es selbst.

Der Wagen kam zurück, aber – ohne Anna; »sie habe Kopfweh«.

Tora sah Milla, Milla sah Tora an; das war die Rache. Eine Weile waren sie alle verstimmt, aber als ihnen einfiel, nun könnten sie ja die Puppen wieder herausholen, ließen die drei Gäste sich bald trösten.

Sobald sie wieder bei der Arbeit saßen, kam das Gespräch natürlich auf Anna. Keine von den dreien mochte sie leiden. Sie fanden sie gekünstelt, » prétentieuse«, wie Tora mit gespreizt französischer Aussprache sagte. Anna wollte immer eine besondere Form für alles finden, alles, was sie sagte und tat, sollte immer so gräßlich korrekt sein. Aber alle waren einig, daß sie gute Aufsätze machte, da paßte so was. Dann mokierten sie sich über ihre religiöse Schwärmerei. Bei dem ersten hatte Milla gar nichts gesagt; bei diesem begnügte sie sich mit der Bemerkung, Anna tue vielleicht etwas zu viel des Guten.

Nora war die erste, die den Tisch verließ, sie konnte es nicht länger aushalten, sie mußte ein bißchen Musik haben. Man probierte den Erard; Milla fürchtete, er sei etwas verstimmt, und das war er auch. Aber, diese Töne! Nora sang, während die andern mit den Puppen hantierten. Dann wollte sie auch Tinka zum Singen bewegen, aber Tinka wollte ihre blaue Puppe nicht verlassen. Schließlich bat auch Milla sie. Als sie ein paar Lieder gesungen hatten, klopfte es. Millas Kammermädchen meldete, der Herr Konsul sei gekommen. Große Überraschung: man hatte ihn nicht erwartet.

Milla lief hinunter. Die andern kamen überein, daß sie dann lieber gehen wollten; mit dem Herrn Konsul zusammen zu Abend zu essen, das wäre doch furchtbar genannt. Besonders Tora genierte sich; ihre Manschetten waren in etwas zweifelhafter Verfassung. Ob es wohl anging, Milla zu bitten, ihr ein Paar zu leihen? Während dieser Verhandlungen ging die Tür auf, und Milla kam herein, schneller, als jemand es ihr zugetraut hätte.

»Papa kommt!« flüsterte sie, und lief zum Tische. Alle ihr nach; von dort zum Schrank, vom Schrank zum Tisch ... vom Tisch wieder zum Schrank, Zusammenprall von Stirnen und Schultern; auf die Füße treten, gedämpftes Aufschreien, Lachen und Schelten. Als der Konsul klopfte, war alles vom Tisch abgeräumt und eingeschlossen.

Nora hatte Tinka einen Puff gegeben, so daß sie aufs Sofa plumpste; sie selbst saß ganz ernsthaft auf einem Stuhle; Milla und Tora standen am Schrank.

Der Konsul trat ein, elegant, lächelnd, wie immer; er sah die vier puterrot von verhaltenem Lachen, oder was es sein mochte, verlegen, künstlich. Er dachte, was zum Kuckuck geht denn hier vor? und ging auf Nora, das Amtmannstöchterlein, zu, begrüßte sie artig, hieß sie willkommen und erkundigte sich nach ihren Eltern. Dann auf die beiden andern, die Milla ihm vorstellte; dann zu Nora zurück und fragte munter, ob er das Vergnügen haben könne, das gnädige Fräulein zu Tisch zu führen. Er komme vom Dampfschiff und habe einen solchen Wolfshunger, wie man ihn nur nach einer Seereise haben könne. Sie nahm seinen Arm; er wollte die andern Damen vorangehen lassen, aber diese zögerten; es sah aus, als warte die eine auf die andre. Tinka konnte schließlich nicht begreifen, warum Tora sich nicht rührte, und da der Konsul sich wiederholt an sie wandte, ging sie voran, obgleich es ihr höchst peinlich war. Warum half denn nur Milla ihr gar nicht? Auch diese nämlich stand wie angewurzelt. Der Konsul gab seiner Tochter einen leichten Stoß: » Avancez, Mesdemoiselles!« Milla tat einen Schritt vorwärts, – und zum Vorschein kam – der untere Teil einer Puppe! Sie lag da »nackigt mit dem Hinterteil nach oben«, wie's in dem schönen Liede heißt. Tora suchte sie zu verdecken; aber schon hatte der Konsul sie entdeckt und mit einem »Pardon, mein Fräulein!« sich gebückt und sie aufgehoben.

Tora brannte zuerst durch, dann Tinka, dann Milla, und endlich riß sich auch Nora los und lief hinaus; der Konsul mit der Puppe ihnen nach.

»Was ist das? Was ist denn das nur?«

Alle stürzten ins Eßzimmer hinein und standen da in einem Knäuel, ganz krumm vor Lachen, als der Konsul hereinkam, die Puppe wie eine Flagge hoch in der Hand.

Es war die blaue Puppe, die Tinka zum drittenmal ausgezogen hatte und gerade hatte zu Bett legen wollen, als der Konsul hereinkam und alles Holterdiepolter hineingeschmissen wurde. Sie mußte dabei heruntergefallen sein und sich boshafterweise, als der Schrank zugemacht wurde, unter einen Rock verkrochen haben. Milla und Tora hatten sie gleichzeitig entdeckt und sich gleichzeitig darüber gestellt.

Der Konsul führte die Puppe zu Tisch. Erst hatte er sie im Arm, dann legte er sie in seine Serviette, und nachdem er sie ein paarmal gewiegt hatte, legte er sie, mit einer Untertasse unterm Kopf, auf den Tisch. Da stibitzte Milla sie ihm weg.

»Haben Sie denn wirklich mit Puppen gespielt?«

»I bewahre!« Sie seien zusammengekommen, um Weihnachtsgeschenke zu machen. Es war Milla, die das sagte.

»Aber warum denn nur etwas so Unschuldiges verstecken?« fragte der Konsul.

»Natürlich, weil die Puppe nicht angezogen war,« gab die Tochter zur Antwort. Man hörte es ihr an, daß sie in solchen Gefechten geübt war. Bald kam auch Nora ihr zu Hilfe; auch sie hatte Übung, denn sie hatte ebenfalls einen Vater, der gern junge Mädchen neckte.

Die beiden andern kamen dabei ein wenig aus der Unterhaltung heraus. Aber dafür waren des Konsuls Augen fast die ganze Zeit auf sie gerichtet. Daß Tora seine Aufmerksamkeit erregen mußte, konnte Tinka sehr wohl begreifen. Aber sie selbst? Allmählich wurde sie unruhig. Wahrscheinlich war irgendwo am Ärmel eine Naht geplatzt? Das passierte ihr bisweilen. Sie sah nach, so gut es ging, vermochte aber nichts zu entdecken. Sie hatte ein Gefühl, als säße sie nackt da.

Der Konsul war bei sehr heitrer Laune; plötzlich richtete er seine ganze Aufmerksamkeit auf Tora. Man hatte noch gar nicht lange bei Tische gesessen, und doch war Tora schon fertig!

Die unglückseligen Manschetten genierten sie nämlich über alle Maßen, der Konsul guckte sie ja in einemfort an; das Muttermal konnte es nicht sein; denn die Seite hatte sie schleunigst Milla zugedreht; es war überhaupt nicht das Gesicht, er guckte tiefer hinab. Sie legte Messer und Gabel hin und steckte die Hände unter den Tisch.

»Aber, liebes Fräulein Holm, Sie essen ja gar nichts! ... Ist Ihnen nicht wohl, kleines Fräuleinchen? Was fehlt Ihnen denn? Oder haben Sie irgend einen besonderen Wunsch? Sagen Sie es nur gerade heraus! – Milla, reich doch Fräulein Holm noch ein Täßchen Tee – ja? ... Auch keinen Tee? Aber ein Glas Wein doch, nicht? Natürlich, ein Glas Wein! ... Prost, kleines Fräulein! ... Aber, Sie trinken ja gar nicht! ... Mögen Sie vielleicht lieber Madeira? Aber, liebes Fräulein, darum braucht man doch nicht gleich rot zu werden ... Kopfweh? O, o! ... Vielleicht möchten Sie? ... Soll Milla Ihnen helfen? ... Auch nicht? ... So sagen Sie doch, was Sie wollen, liebes Fräulein. Kopfweh? Haben Sie öfters Kopfweh, Fräulein? Nicht? ... Ich kannte einmal ein junges Mädchen, das bekam schon Kopfweh, wenn mit ihren Manschetten etwas los war. Aber, lieber Gott, Milla, ich plage doch Fräulein Holm nicht? Tue ich das etwa, liebes Fräulein Holm? ...«

Tora hatte dieses Gefühl der Wehrlosigkeit schon bei viel unbedeutenderen Anlässen, und dann kamen ihr regelmäßig die Tränen; sie mußte den Tisch verlassen und hinauslaufen.

Milla erhob sich sofort, und zwar mit einer Würde, die von den Freundinnen bewundert wurde; sie ging Tora nach.

Als die andern hinaufkamen, war Tora fort. Milla war blaß, ließ sich aber mit keinem Wort über das Vorgefallene aus; auch Nora und Tinka schickten sich an zu gehen; Milla ließ es geschehen. Sie umarmte sie und bat sie, bald wiederzukommen; unten im Hausflur wiederholte sie ihre Bitte. Erst als sie wieder oben allein hinter verschlossenen Türen war, brach sie in heftiges Weinen aus. So etwas hätte nie und nimmer geschehen können, wenn ihre Mutter mit am Tisch gesessen hätte; sie selbst füllte eben ihren Platz nicht aus; ja, sie hatte er ganz besonders gekränkt. Ach, ihre Mutter war allzu früh von ihr gegangen. O Mutter, Mutter, Mutter, Mutter!

