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III. Eine Rede

1. Eine Entthronung

Frau Tomasine Rendalen hob ihr Kind selbst aus der Taufe und gab ihm ihren eigenen Namen. Die Wiege des kleinen Tomas stand neben ihrem Bett, und dort hielt sie sich jetzt immer auf, das Schlafzimmer wurde ihre Lese- und Arbeitszimmer; das vordere Zimmer stand ungebraucht wie zum Staate.

Durch Freundinnen in England, Frankreich und Deutschland ließ sie sich Bücher über Erziehung in drei verschiedenen Sprachen kommen. Aber sie legte sie bald wieder beiseite: sie waren gar zu schwebend oder zu willkürlich. Lieber wollte sie ihre sonstigen Kenntnisse zu erweitern versuchen. Sie wollte in allem und jedem sein Lehrmeister sein, sie und kein andrer.

Aber als er ein halbes Jahr alt geworden war, wurde das eine Arbeit mit Unterbrechungen, denn er war ein gar ungeberdiges Kind. Der Arzt versicherte, so weit er es beurteilen könne, fehle dem Jungen gar nichts; vor Schmerzen schreie er also nicht. Wenn der Junge z. B. die Augen aufschlug und nicht in demselben Augenblick jemand da war – nämlich die eine bewußte mit seinem Futter – dann schrie er nicht bloß, bis sie kam – das hätte ja allenfalls für recht und billig gelten können – nein, auch nachdem sie gekommen war und ihn mit Bitten und Drohen zum Trinken gebracht hatte, schrie er weiter, wobei ihm die Milch aus dem Munde rann. Dann trank er ein paar Schlucke, hörte wieder auf und schrie aus vollem Halse; er konnte es nicht verwinden.

Wenn er irgendwas nicht wollte, schrie er sich blau, streckte seinen kleinen Körper und machte sich ganz steif. Manchmal war es Tomasine, als sei das gar kein Mensch, was sie da auf dem Schoße hatte, sondern ein Kobold.

Als er neun Monate alt war, mußte sie ihn entwöhnen; die ewige Aufregung und Angst, in der er sie hielt, wirkten zuletzt durch die Milch auf das Kind zurück.

Es war ein grausamer Kampf, den das kostete; er dauerte drei volle Tage und Nächte. In dieser ganzen Zeit war er nicht dazu zu bewegen, auch nur einen Tropfen von der fremden Nahrung zu sich zu nehmen, ohne daß man sie durch Kunstgriffe in ihn hineinzwang. Und wenn Tomasine auf den Fußspitzen im Zimmer oder im Korridor hin- und herschlich und dem heiseren Schreien lauschte – denn eine Stimme hatte er überhaupt nicht mehr – und sich weder zeigen noch ihm helfen durfte, dann dachte sie mehr als einmal mit großer Beschämung daran, was sie bei sich beschlossen hatte, ehe er zur Welt kam. Das Kind weinte drinnen und die Mutter draußen. Keiner konnte sie von dort fortkriegen.

Und dieser sein erster großer Krieg in der Welt, der Krieg um die mütterliche Nahrung, hatte keinen günstigen Einfluß auf ihn. Denn von jetzt an schrie er sich noch ärger als zuvor, sobald er etwas haben wollte. Tomasine war ein kräftiges, geduldiges Wesen; aber der Junge machte sie wahrhaftig mager und nervös. Sie hoffte, wenn er älter würde, würde es vorübergehen, und wartete, bis er ein Jahr alt geworden war. Aber sie konnte lange warten; je mehr Kräfte er bekam, um so beharrlicher brüllte er.

Nun galt es also, ein bestimmtes Verfahren zu wählen. Die gelehrten Professorenbücher reichten nicht mehr aus, oder sie hatte sie nicht recht verstanden. Sie wendete sich an erfahrene Leute, und diese gaben ihr den Rat, ihn fortwährend zu zerstreuen. Das half eine Weile; wenn er etwas Neues sah, war er still, aber mehr als höchstens zweimal wollte er denselben Gegenstand nicht sehen. Vergaß sie das, dann wurde er so wütend, daß nicht einmal etwas Funkelnagelneues ihn zum Schweigen bringen konnte.

Ein andrer riet ihr, den Jungen schreien zu lassen, so viel er Lust hätte. Ihr ewigen Mächte, brüllte der Bengel da aber! Wäre er als Reichstagsabgeordneter des gesamten Jammers und Verdrusses der ganzen Stadt gewählt gewesen, er hätte es nicht besser machen können. Nein, dachte Tomasine, auf die Art quält der Irrige sich und mich zu Tode. Sie ging also zum Gegenteil über; sie verlegte sich darauf, seine Gedanken zu erraten, lange ehe er sie gedacht hatte, und fügte sich ihm in allen Stücken.

Das half; aber wehe ihr, wenn sie falsch riet, dann half es ihr gar nichts, daß sie nachträglich das Richtige erriet. Zuletzt kam die mütterliche Sklavin wie so viele andre vor ihr, in ihrer Not und Verzweiflung so weit, daß sie beschloß, Revolution zu machen. Der kleine Despot mußte vom Thron gestoßen werden.

Die Revolution brach aus mit 6 – schreibe sechs – Klapsen auf Sr. Majestät vier Buchstaben. Sofort brachen alle Schrecken eines Bürgerkrieges aus; aber es folgten abermals sechs, sieben, acht, ja endlich zwölf Klapse. Die Macht auf Lebenszeit aufzugeben, ist ein schweres Ding, selbst für einen noch nicht zweijährigen Tyrannen, so daß der Kampf mehrere Stunden dauerte, bis er – sich ergab? Nein, das tat er durchaus nicht, aber – er schlief ein.

So angegriffen war Tomasine von der monatelangen Unruhe und Angst, von allen den Nachtwachen und nun dem letzten Kampfe, daß sie am ganzen Leibe zitterte und wie gebadet war. Jetzt wachte sie über seinem Schlafe, wie David nach der Bibel über dem Schlafe Sauls; sie hatte Mitleid mit der gefallenen Größe; sie hörte ihn schlucksen in seiner Hilflosigkeit; sie sah die letzten Tränchen auf seinen Backen trocknen; sah seine molligen Händchen zucken, die zarte Kopfhaut sich bewegen. Wer sollte denn eigentlich lieb zu ihm sein, wenn nicht sie? Wie sehnte sie sich danach, ihn aufwachen zu sehen, um ihm dann ihr allerfreundlichstes Gesicht zu zeigen und ihn zu liebkosen und alle die kleinen Kunststückchen mit ihm zu machen, die das Entzücken jeder Mutter sind! Namentlich sehnte sie sich danach, ihn das Mäulchen zum Kuß spitzen zu sehen. Wenn er das tat, war er einfach unwiderstehlich süß.

Endlich fing er sich zu regen an und sich in oder an der Nase zu reiben. In ihrer Ungeduld schob sie die Hände unter ihn und legte ihr Gesicht an seines, um den frischen Duft des jungen Lebens einzuatmen.

Da verzog sich sein Mund zum Schippchen; in seinen Augen stieg Verzweiflung auf, schwärzer und schwärzer, und endlich kam ein Schrei – ein entsetzter und entsetzlicher Schrei, während er sich mit Kopf und Händen, mit dem ganzen Körper ihr entwand. Sie mußte ihn schleunigst loslassen und ihre Schwester herbeirufen. Ihr streckte er sofort die Ärmchen entgegen und schmiegte sich fest an sie, um recht, recht sicher zu sein ...

Die verlassene Mutter stand daneben und sah das mit an, und währenddessen dachte sie darüber nach, daß sie nun also die Jagd rings um den Kompaß herum gemacht hatte. Jetzt war sie glücklich wieder da angelangt, wo sie vor Monaten begonnen hatte. Erst beschlich sie ein Gefühl jämmerlicher Ohnmacht; dann ein heftiges Schamgefühl, und plötzlich riß sie der Schwester den Jungen weg und machte ihn selbst zurecht, ob er nun wollte oder nicht. Er brüllte die ganze Zeit aus vollem Halse, und als er fertig war und sein Essen nicht aus ihrer Hand nehmen wollte, da hagelte es Klapse und regnete Schelte, und sie ließ nicht eher ab, bis er seine ganze Kraft zusammennahm, um zu schweigen, und es auch wirklich so weit brachte, den Faden seines Gebrülls abzureißen, nach Luft schnappend, als ging's ans Leben. Nach und nach beschränkte sich der Kampf auf gedämpfte Schluckser vor verschlossenen Türen; versuchten diese noch ein einzelnes Mal nach außen durchzubrechen – hei, dann wurden sie sofort wieder hineingejagt. Endlich versuchte er es in seiner Angst sogar, den Mund zum Kuß zu spitzen, um ihr zu zeigen, daß die widerspenstigen wirklich ganz und gar wider seinen Willen ausbrächen. Es waren komisch-rührende Versuche. Dann wurde er zum Essen gezwungen, und dann wurde der Überwundene zu Bett gelegt und schlief, noch immer schlucksend, ein ...

Sie machte einen kleinen Gang, kam dann zurück und setzte sich an sein Bettchen, wie das vorige Mal, bangend vor dem Erwachen. Und richtig: kaum schlug er die Augen auf und sah sie, schob sich das Mäulchen zu einer langen Schippe vor, aber langsam und ängstlich zog er sie wieder ein, ja, er streckte sogar sein Händchen aus und ergab sich ganz der, die sich lächelnd über ihn neigte.

Viele glückliche Sieger hat es gegeben, sowohl vor als nach jenem Moment, da Frau Tomasine Rendalen ihren Sohn vom Throne gestürzt hatte, um sich selbst hinaufzusetzen. Auch wurde ihr Glück durch das Bewußtsein beeinträchtigt, das hätte sie lange, lange schon tun sollen, gleich von Anfang an. Trotzdem war sie genau so froh über ihren späten Sieg, wie irgend ein General über seinen frühen. Und als sie sich an diesem Abend zu Bette legte, fühlte sie sich ebenso müde und ebenso wohlig geborgen, wie jemand, der eine Stadt erobert hat.

Er war damals gut einunddreiviertel Jahr alt. Sie wußte sehr wohl, daß dies nicht der letzte Kampf war, aber sie wußte nun auch, daß er auf der unsteten Segelfahrt seiner Launen endlich seine Mutter entdeckt hatte; von jetzt an war sie sein Festland.

Dafür bekam sie bald den Beweis. War es eine Folge des Siegesrausches, daß sie anfing, ein Häubchen zu tragen, oder war es ein lange gehegter Plan, um ihr Haar zu verbergen, über das sie sich so lange geärgert hatte, und statt dessen etwas auf dem Kopf zu haben, was man sehen könnte – genug, gerade jetzt kam das Häubchen zum Vorschein. Das wollte und mußte der Junge natürlich sofort wieder beseitigen. Um seinetwillen hatte sie schon die Brille, der er ebenfalls Krieg geschworen hatte, bis auf weiteres geopfert, das Häubchen jedoch wollte sie ihm nicht opfern.

Nun gibt es manchen, der sich wohl drein ergibt, die wirkliche Macht zu verlieren, der sich aber nicht darein finden kann, die Symbole der Macht dran zu geben; und derart über Haar und Kopf der Mutter herrschen zu können – das war für den jungen Herrn ein stolzes und erhabenes Machtzeichen, auf das er nicht verzichten wollte. Und so kam es zum Kampf.

Aber er ergab sich schon, ehe die Hauptmacht ins Feld rückte. Seine beiden kleinen Hände wurden wieder und wieder zurückgeschlagen, und jedesmal kräftiger trotz seines Schreiens, und mit einem Mal warf er sich ihr an die Brust, und so fand der kleine Krieg ein ganz allerliebstes Ende.

So erreichte sie seinen zweijährigen Geburtstag wirklich als eine glückliche Mutter. Zu diesem großen Tage hatte eine englische Freundin, mit der sie eifrig korrespondierte, seitdem sie in der Stadt mit keinem mehr verkehrte, ihr Dickens' David Copperfield geschickt, der gerade damals der englische Lieblingsroman war. Das Buch kam einen Tag zu früh. Sie las sofort ein langes Stück davon, und alle die lebensvollen Bilder rankten sich um Klein-Tomas zur Feier seines Geburtstags morgen, wo er von Kopf bis zu Fuß funkelnagelneu angezogen sein sollte. Sie träumte von Klein-Jip und Klein-Tomas. –

Am Geburtstage erwachte sie etwas später als er; aber er lag ganz still. Die ganze Nacht hatte er sie nicht ein einziges Mal gestört; das hatte er überhaupt während der beiden letzten Monate kaum getan. Glücklich und stolz sagte sie ihm guten Morgen.

Die ersten Stunden vergingen in lauter Wonne. Gegen neun Uhr saß er schon in seinem neuen Kleidchen mitten im Zimmer auf der Erde, umgeben von allen den Spielsachen, die sie und ihre Familie ihm geschenkt hatten; sie selbst saß in vollem Staat am Fenster und las im Copperfield. Sie hatte versucht, das Fenster der frischen Luft wegen zu öffnen, allein der Frühlingstag war noch kühl.

Da wurde sie in die Küche hinausgerufen. Er wollte nie, daß sie von ihm ginge; aber jetzt saß er da so ganz in seine Sachen vertieft, daß sie es vielleicht wagen konnte; doch ging sie der Vorsicht halber durch's Schlafzimmer und von dort über die Diele nach der Küche. Sie ließ die Küchentür offen, falls sie ihm zu lange fortbleiben und er nach ihr rufen sollte. Aber das tat er nicht, und so blieb sie ruhig draußen, bis sie fertig war.

Im Zimmer war es ganz still – verdächtig still. Er hatte nämlich genau auf das Buch acht gegeben, in dem sie las; denn nach Art der englischen Bücher hatte es einen bunten Einband mit einem Bilde drauf. Er hatte gesehen, wie sie es auf den Tisch legte. Nun hatte er auch Lust bekommen, zu lesen, da er jetzt ja so hübsch ungestört war.

Sowie er allein war, ließ er alle seine Spielsachen im Stich, stand auf, tappelte durchs Zimmer, schob sich ein Fußkissen heran; da er so aber nicht bequem dran konnte, riß er es sich auf den Boden herunter und setzte sich selbst daneben auf die Erde. Es dauerte ein Weilchen, bis er die Erfahrung machte, die er auch früher schon mit Büchern gemacht hatte, aber immer wieder vergaß, nämlich, daß viele Blätter auf einmal sich nicht gut lesen lassen; aber eins oder zwei auf einmal – das geht fein. Also riß er sie aus dem Buche heraus; auf diese Weise lasen sie sich leichter. Nach den paar ersten nahm er sich noch ein paar, im ganzen zwanzig – als Tomasine dazukam.

Sie entzweiten sich sofort wegen dieser Lesemethode. Sie vergaß sich, entriß ihm heftig das Buch und fuhr ihn barsch an, er wisse doch ganz genau, daß er ihre Bücher nicht anrühren dürfe.

Zuerst geriet er in Angst; aber dann streckte er beide Hände nach ihr aus und sagte:

»Mich Buch hamm, Mammi!«

Natürlich beachtete sie ihn gar nicht, weshalb er näher kam und mit einschmeichelndem Stimmchen wiederholte:

»Mich Buch hamm, Mammi!«

»Nein!« antwortete sie schroff; denn leider war das Buch gerade an der Stelle, wo sie jetzt lesen wollte, schändlich zerrissen.