Da klopfte es. Sie fragte, wer da sei. Ihr Vater. Ihm mußte sie natürlich öffnen; aber sie lief sofort nach dem Sofa zurück und warf sich schluchzend in die äußerste Ecke. Er setzte sich sanft neben sie, und nach einer Weile sagte er, vorsichtig, fast flüsternd:

»Höre, Kleine, es tut mir leid, was heute passiert ist; – wahrhaftig ... ich weiß gar nicht, wie es nur kam. Aber es ist wirklich zu dumm – natürlich meist um deinetwillen. Ich konnte doch nicht ahnen, daß das kleine Ding es sich so zu Herzen nehmen würde. Ich bin ja so froh, daß deine Freundinnen, und namentlich diese jungen Mädchen, dich besuchen; aber ... und vielleicht war es gerade dieses Gefühl, das mich dazu trieb ... bist du auch wohl vorsichtig genug gewesen in der Wahl – dieser einen, liebe Milla?«

»Was willst du damit sagen?«

»Hm, nichts Bestimmtes ... Nicht doch, Kleine, nimm's doch nicht so leidenschaftlich! Du verstehst mich gewiß nicht! Ein Mädchen, das eine so unsichere Haltung hat ... das man – hm, das man so leicht verlegen machen kann – – es könnte einmal ein Tag kommen, wo du bereust, mit ihr verkehrt zu haben.«

Kreidebleich sprang Milla auf; sie hatte ein Gefühl, als hätte er von ihr selbst gesprochen. Wohl wenige Mädchen in ihrem Alter würden das anders empfunden haben.

Aber sie sagte kein Wort. Sie brach in heftiges Weinen aus, ging in ihr Schlafzimmer und schloß die Türe hinter sich.

Am folgenden Tage, sobald es zur ersten Pause klingelte, schlang Milla den Arm um ihre Freundin Tora; und ebenso in allen folgenden Pausen. Sie waren beide in strahlender Laune. Nora und Tinka bewunderten Milla geradezu wegen ihrer Haltung. Sie hatten gar nicht geglaubt, daß sie soviel Herz und Mut habe – und mehr als alles andere legte diese kleine Begebenheit das Fundament zu ihrer Freundschaft.

»Der Generalstab« war gebildet.

3. Der Verein

Man merkte gar bald, daß die erste Klasse und mit ihr auch die zweite von einer gemeinsamen Inspiration beseelt war.

Rendalen überraschte die Veränderung, ohne daß er die Ursache derselben kannte, so sehr, daß er schließlich danach fragte, und da wurde es ihm denn erzählt. Er amüsierte sich ganz köstlich darüber, gab den vieren ihren berühmten Namen und machte ihnen zugleich den Vorschlag, einen »Verein« zu gründen. Allerdings hätten sie ja schon ihren Versammlungsabend bei seiner Mutter, und den könnten sie ja auch fernerhin beibehalten; aber besser wäre es doch, daß sie die Sache ganz in ihre eigne Hand nähmen, selbst bestimmten, was sie vorgelesen oder vorgetragen haben wollten, und was diskutiert werden sollte. Besonders das letztere. Junge Mädchen hätten so viel »Kinkerlitzchen« im Kopf, daß sie früh Gewicht darauf legen müßten, einen Gedanken durchzuführen, einem bestimmten Interesse zu folgen.

Ein Verein! Die erste Klasse soll einen Verein gründen! Freundinnen aus der Stadt können aufgenommen werden; auch Ältere aus der zweiten Klasse; und in diesem Verein können sie über alles reden, was sie wollen, auffordern, wen sie wollten, Vorlesungen zu halten und Musik zu machen ... Sie selbst sind die Herren – sie und niemand anders. Sie können Gesetze erlassen, Präsident und Sekretär wählen und Strafen dekretieren! ... Welche Phantasiegebilde scheuchte das auf – nicht bloß in den obersten Klassen, nein, in allen bis herab zu den untersten, wo die ganz Kleinen noch saßen und buchstabierten und Verslein vom Mietzekätzchen sangen ... Das gab ein Leben auf und unter den Tischen, flüsternd in den Stunden, stürmisch in den Pausen.

Wenn eine Schule von einer Frage ergriffen wird, von der in den Stunden nicht laut geredet werden darf, so ist das für die Lehrer zum Verzweifeln. Niemand paßt auf, niemand hört zu, niemand hält Ordnung oder hat seine Gedanken beisammen. Will man sein rechtes Vergnügen an so einer heimlichen Bewegung in der Schule haben, darf man nicht vornweg gehen, denn dann halten sie gleich inne – nein, man muß sich hintenan stellen und die Zöpfe beobachten. Man könnte fast glauben, die hätten selbständiges, lebendiges Leben bekommen. Sie hüpfen, sie tanzen, sie ringeln sich und lösen sich; der Farbenunterschied wirkt in seiner überwältigenden Unruhe geradezu drollig. Die brandroten, braunroten, blaßroten gegen die dunklen, die naß wie Wasser, oder glänzend wie Öl, oder mattdunkel wie Kaffeesatz aussehen; und dann wieder die, die außen schwarz und innen braun oder bläulich-rabenschwarz sind, die blonden in allen Schattierungen von grau und gelb oder einer schmuddeligen Mischfarbe mit Grün als Grundfarbe. Überhaupt alle die unglaublichen Übergangsfarben, die diesem Alter eigen sind. Die Zöpfe sind eifrig, als plauderten sie miteinander, machen sich Kunststückchen vor, hüpfen gegeneinander an; das Leben hinten auf dem Rücken ist ein getreues Spiegelbild des Lebens vorn.

In der ersten, also der konstituierenden Versammlung des »Vereins« wurde Nora zur Präsidentin gewählt. Tinka war von je so daran gewöhnt, daß alle Arbeit immer ihr aufgepackt wurde, daß sie schon im voraus wußte, sie würde als Sekretär gewählt werden, und das wurde sie denn auch – einstimmig. Das habe den Vorteil, meinte Nora, daß Tinka das Verhandlungsprotokoll dann immer für ihren Fredrik abschreiben könne. Der erste Paragraph freilich bestimmte, daß alles tief geheim sein sollte, aber Tinka war ja verlobt.

Im übrigen fingen sie ohne schriftliche Statuten an. Aber Fredrik verlangte von Christiania her energisch ein Vereinsgesetz. Er schickte einen Entwurf ein, Strafe für Ausbleiben, Strafe für Widerspenstigkeit gegen das, was auferlegt wird, Strafe für zweimalige Ruhestörung, Strafe für Stimmenthaltung. Aber die Mädchen faßten die Sache praktischer an, als der »Schafskopf«, wie Tinka ihn bei der Gelegenheit titulierte; in aller Stille arbeiteten Nora und sie einen neuen Gesetzentwurf aus, und dieser wurde in der nächsten Versammlung unter großem Hallo zur Verhandlung gebracht; für Gesetze schienen sie nicht viel Sinn zu haben.

In der Stadt mokierte man sich weidlich über den »Verein«; natürlich waren auch Leute da, die es unpassend fanden, ja, wahrhaftig sogar solche, die es gefährlich fanden. Aber als um dieselbe Zeit eine reisende Schauspielertruppe die Stadt besuchte und ihr Hauptspielabend auf den des »Vereins« fiel, ohne daß doch dessen Mitglieder, bis auf wenige Ausnahmen, sich hätten bewegen lassen, ihren Verein dafür zu opfern, wurde dies als eine Generalprobe für den Eifer des »Vereins« betrachtet. Danach hielt man es nicht mehr für nötig, es zur Hauptvorstellung kommen zu lassen, und von da an wurde er in Ruhe gelassen.

Bald stellte sich ein gefährliches Manko an den Vereinsgesetzen heraus. Jedes Mitglied durfte nämlich der Präsidentin anonym Vorschläge für die Verhandlungen einsenden; es wurde dann abgestimmt, wie weit die betreffenden Vorschläge auf die Tagesordnung gesetzt werden sollten oder nicht. So wurde einmal anonym der Antrag gestellt, über die »Unsterblichkeit« zu verhandeln; die Abstimmung ergab nicht eine einzige Stimme für den Antrag; der Antragsteller war selbstverständlich kein Mitglied des Vereins.

Ein anderer Antrag lautete: »Unter welchen Bedingungen soll es den Männern gestattet sein, Schnurrbärte zu tragen?« – er war von derselben Hand geschrieben. Jetzt wurde der Vorschlag gemacht, nur solche Anträge zu berücksichtigen, die während der Sitzung am Tisch des Sekretärs abgegeben würden. Dagegen wandte man wiederum ein, daß die Anträge dann ja nicht mehr anonym seien; aber man war offenbar der eignen Pfiffigkeit sicher, denn der Vorschlag ging durch.

Obwohl die Verhandlungen sich unbedingt und streng der Öffentlichkeit entzogen, behauptete man doch in der Stadt, daß eine junge Dame in ihrem Vortrag gesagt habe, es sei ganz schrecklich, ganz jämmerlich, ganz erbärmlich von den Männern, daß sie ihr Keuschheitsgelübde nicht ebensogut halten könnten wie die Frauen. Bei dieser Gelegenheit hatte der Franzosendöse sein berühmtes: » Nora, Tora, ora pro nobis!« gemacht.

Im übrigen konnte man nie recht herausbekommen, was die Mädchen eigentlich da trieben. Sie hatten verabredet, alles, was über sie geklatscht würde, ganz stoisch als wahr hinzunehmen; eine schelmische Freimaurerei hielt diesen Scherz im Gange.

Einer von den ärgsten Neckern war Konsul Engel. Er hatte sich übrigens mit dem Generalstab sofort wieder versöhnt, indem er durch seine Tochter um Entschuldigung gebeten hatte. Ferner ließ er Tora ein japanisches Kästchen übersenden, in dem sich eine Anzahl immer kleinerer Kästchen befand; und im kleinsten lag eine reizende Brosche. Und um nun auch alles wieder gut zu machen, veranstaltete er ein Versöhnungsdiner, zu dem Milla mehrere ihrer Freundinnen einladen durfte. Mit » grande vitesse« hatte er ein Ungeheuer von einer Puppe kommen lassen, die er auf dem Tische aufbaute und den vier jungen Damen überreichte. Ein Prachtexemplar. Tinka hatte ihr dauerhaftestes Kleid angezogen, Tora, die neben Milla saß, war in übermütiger Stimmung, sie plauderte unaufhörlich, so daß Milla sie unter dem Tisch kneifen mußte, um sie zum Schweigen zu bringen; da lachte Tora erst recht wie toll. Nora lief mitten im Dessert zum Klavier, um dem Konsul ein Lied, das er nicht kannte, vorzusingen. Er versicherte später, er habe sich sein Lebtag nicht so unschuldig amüsiert. Die einzige Form, in der er sich mit ihnen unterhalten konnte, war natürlich die des Neckens; in der Regel zog er sie mit dem »Verein« auf. Sie lachten über seine Witze und trieben es immer noch weiter; aber sie verrieten nichts; denn die Frau ist eben daran gewöhnt, Spott zu ertragen, wenn es sich um etwas handelt, das ihr teuer ist.

Der »Verein« war das Neue in ihrem Leben; aber bald sollte er ihnen noch mehr werden. Doch um das zu zeigen, müssen wir zu einer zurückkehren, die schon längst auf uns wartet.

Anna Rogne kam an jenem Montag nicht zur Schule. Milla erschien mit einem Herzen voll von Selbstvorwürfen. Gleich nach der Schule fuhr sie im Wagen zu ihr; aber Anna war krank; die Tanten versicherten lächelnd, Annchen dürfe durchaus nicht gestört werden. Am folgenden Tage erschien Milla zum zweitenmal. Sie fragte, ob sie die Kranke denn nicht wenigstens sehen dürfe. Anna und sie läsen Kingsleys »Fabiola« zusammen; – ob sie nicht Anna ein bißchen daraus vorlesen dürfe? Doch Klein-Annchen ließ sich entschuldigen. Die Tanten lächelten, und Milla konnte ärgerlich wieder nach Hause gehen.

Drei Wochen lang blieb Anna aus der Schule fort; noch ein paar Versuche machte Milla, ohne jedoch vorgelassen zu werden. Dann ließ sie es sein.

Anna war aber gar nicht krank; ohne Vorbehalt vertraute sie den Tanten an, was ihr fehlte: betrogen und verschmäht, ja noch mehr, geplündert hätte man sie. Was sie mit dem letzteren meinte, damit wollte sie lange nicht heraus; sie konnte es nicht sagen; sie mußte ganz, ganz allein damit sein. Sie hörten sie den ganzen Tag lang oben in ihrer Giebelstube auf und ab gehen, zuweilen auch des Nachts. Die Tanten schwebten in der größten Angst, aber sie taten ihr den Willen.

So oft sie ihre Hausandacht hielten, schickten sie hinauf zu ihr; aber sie erschien nicht. Als sie jedoch die wachsende Verwunderung und Besorgnis der Tanten sah, da brach es endlich heraus, eben hier, gerade hierin habe sie den furchtbarsten Verlust erlitten; alles, was ihr teuerstes Eigentum gewesen sei, habe sie mit Milla geteilt. Gar nicht zu reden von dem gemeinsamen Glaubensbekenntnis, aber auch kein Gebet, keinen Choral, keinen teuren Bibelspruch gab es, den sie nicht betrachtet hätten, wie man einen Verlobungsring betrachtet, Geschenke austauscht, das Bild des geliebten Wesens küßt ... O, sie wolle nichts mehr sehen, nichts mehr hören, nicht mehr daran denken!

Sie weinte nicht, jedenfalls nicht so, daß jemand es sah; Klein-Anna hatte einen starken Willen! Sie betrachtete das Geschehene, wie ein Feind den andern betrachtet, und zwar nicht in der Form des Schmerzes, sondern in der der Entrüstung. Sie haßte die andre und verachtete sich selbst. Ihr Irrtum bis zum letzten Augenblick des letzten Tages, als sie vor Millas Tür gestanden und das Lachen der andern da drinnen gehört hatte – konnte man sich etwas Demütigenderes denken? Was sie in heiligstem Ernst zusammen mit »so einer« getrieben, – und die innere Kraft, die sie dem Verhältnis zugetraut hatte – o, ihre Scham kannte keine Grenzen, wenn sie nur daran dachte! Und doch mußte sie immerzu daran denken. Sie zwang sich, es den Tanten zu gestehen; sie zwang sich, es bis auf die feinsten Ursachen zu sondieren. Es war eine mühsame Arbeit und zog andre Arbeit nach sich.

Aber sie arbeitete sich daran empor; – sie fing an, draußen lange umherzuschweifen, lange, einsame Wanderungen zu machen – endlich auch wieder zu lernen ... Nach etwa drei Wochen kam sie wieder zur Schule, etwas blasser als gewöhnlich und noch magerer; aber in allem andern scheinbar dieselbe, unverändert.

Sie setzte sich nicht auf ihren alten Platz, war aber freundlich gegen alle, – auch gegen Milla. Diese machte keinen Versuch mehr, die Sache aufzuklären; dahingegen machte Tora einen, und vielleicht nicht ohne Millas Wissen. Anna hörte sie an – und bat sie um etwas gelbes Stickgarn – sie sollte es morgen wiederhaben.

An allen Vereinssitzungen nahm sie fleißig teil, das interessierte sie offenbar lebhaft; aber sie beteiligte sich nicht aktiv.

Kurz vor Weihnachten wurde Rendalen – auf Noras Initiative – aufgefordert, einen Vortrag über Henrik Ibsens Gespenster zu halten. Er lehnte ab, erbot sich jedoch, ein wenig über Geschlechtsverantwortlichkeit zu reden. Er meinte nämlich, daß hierin, wenn es sorgfältig durchgearbeitet und voll erfaßt würde, mancherlei neue Sittlichkeitsmaximen lägen, ja, eine vollständige Revolution sich damit Bahn brechen würde.

Man war allgemein sehr gespannt darauf; man freute sich auf eine interessante, maßvolle Darstellung – und erhielt einen abgerissenen, aber erschütternden Vortrag. Die Mädchen saßen ganz erschrocken da, nicht weniger über Rendalens Erregtheit, wie über seine Worte selbst; zum Schluß rief er mit erhobener Stimme: »Alle, die erbliche Krankheiten auf ihre Kinder hinüberschleppen, alle, die, in deren Familie z. B. der Wahnsinn herrscht und die sich trotzdem verheiraten; die, die durch Ausschweifungen geschwächt, Kinder in die Welt setzen; die um des Geldes willen sich mit Geistesschwachen oder Siechen verheiraten und Kinder mit ihnen zeugen, sind ärger als die ärgsten Schurken, ärger als Diebe, Fälscher, Räuber, Mörder ...« und so ging's weiter.

Da mußte etwas geschehen sein; auch Frau Rendalen war mehrere Tage lang mit verweinten Augen umhergegangen; und er selbst war abwesend gewesen, vermutlich in Christiania.

Nach Beendigung des Vortrags ging Anna auf ihn zu und dankte ihm in der ihr eigenen » prétentieusen« Weise. Als er fort war, bemerkte sie, das sei das Beste, was sie je gehört habe. Nur eine stimmte ihr bei, nämlich Miß Hall; die andern sagten nichts; ja lange Zeit herrschte ein peinliches Schweigen. Endlich meinte eine, das sei aber doch ein fürchterlich gewaltsamer Vortrag gewesen. Darauf antwortete die kleine Anna, man müsse eben aufgerüttelt werden; alles sollte immer nur aufs »Amüsement« losgehen – auch hier im Verein habe man es bereits hübsch weit darin getrieben.

Das trug noch mehr zu der allgemeinen Verstimmung bei; Nora war beleidigt und fragte, ob denn nicht Anna selbst etwas für den Verein tun wolle. Anna errötete; aber zur großen Überraschung aller antwortete sie, ja, sie wolle es versuchen.

Nun blieb sie mehrere Tage aus der Schule fort; aber zum nächsten Vereinsabend – dem letzten vor Weihnachten – meldete sie einen Vortrag an. Sie äußerte den Wunsch, daß sowohl Rendalen, als auch Frau Rendalen und Karl Wangen dem Vortrag beiwohnen möchten; – nun, das konnte man nicht gerade »sein Licht unter den Scheffel stellen« nennen, meinten die Freundinnen.

Die Eingeladenen fanden sich natürlich ein.

Klein-Anna sah angegriffen aus, als sie in den Saal trat. Ihre Hände zitterten auch, als die dünnen, blassen Finger da oben auf dem Katheder im Manuskript blätterten und die Lichter zurechtrückten.

Stimme und Vortragsweise waren abgemessen, bisweilen fast scharf; ihre großen Augen blickten nicht gern auf; aber wenn sie es taten, lag etwas so Vielsagendes darin, daß es einen irritieren konnte. Sie las ihren Vortrag Wort für Wort ab. Der Anfang besonders war folgendermaßen zugespitzt:

»Die Frau arbeitet nicht in dem Maße an sich selbst, als sie Ansprüche an den Mann stellt. Sie will nicht die Fehler, die sie sich unter andern ungünstigen Verhältnissen angeeignet hat, ablegen. Ich möchte heute nur den einen Fehler berühren: die Verlogenheit.