Er wartete ein wenig, und dann bat er nochmals:

»Mich Buch hamm, Mammi!«

Jetzt fiel ihr ein, daß ja sein Geburtstag war, und sie fertigte ihn diesmal sanfter ab, indem sie ihm zeigte, welches Unheil er angerichtet hatte.

Er hörte zu und sagte:

»Mich Buch Hamm, Mammi!«

Sie hatte Bonbons neben sich liegen und gab ihm eins davon. Er knusperte ganz gemütsruhig und sagte dabei:

»Mich Buch Hamm, Mammi!«

Da legte sie das Buch fort, nahm ihn bei den Ärmchen, tanzte mit ihm durchs Zimmer und setzte ihn dann mitten unter seine Spielsachen. Sie selbst ging an den Tisch zurück, um die zerrissenen Blätter zu ordnen. Gleich stand er wieder neben ihr und kramte mit dem einen Händchen auf dem Tisch herum, während er sich mit dem andern festhielt:

»Mich Buch hamm, Mammi!«

Wieder legte sie das Buch fort und holte sein Mäntelchen, um mit ihm auszugehen. Das wollte er sich durchaus nicht gefallen lassen; er machte sich steif wie ein Stock, aber sie wollte. Eine Stunde lang waren sie im Garten und machten lauter köstlichen Unsinn. Als sie wieder im Zimmer waren und sie ihm den Mantel auszog, streckte er das freie Händchen nach dem Tische aus:

»Mich Buch hamm, Mammi!« – und zwar mit dem einschmeichelndsten Stimmchen und Gesichtchen, das sie an ihm kannte.

Sie meinte, das beste sei, sich taub zu stellen, und fing an, Papierstreifen zu schneiden, die sie mit Gummi bestrich und über die zerrissenen Stellen klebte. Es war eine mühsame Arbeit, und währenddessen stand er da und flehte und bettelte und stampfte mit den Füßchen und wiederholte in einem fort:

»Mich Buch hamm, Mammi!«

Einmal hört er doch wohl auf, dachte sie.

Aber sie wurde mit ihrer Arbeit fertig, und er nicht.

Sie sehnte sich recht herzlich aus seiner Gesellschaft heraus und zurück in die des Buches: die war unbedingt amüsanter. Aber böse werden wollte sie nicht – und so machte sie sich denn dran, ihm die Flöte vorzublasen, d. h. sie bewegte die Finger wie auf einer Pikkoloflöte und pfiff dazu; eine Beschäftigung, in der sie große Meisterschaft besaß.

Er bettelte und zerrte an ihrem Kleide, – sie antwortete auf der Flöte. Dabei wurde sie ganz lustig; und die Lustigkeit stieg noch, als er wütend wurde und »nich doch« rief und dabei weinte und nach ihr schlug. Das Flötenspiel wurde immer ausgelassener. Er ließ nicht nach, sie ließ nicht nach; die Geister der Kurts spukten in allen Ecken und Winkeln.

Da warf er sich rücklings auf die Erde und trommelte und strampelte mit seinen Hacken und brüllte. Sie blies noch immer, aber etwas matter; denn sie fühlte, daß er eigentlich gewonnen hatte; jetzt spielte sie nur noch, um ihn zu reizen. Sie konnte ebensogut den alten Kampf gleich wieder aufnehmen. Das Flötenspiel sprang mit einem Mal in Weinen über, trostloses, unaufhaltsames Weinen. Der Junge, der sie während seines Wutanfalls aufmerksam im Auge behalten hatte, war so erstaunt, daß er ganz zu schreien vergaß. Sie war von ihrem alten Entsetzen gepackt und sah und hörte nichts, bis sie plötzlich etwas Warmes an der einen Hand fühlte; die hing schlaff herab, da sie sich in ihrer Verzweiflung im Stuhl hintenübergeworfen und mit der andern Hand das Gesicht bedeckt hatte.

Jetzt sah sie auf und in ein verwundertes Gesichtchen hinein, in das tränenüberströmte Gesichtchen ihres eignen, lieben, roten Buben. Sowie er merkte, daß sie ihn anguckte, versuchte sein Mäulchen sich zum Kusse zu spitzen; nun streckte er auch die Hände aus. Und nun wurde die kleine, flache Nase zu der großen flachen Nase hochgehoben, und ihr Mund flüsterte und plauderte und koste und küßte über das ganze Gesichtchen und Köpfchen hin. Die Ärmchen hatte er um ihren Nacken geschlungen.

Jetzt griff sie nicht mehr nach dem Buche, sondern behielt ihren Jungen. Und er guckte nicht ein einziges Mal nach dem Tische, wo das Buch lag.

Das war ihr letzter großer Kampf. Natürlich gab es noch tausend kleinere; aber keinen, der länger als ein paar Minuten gedauert hätte.

2. Auf dem »Berge«

Sie hatte ihn immer unter ihrer eignen Aufsicht. Für das lebhafte, begabte Kind mußte man ein waches Auge haben. Trotzdem erreichte sie mit gutem Mut seinen vierten Geburtstag. Auch an diesem Tage passierte etwas Entscheidendes.

Er hatte ein paar Kameraden; und da er gewohnt war, allein zu sein, wollte er immer alles nach seinem Kopfe durchsetzen und war also durchaus nicht nett zu den Jungen.

Nun bekam er zu seinem vierten Geburtstag unter andern Geschenken ein Buch von Brüderchen und Schwesterchen, und darin stand, wie lieb Brüderchen immer gegen Schwesterchen war, o, und so fügsam und gefällig! Und die Federzeichnungen im Buche zeigten, wie artig Brüderchen sich immerzu mit Schwesterchen herumschleppte.

Tomas jedoch zog eine andere Konsequenz aus dem Buche. Er fragte, warum er denn nicht auch ein Schwesterchen habe, ob er nicht auch eins kriegen könnte.

Tomasine Rendalen hatte freilich oft genug daran gedacht, daß er ja in der Tat eine Schwester hatte; aber immer wie an etwas, was sie gar nichts anginge. Auch jetzt noch fand sie, es gehe sie gar nichts an. Aber er quängelte und quälte so lange, bis sie etwas ernstlicher darüber nachdachte.

Wie, wenn nun seine kleine Schwester Not litte? Das Gut kam ja doch von John Kurt, und es ging vorzüglich vorwärts mit der Wirtschaft, dank seinem eignen Plane, »die Gärten den Berg hinaufzuziehen«, d. h. also, sie fast um das Doppelte zu vergrößern.

John Kurts Kind mußte selbstverständlich ein hinreichendes Auskommen haben; darüber konnte kein Zweifel herrschen.

Sie erkundigte sich nach dem Kinde und hörte, daß ihre kleine Namensschwester bei ihrer Großmutter Marit Stöen – »Mutter Stöa« genannt – lebte, der Witwe eines Lotsen, der sich an diesen Küsten einen tüchtigen Namen erworben hatte.

Mutter Stöa wohnte oben auf dem »Berge«, also links vom Gut, und Tomasine nahm sich vor, das Kind aufzusuchen. Aber besondere Eile hatte es damit nicht; gelegentlich mal an einem Sonntage, wenn recht schönes Wetter wäre. Nun traf es sich so, daß das Wetter einen Sonntag nach dem andern schlecht war, so daß es voller Sommer wurde, ehe ein Sonntag kam, der ihr Lust zum Gehen machte.

Andreas Berg begleitete sie.

Der Weg führte links vom Markt am neuen Friedhof vorüber und dann ins Land hinein; aber als sie nach dem »Berge« abbogen, war der Weg mehr eine Pfütze als ein Weg: man hatte bis jetzt die ärmeren Leute immer bauen lassen, wie sie wollten, und leben lassen, wie sie konnten; jetzt wurde jedoch an einem ordentlichen Wege gearbeitet.

Unten am Strande drängte sich Boot an Boot so dicht wie möglich; denn hier an der linken Seite des Berges lagen sie sicher und geborgen. Um die Boote herum und darin wimmelte eine Unzahl von Rangen, die Spektakel für tausend machten.

Tomasine dachte bei sich, ob wohl die, die sie suchte, darunter sei. Sie guckte in jedes kleine Wildfangfrätzchen hinein, das ihr entgegenkam, ob sie vielleicht bekannte Züge entdeckte. Besonders vergnüglich war das freilich nicht gerade.

Als sie nach Marit Stöen fragte, rotteten sich die kleinen Lumpenbälger um sie zusammen, und mindestens zwanzig zeigten weiter hinauf, ganz nach oben; aber was sie dabei alle auf einmal plapperten, konnte sie unmöglich verstehen. Stehen bleiben wollte sie auch nicht länger, und so machte sie sich denn zusammen mit Andreas Berg daran, alle die Korkzieherwindungen hinaufzusteigen. Das Gegröle von unten folgte ihr, aber keins von den Kindern, woraus sie schloß, daß keins von ihnen etwas mit Mutter Stöen zu tun habe. Der Weg war in den Felsen hineingeschlagen, an einigen Stellen war mit ein paar Stufen nachgeholfen, an andern nur durch eingehauene Tritte. Er wand sich von rechts nach links, von links nach rechts; nicht vier Häuser standen in derselben Richtung. Und wie wunderlich sie aussahen! Ja, einige waren eigentlich nichts als Schiffskajüten mit einem Bretterverschlag daneben. An vielen lag die Treppe zum zweiten Stock außerhalb des Hauses; an einzelnen lief sie sogar übers Dach bis an eine Dachkammer, die später draufgeklebt war. Mehrere Häuser waren so gebaut, daß der untere Stock seinen Ausgang nach Westen hatte, nach der Straße, die in gleicher Höhe mit der Tür lag, während das obere Stockwerk seinen Ausgang nach Osten hatte, auch nach einer Straße in der Höhe der Tür. Fast alle Häuser hatten komische Anbauten, meist eine Hälfte von einem Boot, oder auch ein paar Bretterwände, oder Mauerreste mit einem umgekippten Boot als Dach darüber.

Überall wanden sich kleine Gartenstreifchen hindurch, oft an den unglaublichsten Stellen, und so schmal, daß kaum zwei Rüben nebeneinander wachsen konnten. Ein scharfer Gestank, hin und wieder von Teergeruch angenehm gemildert, lagerte schwer über dem »Berge«, bevor er aufstieg und sich wie ein fetter Opferduft in den Sonntagshimmel hinein verteilte – je nach den Daseinsbedingungen in diesem Winkel der Welt.

Der Kinderlärm von unten her bimmelte wie eintöniges Glockengeläut, dann und wann durchkreischt von Gewinsel. Ein Hahn krähte, im Hafen bellte wohl einmal ein Schiffshund ein vorüberruderndes Boot an und bekam Antwort von einem zottigen Kameraden hier oben auf dem Berge.

Sonst war es vollkommen still; sie hörten nichts als das Knirschen ihrer eigenen Schritte auf dem steinigen Wege, und als sie etwas höher hinaufkamen, dazu ein wütendes Kindergeschrei.

Tomasine schaute hinunter, über die Inseln und Sunde aufs weite Meer hinaus; spiegelglatt und ruhig lag es unter dem hohen Gewölbe. Unten in den Straßen der Stadt nur hier und da ein vereinzelter Spaziergänger und hin und wieder kleine Kindergruppen. Aber die Entfernung war zu groß, als daß irgend ein Ton von dort hätte herausdringen können. Zur Rechten das Gut, das gerade die erste Rauchsäule aus dem Küchenschornstein emporschickte. Hier oben rauchten längst alle Schornsteine; auch in der Stadt fing allmählich einer oder der andre an.

Der Tag war warm; sie krabbelten und kletterten und schwitzten den steilen Berghang hinauf, und Tomasine mußte an alle denken, die hier Abend für Abend nach harter Arbeit diese zwanzig oder dreißig, ja vielleicht fünfzig Treppenhöhen hinaufsteigen mußten, hinauf zum Abendbrot, zum Holzhacken und zum Schlafen.

Kein Mensch begegnete ihr. Aber hier und da saßen Männer, meist alte, mit der Pfeife im Munde vor der Tür; die Arbeiter hielten wohl Siesta vor dem sonntäglichen Mittagessen; die Frauen standen am Herde. Hie und da sah man ein Mädchen müßig auf einer Treppe sitzen im Geplauder mit einer andern, die wohl herübergekommen war, um sich mit der Freundin zum Abendvergnügen zu verabreden. Dann wieder einen jungen Matrosen, der, die Pfeife im Munde, die Hände in den Hosentaschen, an die Wand hingeflegelt mit einem Mädel schwatzte, das bescheiden vor ihm stand.

Etwa auf halbem Wege kamen sie an einer Gruppe meist halbwüchsiger Burschen und Mädchen vorüber, die um einen großen Stein herum gelagert waren. Kein Lärm, ja nicht einmal Geplauder war zu hören. Tomasine hatte sie nicht bemerkt, ehe sie dicht davor stand. Mitten in dem gräßlichsten Geruch lagen sie; aber das schien sie nicht allzusehr zu genieren. Was mochten die hier nur treiben? Zu sehen war das an nichts. Sie erkundigte sich nach dem Wege. Ein paar erhoben sich halb, aber nur einer von den älteren antwortete und zeigte auf ein rotes Haus mit weißen Fensterrahmen. Sie hatte gerade ihre Brille geputzt und konnte nun das Haus erkennen, aber zugleich las sie in sämtlichen Mienen, daß jeder sie kannte und jeder erriet, was sie gerade bei »Mutter Stöa« zu suchen hatte; keins sagte etwas, doch hörte sie hinter sich ein leises Tuscheln und Kichern, als sie weiterging.

Sie fragte Andreas Berg, was die wohl da treiben mochten, so in aller Stille. Andreas meinte, die Burschen spielten wohl Karten, und die Mädchen guckten zu. Da es jedoch Kirchenzeit sei, versteckten sie die Karten, wenn Fremde vorüberkämen.

Tomasine stellte in Gedanken Vergleiche an zwischen der Arbeiterbevölkerung hier in einer kleinen norwegischen Stadt und der in den großen Städten des Auslandes und geriet in eine Kette von Erinnerungen hinein.

Doch daneben beschäftigte sie noch etwas andres – etwas Unangenehmes. Es wollte gar nicht aufhören – was war es nur, was mochte das nur sein? ...

Ach, richtig, das rabiate Kindergeschrei da oben auf dem Berge, das war's. Jetzt, da sie ihm näher kam, fühlte sie es wie etwas Peinigendes in sich; das war ja ganz das frühere Wutgebrüll ihres eigenen Jungen.

So ganz und gar dasselbe im Klange der Stimme, in der Farbe, der Energie, daß es ihr hundert schmerzhafte Nadelstiche versetzte ... Es war doch nicht am Ende gar seine Schwester, die da oben brüllte? ...

Heiß war sie schon vordem gewesen, jetzt fühlte sie sich ganz glutübergossen. Etwas von der alten Angst packte sie sogleich, wirre Gedanken aus der Zeit der Kämpfe mit ihrem Jungen ...

... »Aber, gnädige Frau, Sie gehen ja so schnell!«

Andreas Berg rief es unten vom Wege herauf.