Als die Schwächere hatte die Frau sich das Lügen angewöhnt. Und dabei steht sie doch heute durchaus nicht mehr so unsicher da, daß sie das nötig hätte.

Damit meine ich z. B., daß sie sich stets so sanft, so fromm, so liebenswürdig stellt einem Fremden gegenüber ... also, sobald ein Fremder sich zeigt, lügt sie. Ist es ihr unbehaglich, den geraden Weg zu gehen, so macht sie sofort einen Umweg; sie gibt Scheingründe an, verstellt sich. Soll sie etwas tun, wozu sie keine Lust mehr hat, ja, dann bekommt sie Kopfweh; kommt jemand, der nicht gern gesehen ist, dann ist sie ausgegangen, obwohl sie ganz ruhig in der Stube sitzt. Sie geniert sich nicht im geringsten, ihr Dienstmädchen, ihre Tochter, ihre Freundin für sich lügen zu lassen, wenn sie es selbst nicht kann.

Es gibt Damen – vielleicht verhältnismäßig viele – die sich derartig angewöhnt haben, erlogene Gründe anzugeben oder die wahren zu verhehlen, überhaupt zu ›flunkern‹, daß sie es auch ohne jede äußere Veranlassung tun; sie gefallen sich darin, wie in einer Art von Koketterie.

Wenn das nun bloß in den Beziehungen zu den Menschen wäre, ginge es ja noch. Aber es dringt auch in ihr Verhältnis zu Gott hinein. Ich möchte hier das Zitat eines Verfassers bringen: ›Es ist schwer, den religiösen Glauben der Frau zu beurteilen, solange die Religion ihr einziges geistiges Interesse ist. Aber wenn man hundert, zweihundert, dreihundert Damen sich um einen einzigen Modegeistlichen drängen sieht, so wittert man Unrat. Die bequemste Art zu denken ist selbstverständlich die, sich den Worten eines andern hinzugeben; aber noch leichter kommt man davon, wenn man für ihn selbst schwärmt, und am allerleichtesten, wenn man so tut als schwärme man, weil andere schwärmen – – –

Der Glaube, der seine Ideale auf Erden verloren hat und sie in den Himmel verlegt, ist wahrlich eines guten Empfanges dort oben bei weitem nicht so sicher, als die Priester ihm verheißen. Und in der Regel wird auch nicht viel mehr daraus, als ein unbestimmter Drang – – –

Dann gibt es wieder Frauen, die sehr fürsorglich sind; denen es die Hauptsache ist, sich und die Seinen sicher zu stellen. Ich möchte wohl wissen, was Gott dazu sagt, wenn sie anfangen? – – –‹«

Sie zitierte weiter, und viele ihrer Zitate erregten Munterkeit – seltsamerweise besonders bei Karl Wangen. Dann ging sie zu der Tätigkeit der Frau in Wohltätigkeitsvereinen über – wie sie da aus der Not der Armen »zum Besten der Armen«, wie es heißt, lustige Bälle arrangieren, wie sie amüsante Bazare, ja sogar Theatervorstellungen für die Hinterlassenen von Ertrunkenen oder Verbrannten veranstalten. Wie sie in Vereinen, wie diesem hier, leichtfertig mit großen Fragen tummeln und für einzelne Vorleser schwärmen; Anna war ziemlich scharf, wie die Jugend meist, wenn sie sich auf Kritik einläßt.

Als sie nach beendetem Vortrag vom Katheder stieg, faßte sie anfangs nichts von dem, was man ihr sagte. Sie gab ganz verdrehte Antworten und wiederholte mehrmals dieselbe Frage. Aber allmählich erholte sie sich wieder – da sah sie sich nach Rendalen um. Er war verschwunden.

Das machte sie im höchsten Grade stutzig. Sie glitt zu Frau Rendalen hinüber, um sich nach der Ursache zu erkundigen. Aber sie mußte natürlich damit anfangen, zu fragen, wie ihr der Vortrag gefallen habe.

»Ja, mein Kind, du hast gewiß ganz recht; ich fürchte nur, daß ihr euch jetzt ein bißchen zu sehr aufblast, wenn ihr es absolut so ›ernsthaft nehmen‹ wollt. Ihr armen Dinger, da kommt ihr erst recht ins Lügen hinein, und zwar kräftig. Nur sehr wenige Frauen können etwas ›ernsthaft nehmen‹ mein Kind. Närrisch tun, das können sie – sich verrenken, Himmel, ja. – Oft werden sie dabei so unnatürlich, daß es ganz gräßlich ist.«

Endlich rückte dann Anna mit ihrer Frage heraus, langsam, zögernd: »Warum ist Herr Rendalen fortgegangen?«

»Ja, das weiß der liebe Himmel!« entgegnete die Mutter; blickte seufzend nach der Tür, durch die er verschwunden war, stand auf und ging ebenfalls.

Karl Wangen sprach mit Tora. Als er jetzt Anna allein stehen sah, kam er auf sie zu, um ihr zu sagen, er wäre außerordentlich »zufrieden« mit einigen ihrer Zitate. Er kenne das Buch.

Karl Wangen war nahe daran gewesen, Modepastor zu werden. Glücklicherweise war er noch rechtzeitig entwischt; aber der Schreck saß ihm noch in den Knochen. Das wußte Anna von ihren Tanten – sie hatte also den geheimen Schlüssel zu seinen Worten. Sie fragte ihn nach seiner Meinung im übrigen.

»Ich kenne die Frauen in andern Verhältnissen so wenig,« entgegnete er, leicht errötend; »ich darf mich also nicht auf eine Kritik einlassen.«

Sobald die Älteren fort waren, brauste es los, denn die Mädchen waren »einfach weg«. »Klein-Anna« war die älteste unter ihnen, was man leicht vergaß, weil sie körperlich so zurück war. So was hatten sie ihr wahrhaftig nicht zugetraut. »Wie fein beobachtet und wie brillant gesagt! Und das ist eine von unsren eigenen!«

Besonders Nora und Tora waren begeistert. »Ja, so sind wir! So unwahr – selbstverständlich nur im kleinen –! Und wie wir mit ernsten Dingen tändeln – hu! Ja, hier bedarf es wahrlich der Tat; oder wenn nicht der Tat, so doch – –«

»Des Niespulvers,« sagte eine, und die ganze Bande schüttelte sich vor Lachen.

Aber sie kehrten zur Sache zurück.

»Es ist wahr; bei Gott, es ist wahr! Es muß anders werden, es ist die reine Schande, wie wir jetzt sind!«

Um sogleich den Anfang zu machen, wollte die ganze Gesellschaft durchaus Anna nach Hause begleiten. Und das taten sie denn auch, so daß die beiden schiefen Tanten in ihren Nachtmützen ganz erschrocken herausguckten, als sie zwischen elf und zwölf Uhr nachts die Bande da draußen rumoren und »Gute Nacht! Gute Nacht!« aus zwanzig klingenden Mädchenkehlen rufen hörten.

Und Klein-Anna selbst? Sie mußte doch noch hineinschlüpfen zu den Tanten und ihnen erzählen, wie es gegangen war; aber sie sagte weiter nichts, als daß sie »sich gegenseitig gebracht« hätten. Mehr konnte sie nicht gleich herausbringen, sie war noch zu unsicher, zu tastend. Sie hatte den Vortrag mit ihrem Herzblut geschrieben; ihre bitterste Lebenserfahrung hatte sie in einen Angriff umgesetzt; sie war ganz darauf vorbereitet gewesen, daß man über sie herfallen, sie verketzern, sie ausstoßen würde – und statt dessen hatte sie Dank über Dank, Jubel über Jubel, Lob über Lob geerntet! ... Sie lag in ihrem Bett und konnte nicht schlafen. War es vor Freude? War es vor Angst? Oder hatte sich zum erstenmal eine Fähigkeit in ihr geregt? Es war durchaus kein unangenehmes Gefühl ...

Zu derselben Zeit lag mehr als ein kleiner Mädchenkopf schlaflos und grübelte darüber, was in aller Welt man denn nun austüfteln sollte. Der Drang, es »ernst zu nehmen« und so ganz fürchterlich wahrhaftig zu sein, mußte ja doch Nahrung haben, sonst konnte er ja wieder vergehen. Und man fand was! Milla hatte Trauer; Milla konnte nicht auf die Weihnachtsbälle gehen, ergo wollte keins von ihnen auf die Weihnachtsbälle gehen. Ja, lacht nur! Aber es wurde einstimmig beschlossen; eine Freundin in Trauer läßt man nicht im Stich. Den ganzen Winter lang wollte keine vom »Generalstab« auf den Ball gehen. Milla fühlte sich sehr geschmeichelt durch so viel Teilnahme, aber – nein, kein Aber! – unumstößlicher einstimmiger Beschluß! Und es sollte nicht allein dabei bleiben, man saß auf dem Ausguck nach mehr ...

Die männliche Jugend der Stadt war höchst betrübt, so viele junge, lustige Balldämchen auf den Weihnachtsbällen entbehren zu müssen; aber alles Trauern war umsonst. Ja, es freute sie noch obendrein, daß man um sie trauerte.

Und wie gesagt: es sollte nicht allein dabei bleiben.

4. Auf der Treppe

Dieses feste Zusammenhalten derer, die vorangingen und den Ton angaben, dieser lebhafte Drang nach Wissen, nach selbständigen Anschauungen waren – wenn es auch ein bißchen Kritik und Spott ganz wohl verdiente – doch ein unleugbarer Beweis, daß die Schule jetzt große Ziele verfolgte.