Sie konnte ihn kaum sehen; ihre Brillengläser waren ganz feucht geworden. Sie nahm sie ab, putzte sie, atmete tief auf und mußte lachen. Berg kam ihr langsam nach. Indessen das Kindergeschrei dauerte fort; doch jetzt, da sie ihre Vernunft wieder in der Gewalt hatte, entdeckte sie, daß das Schreien ja von rechts kam, während sie das Haus der Marit Stöen – das rote mit den weißen Fensterrahmen – fast dicht vor sich am Berghang zur Linken sah; es war das größte hier oben und war ihr ja vorhin gezeigt worden, sie konnte sich nicht irren. Sie fühlte sich förmlich erleichtert, als sie darauf zuging.

Man konnte aber nicht direkt darauf zugehen; man mußte einen Bogen machen und längs des Gartenzaunes gehen, der ebenfalls weiß gestrichen war, wenn es auch schon etwas lange her war. Die beiden Fenster des Hauses gingen nach dem Garten heraus; man hatte eine weite Aussicht hier oben. Aber die Tür lag an der linken Schmalseite; sie hatte einen kleinen Vorbau, zu dem ein paar Treppenstufen hinaufführten.

Ganz still war es drinnen und draußen. Aber der Kinderjubel von unten und die Kinderwut von drüben stießen hier oben in der Luft zusammen. Der Garten, an dem sie entlang gingen, war der größte, den sie hier auf dem Berge gesehen hatten. So recht eigentlich »wohlgeordnet« war jedoch weder Haus noch Garten; aber es war gemütlich hier – oder wie man's nennen wollte ... Tomasine fand nicht gleich das rechte Wort; denn jetzt sah sie ein Kind mit dunkeln Haaren und quicken, erstaunten Augen, das gerade von der Türschwelle aufstand; es hatte irgend etwas im Schoße, was es fallen ließ, um eiligst in die Stube hineinzubürsten.

Gleich darauf erschien eine große, ältliche Frau mit dunkelm Haar, das noch nicht gekämmt war, und einem hübschen, frischen Gesicht, das noch nicht gewaschen war. Sofort erkannte die Frau Tomasine, die jetzt die Stufen hinaufstieg und in den Vorbau trat.

Die Frau lächelte.

»Will die Frau vielleicht zu uns?« fragte sie.

Tomasine hatte wieder mit der dummen Brille zu tun. Und als sie sie wieder aufsetzte, hatte die Frau inzwischen in der Stube ein bißchen aufgeräumt, so gut es sich in der Eile machen ließ, denn das Mädel hängte sich ihr mit beiden Händen an den Rock, und zwar immer so, daß die Kleine, sowie die Frau sich umdrehte, den Blicken der fremden Dame entkam. Andreas Berg war draußen geblieben.

Marit Stöen machte Entschuldigungen, weil's in der Stube so unordentlich aussehe. Das tat sie mit einer sympathischen Stimme und einer natürlichen Gewandtheit. Es gehe ja schon auf Mittag, sagte sie, da müsse es eigentlich schon anders hier aussehen; aber gestern abend wär hier so ne Art Tanzvergnügen gewesen; »er hat halt viel zu lange gedauert, der Spaß.« Auch in die Kammer könne sie die Dame nicht hineinbitten; denn »da sieht's noch bunter aus,« lachte sie. Die Stube und der Kaffee, den sie schenke, bringe ihr gar nicht wenig ein, fügte sie hinzu. Die Stube sei die größte an dieser Seite des Berges, und der Berg, der wäre sozusagen in zwei Teile geteilt. »Die aus unserer Seite wollen nix wissen von denen auf der andern Seite,« lachte sie.

Tomasine Rendalen hatte sich gesetzt. Aber als sie sich in der Stube umsehen wollte, entdeckte sie, daß die Brille erst wieder herunter mußte; ihr war doch heißer geworden, als sie gedacht hätte. Mittlerweile erkundigte sie sich nach der Mutter des Kindes.

»Die Petrea, na, die is doch verheiratet,« gab die Frau zur Antwort.

»Verheiratet?«

»Ja, mit nem Steuermann, Aslaksen heißt er. Das is n tüchtger Kerl,« erzählte sie; »der wollte sie bardus haben.« Sie wohnten nicht mehr hier in der Gegend, erklärte sie und erzählte umständlich, wie es ihnen ginge. Aslaksen solle bald sein eigenes Schiff kriegen.

Das Kind lugte von Zeit zu Zeit hinter Großmutters Rock hervor, und jedesmal betrachtete Tomasine es scharf. Es hatte wirres, dunkles Haar, ganz wie die Großmutter, und war im übrigen eine Mischung von John Kurt und der, die da vor ihr stand – eine Mischung, die – – ja, sie konnte sich nicht helfen: die widerlich auf sie wirkte. Und doch war das Kind hübsch. Die Augen – es waren die wilden Kurt-Augen, darüber war kein Zweifel; aber zugleich war etwas Lachendes darin.

»Das Kind soll also bei dir bleiben?« fragte Tomasine und deutete mit dem Sonnenschirm dahin, wo es sich wieder verkrochen hatte.

»Nu freilich, das Mächen – für das is gut jesorgt,« antwortete die Großmutter und kriegte es beim Kopfe zu fassen. »Erst, da hat doch der Herr John für die Petrea gezahlt, als sie ins Unglück kam; na und ne Taufe hat er jejeben – aber schauderhaft sein, sag ich Ihnen. Und denn hat er ihr noch n Sparkassenbuch jeschenkt mit hundert Dalern drin; und von Herrn Kurt seinen Vater hat sie noch mit eins reichlich ebensoviel geerbt.«

Und nun fing Marit Stöen zu weinen an. Zu weinen aus Dankbarkeit gegen John Kurt, der seinem eigenen Kinde zweihundert Taler gegeben hatte! Von solchen Verhältnissen hatte Tomasine bis zu diesem Augenblick keine Ahnung gehabt.

»Habt Ihr noch etwas von dem Gelde?«

»Ob wir noch was von dem Jelde haben?« lachte Marit. »Na, das war mir noch schöner. Sollte das kleene Bißchen da vielleicht schon allens uffgepappt haben? – nee.«

Sie lachte, kriegte den Krauskopf wieder zu fassen und zerrte ihn hervor, aber sogleich schlüpfte das Kind wieder hinter den Rock.

»Ist Euch das Kind nicht sehr im Wege, wenn Ihr allein seid und arbeiten wollt?«

»I wo! Wir nehmen's nich so jenau. Es muß eben hübsch stilleken sitzen,« sagte sie und drehte sich lachend halb nach dem Kinde um.

»Ist sie leicht zu leiten? Nicht eigensinnig?«

»Na, das jeht so,« lachte Marit, »aber sonst 'n lust'jer kleiner Balg!«

Jetzt zog sie das Kind mit Macht hervor; aber die Kleine stemmte sich dagegen.

»Nanu man nich so 'n albernes Jetue.«

Aber Tomasine war gar nicht soviel dran gelegen, in nähere Berührung mit dem Kinde zu kommen; sie stand schnell auf und sah sich in der Stube um. Der Herd stand drüben in der Ecke nach der Kammer zu; hier am Fenster stand der Tisch mit den Überbleibseln des Frühstücks, einer Kaffeetasse und einem Milchnapf mit kalten Grützwürfeln drin. Gegenüber an der Wand, also zwischen dem Herd und der Türwand, hingen ein paar Daguerrotypien, und ein paar Farbendrucke waren angenagelt. Die Daguerrotypien stellten vermutlich Aslaksen und Petrea dar. – Tomasine blickte drüber hinweg, ohne sie anzusehen; von den Bildern stellte das eine ein großes Schiff mit vollen Segeln vor, das andere den neuen Kaiser und die Kaiserin von Frankreich. Von der hatte Tomasine noch kein Bild gesehen, sie trat deshalb näher. Der Kaiser hatte eine große Nase und präsentierte sich als ein etwa vierundzwanzigjähriger Jüngling, und sie war halb nackt, aber trotzdem ein sehr unschuldiges, kleines Mädchen von kaum sechzehn Jahren.

»Ach, mit solche Sachen ziehen sie hier rum und verkaufen sie,« erklärte Marit. »Mir kams janz spaßig vor, daß so ne feine Dame hier hängen sollte. Wo sie doch eigentlich nich hinjehört. Na ja, er natierlich ooch nich, er natierlich ooch nich!«

Tomasine war jetzt in die offene Tür getreten.

»Mein Gott, was ist das nur für ein Kind, das da fortwährend so gräßlich schreit?« fragte sie. Marit lachte: »Der? ach, das is bloß dem Lars Tobiassen sein Bengel.« »Der tut nischt wie jrölen,« hörte man plötzlich hinter Großmutters Rock hervor; in ihrem Eifer war die Kleine ganz zum Vorschein gekommen. Aber vor Schreck über ihre eigene Stimme steckte sie eiligst den Kopf wieder in das Kleid. »Kennt denn die gnäd'je Frau den Lars Tobiassen nich?«

Tomasine wurde aufmerksam. »Nein, wer ist das denn?«

»Tja, das is nich so leicht zu sagen,« antwortete Marit; »er is allens mögliche; n Saufbold is er erstens mal, und denn is er jetzt Fleischer jeworden ... denn in der Brangsche soll das ja nich so viel machen, sagen se. Hat die gnäd'je Frau ihn nie gesehen?«

»Nein, wieso denn eigentlich?«

»Na ja, ich meine ja bloß, ich mags jar nich sagen,« sie blickte Tomasine schelmisch an.

»Warum denn nicht?«

»Ich sag doch bloß, was die Leute sagen. Ich hab's mir wahrhaft'ch nich ausgedacht!« lachte sie.

»Was denn?«

»Se sagen, er wär auch n Kurtscher, das heißt natürlich keiner von den Letzten ihren, einer von den Ollen.« Sie sah, welchen Eindruck das auf Tomasine machte, und fügte geschmeidig hinzu:

»Vielleicht is es auch nur Klatsch. Er hat gar keine Ähnlichkeit mit denjen'gen, welche ich jesehen hab ... Der hier, das is der reinste Kraftprotz!«

»Nun, das sind viele von den Kurten auch gewesen,« antwortete Tomasine, um doch etwas zu sagen, trat ans Fenster und sah hinaus.

»Ja, das hab ich auch jehört. Es soll zwei Sorten von Kurten jegeben haben,« versetzte Marit, »welche fürchterlich dick und fett, und welche janz knöcherig. Aber gut sind se doch jewesen – fast alle. Da können nu de Leute sagen, was se wollen; gegen arme Leute, da – –« ihre Hand suchte nach dem Kinde.

In demselben Augenblick wendete sich Tomasine um und gab Marit ein Zeichen. Hinter dem Gartenzaune hatte sich eine ganze Schar Leute zusammengedrängt. Dort stand auch Andreas Berg und redete mit einigen von ihnen; vielleicht um zu verhindern, daß sie sich der Tür näherten. Meist waren es halbwüchsige Burschen und Mädchen, und jetzt sah sie, daß es dieselben waren, an denen sie vorhin unten vorbeigekommen war – die um die Steinplatte herum gelegen hatten. Und alle gafften jetzt nach dem Fenster herauf.

»Jesses, so n Leben,« sagte Marit.

»Siehst du den zerlumpten Buben da mit dem hellen Krauskopf?« fragte Tomasine.

»Nu freilich, den wer ich doch sehn!«

Tomasine hörte ihrer Stimme an, daß Marit merkte, was Tomasine wissen wollte.

»Der Bengel ist dem jungen Konsul Fürst seiner; der verleugnet den Vater ooch nich,« fuhr Marit fort. Und wahr war es. Mit diesen blonden Locken und diesen lachenden Augen hatte Tomasine oft – sehr oft getanzt. Sie wurde feuerrot.

»Nu, du lieber Jott, dafür können doch Sie nischt! ... Aber jetzt will ich die gnäd'je Frau auch mal was fragen. Kennen Sie das Mächen da, die da steht und ihren Rock mit den Händen zusammenhält – hat wohl ihr Band kaputjerissen, das arme Jöhr –, die da mit den Haaren, die nich gelb und nich rot sind, und mit der lachhaft weißen Haut. Nu ja, die da ... Nanu? können Se wirklich nich sehen, was das für eine is?«

Tomasine hatte es längst gesehen. In den großen Erziehungsanstalten des Auslandes hatte sie Übung darin bekommen, die Eltern an den Kindern und die Kinder an den Eltern zu erkennen. Aber sie schwieg.

»Na, das is doch natürlich n kleenes Fräulein Engel – das sieht doch jeder!« lachte Marit, »wenn sie auch nich grad in Samt und Seide jeht.«

Tomasine trat vom Fenster zurück. Marit lachte wieder, und diesmal nicht ohne eine gewisse Bosheit. »Hier oben bei uns, da hat man so n bißken was wie die Kehrseite von de Medallje,« fügte sie hinzu, »ja, ja, so is es.«

Tomasine beeilte sich, zu sagen, daß sie dem Kinde jährlich sechzig Speziestaler zu geben gedenke. Hier wären die ersten dreißig für das verflossene Halbjahr.

Brauche sie irgend welche andre Hilfe, so solle die Frau nur zu ihr kommen und es sagen. Wenn das Kind größer würde, dann wollten sie sehen, was weiter zu tun wäre.

Marit stand da mit dem Gelde in der Hand. »Ach Jotte nee, so viel Jeld – das kann man ja jar nich verlangen! Wenn alle so jut wären gegen die, die ins Unglück kommen, denn – –« und sie fing zu weinen an.

Als das Kind hörte, daß draußen Leute am Gartenzaun wären, hatte es den Rock fahren lassen und sich hervorgewagt. Verstohlen hatte es sich in den Vorbau geschlichen, um durch eine Ritze hinauszuluxen. Jetzt kam es wieder hereingestürzt, und in demselben Augenblick erscholl lautes Gelächter von draußen. »Lars Tobiassen!« konnte die Kleine nur ängstlich hervorstoßen und packte dann mit beiden Händen Großmutters Rock und wickelte sich ganz hinein.

Tomasine kriegte es mit der Angst, er könnte hereinkommen, und ging deshalb eiligst auf die Tür zu, ohne auch nur Adieu zu sagen; sie knüpfte dabei ihre Hutbänder, die sie gelöst hatte, und wäre infolgedessen beinahe hingefallen, wodurch sie in noch größerer Geschwindigkeit auf die Treppe hinauskam. Lars Tobiassen war gerade vorübergelaufen. Das Gelächter da draußen war wahrscheinlich ausgebrochen, als er nach der linken Seite des Hauses hinübertorkeln wollte; er war total betrunken. Tomasine trat heraus, gerade als er, den Rücken ihr zugewendet, das erste Hindernis genommen hatte; das Kind schrie ein Stück weiter weg. Sie sah seinen kurzgeschorenen Nacken – wo hatte sie doch diesen bronzefarbenen Stiernacken schon mal gesehen? Und den kleinen Haarbüschel mitten drin? O Gott, jener entsetzliche Nacken, der über ihr saß an dem Abend, da Klein-Tomas kommen sollte! Der Nacken des ältesten Kurt, ja, der war's! Und jetzt rief der Nacken zu dem plärrenden Kinde hinüber.