Selbst in der Stadt war man überrascht, wie die Überlegenheit des Unterrichtsstoffes, der Experimente, der Methode bei den Kindern so gründliche und vor allem so interessierte Kenntnisse absetzte, und zwar von Dingen, die alle fassen konnten, da sie zu den notwendigsten Bedürfnissen des Lebens gehörten. Die Luft in den Elternhäusern füllte sich mit Erzählen und Wißbegierde, Betteln um Geld zu chemischen und physikalischen Apparaten, Mikroskopen, historischen Zeichnungen, die die Sitten aller Völker und Zeiten illustrierten. Es war jetzt, was Eifer und Mitteilsamkeit anbelangte, kein Vergleich mehr zwischen Jungen und Mädchen.

Das machte die Unterrichtsstunden reich und beglückend; die große Versammlung oben zum »Frühstück« um zwölf Uhr war jedesmal ein Fest, und nachmittags liefen dann die Kinder, ohne Bücher, ohne Schulaufgabenlast, den Hügel hinunter nach Haus, frei, frei, frei! ...

Aber die glücklichsten blieben doch oben zurück; das waren Frau Rendalen und Karl Wangen. Wo Frau Rendalen angewatschelt kam, die Brille schief auf der Nase – was sie sich in letzter Zeit angewöhnt hatte – und mit unmusikalischer Stimme etwas vor sich hinsummend, da war es, wie wenn man einem Heuwagen im August begegnet; es duftete einem schon von weitem frisch entgegen und man wich gern ehrerbietig auf die Seite vor einem so mächtigen, nützlichen, dicht bepackten Gegenstand. Karl Wangens Mund ging immerfort von einem Ohr zum andern; er hatte überhaupt keine Zeit mehr, sein Lächeln einzuziehen. Er strahlte, wenn nur jemand nach der Schule hinaufsah, und konnte sich immer und immer wieder all die kleinen Begebenheiten der Schule erzählen oder wiedererzählen lassen; alles war ihm merkwürdig und amüsant.

Nur Tomas war eigentlich nicht so recht bei der Sache. Überhaupt so recht »gemütlich« war ja Tomas nicht, wenn man damit vertraulichen Umgang, gleichmäßige gute Laune meint. Entweder brauchte er den langen Karl Wangen dazu, draußen im Garten oder gar in der Stube, ihm Bock zu stehen, wenn's ihm gerade Spaß machte, wie ein Schulbub über den andern zu springen, oder er rannte auf und ab, auf und ab, am liebsten pfeifend und die Hände in den Hosentaschen, so daß einem, wenn man das eine Zeitlang ansah, ganz dumm im Kopfe wurde. Oder er spielte stundenlang Klavier. Oder er arbeitete ohne Ruh und Rast für die Schule; oder er las ein neues Buch und ließ sich durch nichts stören; oder er machte endlose Wanderungen; oder er las den Mädchen vor und machte Unsinn mit ihnen wie ein Kamerad – oder er mochte sie und die Schule und alles, was drum und dran hing, nicht sehen. Dann mußte seine Mutter, die Literaturstunde, Miß Hall die Chemie und Physik und Nora die Singstunden übernehmen, – er wollte nicht, er konnte nicht. Dann erschien er plötzlich wieder, froher, frischer denn je, und arbeitete für zwei. Die Mutter schob die Schuld darauf, daß er so viele Jahre keine regelmäßige Beschäftigung gehabt hatte.

Hatten sie Gäste, kam er entweder überhaupt nicht zum Vorschein; oder er kam und riß alles hin: oder er blieb stumm in einer Ecke sitzen. Oder er stand ganz abwesend da und sagte nichts als: »Ja, ja; gewiß; versteht sich; natürlich« – und verschwand auf Nimmerwiedersehen.

Nun – man betrachtete das eben unter dein Gesichtswinkel des Genialen; Tomas Rendalen hatte entschieden etwas Geniales an sich.

Eh er nach Amerika ging, hatte er eine Geschichtslehrerin »entdeckt«; im »Entdecken« war er überhaupt groß. Sie hieß Karen Lote und gab damals Unterricht in Handarbeiten, Schreiben und Zeichnen. Rendalen waren ihre Kenntnisse in den verschiedenen Stilarten aufgefallen, und er fand bald, daß das junge Mädchen einen nicht geringen Schatz an kunsthistorischem Wissen barg. »Erweitern Sie das zu kulturhistorischem,« diesen Rat gab er ihr unermüdlich. Hierzulande ist es mit kulturhistorischen Kenntnissen mehr als kläglich bestellt, und doch haben bloß die als Geschichte Wert für eine Schule. Schon damals hatte er mit der reichen Sammlung von kulturhistorischen Zeichnungen angefangen, die später die Schule bekam, und hatte dadurch ihr Interesse gefesselt. Das nährte er noch, indem er ihr von seinen Reisen aus oftmals Zeichnungen, Bücher und gute Ratschläge sandte; und sobald er nach Hause zurückgekehrt war, hatte er den gesamten Geschichtsunterricht der Schule übernommen, um ihr zu zeigen, wie er sich das denke: Die Entwicklung, den Zusammenhang suchte er den Kindern durch einen klaren historischen Überblick, erläutert durch Zeichnungen und Karten, zu geben, machte diesen eng für die Kleinen, weit für die Großen und brauchte das Detail nur zur näheren Charakteristik. Das war zwar einseitig; aber es war voll Kraft und Farbe; man bekam wirklich historische Vorstellungen von allem. Karen Lote war ganz hingerissen. Das Neue an seiner Persönlichkeit, seinen Ansichten, sein wunderbares pädagogisches Talent, seine eindringliche Art, die einen glauben machte, niemand anders existiere für ihn in der ganzen Welt, als der Betreffende, den er gerade ansah, – der ausgesuchte Geschmack, mit dem er sich kleidete, das Wohlgepflegte seiner ganzen Person – bis herab auf den kaum merklichen Duft eines feinen Parfüms, der ihm folgte, – das begabte Mädchen mit ihrer tiefen Eindrucksfähigkeit hatte trotz ihrer sechsundzwanzig Jahre nie etwas erlebt, das auch nur annähernd diesem Glück glich, Tag für Tag von ihm unterhalten zu werden.

Die Mißverständnisse und Verfolgungen, die er erdulden mußte, sein Leiden dabei, steigerten ihre Gefühle bis zur Schwärmerei. Aber sie behelligte niemand damit.

Dann übernahm er die Schule als Direktor. Er wohnte ihrem Unterricht bei; wenn er eine Freistunde hatte, kam er – beteiligte sich eifrig oder ging wieder fort, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Dann ließ er sich lange Zeit wieder gar nicht sehen, bald kam er jeden Tag, nahm ihr oft die ganze Stunde aus den Händen oder ging auf und ab, auf und ab – und verschwand dann wieder.

Kurz vor Weihnachten ging Karen Lote zu Frau Rendalen und versicherte ihr, sie wolle keinen Tag länger in der Schule bleiben.

Wenn sie nur seinen Schritt im Korridor höre, fahre sie zusammen; in seiner Gegenwart könne sie nicht die einfachste Begebenheit erzählen, geschweige denn erklären.

– »Aber warum denn nicht?«

»Er zeigt mir ja die offenbarste Geringschätzung.« Und sie fing an, heftig zu schluchzen.

– »Geringschätzung?«

»Ja! Entweder fällt er mir in einemfort ins Wort und nimmt mir die ganze Stunde weg, – oder er würdigt mich keiner Bemerkung, kehrt mir den Rücken, grüßt nicht und läßt sich nicht mehr blicken.« Die Reihe, die sie aufzählte, nahm gar kein Ende.

Frau Rendalen berief die Lehrerinnen zusammen und legte ihnen Fräulein Lotes Klage vor, überzeugt, daß hier ein ganz wunderliches Mißverständnis obwalte.

Aber die Lehrerin, die Fräulein Lotes Nachfolgerin im Zeichenunterricht geworden war, versicherte, hätte sie nicht ihre Mutter zu versorgen, so wäre auch sie schon längst gegangen; seine ewigen Zurechtweisungen in Gegenwart der Kinder seien nicht auszuhalten. Er sei ein unleidlicher Tyrann. Alles bis ins kleinste sollte genau so sein wie er wollte und nicht anders. Er habe sie so nervös gemacht, daß sie zittere, wenn sie ihn nur draußen im Flur höre. Und auch sie fing zu weinen an.

Die erschrockene Mutter Rendalen wandte sich hastig an die anderen. Was war denn das? Die Sprachlehrerinnen, ihre einmaligen Schülerinnen und guten Freundinnen, die sich mit ihrer Unterstützung im Auslande ausgebildet hatten – sie mußten jetzt reden.

Ja, sie glaubten allerdings Herr Rendalen selbst habe keine Ahnung davon, daß er sie »zurechtwies« – ebensowenig davon, daß es kränkend wirkte, wenn er in den Unterricht eingriff, so daß die Kinder seine große Überlegenheit merkten –, aber es war wirklich oft recht verletzend. Er sei so ungleichmäßig, sowohl zu den Lehrerinnen wie zu den Kindern; er behandle nicht gleiche Fälle jedesmal in gleicher Weise, sondern je nach seiner Stimmung. Ihre Ansicht – und diese würde von allen andern Lehrerinnen geteilt – ginge dahin, daß er zum Leiter einer Schule kaum geeignet sei. Sogar Miß Hall, die sonst über nichts zu klagen hatte, stimmte ihr bei.