»Na warrrt' nur, dumme Jöhre! Ich wer' dich – der Teufel rrrreiß mich – schrrrreien lehren.«

Tomasine lief die Treppe hinunter, am Garten, an der Menge vorüber. Sie wollte das Fluchen nicht noch einmal hören, auch das Hauen nicht – und vor allem nicht das wahnsinnige Kindergeschrei! ... Mehr laufend als gehend kam sie an den Leuten vorbei, die sie durchließen, aber nur ein paar von den Ersten, dann stieß sie auf andere, und als es bergab ging, sprang sie von Stufe zu Stufe, und es war ihr, als hörte sie hinter sich lachen; aber sie rannte nur immer schneller, so daß sie fortwährend stolperte und nah am Fallen war. Trotzdem hörte sie unablässig hinter sich das Kinderentsetzen, den Branntweinbaß und dann noch das Gekeife eines wütenden Frauenzimmers. Hunde erwachten und fingen zu bellen an; aber nicht nah genug, um das Geschrei da oben zu übertönen, dieses entsetzliche Geschrei, bis endlich – Gott sei Dank! – die Glocken von zwei Kirchen in der Stadt fast im gleichen Augenblick zu läuten anfingen; und die behaupteten von jetzt an die ganze Luft für sich allein.

Sie war jetzt bis an die große Steinplatte gekommen, wo vorhin die jungen Leute gesessen hatten. Jetzt war der Platz leer, und erschöpft sank sie nieder und brach in krampfhaftes Weinen aus ...

Endlich holte Andreas Berg sie ein. Sie merkte seinem würdevollen Schritt an, daß sie sich nicht richtig benommen hatte. Sie wagte auch nicht, sitzen zu bleiben, bis er ganz nah war. Ohne sich umzusehen, stand sie auf und ging weiter. Ihre Knie schlotterten; aber jetzt ließ sie sich nicht mehr von bösen Geistern jagen. Die gesegneten Kirchenglocken retteten sie davor, das andere da oben zu hören; und sie klangen fort und fort, bis sie ganz unten war.

Die Kinder waren nicht mehr da; es war inzwischen Mittag geworden. Eine Viertelstunde später saß auch sie daheim, mit ihrem kleinen Liebling auf dem Schoß. Er war höchst verwundert über ihre Aufgeregtheit und ihre Tränen. Und er versicherte ihr sehr eifrig, daß Klein-Tomas den ganzen Morgen »fubba atig« gewesen sei.

Dafür dankte sie ihm ein über das andere Mal mit Streicheln, Umarmungen und Küssen; aber sie weinte nur um so heftiger.

Sie fühlte jetzt, wie häßlich es von ihr gewesen war, daß sie seiner kleinen Schwester nicht einmal die Hand auf das Krausköpfchen gelegt hatte, obschon auch sie »fubba atig« gewesen war. Tomas' Spielsachen lagen auf dem Boden herum; sie dachte jetzt an das mit Lappen umwickelte Holzscheit, das sein Schwesterchen hatte fallen lassen, als sie erschrocken von der Türschwelle aufgesprungen war. Tomasine hatte es wohl gesehen; sie wäre beinah darüber gefallen, als sie hinausgestürmt war. Aber nichts hatte sie weich gemacht. Was konnte das arme Kind dafür, daß es denselben Vater hatte! Es war doch wohl Tomasine selbst, die heute nicht so ganz »fubba atig« gewesen war ...

3. Kinder

Die nächste Folge dieses Besuches war, daß sie einsah, sie müsse jemand haben, mit dem sie sich aussprechen könne; denn nun wußte sie, es gab noch mehr Erbübel in der Welt als die der Kurte; und darüber wollte sie Bescheid haben. Sie wählte ohne Zögern den Mann, vor dem sie die tiefste Ehrfurcht hegte, nämlich den »alten« Green. So gewiß wie der Nachmittag selbst kam auch der alte Green dort vorbei; sein Spaziergang führte ihn am Garten vorüber und dann nach rechts, wo früher der Weg gegangen war und jetzt ein Fußpfad in den Wald hinaufführte.

Tomasine paßte ihm am Gartentor auf. Aber in der letzten Zeit ging er fast nie allein; immer war Nils Hansen, der Schuster, bei ihm, das Original der Stadt, der übrigens mit einer Frau verheiratet war, die Tomasine vom Auslande her kannte und mit der sie befreundet gewesen war.

Eines Tages, als Tomasine sich wieder in der Nähe der Gartenpforte zu tun machte, um aufzupassen, ob der Pastor nicht allein käme, hörte sie schon von weitem seine und Hansens Stimme unten am Abhang. Damals fingen in den nordischen Landen die Mormonen, die zu jener Zeit ihre ersten Sendboten ausschickten, bekannt zu werden an; die Zeitungen enthielten stets allerlei über die neue Lehre. Schuster Hansen sprach sehr laut. »Die Mormonen?« hörte sie ihn sagen; »wir hier zulande sind grad so gut Mormonen wie die in Amerika. Wie viele Frauen hat nicht so 'n Kerl, eh er vorm Altar steht? Die Dollsten, das sind die Kaufleute. Na, aber andre ooch, andre ooch.«

Sie kamen näher, ehe der Pastor antwortete: »Ja, sehen Sie, Hansen, ich bin der Ansicht, daß noch wenige, sehr wenige Familien sich zur Monogamie – zur wirklichen Monogamie entwickelt – –

»Was is 'n das für Zeugs?«

Der Pastor blieb stehen: »Monogamisten – die nur eine Frau haben; Polygamisten, das sind die mit mehreren.«

»Ach soo, ja, ja!«

»Die Familien, die sich in Wahrheit zur Monogamie durchgerungen haben, meine ich, sind nicht so zahlreich; die meisten sind noch Polygamisten.«

Wieder gingen sie weiter.

Schuster Hansen fiel ein: »Nu eben, nu eben, das is, hol's der Deibel, janz meine Meinung.«

Der Propst: »Der Fortschritt besteht darin, daß diese sich schämen ...«

– – – Sie hörte nichts weiter.

»Es gibt noch mehr Erbübel in der Welt als die der Kurte,« dachte Tomasine abermals. Wie hätte man einen John Kurt sonst auch wohl dulden können? Ja, nicht nur das, er war sogar beliebt gewesen. Er hatte sicherlich bei den meisten geheimnisvolle Saiten berührt.

Da sie nicht den Mut hatte, den Pastor ohne weiters aufzusuchen, ging sie erst zu Nils Hansen. Von dem pflegte man zu sagen, daß er sich von dem Haß der ganzen Stadt nähre, und zwar im allerbesten Wohlergehn. Sein Verbrechen bestand darin, daß er vor Jahren die Kleinbürger zum Kampfe gegen die Großen organisiert hatte; d. h. eigentlich wohl mehr darin, daß er gesiegt hatte. Er hatte ihnen die Gemeindevertretung gewonnen, hatte die Kirchenstühle erobert, so daß jetzt alle gleichen Rang und Platz dort hatten; er hatte überall Kontrolle eingeführt und das Budget in einer Weise geordnet, die die Leitenden rasend verkehrt fanden. Sein ärgster Schurkenstreich war vermutlich der, daß er mit Hilfe von auswärtigem Kapital eine Sparkasse für kleinere Leute errichtet hatte, genannt »der Sparschilling«, und daß diese vielen dazu verhalf, ihre Verhältnisse zu verbessern und noch zahlreicheren sogar zur Unabhängigkeit. Auf allen den alten, guten, privilegierten Wegen lagen seine gescheiten Argumente und untergruben das Erdreich.

Es hatte allgemein große Heiterkeit erregt, als eine junge Lehrerin der Stadt, ein schönes, blondes Mädchen von mehr als gewöhnlicher Bildung – zudem noch mit der Aussicht auf Vermögen –, mehrere »ausgezeichnete Partien« ausschlug, um sich mit dem gräßlichen, rohen Schuster Hansen zu verheiraten. Obendrein war sie sogar noch vollständig verliebt in ihn. So oft von ihm gesprochen wurde, lächelte sie und wurde rot übers ganze Gesicht, geschweige denn, wenn er selber leibhaftig im Anmarsch war, ein wenig schief, mit seinem drolligen Gesicht, den blinzelnden Augen und den ungeheuern Schultern und Händen. Hinter ihrem Rücken wurden die herrlichsten Witze über sie gemacht; unter anderm darüber, daß sie als Braut und später als junge Frau für ihren Hansen eigens Schule gehalten hatte, womit er sehr renommierte. Na ja, meinte man, sie würden später schon noch Schule genug durchzumachen und diese teuer zu bezahlen haben.

Sie war älter als Tomasine, aber sie war seinerzeit ein paar Monate mit ihr in England zusammen gewesen. Als Tomasine nach Hause kam, war Laura schon ein Jahr verheiratet. Infolgedessen war sie aus dem Kreise, in dem Tomasine verkehrte, herausgekommen, Tomasine aber suchte sie häufig auf, weil sie das kleine, gesunde, verständige Frauchen gern hatte.

Eben darum zürnte sie ihr so sehr, als sich herausstellte, was für eine Sorte Mensch John Kurt war, daß sie ihr nicht mit einem Worte abgeraten hatte, ihn zu nehmen. Nach Johns Tode hatte Laura wiederholt Tomasine zu sprechen versucht; doch immer vergebens.

Jetzt aber dachte Tomasine bei sich: Wenn fast alle Frauen sich über irgend etwas in ihrer Ehe zu beklagen haben und sich doch keine dadurch vom Heiraten zurückschrecken läßt – wie kann ich da verlangen, daß sie mir anders raten, als sie vielleicht selbst gehandelt hätten?

Und so ging sie denn zu Laura. Hansens wohnten in einem kleinen altertümlichen Hause am Markt neben dem Fürstschen; das putzige Häuschen mit dem Schlupfloch auf der einen Seite und dem großen Torweg auf der andern war das Erbe, das Laura in Aussicht gehabt und jetzt bekommen hatte. Laura war eine zarte aber wohlgebaute Frau mit klaren Zügen. Manche fanden sie keck, andere schüchtern. Das kam wohl drauf an, welche Saiten man bei ihr berührte. Die nannten sie redselig, jene wortkarg. Sie richtete sich eben nach den Personen und den Verhältnissen.

Die beiden Freundinnen hatten sich nun seit fünf Jahren nicht gesehen. Laura saß in der Stube hinter dem Laden, an dem Fenster neben dem Schlupfloch, und nähte. Verwundert, etwas rot und in wachsender Erregung erhob sie sich. Da stand Tomasine also wirklich wieder vor ihr!

Beide waren anfangs etwas steif. Auf einem Fußschemel saß ein kleines, dralles, schwarzhaariges Mädel und lernte nähen; sie schaute die beiden aus klugen Augen an; dann wurde sie hinausgeschickt; die Mutter sah gleich, daß die beiden ehemaligen Freundinnen allein sein und sich aussprechen mußten.

Nach verschiedenen Einleitungen brachte Tomasine ihre Klage gegen sie, sowie gegen alle ihre Freundinnen vor; rücksichtsvoll, aber doch verständlich. Laura antwortete:

»Wenn ein Mädchen sich nicht selbst von einem Leben, wie es John Kurt führte, abstoßen läßt, dann können andre wohl kaum etwas dabei tun.«

Sie habe selbst mehrere Männer verschmäht, eben weil sie in dieser Hinsicht zweifelhaft oder mehr als zweifelhaft gewesen sei. Von Hansen aber habe sie gewußt, daß er in diesem Punkte echt war.

Die große Tomasine wurde kleiner unter den sicheren Augen und den ruhigen Worten der kleinen Laura. Von dem erhabenen Piedestal der Anklägerin sank sie auf das Niveau der Angeklagten herab. Und der Fall war nicht klein. Mehrere Jahre lang hatte sie sich in vornehmer Abgeschlossenheit da oben gehalten. Und nun – nur ein paar Worte, in ein paar Minuten gesprochen – und da lag sie.

Ihr Respekt vor den eigenen Fähigkeiten sank, ja einen Augenblick war sie sogar ganz unglücklich über ihre Kurzsichtigkeit. Es war ihr ordentlich ein Bedürfnis, zu sondieren, ob sie vielleicht in andern Dingen ebenso dumm wäre. Doch bald gewann sie ihr Gleichgewicht soweit wieder, daß ihr klar wurde, zum großen Teil sei es doch wohl die Schuld der Verhältnisse gewesen, daß sie die Dinge so einseitig betrachtet hatte.

Sie saß da und sagte nichts und hörte nichts; sie war ganz aus den Fugen. Laura benutzte diese Gelegenheit und ging hinaus, um Schokolade zu kochen und ihren Mann zu bitten, Tomasine derweil Gesellschaft zu leisten. Leider hatte er im Augenblick keine Zeit; aber er freute sich doch so sehr über Tomasines Besuch und mußte schnell mal den Kopf zur Tür hereinstecken. Er hatte sein Schurzfell vor und hielt in der Linken den Spannriemen. Tomasine stand auf, um ihm die Hand zu geben. Aber lachend hielt er sie hin: sie war nicht zum Anfassen »Ich wollte nur einer alten, guten Freundin recht, recht schönen guten Tag sagen!« sagte er in seiner eigenen Weise und zog sich nickend wieder zurück. Aber in demselben Augenblick kam Klein-Augusta vom Laden herein. Sie hatte ihren Vater drinnen sprechen hören. Nun steckte sie ihr Köpfchen herein: »Gucken Sie sich mal die Deern an, na ja, ich sag's ja immer, 'n Schwarzer muß 'ne Blonde heiraten, da wird was aus der Brut.« Er schloß die Tür hinter sich.

Augusta war ungewöhnlich groß und kräftig für ihr Alter. Sie war vielleicht ein Jahr älter als Tomas – und als Tomasine die Kleine zu sich heranzog und mit ihr plauderte – war sie verwundert über dieses Kind. In den Augen und auf der Stirn lag eine Klarheit wie bei einem erwachsenen Menschen; auch ihre Sprache war ungemein klar. Sie war ein vollständiger Kontrast zu ihrem nervösen Fuchsköpfchen, das nie drei Fragen über einen und denselben Gegenstand tat, sondern funkensprühend von einem zum andern fuhr – ein wohltuender Kontrast, innerlich und äußerlich.

Klein-Augusta hörte niemals mit Fragen auf, ehe alles klipp und klar war; erst dann ging sie ruhig an das Nächste, was in Frage kam. Ihre Hände waren rund und doch fest, seine waren mager, sommersprossig und rastlos selbst in der Form. Ihr Haar war dunkel und ungewöhnlich dick; trotzdem lag es weich in Flechten; seines stand struppig in roten Büscheln vom Kopfe ab und wuchs gleichsam fleckweise. Er war starkknochig und mager; sie voll und von gesunder Kraft.

Tomasine dachte daran, wie sie selbst als Kind ausgesehen hatte; warum war ihrs nicht auch so geworden? Sie empfand etwas wie Neid. Sieh nur, das kleine Samtjäckchen, das Augusta anhatte, hatte nicht einen Flecken, und doch war es durchaus nicht neu. Tomasine suchte so lange nach einem Fleck, bis das ganze Mädel ihr vorkam wie solider, molliger Samt.

Die Mutter kam mit der Schokolade herein, und nun war das Eis gebrochen, und es gab genug Gesprächsstoff, namentlich nachdem sie das Kind wieder hinausgeschickt hatten. Tomasine fragte, wodurch das Kind nur so liebenswürdig, so ruhig und verständig geworden sei, und bekam nun zu hören, es sei überhaupt nie unruhig gewesen.

»Auch in der ersten Zeit nicht?«

»Nein, nie, und vernünftig und zuverlässig von klein auf.«

Tomasine hatte nichts weniger im Sinn gehabt, als etwas Nachteiliges von ihrem kleinen Tomas zu sagen, aber der Gegensatz war zu ungeheuer ... Und nun kam es heraus, was sie alles durchgemacht hätte, und wie unaufhörlich sie noch über ihm wachen müsse.

Laura gewann während dieser Erzählung die feste Überzeugung, daß Tomasine das auf die Dauer zu viel werden müsse, und daß es geradezu gefährlich für sie werden könne. So gingen sie denn zusammen zu Pastor Green; und von diesem Tage an sah man den würdigen Herrn in seinem langschößigen Rock und dem breiten Hut auf seinem Nachmittagsspaziergang seinen Weg oft die Allee hinaufnehmen, statt wie früher um den Garten herum.

Nach und nach kam Tomasine auch mit ihren andern Freundinnen aus der alten Zeit wieder zusammen; es wurde wieder lebendig auf den breiten Wegen des Gartens, und mehrere brachten sogar ihre Kinder mit. So kam allmählich wieder Vertrauen und Freudigkeit in ihr Leben zurück, und vor allem Hilfe.

Denn als nun Tomas anfangen sollte, zu lernen, kam es ganz anders, als sie sich bisher gedacht hatte. Er kam in die Schule, und zwar in eine Schule, die sie selbst für ihn und eine Schar kleiner Mädchen, die Kinder ihrer Freundinnen, hielt. Anfangs fand er das ganz unglaublich nett und war über alle Maßen glücklich und gefällig, ja sogar aufopfernd. Aber als er von anderen Jungens hörte, es sei eine Schande, bloß mit Mädeln umzugehen, wollte er wissen, warum er eigentlich dazu verdammt sein sollte. Konnte die Mutter nicht alle die Mädel wegschicken und statt dessen lieber Jungens heraufholen? Er bat unablässig darum, er schmollte, weinte, tobte; aber es blieb bei den Mädeln. – Hätte er nur einen Schimmer davon gehabt, wozu das gut sein sollte.

Was mußte er alles ausstehen von den Jungens, die in die öffentliche Jungenschule gingen. Und Männer zu Lehrern hatten! Sowie er nur den Kopf über die Gartenmauer steckte, hörte er: »Ach, guckemal, das Muttersöhneken«, »Schoßhündchen«, »Weiberprinz«, »Jungfernsommersprosse« usw. Namentlich das letzte; denn er war gräßlich sommersprossig, geradezu rotgetippelt an Gesicht und Händen, und dazu dieses unverschämt rote Haar! Entsetzlich, dieser Spitzname! der ganze Junge 'ne Sommersprosse, 'ne Jungfernsommersprosse, als wär er nichts wie 'ne Sommersprosse in der Mädchenbande. Weiß Gott, er verachtete sie.

Aber hatte er mal den Mut, ihnen das selbst zu sagen – und ein Junge, dem das Herz auf dem rechten Fleck sitzt, fühlt dazu oft das Bedürfnis, er kann seine Verachtung nicht immer still in sich hineinwürgen – dann bekam er Prügel, richtige, reelle Prügel – von seiner Mutter? Behüte! Das wär ja schließlich noch gegangen, o nein, eben von dieser selben elenden Mädchenbande. Ein Paar hielten ihn fest und drehten ihn um, die andern prügelten auf ihn los, und zwar keineswegs nur zum Spaß; es tat ganz verflixt weh. Und die Mutter stand mitunter dabei und lachte; sie lachte, bis ihr die Tränen über die Backen liefen und sie die Brille herunternehmen und abwischen mußte.

Sie wollten nichts wissen von einem kleinen herrschgierigen Tyrannen, einem hochnäsigen jungen Herrn, die kleinen Fräuleins. Wenn sie fertig waren, erklärten sie ihm, ein artiger Kavalier, ein guter Kamerad sei ihnen stets willkommen. Und wenn er ihnen dazu eine Grimasse schnitt, dann ging's von neuem los: wieder runter mit ihm und Prügel, Prügel, und immer wieder Prügel. Und wenn sie wieder fertig waren, machten sie einen Knix vor ihm, eine nach der andern. Sie waren eben in der Überzahl. Sie amüsierten sich königlich dabei.

Doch das Ärgste ist noch nicht mal berichtet. In die eine von dieser »Schwefelbande« war er obendrein auch noch sterblich verliebt! Das wußte sie selbst recht wohl, der kleine, undankbare Racker – und das wußte auch seine Mutter. Und er war ganz sicher, nur deshalb lachte die Mutter so unbändig. Es war die kernigste von allen, Augusta Hansen, Lauras Tochter, – Augusta, mit der zusammen er so oft Kirschen gegessen hatte, und zwar so, daß sie sich die Kirschen gegenseitig aus dem Munde nahmen, erst sie aus seinem, wobei er den Stengel im Munde und die Kirsche ganz dicht an den Lippen hielt, – dann umgekehrt er aus ihrem Munde. – Augusta, die ihm ihren Gürtel geschenkt hatte, als Ritterzeichen bei seinen Turnieren, die er veranstaltete, übrigens ganz für sich allein, – Augusta, der er als Gegengeschenk seine ganze Sammlung von ausgeblasenen Eiern verehrt hatte, lauter selbst gesammelte Eier. Damals war's eben gewesen, daß die Mutter Lunte gerochen hatte, er hatte sie nämlich um ihre Erlaubnis gebeten, denn ohne die ging's doch nicht gut an; er hatte es ihr von hinten her ins Ohr geflüstert; angucken durste sie ihn dabei nicht; und da hatte ihn die Mutter gefragt, ob er Augusta gern hätte, und er hatte ihr anvertraut, ja, besonders die Haare. Und dann wäre sie ja auch die netteste und die klügste; was Augusta sagte, wäre immer richtig, und darin war die Mutter mit ihm ganz einig gewesen; denn ausgelacht hatte sie ihn nicht. Und nun stand sie da und guckte sogar zu, wie Augusta ihn haute und knuffte, denn Augustas Hände knufften am tollsten.

Nach einem solchen Verrat – und leider passierte das nicht nur einmal, sondern alle Augenblicke – pflegte er dann mehrere Tage lang nicht mit Augusta zu sprechen; einmal brachte er's bis auf ganze drei Tage. Auch mit der Mutter machte er einen Versuch; aber er konnte sich nie das Lachen verbeißen, wenn sie ihn ansah; sie reizte ihn immer zum Lachen. Nun versuchte er aus dem ernstem, regelrechtem Wege von Verhandlungen für die Zukunft eine andere Ordnung zustande zu bringen; galt doch dieser Kampf nichts Geringerm als dem richtigen Verhältnis zwischen den beiden Geschlechtern – ein Verhältnis, dessen Tiefe er freilich noch nicht zu loten wußte, das aber, wie sein männlicher Instinkt ihm sagte, hier oben auf dem Gute ganz und gar verbumfeit war; das mußte anders werden; aber nie hatte es so rechten Schneid. Eigentlich hatte er den Hauptverdacht auf Pastor Green. Einer Sache war er ganz sicher, Pastor Green war's, der den Einfall gehabt hatte, er solle Klavierspielen lernen – wie die Mädchen. Kein andrer Junge brauchte so auf dem ollen Klimperkasten rumzuhämmern. Tomas haßte den langschößigen Pastor mit der Adlernase und den buschigen Brauen, der immerzu heraufkam und immer lächelte, wenn er ihn sah; er haßte ihn so gründlich, daß er, wenn er nach der Scheibe schoß, ihn immer aufzeichnete und ihn dann auf die Rockschöße, auf die Nase und ins Auge zu treffen versuchte. Aber er mochte ihn treffen wo zum Kuckuck er wollte, es wurde nicht anders; es blieb beim Klavierspielen und bei den Mädeln, und wenn er gelegentlich auch mal Jungens zu sich in den Garten hinausholte, so konnten sie beileibe nicht allein spielen, o nein, die gräulichen Dinger hängten sich immer an sie an. Und dann hinterher alle die albernen Behauptungen – entweder hatte ein Junge etwas gesagt oder getan, was zur Folge hatte, daß betreffender Junge da oben ausgebuttert hatte; oder Tomas hatte vor seinen Kameraden wichtigtun und sich als großer Herr aufspielen wollen. Dafür setzte es dann nachher immer Prügel.

Manchmal teilten sie seine Sünden gar noch in verschiedene Abteilungen, so daß er zuerst für die eine, dann für die andere Abteilung abgestraft wurde.

Augusta war immer die erste bei der Prozedur; sie haute mit der größten Herzlichkeit, ohne die leiseste Erinnerung an Kirschen und Eier und andre kleine Gefälligkeiten. Unzählige Male kündigte er ihr Huld und Treue; aber wenn das dann Augusta so gänzlich schnuppe war und sie da so ging mit ihren dicken Zöpfen und den drallen Beinen ... ja, dann konnte er nicht anders, er mußte sich herablassen und ihr eine Andeutung machen, daß seine Verachtung sich vielleicht doch wieder in gnädiges Wohlwollen verwandeln ließe. Sie tat dann, als verstünde sie ihn nicht mal – und das Ende vom Liede war, daß er fand, es lohne sich eigentlich nicht, noch länger zu muckschen.

Das Merkwürdige mit Augusta war, daß sie immer die Tonangebende war, obwohl sie sich gar nichts draus machte; sie ließ die andern so lange wie möglich bestimmen; ihr war es ganz egal, wer bestimmte und was sie ausheckten; aber jedesmal, wenn die andern sich festrannten, half sie ihnen aus der Klemme. Gott, wie er sie deswegen bewunderte, und wie oft er ihr das sagte. Und sich ärgerte, daß er's nicht lassen konnte. Mit ihr bekam er auch zuletzt gemeinsame Klavierstunden – und von dem Tage an war ihm das Klavierspielen das liebste von allen Fächern.

Nach diesen ersten streitbaren Jahren kamen andre; er erlangte schließlich doch so viel Überlegenheit, daß er seine Kameradschaft mit den Mädchen nicht mehr zu verleugnen brauchte. Er ließ sich sogar herab, sie als Hilfstruppen heranzuziehen, wenn andere Jungens draußen waren und ihn herausforderten; ja, es kam die Zeit – wer hätte das gedacht! – wo er sich mit großem Heldenmut für seine tapferen Freundinnen schlug, besonders wenn einer der Jungens Augusta »Schusterdeern« oder gar »Dickwurscht« tituliert hatte. Da wäre er gern für sie »in den Tod gegangen«; und das war keine Prahlerei, denn als Neunjähriger wäre er einmal beinah rein zu Schanden geschlagen worden, weil er es Augustas wegen allein gegen eine Bande von zehn, zwölf aufgenommen hatte, von denen wenigstens drei viel älter waren als er. Es war der stolzeste Augenblick seines Lebens, als er nachher mit frischen Essigumschlägen dalag und Augusta an der Mutter Stelle hereinkam und die Kompressen wechselte. Jetzt, da er wirklich etwas getan hatte, was der Rede wert war, – sprach er kein Wort davon.

4. Die letzten Jahre im Garten

Um diese Zeit ging in seinem äußeren Leben eine bedeutsame Veränderung vor.

Erstens bekam er einen Kameraden. Vor mehreren Jahren war nämlich in der Stadt ein Kaplan Wangen gestorben, der mit einer schwärmerischen dänischen Dame verheiratet gewesen war. Die zwei hatten ein Schäferleben miteinander geführt, buchstäblich ohne Sorgen für den folgenden Morgen. Bei solchen Gelegenheiten pflegen dann die Menschen sehr gutmütig zu sein. Die Frau bekam soviel, daß sie sich und die Kinder in den ersten Jahren erhalten konnte, denn in den nächsten war das nicht mehr notwendig: sie starb. Durch Vermittlung von Pastor Green kam der Sohn Karl »auf Probe« zu Frau Rendalen. Er zählte damals elf Jahre, war also zwei Jahre älter als Tomas.

Karl Wangen war schlank, schmächtig, brünett, mit einem großen Kopf, an dem namentlich die mächtige Stirn Platz einnahm; er hatte tiefe Augenhöhlen mit sanften, blau-grauen Augen, einen großen, geraden Mund, fast immer von einem etwas zähen Lächeln umspielt. Er war still und sehr bescheiden, in seiner neuen Umgebung sogar ängstlich. Als er am Abend mit Tomas auf dessen Zimmer an der andern Seite des Badezimmers kam, kniete er vor dem neuen Bett nieder, das für ihn hier hineingesetzt war; und dann betete er inbrünstig und still, den Kopf in die Hände gestützt. Als er sich wieder erhob, lächelte er unter Tränen und sah zu seinem Kameraden hinüber; doch ohne ein Wort zu sagen. Später hörte Tomas ihn unter der Decke heftig schluchzen ... ganz lange. Tomas mußte schließlich auch weinen, aber er hütete sich, den andern was davon merken zu lassen.

Alle waren herzensgut gegen den neuen Ankömmling; doch niemand so wie Tomas. Hätte er sich als Riemen um ihn spannen können, er hätte es mit Freuden getan. Karl besuchte das Gymnasium, wo er einen Freiplatz hatte, also waren die Knaben fast den ganzen Tag getrennt; auch ihre Schularbeiten machten sie nicht gemeinsam; Karl gönnte sich nicht viel Freizeit er lernte langsam, war aber trotzdem der erste in der Klasse, und das wollte er auch bleiben. Natürlich konnte Tomas ihn nie haben, so oft er gern wollte, konnte nicht so gut zu ihm sein, wie er gern gewesen wäre. Und wenn Karl dann endlich herauskam, war er müde; dann konnte er nicht mehr recht mittun. Auch wußte er's nicht so recht zu würdigen, was der andre alles für ihn angestellt hatte, er hatte kein Verständnis dafür, wie Tomas auf ihn gewartet hatte, wie gut er ihm war ... Er war Tomas' erster Kamerad; Karl aber hatte mehrere. Karl war eigentlich doch ein bißchen zu langsam und zu verzagt; immer ängstlich besorgt um seinen Anzug, peinlich gehorsam, wenn ihm etwas gesagt worden war. In diesen und andern Dingen also das gerade Gegenteil von Tomas.

Schließlich fand Tomas, Karl sei im Grunde ein Mädel – nur ein Mädel mehr hier oben, und dabei nicht einmal halb so amüsant wie die andern ... Bald fing er an, ihn »Karlinchen« zu nennen; er äffte ihn nach, wenn er fror oder wenn er Angst hatte, etwas zu tun; und wenn Karl dann, statt böse zu werden, nur gutmütig dazu lächelte, dann machte Tomas seinen Mund so breit wie den Karls, indem er ihn mit den beiden Zeigefingern auseinanderzerrte. Und natürlich, wo's was zu lachen gab, da waren gleich auch die Mädchen dabei. Sie lobten Tomas wegen seiner Ritterlichkeit gegen sie; er war ja auch selbst stolz auf seine Ritterlichkeit; aber zusammen konnten er und die Mädchen ganz tüchtig unritterlich gegen Karl sein – ohne sich dessen bewußt zu sein.