Frau Rendalen bat, sich doch um Gotteswillen die Sache noch zu überlegen. Sie könnten doch nicht die Schule zugrunde richten wollen? Sie war sehr erregt und sagte, sie wolle bis auf weiteres die Leitung selbst übernehmen. Aber das dürften sie nicht bekannt werden lassen! Mit der ihr eigenen Heftigkeit gab sie sich ganz ihrem Schmerz hin. Nun bekamen die andern es mit der Angst; es gab rührende Szenen; nun lobten sie ihren Sohn, eine immer mehr als die andre; ja, wer das Vorhergehende nicht mit angehört hätte, hätte meinen sollen, sie wären alle voll glühender Begeisterung.

Alles in allem genommen: einen ausgezeichneten Schulplan nach den besten Mustern der Gegenwart entwerfen und selbst ein hervorragender Lehrer sein – das ist etwas ganz andres und weit mehr als ein tüchtiger Schulvorsteher sein. Darüber waren sie und die Mutter bald einig; und damit trösteten sie einander, so gut es ging.

Aber für Rendalen war das sein Lebensziel; verlor er das, dann blieb ihm nichts mehr übrig.

Seitdem Augusta ins Grab sank und es ihm klar wurde, daß es für ihn überdies auch besser sei, keine Familie zu gründen, war der Gedanke, die Schule seiner Mutter zu übernehmen, und sie zu dem zu machen, was die Mutter geträumt hatte, ohne es zu erreichen, seine Verlobung, seine Ehe, sein Familienglück gewesen. Und darauf war er stolz. Das war die tiefe Energie seiner ersten Jugend, seiner Arbeit, seiner Bravheit gewesen; das war der Gegenstand von Karl Wangens unwandelbarer Bewunderung, der geheime Text von Frau Rendalens Gesprächen und Briefen.

Trotzdem kamen die Kämpfe, und seine unbändige Natur bestand sie nicht alle glücklich. Aber jedesmal ergriff ihn beim Gedanken an sein Ideal eine tiefe Scham, die zum Entsetzen wurde – jenem furchtbaren Entsetzen, das seine Mutter gepackt hatte, als sie ihn unter dem Herzen trug. Sie hatte ihm das oft und mit starken Farben geschildert; aber was war ihre Angst gegen die, die er durchmachte; die war nämlich entsetzlich. Sie jagte ihn wieder zurück in das vertraute Verhältnis zur Mutter, sie machte, daß er an dieser Vertraulichkeit unwandelbar festhielt. Zwischen ihnen beiden war es heiligster Ernst; sie hatten ein gemeinsames Lebensziel.

Vielleicht hätte er sie mitsamt dem Lebensziel und der Angst über den Haufen gerannt, wenn seine sinnlichen Liebesanwandlungen sich auf eine einzige konzentriert hätten, von einer einzigen festgehalten worden wären; denn es war eine wilde Energie in ihm, die sich dann an die Energie einer andern hätte festklammern können. Aber die ererbte Unruhe seiner Natur ließ den einen Eindruck stets den andern blenden; die Angst bekam Gelegenheit, sich mit stets wachsender Macht dazwischen zu drängen, – und so blieb sie schließlich die Stärkere. Das Lebensziel war gerettet.

Von dem Augenblick an, da er vollständig gesiegt hatte, entwickelte sich etwas gehetzt Abstraktes in ihm. Das war stets in ihm gewesen. Es erinnerte an seines Vaters Bedürfnis nach Bildern, dessen Lust, die Dinge immer im Großen zu nehmen.

Seine Studien forcierte er: niemals nur ein Ding auf einmal, sondern eifersüchtig das eine im andern. Hätten die Examenfächer nicht zufällig seinen Neigungen entsprochen, er würde nie sein Examen gemacht haben; er war schon lange vorher damit fertig und bereits mitten in etwas anderm. Er war in dem Fach, in dem er gerade arbeitete, immer weit voraus und betrachtete es als ein Glied in einem geschauten oder gedachten Ganzen. Karl Wangen, der ihn studieren sah, fand es ganz unglaublich, was er trotz allem doch einheimste; ganz dasselbe in seinem Verhältnis zu Menschen; er schien oft gar nicht da zu sein und sammelte doch eine Menge origineller Eindrücke. Aber sie lagen alle in derselben Reihe. Er sah Bilder und Beweise für das, womit er sich gerade beschäftigte; nicht Menschen, sondern Phänomene; nicht Dinge, sondern Ideen.

So lange er Karen Lote in seine historische Methode einweihen mußte, interessierte das Mädchen ihn lebhaft; dann aber auch nicht für einen Pfennig mehr. Ähnlich ging's mit den andern – ausgenommen Miß Hall. Ihr Unterricht war ihm neu; auf die Resultate – zunächst die intellektuellen, später die sittlichen, war er gespannt.

Aber seine eigne Arbeit? – Nachdem die jahrelange, rastlose Jagd um die Erde nach Unterrichtsmaterial und Methode beendet war, – nachdem der Schulplan, schon vor Jahren ausgebrütet und ins Unendliche verbessert und umgeknetet, in Gang gebracht war, und besonders, nachdem der brutale äußere Widerstand zu Boden geschlagen war – ja, was war's denn nun wieder, was da herabglitt und sich ihm in den Weg warf? – Konnte er nicht mehr? – Wollte er nicht mehr? War es ihm nicht mehr genug? –

Alle um ihn herum hatten ihre Freude an dem Werk; namentlich die Freude seiner Mutter war rührend. – »Das ist die Schule, wie ich sie geträumt habe, mein Junge, mein lieber Tomas!« sagte sie fast Tag für Tag. Er dankte ihr und liebkoste sie für diese Anerkennung; sie war ihm Bedürfnis. Und doch – der Unterricht, sein Haupttalent – ja, es konnte ihn wohl anregen, eine Sache recht eindringlich klarzumachen, ein Hauptmoment tief einzuprägen, etwas Schwieriges durchsichtig zu machen; es konnte ihm eine Wonne sein, eine neue Auffassung bei den älteren Schülerinnen durchzusetzen oder ihre Aufmerksamkeit auf eine der großen Fragen der Zeit zu richten. Alles was Aufgaben stellte, behandelte er mit erfinderischer Geduld; aber darüber hinaus hatte er nichts; – nein, nichts.

Er fühlte seine Mängel. Stark selbstquälerisch veranlagt, wie er war, peinigten sie ihn im höchsten Grade. Er hatte Augenblicke, in denen ihm die Schule geradezu zum Halse heraushing.

Dann fühlte er sich so bar allen Lebensmutes, aller Sehnsucht, aller – Liebe, hätte er gesagt, wenn nicht seine Mutter und Karl gewesen wären; denn auch an Karl hing er mit inniger Liebe. Sehnsucht nach Weib und Kind war es nicht, wenigstens nicht hauptsächlich; denn er fühlte sich ja zu keinem weiblichen Wesen besonders hingezogen ...

War eben das vielleicht sein Unglück, – daß er kein inniges Verhältnis knüpfen konnte? Als Kind hatte er es doch gekonnt.

Ein Mann, der sich tagtäglich mit solchen Erwägungen herumträgt und dann eines Abends von den Tränen und Wehklagen seiner Mutter überfallen wird, weil die Lehrerinnen ihn nicht länger als Vorgesetzten haben wollen, – ein solcher Mann fährt nicht auf wie von etwas Unerwartetem getroffen. Tomas blieb ruhig am Klavier sitzen, wo er gerade saß, als sie kam; von Zeit zu Zeit tippte er mit einem Finger auf eine Taste während ihrer langen, oft unterbrochenen Auseinandersetzung; er sah seiner Mutter Verzweiflung und verbarg seine eigne. Jetzt, fühlte er, hatte er also nichts mehr hier zu suchen. Ganz gelassen bemerkte er, vielleicht könnte sie bis auf weiteres die Leitung der Schule übernehmen. Er klimperte dazu, als sollte das weiter nichts bedeuten. Sie erwiderte, das habe sie den Lehrerinnen auch schon gesagt.

Da wurde er totenblaß. Sie fügte eiligst hinzu, selbstverständlich könne nur er die Ausführung seines eignen Unterrichtsplanes überwachen. Sie bat ihn, doch gleich mit den Lehrerinnen zu sprechen. Er rede ja auch mit keinem Menschen. Sie müßten ihn ja mißverstehen; er verletze sie durch seinen Mangel an Vertrauen, ja oft auch seinen Mangel an Rücksicht. Ob er sie denn nicht leiden möchte?

Da wurde es aber Tomas zu viel. Er warf sich über das Klavier und brach in Tränen aus; sprang aber gleich wieder auf, griff nach Hut und Rock und rannte hinaus, trotz der Bitten seiner Mutter, doch zu bleiben und alles weiter mit ihr zu besprechen, wie in alten Tagen. Er konnte nicht.

Denn auch in dem Verhältnis der Mutter zu ihm war etwas, das ihm wehtat. Sie hatte ihn, als er heimkehrte, mit der größten Bewunderung empfangen; alles, was er sagte und wollte, fand sie richtig; aber – nach seiner Programmrede waren Zweifel in ihr aufgestiegen. Und diese waren gradweise gestiegen, so daß sie jetzt hinter alles, was er sagte, ein Fragezeichen setzte. Und nun, bei der ersten Klage der Lehrerinnen nahm sie ihm gleich die ganze Schule aus der Hand, und das wollte sie so brillant vereinen können mit dem Stolz über seine Schulordnung und der ihm stets um die Ohren surrenden Genugtuung darüber, daß alles so famos klappte. Nicht daß ihre Zweifel an sich größer gewesen wären, als sie so ein praktischer Verstand wie der ihre zu hegen berechtigt war. Er klagte sie auch nicht deswegen an; er konnte es nur nicht länger aushalten.