Wie z. B., als Tomas den Einfall hatte, sie sollten sich, sowie Karl sich zeigte, eine nach der andern auf ihn losstürzen und mit den Händen seinen Rock abklopfen, weil sie wußten, daß er so ängstlich damit war – er hatte immer so wenig Kleider gehabt! Sie bürsteten und bürsteten an ihm herum, bis er zu weinen anfing. Und dann hieß es gleich: »Tränensuschen«, »Jammerdrüse«. Noch ärger wurde es, als sich herausstellte, daß Karl, obgleich er älter und größer war als Tomas, doch schwächere Muskeln hatte. Da mußte sich Tomas natürlich »zeigen«, und das artete fast zu Mißhandlungen aus.

Im Grunde hatte nun Karl nicht viel dagegen, den Märtyrer zu spielen; in seinen Augen war das etwas Großes. Aber die andern entdeckten das; sie konnten das für ihr Leben nicht ausstehen, und so wurde es noch viel ärger.

Und wo war Augusta bei allem diesem Treiben, das sich da entwickelte? Augusta war gut gegen Karl, und je übler die andern ihm mitspielten, um so freundlicher war sie zu ihm; aber sie mischte sich nie in das, was die andern trieben; überhaupt mied sie in letzter Zeit mehr und mehr alles Heftige. So oft indeß Karl ihren Schutz suchte, war er geborgen; daher geschah das immer häufiger, schließlich immer; er traute sich nicht mehr in den Garten ohne sie. Tomas war zu stolz, um sich etwas merken zu lassen; aber Karl ließ er es doppelt entgelten. Besonders als Tomas sich einmal in der Klavierstunde darüber beklagte und sie antwortete, das würde so bleiben, bis Tomas ein so braver Junge geworden sei wie Karl, denn dazu fehle ihm noch viel, – da schwur Tomas Rache.

Am Samstag Nachmittag ging Karl immer auf den Kirchhof, um auf dem Grabe seiner Eltern frische Blumen zu pflanzen. Am nächsten Sonnabend Nachmittag also lauerte Tomas ihm in der Allee auf, als Karl mit seinem Körbchen davonging; dort verlangte er, er solle ihm versprechen, nie mehr mit Augusta zu reden. Aber der sonst so nachgiebige Karl wollte dies Versprechen nicht geben, und als Tomas ihn schlug, wollte er erst recht nicht. Tomas schlug und schlug; – er könne ihn ruhig schlagen, aus allen Leibeskräften: mit Augusta zu sprechen, das gäbe er nicht auf. Ganz außer sich gab ihm Tomas einen Fußtritt an eine gefährliche Stelle. Karl stieß einen gellenden Schrei aus und sank ohnmächtig hin.

Tomas mußte ihn selbst mit nach Hause tragen helfen, mußte selbst nach dem Arzte laufen, und während er mit dem Schweiß der Angst und der Eile auf der Stirn davonstürzte, an der Stelle vorüber, wo der arme Junge hingesunken war, die Augen starr auf ihn geheftet, da verwandelte sich Karls Bild in seiner Seele. Der stille, hilflose Knabe, wie er an jenem ersten Abend vor dem Bett in der neuen Heimat gekniet und gebetet hatte, feierte Auferstehung in seinem Herzen ... Noch bevor er zum Arzt kam, lief Tomas eiligst wieder nach Hause; es drängte ihn in aller Hast, ohne daß jemand es sähe, da, wo Karl zu Boden gefallen war, niederzuknieen und unter heißen Tränen zu beten.

An demselben Abend saßen seine Mutter, Andreas Berg und er allein im Zimmer. Andreas Berg war auf Frau Rendalens Bitte hereingekommen, um Tomas von seines Vaters Kindheit zu erzählen; alles ohne Vorbehalt – und zwar in ihrer Gegenwart.

Berg war ein ernster Mann, nicht ohne Strenge. Tomas Benehmen gegen Karl hatte ihn mehr als einmal empört. Und nun erzählte er ihm alle die verschiednen Auftritte aus John Kurts Knabenzeit, schlecht und recht, ohne ein Wort der Verurteilung. Aber das eine Wort kam schwerer wiegend als das andere; das war eben Bergs Art. Die Mutter hielt es nicht für nötig, auch nur ein Wort hinzuzufügen.

Später am Abend hörte sie Tomas vor Karls Bett flüstern und schluchzen; und am andern Tage sah sie ihn draußen auf der Diele mit Augusta reden. Ein paarmal im Laufe des Tages hatte er die Arme um die Mutter geschlungen und geweint, aber gesagt hatte er nichts.

Diese Gärung dauerte ziemlich lange. Inzwischen wurde abgemacht, daß Karls »Probezeit« jetzt beendet sein und daß er von jetzt an als Sohn des Hauses gelten solle. Der Arzt hatte erklärt, daß er sein ganzes Leben lang einen Denkzettel von dem Fußtritt, den Eifersucht und Herrschsucht ihm versetzt hatten, behalten würde – und das hatte den Ausschlag gegeben.

Kurz darauf fand eine zweite große Revolution statt. Alle die Mädchen, die von Anfang an gemeinsam mit Tomas Frau Rendalens Unterricht besucht hatten, hatten nicht allein ihre Altersgenossinnen auf der Mädchenschule, fordern auch die Knaben auf dem Gymnasium so überholt – besonders in Sprachkenntnissen –, daß allgemein der Wunsch laut wurde, sie möchte doch ihre Klasse zu einer Schule erweitern und die ganze Mädchenschule der Stadt nach dem Gute hinaufnehmen. Dieser Wunsch wurde schließlich einstimmig laut und übte zuletzt einen förmlichen Druck auf sie aus.

Pastor Green war der eifrigste von allen. Wie könnte sie ihre Kenntnisse und ihr Administrationstalent wohl schöner verwerten? Ihre ganze Entwicklung, ihre ganze Lebenserfahrung steure ja auf dieses Ziel los.

Wie, wenn das Haus der Kurte widerhallte von traulichem Kinderlachen, wenn hier die zukünftigen Frauen und Mütter sich zu einer unabhängigen Stellung emporarbeiten lernten – in wie außerhalb der Ehe? ...

So beleuchtet, erhielt die Sache gleichsam etwas Symbolisches. Nur selten achten wir darauf, daß gewisse Anzeichen, bestimmte Ahnungen, zufällige Erinnerungen bei unseren Entschlüssen weit schwerer wiegen, als nüchterne Erwägungen. Auch Tomasine Rendalen bildete darin keine Ausnahme.

Sie war praktisch genug, sich mitunter zu fragen, ob sie auch wirklich tauglich sei zu allem, was der Pastor von einer Erzieherin verlangte. Sie fühlte, daß er, wie alle Reformatoren, Sanguiniker war; daß er die Arbeit dreier Generationen von einer einzigen verlangte und das Resultat der Arbeit von Tausenden von der Arbeit eines einzigen Menschen erwartete. Auch war sie verständig genug, zu bezweifeln, ob etwas bessere Sprachkenntnisse, etwas besser dargestellte Weltgeschichte und dergleichen Kenntnisse die Sittlichkeit und Unabhängigkeit sonderlich fördern würden.

Aber das Symbol war stärker als diese Einwände des Verstandes. Hier schien doch wirklich einmal einer bestimmten Person ein bestimmter Beruf vorgezeichnet zu sein. Da saß sie nun, auf dem Erbschloß der Kurte, wohl ausgerüstet für ein großes Erziehungswerk, das war sicher. Wie, wenn man all das böse Beispiel vertilgen und ein gutes statt dessen geben könnte ... sie hatte ja schon eine Art Übung darin.

Jedenfalls verlieh es ihr neue Kräfte ... Und als sie sich's erst mal vorgenommen hatte, griff sie's auch an, daß es eine Art hatte – und zog auch andere mit zum Werk heran.

Sie nahm eine neue Hypothek auf ihr Haus auf und ließ es von oben bis unten renovieren.

Alle Fenster wurden herausgenommen und vergrößert. Die Zimmer zur Rechten der Diele im ersten Stock blieben unverändert; aber die zur Linken und die im Flügel und der ganze zweite Stock erfuhren fast alle die Veränderung, daß die Verbindungstüren zwischen ihnen zugemauert wurden, so daß sie nur den Ausgang nach dem langen Korridor behielten.

Der große Rittersaal links von der Diele wurde zum Turnsaal und Versammlungszimmer gemacht; hier sollten auch die Morgenandachten abgehalten werden. Die große geteilte Treppe in der Diele, die zum zweiten Stock hinaufführte, wurde von den äußeren Vorplatz durch eine Wand mit zwei Türen getrennt. Auf diese Weise behielt Frau Rendalen den äußern Vorplatz für sich; die berühmte breite Steintreppe des Hauses führte bloß zu ihr und bei festlichen Gelegenheiten nach dem Rittersaal. Die Schülerinnen bekamen ihren besonderen Eingang vom Hof aus, wobei der große, leere, überflüssige Turm unten als Vorzimmer eingerichtet wurde. Von außen wurde das Haus von seiner Kalktünchung befreit und die rote Ziegelsteinfarbe wieder aufgefrischt; so sah es wie neu aus.

Als das Ganze fertig war, große Wallfahrt nach dem Gut; große Hoffnungen auf die neue Schule.

Tomasine hatte sich in nicht geringe Schulden gestürzt. Die Schule, die sie übernahm, mußte sie auch kaufen, und zwar für eine recht ansehnliche Summe. Aber der Zudrang war gleich von Anfang an enorm; vom Lande, ja sogar aus den benachbarten Städten wurden kleine Mädchen angemeldet. Diese wurden in verschiedenen Familien der Stadt, die sie empfahl, in Pension gegeben; sie selbst wollte vorläufig niemand ins Haus nehmen; erst mußte sie mal ihre Schule in Ordnung bringen.

Mitunter schien es ihr, als würde sie dieses Ziel – eine geordnete Schule – nie erreichen. Zunächst fehlte es an einem tüchtigen Lehrerpersonal; keiner von ihnen füllte das Maß, das sie forderte. Sie prüfte und entließ; alle Ungemütlichkeit, alle Regellosigkeit, alle Überanstrengungen, die solche Zustände im Gefolge haben, ertrug sie geduldig in Erwartung besserer Zeiten. Die täglichen Mühen, die endlose Unruhe und die Geldsorgen jagten sie von einem Tag in den andern hinein; das Ziel, das sie sich ursprünglich gesetzt, das große Symbol – erschien ihr jetzt als eine Lächerlichkeit.

Und eines war ihr ganz sicher! sie würde bei diesem Treiben ihr Kind verlieren. Nicht seine Hingebung, nicht seinen Gehorsam im großen Ganzen, auch nicht die Leitung seines Unterrichts verlor sie, nein, aber die Führung seines Charakters, die Vertraulichkeit mit ihm, die Freude an ihm gingen ihr verloren.

Es glitt etwas Heftiges, Phantastisches, Schwärmerisches in seine Spiele, seine Pläne, seinen Gesichtsausdruck hinein, das sie stetig wachsen sah und das ihr tief mißfiel. Wies sie ihn zurecht, so merkte sie die finstre Ungeduld in der nervösen Rastlosigkeit seiner Augen. Der Verkehr mit Karl bestärkte ihn im Grunde noch in seinem Fehler; denn Karl war selbst ein Schwärmer. Sie bat daher Augusta, doch den heißen Mut des Jungen zu dämpfen und den Versuch zu machen, ihn bei der nüchternen Wirklichkeit festzuhalten. Aber Augusta ließ sich nie auf ein Gespräch über so etwas ein. Frau Rendalen mußte also diese Anlagen in ihm mehr und mehr wachsen sehen. Das verdarb ihr ganz die Freude an ihrer Schule, auch als diese endlich wenigstens äußerlich in Gang kam. Und sie fragte sich, ob sie eigentlich zu guterletzt bei diesem gehetzten Leben etwas andres gewonnen habe, als mehr Schulden und größere Sorgen. Doch nun saß sie mal dran; ein jeder Tag nahm sie und lieferte sie an den nächsten ab; ließ sie nur einen Augenblick nach, so drohte das Ganze über ihr zusammenzubrechen. Von allen diesen Kümmernissen seiner Mutter hatte Tomas nicht die leiseste Ahnung. Er lebte glücklich in den Tag hinein, ein Leben voll kräftiger Entfaltung. Dabei kamen ihm Karls gediegnere Kenntnisse sehr zu statten; sie schwärmten und liebten zusammen, sie hatten die unglaublichsten Einfälle, um sich den »Damen« nützlich und angenehm zu machen, sie und ihre Kameraden; denn nach und nach waren noch andre Knaben mit in den Kreis hineingezogen worden, und es war mehr Schönheit, mehr Abwechslung in allem, was sie anstellten, seitdem Knaben und Mädchen immer zusammen waren.

Tomas wuchs an körperlicher Kraft, aber sehr groß schien er nicht zu werden, obgleich doch beide Eltern von hohem Wuchse waren. Er war schön gewachsen, sein Gang war leicht und elastisch, mit stark nach auswärts gerichteten Füßen, und seine Füße waren so klein, daß er Mädchenschuhe tragen konnte; auch um die Taille war er schlank wie ein Mädel, aber trotzdem breit in den Schultern. Mit zwölf Jahren gewann er die erste Prämie bei einem jener Preisturnen, wie sie damals auch in diesen Gegenden des Landes Mode geworden waren.

Er hatte eine stark gemeißelte Kopfform, besonders nach oben zu; die Backenknochen waren stark ausgeprägt; die Nase hatte sich schon jetzt weit über die der Mutter erhoben, was ihm Gelegenheit zu mancher Neckerei gab; sie antwortete dann immer, unten wäre seine mindestens ebenso breit wie ihre. Er hatte schmale, feingeschnittene Lippen. Die Augen waren nicht groß und schienen noch kleiner dadurch, daß er sich angewöhnt hatte, die Stirnhaut kraus zu ziehen und mit den Augen zu plieren; sie waren grau von Farbe und hatten einen unruhigen und doch scharfen Blick. Die Stirn war klar und erinnerte an die seines Vaters; aber die Haut des Gesichtes, des Halses und der Hände waren so mit Sommersprossen bedeckt, daß sie rot wie das Haar schien. Das war meist wirr und stand starr aufrecht. Schön war er nicht. Neben dem hochaufgeschossenen, brünetten Karl mit der mächtigen Stirn, den tiefen Augenhöhlen, dem langen, geraden Munde, dem sanften Ausdruck und dem langsamen Wesen sah er aus wie ein funkensprühendes Etwas und füllte vielleicht gerade deshalb die Mutter mit mehr Unruhe, als nötig gewesen wäre.

Er war jetzt Karl ein treuer Freund geworden; er liebte ihn leidenschaftlich – wie es überhaupt seine Art war, entweder zu lieben oder zu hassen; ein Zwischending gab's nicht.

Er stand jetzt im vierzehnten Jahre und sollte im Herbst mit seinem Onkel, dem Bruder seiner Mutter, der Schiffskapitän war, eine Reise nach Hamburg und von dort nach England und wieder zurück machen. Die Reise war bereits im Sommer verabredet aber wieder aufgeschoben worden. Da Tomas ja Privatunterricht hatte, konnte er sich jederzeit auf die Reise begeben, und da war es natürlich das mannhafteste, zur Zeit der Herbststürme zu fahren; seine Ausrüstung war fertig; man wartete nur auf günstigen Wind ...