Das mit den Lehrerinnen war furchtbar. Seine Meinung von ihnen war ja, daß sie ganz ausgezeichnet wären, und keine in dem Grade wie Karen Lote, – sonst hätte er sich doch nie um sie gekümmert.

Es mußte etwas tiefinnerst in seinem Verhältnis zu den Menschen grundverkehrt sein, wenn man ihn in solcher Weise mißverstehen konnte. Vielleicht hatte auch sein eignes Gefühl der Unlust und Leere denselben Grund? –

Diese Damen hatten doch alle für ihn geschwärmt. Sie sowohl wie die erste Klasse. War vielleicht auch das eine Illusion? War es auch damit schon vorbei?

»Schwärmen« ... Was ist Schwärmen? Geringschätzig wies er es von sich ... Und doch hatte es ihn erfreut und – betrogen. Er hatte das ein- für allemal für abgemacht angesehen.

Nein; wer nehmen will, der muß auch geben. Wer geliebt sein will, der muß selbst lieben. Und das konnte er nicht – wenigstens nicht so – nicht so wie – andre es konnten ... Und eigentlich war das ja auch nicht zu verwundern. Sein Geschlecht hatte wohl die Fähigkeit zur Menschenliebe in sich versiegen lassen. Oder was war es denn andres, wenn dieses Geschlecht Generation nach Generation die Treuegesetze der Menschen brach, sich den Teufel um das Urteil der Mitmenschen scherte, sein Blut vergeudete in der Zerstörung der eignen Person und ihrer Nachkommen – und auch andrer und ihrer Nachkommen.

Er ging weit ins Land hinein, denselben Weg, wie an jenem Frühlingsabend nach dem Vortrag. Er dachte daran, wie freudig er aus Amerika heimgekehrt war; wie er davon geträumt hatte, seinen Landsleuten ein Beispiel zu geben, das, wenn sie es befolgten, weithin leuchten sollte.

Gab es eine wundervollere Aufgabe für ein kleines Volk, als seine beste Kraft in die Erziehung seiner Kinder zu legen; dort seine Ersparnisse niederzulegen? Dann mögen die großen Völker die ihrigen ruhig an ihre Armeen vergeuden ...

Er entsann sich, mit welcher Wonne er damals geglaubt hatte, daß man so die Missetaten seiner Väter am besten sühnen könne. So, meinte er, habe alles auf Erden sich entwickelt. Die Erweckung ist immer in die stärksten Geschlechter gekommen; instinktiv haben diese ihre Mängel erkannt und sie durch Blutmischung zu verwischen gesucht. Darum hat alles Große und Gute immer ein Geschlecht als Stammvater; das Leiden eines Geschlechtes als Beweggrund zu seiner Sehnsucht, dessen Sehnsucht als Beweggrund zu seiner Arbeit, dessen Arbeit, dessen Selbstbekämpfung als Beweggrund zu seinen Entdeckungen, seiner Macht des Konzentrierens um dieses Gefundene.

Wenn es da summte und surrte in der Schule aus hundert jungen Willen; wenn es leuchtete und glühte aus all den Augen, für Ziele, die er ihnen gesteckt hatte; und wenn die Ältesten unter seinem Einfluß den Ton angaben und Flagge hißten – da war das vor allem andern dank einem Geschlecht, in dessen Haus sie saßen und aus dessen Entwicklung sie Nutzen zogen. Sein Geschlecht, das zu einer Schule geworden war.

Doch im tiefsten Innern mußte es trotzdem seine Schwäche weiter mit sich herumschleppen. In ihm, der gebaut hatte, lag auch der Auflösungskeim; er konnte also nicht weiter kommen. Er besaß nicht die tragende Kraft der Liebe; – wohl den rechten Blick, die Tatkraft, den Ehrgeiz –; aber alles eben Eigenschaften zum Krieg, nicht zum Frieden.

Wie er an jenem Abend nach dem Vortrage da gegangen war, krank im Herzen und so bang – o, so bang, weil seine jahrelange Sicherheit erschüttert war – Karl war neben ihm hergetrabt wie ein langer, hochbeiniger Hund, stumm, mit guten, treuen Augen –, so wanderte er auch jetzt wieder dahin, nur daß jetzt Winter war und er ganz allein; heut hätte er sich geschämt, jemand bei sich zu haben. Die Vorahnung jener Unsicherheit, die ihn damals zum erstenmal durchbebt hatte, – jetzt war sie zur Gewißheit geworden. Er konnte nicht weiter kommen, Herrgott im Himmel, er konnte nicht. Er war die Krankheit der Schule.

Der Schnee lag fleckenweise; auf den Äckern war er schon geschmolzen, im Mondschein sah es geisterhaft aus. Im Walde unter den Föhren lag der Schnee noch dick, zum Teil auch auf den Wegen, aber hier war die Bahn gefroren mit tiefen Wagenfurchen, scharfen Steinchen und hartem Pferdeabfall, so daß das Gehen sehr mühsam war.

Er kam heim, an Leib und Seele so müde, wie er sich kaum je entsinnen konnte, gewesen zu sein. Als er am neuen Kirchhof vorbeiging, wo sein Vater und sein Großvater ruhten, und wo an der einen Seite das Meer schwarz und wellenschlagend hinaufspülte, hatte er eine Empfindung, als zöge es ihn dort hinein oder dort hinaus, – oder nach beiden, – das ließ sich ja vereinen ...

Es war zwölf Uhr geworden. Wie in jener Nacht nach dem Vortrag wollte er nicht eher nach Hause, als bis er sicher sein konnte, daß die Mutter das Warten aufgegeben hatte; unter gewöhnlichen Umständen ging sie zwischen neun und zehn Uhr zu Bett. Aber als er sich die Allee hinaufschleppte, sah er Licht in ihrem Zimmer, und später auch in Karls. Wäre er nicht so jämmerlich müde gewesen, er wäre umgekehrt. Aber nun mußte es eben gehen, wie's wollte.

Die Mutter kam ihm mit dem Licht in der Hand im Korridor entgegen. »Gott, Tomas, welche Angst ich um dich ausgestanden habe,« flüsterte sie.

Was meinte sie damit? Er sah sie an. Die Ärmste, mindestens zehn Jahre gealtert sah sie aus; so verweint, so aufgerieben, so traurig. »Ach, Tomas, laß uns doch –« fing sie an. »Nicht doch, Mutter,« er machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand, »ich bin zu müde – zu todmüde.« Langsam ging er durch ihr Zimmer nach dem innern Flur, ohne Gute Nacht zu sagen, ohne sich umzusehen; sie hörte seine Schritte auf der Diele; sie hörte ihn die Tür öffnen und wieder schließen – und den Schlüssel im Schloß umdrehen! Das rief immer böse Erinnerungen wach, dieses Schlüsselumdrehen ... Ach, warum tat er das? Es war ja, als schlösse er zu zwischen sich und ihr.

Während er Licht machte, hörte er Karl an der Tür zwischen ihren beiden Zimmern. Tomas ließ das Licht stehen und trat aus dem Vorhang heraus, und im nächsten Augenblick sah er des Freundes blasses, kummervolles Gesicht aus der Türöffnung zu ihm hinstarren. Warum hatten Karl und die Mutter nicht zusammengesessen? Natürlich damit die Mutter allein mit ihrem Sohn reden könnte, wenn er endlich, endlich nach Hause kam. Darum hatte Karl sich zurückgezogen. Er hätte sich ihm um den Hals werfen und laut weinen mögen. Alles, was er zurückgehalten hatte, als er seine Mutter sah, wollte jetzt hervor. Karls unerschütterliches Zutrauen zu ihm war das Stärkste, was er außer sich selbst besaß. Noch jetzt, auch in diesem Augenblick war es da; er sah es hinter seinem Kummer leuchten wie den Lichtschein dort in der Tür hinter Karls Gestalt; denn zwischen ihnen war es dunkel.

»Nein, lieber Karl, nicht heut abend; ich bin zu müde.«

Langsam, lautlos zog Karl seine langen Beine wieder zurück und zog die Tür hinter sich zu; das Schlüsselumdrehen geschah so leise, so leise.

Tomas ging sofort zu Bett, schlief augenblicklich ein und schlief durch. Als er erwachte, war es acht Uhr.

Dieses Bewußtsein eines langen, gesunden Schlafes verscheuchte all das Weh von gestern, das gleich hervorquellen wollte. Es kann doch unmöglich so jämmerlich mit mir bestellt sein, wie ich gestern dachte, wenn es heute nicht schlimmer ist. Er sprang auf. Mir muß doch noch irgend eine andre Lebensaufgabe vorbehalten sein, – wenn es diese nicht ist. Er zog sich eins, zwei, drei an und bekam dabei die Idee, auf einige Tage zu verreisen. Er wollte erwägen und – allein sein, während er mit sich zu Rate ging.

Das war der einzige Bescheid, den die Mutter erhielt, als sie, während er beim Frühstück saß, zu ihm kam. Er bat sie, Karl zu grüßen, und reiste um zehn Uhr.

Ihr war das nicht unlieb. Die Übergänge in ihm sind zu schroff, dachte sie. Vielleicht kehrt er als ein neuer Mensch von seiner Reise zurück. Seine Hauptschwäche, unmittelbar aus seinen Stimmungen heraus zu handeln und zu reden, hatten ihr diesen Fragezeichenblick bei allem, was er sagte, angewöhnt. Auch jetzt war er wieder da, der Blick.

Er haßte ihn.