Eines Sonnabendnachmittags saßen Augusta und er auf einem Apfelbaum, er auf einem Ast rechts, sie auf einem links. Sie sollten Äpfel pflücken, aber die leinenen Beutel, die sie sich umgebunden hatten, hingen schlaff herunter. Augusta hatte den Arm um einen Ast über sich geschlungen und lehnte ihren Kopf daran; sie saß und hörte ihm zu.

Sie hatten vorhin den neuen Doktor, Knut Holmsen, zu Frau Rendalen hineingehen sehen, und dieser wunderliche neue Doktor war einer von denen, die Tomas »liebte«. Er hatte vor kurzem mit ihm zusammen in Mommsens römischer Geschichte von den Gracchen gelesen, und von denen erzählte er jetzt Augusta. So was stand in ihren eigenen Geschichtsbüchern gar nicht über die Gracchen. Die Gracchen waren sein Ideal! Mitten in seiner begeisterten Auseinandersetzung kam ihm plötzlich die Idee, wenn er die beiden Gracchen sein wollte, müsse Augusta die Mutter der Gracchen sein; etwas Größres könnte es doch für eine Frau nicht geben, als die Tochter Scipios und zugleich die Mutter der Gracchen zu sein.

Aber dazu hatte Augusta keine Lust, sie konnte es nicht leiden, daß die Mutter der Gracchen leben blieb, nachdem ihre Söhne erschlagen waren. Augusta hatte immer solche Angst vor dem Tode ... Der Tod hatte was Häßliches an sich ... Sie saß da mit dem Kopf auf dem Arm und sagte das leise vor sich hin. Sie sah so reizend aus dabei ... Oder war sie müde? Er fragte sie.

Nein, müde wäre sie nicht; aber sie hätte solch ein Bedürfnis nach Ruhe.

– Schön, sie könnten ja noch ein Weilchen hier sitzen bleiben.

Sie änderte ihre Stellung, und sie sprachen weiter.

Als die Mutter der Gracchen ihre Söhne im Himmel wiederfand –

– Ja, aber kamen denn die Gracchen und ihre Mutter in den Himmel? Die glaubten doch nicht an Christus.

Nach verschiedenen Verhandlungen einigten sich die Kinder dahin, daß sie jetzt vermutlich über Christus belehrt und selbstverständlich in den Himmel gekommen seien. Aber was weiter? Was machten sie denn dort? Augusta schauerte zusammen; die Unendlichkeit war so furchtbar. Sie verbarg ihr Gesicht, und als sie wieder aufsah, hatte sie geweint. Er saß lange ganz still und sah sie an.

»Hör mal, Augusta,« begann er wieder, »wir zwei wollen nicht sterben, ehe wir ganz rasend steinalt sind – nicht? So alt, daß wir nicht mehr gehen können; dann kann's einem ja egal sein, nicht?«

Augusta lächelte. »Weißt du noch, damals, als du mir die Immortellen gabst, da sagtest du, ich solle an dich denken, wenn du tot wärst.«

»Ach ja, ich war an dem Tage so gräßlich unglücklich ... Und dann hatt ich auch grade das Bild mit König Edwards Söhnen gekriegt. – Du, Augusta?«

»Ja?«

»Weißt du was? Jetzt auf dem Meere, im Herbststurm – die Herbststürme können furchtbar gefährlich sein ... da will ich mich festbinden lassen und dir genau alles schreiben, was ich denke. Und dann mußt du auch aufschreiben, was du dabei denkst, wenn du es liest, ja?«

»Das muß ja schrecklich werden!« lachte Augusta; sie war älter als er.

Er wurde verlegen, und es entstand eine Pause. Aber die ganze Zeit sah er unverwandt ihre Üppigkeit und Güte, ihre dicken Zöpfe und die langen Wimpern an ... Sie schlug die Augen nieder ... Wirklich, Augusta war ja ein erwachsenes Mädchen ... sie hatte ja schon einen ordentlichen Busen ... und diese Handgelenke und die eigentümlich festen Hände ... So lange saß er da und sah sie an, bis er endlich sagte:

»Du, Augusta, hör mal –«

»Ja?«

»Karl will mir alle Tage schreiben. Mutter hat ihm schon das Geld zu Marken versprochen. Kannst du da nicht ein paar Zeilen mit einlegen – ja?«

»Alle Tage, Tomas? Das wird aber reichlich oft!«

»Ach wo –«

»Alle Tage kann man doch nichts Merkwürdiges erleben. Weißt du was, Tomas, das wird bloß langweilig.«

Und sie sah ihn treuherzig an.

»Ja, aber,« fuhr er fort, »das tun doch alle, die sich lieb haben –«

Er war feuerrot geworden und wendete sich ab; jetzt würde sie ihn natürlich auslachen.

Aber sie lachte nicht. Nach einem Weilchen hörte er sie sagen (denn er wendete sich nicht um): »Na ja, dann muß ich's wohl tun.« Und nun fing sie an, Äpfel zu pflücken.

Um dieselbe Zeit stand seine Mutter drinnen im Zimmer am Fenster vor dem Doktor. Sie sah abwechselnd den Doktor und die Kinder draußen im Apfelbaum an. Der Doktor hatte ihr gerade erzählt, daß Lars Tobiassen jetzt total verrückt geworden sei, und daß der Sohn vor lauter Schrecken auch nah daran sei. »Kurtsches Erbteil«, hieß es unter den Leuten am Berge; es wären so viele verrückte Kurte hier herumgelaufen, Männer und Weiber.

Darauf hatte Frau Rendalen geantwortet, sie wisse davon, und sie habe auch vor und nach Tomas Geburt große Angst gehabt; aber jetzt sei sie sicher, »obgleich,« setzte sie hinzu, »Tomas etwas unbegreiflich Überspanntes und Phantastisches an sich hat.«

Dabei sah sie den Doktor fragend an. Der antwortete:

»Ja, ja, seine Nerven sind Schund.«

Doktor Knut Holmsen gehörte zu jener Klasse von prädestinierten Junggesellen, die zwar manchmal aus Versehen in den Ehestand hineintorkeln, die sich aber nie die Mühe geben, sich in irgend einen andern Menschen hineinzudenken, sondern allenthalben wie für sich allein dasitzen. Und so war er auch jetzt mit dieser Antwort herausgeplatzt, die ihm ganz natürlich kam, Frau Rendalen jedoch in tiefster Seele erschreckte.

»Tomas könnte doch nicht am Ende wahnsinnig werden?« Nein, so hatte er's ja nicht gemeint; er antwortete auch nur: »Er selbst nicht; aber seine Kinder.«

Sie fuhr auf und starrte ihn totenblaß an; und von ihm hinaus in den Garten.

»Wissen Sie auch, was Sie da sagen, Doktor?«

Holmsen wurde rot; denn im Grunde war dieser ungezogene Mensch sehr schüchtern. Und um sich zu retten, begann er von einem Buche zu reden, das er gerade studiert hatte und das eigentlich alle lesen sollten. Nämlich Prosper Lucas »Über die Vererbung ... ( l'hérédité naturelle).«

Kurz darauf sahen die beiden Kinder im Apfelbaum Doktor Holmsen und Frau Rendalen zusammen nach der Stadt gehen und später mit zwei großen Büchern unterm Arm zurückkommen.

Am Abend des folgenden Tages reiste Tomas ab und blieb etwa zwei Monate fort. In den beiden Häfen, die das Schiff anlief, hatte er Briefe vorgefunden, die der getreue Karl Tag für Tag seit seiner Abreise geschrieben hatte. Auch einige innige Briefe von seiner Mutter; aber nicht eine Zeile von Augusta. Sie war krank; hatte ein krankes Herz; Herzerweiterung, sagten die Leute. Jetzt fiel Tomas auch ein, daß sie in der letzten Zeit immer ein solches Bedürfnis nach Ruhe gehabt hatte; es tat ihr da weh. Aber eine solche Kernnatur wie Augusta konnte sich doch nicht unterkriegen lassen; sie würde schon wieder gesund werden!

In später Abendstunde lief eines Tages das Schiff wieder im Hafen ein; niemand auf dem Gute hatte eine Ahnung davon, bis Tomas plötzlich ins Zimmer stürmte und seiner Mutter um den Hals flog; sie saß gerade ganz allein über ihren Wirtschaftsbüchern.

Sie rief: »Tomas!« – als hätte er sie ernstlich erschreckt; und das machte ihn nur noch toller vor Freude; er schmiegte sich aus allen Kräften an ihre mächtige Gestalt ... Da ... da merkte er, daß sie weinte. Verwundert ließ er sie los; er sah sie an ... Da warf sie sich schluchzend über den Tisch. Augusta war vor zwei Tagen gestorben ...

Am nächsten Vormittag gingen er und seine Mutter, erschüttert und verweint, mit Blumen hinunter zu Hansens. Frau Rendalen ging durch den Torweg, sie wollte lieber den Hinterweg kommen. Dabei sah Niels Hansen sie von der Werkstatt aus und kam gleich heraus; Tomas war etwas zurückgeblieben. Es wirkte erschütternd auf ihn, die alten, lieben Stellen wiederzusehen, daß er nicht gleich mitkonnte. Aber als er hereinkam und Niels Hansen nun auch ihn erblickte, Augustas Spielkameraden und besten Freund, brach er in heftiges Weinen aus und ging hinaus. Frau Hansen erging es ebenso. Sie war in der großen Stube um die Tote beschäftigt; ihr Jüngstes, ein zweijähriges Mädchen, saß bei ihr am Boden, als Frau Rendalen eintrat.

Laura kam ihr entgegen und dankte ihr, daß sie auch heute gekommen war. Die Arme schien gefaßt; aber sowie der untröstliche Tomas mit seinen Blumen vortrat, da sank sie auf einen Stuhl und fing laut zu weinen an. Und nun fing auch das Kind zu weinen an. Jetzt konnte auch Tomas es nicht mehr ertragen. Er legte die Blumen von sich, er wußte selbst nicht wohin, und rannte wieder heim. Er hatte die schweren Flechten auf dem weißen Linnen liegen sehen, und ein Gesicht, das zu schlummern schien, und in ihren gefalteten Händen die Immortellen; er hatte sie sofort am Bande erkannt.

Wie empfand Frau Rendalen in dieser Zeit ihre Schule als schwere Bürde! Denn das kleine wunde Herz verlangte immer und immer nach ihr. Sie ängstigte sich um ihn wegen seines Hanges zum Schwärmen und daß dieser jetzt viel neue Nahrung finden möchte. Sie sann hin und her, wie sie das wohl verhindern könnte, ohne ihn seines einzigen Trostes zu berauben. Wie verwundert war sie daher, als sie merkte, daß Augustas Tod gerade die entgegengesetzte Wirkung hatte.

Augusta hatte sich vor dem Tode gefürchtet, vielleicht noch mehr vor der Unsterblichkeit. Daran hielt er unerschütterlich fest; er durfte also nicht daran denken, sie dort zu suchen, das hieße sie ja quälen. Die meisten Kinder macht der Gedanke an die Ewigkeit schaudern. Jetzt war es namentlich Karl, der sich gern damit beschäftigen wollte; aber Tomas hieß ihn schweigen; er duldete es nicht. Es hieß gegen Augustas Wunsch handeln, sie dort oben in der Ewigkeit zu suchen, davon war er überzeugt.

Karl gab nach; es war ja nicht die Unsterblichkeit selbst, an der sein Freund zweifelte; er durfte sich ihm also fügen.

Aber versuchte Tomas denn gar nicht, Augustas Bild heraufzubeschwören? O doch, wenn er dasaß und leise auf den Tasten des Klaviers klimperte ... dann war es ganz sicher, daß er sich mit ihr unterhielt; dort hatten sie ja so oft nebeneinander gesessen. Er dachte also nur an das Vergangene.

Die Mutter war eines Tages sehr verwundert, als er eine etwas heftige Antwort gegeben hatte, aber gleich darauf wieder herein kam und sich ihr um den Hals warf. Sie war so an seine Heftigkeit gewöhnt, daß sie sie, wenn er nicht gerade zu ungezogen war, oft gar nicht bemerkte. Sie sah ihn an: »Was ist denn geschehen?« – Da errötete er und flüsterte ihr von hinten ins Ohr, wie er's immer machte, wenn sie ihr nicht ansehen sollte, während er etwas sagte.

»Ach, Mutter, einmal, als ich dir was Häßliches geantwortet hatte, da kam Augusta mir auf die Treppe hinaus nach und sagte: ›Du Tomas, so mußt du deiner Mutter aber nicht antworten‹. Damals hab ich mich nicht weiter dran gekehrt, aber jetzt – als ich auf die Treppe kam, fiel mir's wieder ein.«

Um diese Zeit lasen sie zusammen wahllos durcheinander Beispiele aus dem Werke von Lucas. Diese oft wunderlichen Beweise für die Vererbung von Eigenschaften und Anlagen, die wieder zum Vorschein kommen können nach einer Pause von mehreren, ja oft vielen Zwischengenerationen, gaben ihm viel zu denken. Er sammelte sich einen ganzen Haufen von Fragen, und damit ging er zum Doktor.

Nach und nach war er wieder in Tätigkeit wie früher, aber er war stiller geworden.

5. Die Rede

Vierzehn Jahre später sah man an einem Nachmittag im Frühjahr, Anfang Mai, eine ganze Völkerwanderung die Allee hinauf nach dem Gute wallfahrten. Der Realkandidat Tomas Rendalen sollte die große, neue Turnhalle, die auf dem Gutshofe errichtet worden war, mit einem Vortrage einweihen. Bei dieser Gelegenheit wollte er auch das Programm entwickeln, nach dem er die Schule zu leiten gedachte; vom August ab wollte er sie übernehmen.

Wie man wußte, war das schon sein Plan gewesen, als er zum Studieren nach Christiania gefahren war; nie hatte er ein andres Lebensziel gehabt, sowohl während seiner Studienzeit, wie auch nachher, als er nach bestandenem Examen sich an verschiedenen Knaben- und Mädchenschulen am Unterricht beteiligt hatte und sich dann mehrere Jahre lang in Deutschland, in der Schweiz, in Frankreich, England und zuletzt in Amerika vollständig mit dem Unterrichtswesen vertraut gemacht hatte.

Besonders in letzterem Lande hätte er, wie man sich erzählte, gefunden, was er gesucht hatte. Er selbst hatte geäußert, daß in der Rede, die er heute halten wolle, die Entwicklung seines ganzen Lebens läge; und das fand man sonderbar; man war neugierig darauf.

In den vier, fünf Monaten, die er jetzt daheim gewesen war, hatte er die Turnhalle bauen lassen, weil er das bisherige Turnlokal, den Rittersaal, in einen Raum verwandelt hatte, in dem man chemische und physikalische Experimente ausführen konnte – man wußte nicht so recht, was das eigentlich war, aber gelegentlich würde sich's wohl herausstellen. Der Turm war in ein kleines Observatorium verwandelt worden. Eine Unendlichkeit von Paketen und Kisten, die er so was Ähnliches wie »Unterrichtsmaterial« nannte, war abgeladen und ausgepackt worden; die allerwunderlichsten Proben hatte er den Kindern schon gezeigt.

Doch dies alles und seine langen Reisen hatten viel Geld gekostet.