Diesmal hatte sie sich jedoch geirrt; er kam ungefähr als derselbe zurück; nur merkte sie gleich beim erstenmal, als er mit ihr sprach, daß er auf die Lehrerinnen etwas erbittert war; »undankbare Schafsköpfe« nannte er sie; – er habe sie mehr gelehrt, als irgend ein andrer vermöchte, der nicht solche Reisen und solche Erfahrungen gemacht habe und ein solches Wissen besitze wie er. Er wollte gar nichts mehr mit ihnen zu schaffen haben. Wenn er mit ihnen zusammentraf, so peinigte er sie mit aalglatter Höflichkeit; das machte ihm Spaß; er war geradezu grausam gegen sie. Er übernahm wieder, wie früher, seine Unterrichtsstunden, mit Ausnahme des Gesangsunterrichts, den er Nora übertrug, die also jetzt gleichzeitig Lehrerin und Schülerin war. Er versicherte, sie besitze ein Lehrtalent allerersten Ranges.

Vielleicht, dachte Karl, könnte er wieder Interesse für die Schule gewinnen, wenn lauter neue Lehrerinnen angestellt würden! Er sprach darüber mit Frau Rendalen. Sie sollte doch mal vorsichtig sondieren. Sie fing also zunächst an von dem Observatorium zu sprechen, das man im Turm einzurichten begonnen hatte, von dem man aber wegen Geldmangels vorläufig hatte abstehen müssen. Nächsten Sommer, meinte sie, würden sie wohl in der Lage sein, die Arbeit fortzusetzen.

»Gott weiß, wo ich dann bin!« rief er und rannte fort.

Ob ich nicht ganz offen mit den Lehrerinnen reden könnte, dachte die unermüdliche Mutter, sie dazu bringen, ihn um Verzeihung zu bitten? ... Und kurz vor Weihnachten berief sie sie eines Tages alle zu sich und teilte ihnen mit – wobei sie gleich wieder bewegt wurde – verschiedene Äußerungen ihres Sohnes deuteten darauf hin, daß er fort wolle.

Eine Weile waren sie ganz sprachlos vor Schreck. Endlich nahm Fräulein Lote das Wort, da alle sie erwartungsvoll anstarrten. So wäre es doch gar nicht gemeint; – sie habe nur gemeint, – sie hätte überhaupt gar nichts gemeint, sie sei nur so schrecklich nervös geworden. Sie glaube, er sei nicht mit ihr zufrieden. Nun wurde es der Zeichen- und Handarbeitslehrerin, einer langen Blondine mit gutem Kopf ganz heiß. Das mit der Spencerschen Zeichenmethode, die Rendalen eingeführt habe, sei wirklich im Anfang gar nicht so einfach, und er sei auch in einemfort hinter ihr hergewesen. Aber trotzdem hätte sie sich nicht beklagen sollen, nein, das hätte sie nicht tun dürfen. Und sie fing zu weinen an.

Sämtliche Lehrerinnen beteuerten ihre Dankbarkeit; er sei ja so außerordentlich tüchtig in allen Fächern. Das Dumme sei eben nur, daß er sie behandele wie – wie ein Nichts.

Frau Rendalen riß die Brille ab, Putzte sie und setzte sie auf, riß sie wieder ab, putzte sie und setzte sie wieder auf.

Nein, nun wollte Miß Hall aber denn doch sagen, was das Verkehrte sei. Es wär das, daß er eben alle und alles ungleichmäßig behandele. "Sowas macht die Lehrerinnen unsicher und verletzt das Gerechtigkeitsgefühl der Kinder, und das ist der zweitschlimmste Verlust, den ein Kind erleiden kann." Sie wolle gern mal mit Rendalen sprechen, sagte die kleine Amerikanerin; aber er sei so schrecklich unzugänglich. – Heute war auch sie nervös.

Das warf Frau Rendalens Plan völlig über den Haufen. Sie wußte nicht, was sie antworten sollte. Vorläufig jedoch wurden alle weiteren Verhandlungen abgebrochen; von der Treppe her stimmte nämlich ein voller Chor jubelnder Mädchenstimmen einen Gesang an, und alle eilten an die Fenster.

Es war Nora mit ihren Schülerinnen. In diesen letzten Tagen vor Weihnachten wurde in den Stunden nicht viel Neues durchgenommen, und so hatten sie verschiedene Chorgesänge eingeübt, und diese Singübungen endeten regelmäßig draußen auf der Treppe, – einer von Noras vielen Einfällen. Damit machten sie so kolossales Furore, daß nicht bloß die Kleinen, die noch nicht mitsangen, in der Nähe der Treppe auf den großen Augenblick warteten, sondern auch andre Leute sich in der Allee ansammelten. Sobald die Mädchen in ihrer Winterkleidung um die Ecke gestürmt kamen und die Treppe hinaufliefen, zogen sich die Gruppen in der Allee dichter zusammen und kamen näher. Frau Rendalen und die Lehrerinnen hatten ihre Mäntel angezogen und standen jetzt an den offenen Fenstern.

Die Mädchen hatten sich auf den Treppenstufen von oben nach unten aufgestellt; die Kleinen, die nicht mitsangen, füllten die Seiten. Ganz unten stand Nora mit dem zurückgekämmten lichten Blondhaar unter der Kapuze, die ihr immer in den Nacken rutschte ... Sie hatte sich ganz Rendalens Art des Taktschlagens angeeignet – das einzige, was dieser unruhige Mensch mit Ruhe machte; er bewegte nur das rechte Handgelenk und gab mit der linken Hand das Zeichen. Nora hielt die rechte Hand genau auf demselben Fleck wie er, nämlich vor die Brust, wofür sie viel Neckerei erdulden mußte.

Herrlich tönte der Gesang von der Treppe herab und weit hinaus. Vielleicht trug auch die Aussicht da vor ihnen, die ihre Phantasie in Klang und Farben umsetzte, das ihrige dazu bei; vielleicht, daß auch » ein altes Dokument« In der Einleitung sind einige Stücke daraus gebraucht., das gerade in diesen Tagen zu Weihnachten herausgekommen war und das jeder dritte von den Einwohnern der Stadt von zwölf Jahren aufwärts bereits aus erster, zweiter oder dritter Hand kannte – auch noch die Wirkung erhöhte. Vielleicht klangen diese düsteren Stimmen aus der Vergangenheit mit und ließen durch die Macht des Kontrastes den lichten Mädchengesang noch lichter, den holden Augenblick noch holder erscheinen.

Da lag die Stadt unter ihnen mit dem Hafen zwischen den beiden Ufern, jetzt zur Winterszeit an beiden Seiten voll von Schiffen. Ganz in der Tiefe der Bucht, an den Lehmhügeln alle die emsigen Fabrikwerkstätten und die großen Holzlager. Zur Linken der Berg mit seinem Häusergewirre und seinem Boothafen unten, und draußen die Inseln und das Meer. Das Wetter an der Küste ist unruhig; meist wenn die jungen Mädchen da auf der Treppe standen und sangen, jagten hastige Wolken oder gebrochenes Licht über die Landschaft; oft auch, wenn es am Lande hell und friedlich war, grollte und drohte es da draußen. Vielleicht kam es daher, daß die Mädchen mit Vorliebe schwermütige Lieder wählten.

Für die Lehrerinnen wie für die Schülerinnen war dieses Singen auf der Treppe vom ersten Tage an der Glanzpunkt der Schule geworden. Wenn die Arbeit jeder einzelnen Klasse, die Arbeit der Woche, des Jahres sich in tausend feinen Zellfäden sammeln und Blüten treiben könnte, wenn alle die fruchtbaren Antriebe, die zagen Vorsätze, die unsicheren Anfänge sich in der Harmonie all dieser Stimmen kräftigen könnten, – dieses gemeinsame Singen hätte sie nicht mehr beglücken können; – die Lehrerinnen wohl hauptsächlich deshalb, weil der Augenblick ein geheimes Weh in ihnen wachrief. Die älteren Mädchen, namentlich die Mitglieder des Vereins, empfanden diesen Augenblick als eine festere Vereinigung. Was zwei oder mehrere an Gutem gemeinsam haben, das bricht immer durch, wenn gesungen wird; alles ideale Streben steht in natürlicher Verwandtschaft zu harmonisch geordneten Tönen.

Aber der, den dieser Gesang am tiefsten ergriff, hielt sich hinter geschlossenem Fenster verborgen, weil er um keinen Preis gesehen sein wollte. Er sah Nora in ihrem hellen Mantel, mit dem zurückgeworfenen Köpfchen und ihren Taktbewegungen.

Der Gesang über der Stadt und an die Stadt – der aus Emilie Engels Grab begonnen hatte – umwogte in diesen Mädchenstimmen alles, was er hier auf Erden wollte. Wie unglücklich sie ihn jetzt machten! Er versuchte sich als Gegengewicht klarzumachen, was er durch viele und harte Kämpfe doch schließlich erreicht hatte; denn es war doch etwas.

Es war doch nicht jedermann vergönnt, zu gewinnen, was er gewonnen hatte ... aber es war eben auch für die Grenze gesorgt – das war's.

Ob nun der Gesang bald verklingen würde; – oder ob er nach ihm weiterklingen würde? ... Er dachte an seine Mutter.

Er war wohl der, der auf der Treppe stand. Hinein oder heraus? ...

Da stürmte die ganze Schar in jubelnden Gruppen die Allee hinunter; zuletzt der Generalstab. Tora hatte nämlich was zu erzählen oder einen Vorschlag zu machen. Sie gingen langsam und blieben alle Augenblicke stehen ... Ja, das war es, worauf es ankam: etwas zu haben, was man in Wonne und Schmerz mit andern teilte!


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