Wie war nur all das Geld herbeigeschafft worden? Ganz durch Zufall hatte Frau Rendalen erfahren, daß die Waldungen seinerzeit einzeln für sich verkauft worden waren, teils bevor, teils nachdem die Gehöfte, zu denen sie gehörten, verkauft worden waren. Einige dieser Wälder waren seinerzeit nur zum vollständigen Abholzen verkauft worden; der Grund und Boden gehörte also immer noch zum Gute. Da dieser Boden aber lange brach gelegen hatte, war es in Vergessenheit geraten, und die betreffenden Gehöfte hatten den Waldgrund zum Teil in ihren Besitz genommen. Mehrere Prozesse, die Frau Rendalen anstrengte, verlor sie, andre dagegen gewann sie, und so bezahlte gutes, norwegisches Bauholz Tomas und Karls Studien, für Tomas die Realstudien, für Karl die Theologie, und für beide die Reisen im Auslande. Karl war nach einjähriger Abwesenheit nach Hause zurückgekehrt, während Tomas lange im Auslande umherreiste.

In den Monaten seit seiner Rückkehr hatte er den Mädchen in den obersten Klassen besonders aus der Naturgeschichte viel erzählt. Er hatte ihnen z. B. die allerneuesten Forschungen über die Gehirnaktivität erklärt, wobei er mit großen Abbildungen demonstrierte. Wenn dann die Kinder ihrerseits den Großen zu Hause wieder erklärten, wie diese Forschungen gemacht worden seien, bekamen auch diese Lust, etwas darüber zu hören, und so geschah es nicht selten, daß ältere Schwestern und Mütter der Schülerinnen, ja sogar Väter zwischen ihre Kinder in die Bänke hineingepreßt saßen, um dem jungen Lehrer zuzuhören.

Nun wird man sich also erklären können, warum der Andrang zu dem Vortrag heute so groß war.

Ein garstiger, rothaariger, sommersprossiger Kerl mit einer ziemlich breiten Nase, grauen, zwinkernden Augen ohne Brauen – jedenfalls waren sie ganz unsichtbar – und mit dem schmallippigen Munde des Vaters. Und doch hieß es, die ganze Mädchenschule schwärme für ihn! Man wollte hören und sehen, was das denn Merkwürdiges wäre. Daher kamen auch in den Scharen, die durch die Allee hinausströmten, drei Damen auf je einen Herrn.

Von der großen Freitreppe vor dem Hause war jetzt ein Weg um die Fassade und den Flügel herum zum hintern Hofplatz angelegt, der tägliche Schulweg. Dort im Hofe lag auch die neue Turnhalle. Aber vor dem Eingang, oben auf der Treppe, war eine Wache aufgestellt, und draußen ringsum hatte sich eine große Menschenmenge aufgestaut, die zum Teil sehr laut gegen eine derartige Behandlung protestierte. Andreas Berg war es, der angestellt war, um aufzupassen, daß nur »Eltern« hineinkämen. Die Einladung hatte sich ausdrücklich nur auf Eltern erstreckt, doch das hatte man übersehen oder nicht recht verstanden, oder man hatte trotzdem den Versuch gemacht und machte jetzt Spektakel. Natürlich waren das meist die jüngeren Leute.

Allgemeine Heiterkeit weckte es, wenn jemand von den ältern Herrschaften, sobald sie nicht offiziell als Vater oder Mutter anerkannt waren, zurückgewiesen wurde. Anton Dösen – gewöhnlich der »Franzosendöse« genannt, weil er ein paar Jahre in Frankreich gewesen war und jetzt mit französischen Galanteriewaren handelte, gegenüber den Schwestern Jensen am Bommen – präsentierte sich als »Vater« und wollte hinein. Er war sein Lebtag nicht verheiratet gewesen, der Franzosendöse. Allgemeine Heiterkeit! Der unerschütterlich ernsthafte Andreas Berg wies ihn zurück, und der »Franzosendöse« fragte, was zum Teufel denn nötig sei, um hineinzukommen? Ob er erst zum Pastor gehen und sich ein Attest für seine Vaterschaft holen müßte?

Der »Franzosendöse« hatte nämlich das Privilegium, alle seine Sünden öffentlich zu bekennen; die Leute hörten so was gern. Sein Laden war trotz seiner lockern Sitten und Reden sehr besucht; die Konkurrenz in Modeartikeln der beiden schiefen Jüngferchen von gegenüber war nicht gefährlich. Doch guck mal einer an, da kamen ja die beiden Fräulein Jensen ebenfalls; und die durften hinein! Stürmisches Gelächter der Volksmenge! Denn das wußte doch alle Welt, daß die beiden Fräulein Jensen keine Kinder zur Welt gebracht hatten, Gott bewahr uns. Andreas Berg erklärte, das komme daher, weil sie eine Nichte in der Schule hätten. »Was? – daß sie keine Kinder haben?«

»Nein, daß sie hineindurften, natürlich; sie vertreten doch Elternstelle.«

»Nanu,« meinte Dösen, »ist es denn nicht viel mehr, Vater zu sein, als bloß Vaterstelle zu vertreten?«

Jubelnder Beifall.

Übrigens vertrete er auch Vaterstelle bei denen, die er in Kost und Lohn habe. Darauf ließ Berg sich aber nicht ein.

Jetzt kam der Stadtschultheiß mit seiner Frau. Auch die wollte Berg nicht passieren lassen; sie seien weder »Eltern«, noch hätten sie ein Pflegekind in der Schule.

Dösen rief: »Bravo!« und klatschte Beifall, und eine Menge Leute stimmten ein; stürmisches Gelächter erscholl. Alle kannten ja den Stadtschultheiß, und niemand mochte ihn leiden. Das konnte einen Hauptspaß geben! Dem Stadtschultheißen schwoll auch sofort der Kamm, so daß er nicht sprechen konnte; er konnte nichts als stottern und mit den Armen fechten. Ein langer, dünner Kerl mit einer Brille auf der Nase und einem ewigen Lächeln; aber nicht etwa aus Humor oder dergleichen, nein, bloß vor Magenschmerzen; sein ganzes verzerrtes Gesicht trug das Gepräge hiervon.

Endlich wurde er Herr seiner Sprache und fragte Andreas Berg, ob er verrückt sei. Und die Fran Stadtschultheißin, die bei solchen Gelegenheiten ihrem Manne gern zuvorkam, bemerkte, keine Versammlung in der Stadt habe das Recht, sich vor dem Herrn Stadtschultheißen zu verschließen.

Das machte auf Andreas Berg nicht den mindesten Eindruck; er machte ich gemütsruhig dran, die Tür anderen Kommenden, die wirkliche »Eltern« waren, zu öffnen, und zog sie dann sofort wieder zu. Jetzt nahm Dösen Partei für den Stadtschultheißen: Andreas Berg müsse doch einsehen, wenn der Herr Stadtschultheiß keine Kinder habe, sei das doch nicht die Schuld des Herrn Stadtschultheißen, ebensowenig die seiner Frau Gemahlin.

Ohrenzerreißender Beifall.

Darum könne dem Herrn Stadtschultheiß aus diesem Grunde das Paradies der Eltern doch nicht ganz verschlossen bleiben, so lange er nicht ...

Weiter kam er nicht, denn der Stadtschultheiß fragte ihn, ob er verrückt sei.

»Ja, in Ihrem Namen, Herr Stadtschultheiß,« antwortete Dösen. – Gott, wie man lachte, man brüllte vor Lachen!

In diesem Augenblick erschien Schuster Hansen mit seiner kleinen Frau. Den hatte der Stadtschultheiß wohl an die hundertmal gefragt, ob er verrückt sei; Nils Hansen lachte also, sowie er nur das Wort hörte.

»Na, wer ist denn jetzt schon wieder mal verrückt?« fragte er.

»Andreas Berg,« antwortete der Stadtschultheiß.

»Nein, ich,« rief Dösen.

»Nein, der Stadtschultheiß,« schrien einige in der Menge.

»Denken Sie sich doch,« wendete sich der Stadtschultheiß an Niels Hansen, »dieser Berg hat die Unverschämtheit, mir – mir zu – mir und meiner Gattin den – – den Eintritt zu verweigern!«

Man merkte Niels Hansen an, daß er das höchst amüsant fand. Frau Laura dagegen wunderte sich und fragte Berg: »Aber, lieber Berg, warum denn nur?« Wenn sie aber geglaubt hatte, Berg zu einer Antwort bewegen zu können, so hatte sie sich geirrt. Er öffnete Schuster Hansens die Tür. »Bitt schön,« sagte er. Und sie mußten hinein, hörten aber Dösen noch hinter sich rufen:

»Stadtschultheißens kommen nicht rein, weil sie keine Kinder gekriegt haben.«

Das hörte man drinnen im Saal; ein endloses hundertstimmiges Gelächter kam herausgerollt, und von draußen her rollte ein lautes Antwortgelächter auf die Tür zu, in dem Moment, da diese sich hinter Schuster Hansens schließen wollte.

Während der Saal sich mit Stimmengemurmel füllte, entstand draußen eine neue Bewegung: der Amtmann war gekommen. Die Frau Amtmann hatte eine fremde Dame mitgebracht, die Berg nicht einlassen wollte. Nur »Eltern« seien geladen, wiederholte er unerschütterlich; er wußte, daß diese Dame »Fräulein Krieger« hieß; sie hatte Blumen bei ihm gekauft.

Der Amtmann – auch der Mädchen-Jens genannt – ein blonder Mann mit spitzem Schelmengesicht, sah seine beiden erschrockenen Damen an; mit feuerroten Gesichtern standen sie beide oben auf der Treppe. Die Frau Amtmann hatte ganz unverfroren vorausgesetzt, daß eine Dame, die sie mitbrächte, unmöglich zurückgewiesen werden könnte. Und nun war es doch geschehen; sie war auf einer Mogelei ertappt, sie und ihre Freundin, und stand nun da, zum Gespött für Dösen und Anhang, und obendrein boshaft begafft von einer Menschenmenge, die sie nicht kannte; sie war nämlich noch neu in der Stadt.

Sie war eine hübsche Frau, zart und schlank, mit einem seelenvollen Gesicht; aber jetzt sah sie aus wie ein zu Tode erschrecktes Etwas; hilflos flatterten ihre Augen umher. Endlich blieben sie flehend an ihrem Manne hängen, der schon wieder unten an der Treppe stand und zusammen mit den andern die Damen da oben auslachte.

»Ist es denn so gefährlich, wenn Fräulein Krieger mit hineinkommt?« fragte er.

Allgemeines Gelächter. Das schien Berg zu ärgern. Er rächte sich dadurch, daß er ohne weiteres die Frau Amtmann behutsam beiseite schob, um andern Leuten die Tür zu öffnen. Ein Schwarm von Damen, alle ganz ordentlich verheiratet und mit Kindern in der Schule, wallte die Treppe hinauf und in den Saal hinein. Die unglückliche Frau Amtmann trippelte nun die Treppe hinunter, ihre fremde Freundin sehr verlegen hinterher; es entstand ein kurzer Wortwechsel zwischen ihnen, der damit endete, daß die Freundin ging. Die Frau Amtmann wollte sie durchaus begleiten, was ihr aber nicht gestattet wurde. Nun wollte der Amtmann sie galant begleiten; aber die fremde Dame lief ihm weg. Dabei kam der Amtmann einem Wagen mit zwei großen dänischen Pferden in die Quere, der von einem Kutscher in grauer Livree gelenkt wurde.

Darin saßen Konsul Engel und Frau. Sie fuhren direkt in den inneren Hof hinein, da Frau Engel kränklich war. Etwas Rücksichtsvolleres, Liebenswürdigeres, Anmutigeres als die Art, wie der Konsul jetzt seine Frau aus dem Wiener Wagen hob und sie fast hineintrug, kann man sich schwer denken. Er war ein schöner Mann mit noblem Gesicht. Sein bekanntes Lächeln war liebenswürdiger denn je, während er mit seiner zarten Bürde durch die Menge glitt. Auch sie war schön; der Ausdruck der Augen klug und schmerzlich, oder vielleicht besser gesagt: schmerzlich-klug; von den Augen her legte sich derselbe Leidenszug um die Linien des Mundes und die magern Wangen. Auf ihrem ganzen langsamen Gang vom Wagen bis zur Treppe und weiter mühsam die Treppe hinauf bis zur Tür folgten ihr die erschreckten Vogelaugen der Frau Amtmann; sie umflatterten die Kranke, so daß die Luft von Fragen schwirrte. Von ihr flogen sie zum Konsul hinüber; und von seinen Augen wieder zu denen der Frau ... Was in aller Welt wollten diese Augen? Sie füllten sich mit Tränen. Rasch, mit einem scheuen Blick trocknete sie sich die Augen.

In demselben Augenblick kam ihr Mann, um sie hineinzuführen. Sie fuhr zusammen, wurde rot und lächelte, ja, lachte sogar – Gott weiß warum.

Eben kam Frau Emmy Wingaard, jung und strahlend, vorüber. Der Amtmann flüsterte ihr etwas zu, was sie zum Lachen brachte. Dann fragte er, ob sie sich nicht zusammensetzen wollten. – Frau Emmy Wingaard war eine geborene Fürst. Sie hatte lockiges, hellblondes Haar und lebhafte Augen, mit denen sie Dösen, dem besten Freunde ihres Bruders, des Marineleutnants, ein paar rasche Blicke zuwarf. Dösen schnitt ein verzweifeltes Gesicht, zeigte hinein und ließ den Kopf auf die Brust sinken. Sie verstand, daß er nicht hineindurfte, und machte spöttisch »etsch« mit dem einen behandschuhten Zeigefinger über dem andern. Dann glitt sie hinein.

Wie schön und frohsinnig war sie. Sie hatte viel Ähnlichkeit mit ihrem Bruder, dem Marineleutnant Nils Fürst, dem elegantesten Kavalier der ganzen Stadt, ja der ganzen Küste. Bezweifelt jemand, daß Nils Fürst der Löwe der Küstenstädte ist, so braucht er nur die Dame zu fragen, die hinter Frau Emmy herkommt: Kaja Gröndal, die Frau des Ingenieurs, der nie zu Hause ist. Fragt sie, ob Nils Fürst, der sehr oft zu Hause ist, nicht der vornehmste Kavalier in den Städten der Umgegend ist, und die üppige Dame wird dich ansehen ohne zu erröten und zurückfragen, ob denn daran jemand zweifle.

Der galante Amtmann ließ allen Damen den Vortritt, dann wendete er sich mit ein paar freundlichen Worten an Andreas Berg, der aber keine Antwort gab.

In demselben Augenblick sah Berg Frau Rendalen, geführt von ihrem Sohne; und hinterher kamen der Stadtschultheiß und seine Gattin. Alle vier kamen aus dem Haupteingang des Schulhauses. Der Stadtschultheiß hatte sich also zu Frau Rendalen vorgedrängt, um sich über ihn zu beklagen! Sollte Berg am Ende vor dieser unbotmäßigen Jugend unrecht bekommen, weil er streng Order pariert hatte? Richtig, sie steuerten auf die Haupttür los, anstatt auf die andre, die ins Vorzimmer führte, wo die Turnkostüme der Schülerinnen hingen. Das konnte keinen andern Zweck haben, als Stadtschultheißens Eingang zu verschaffen!

Frau Rendalen und ihr Sohn wurden von den Zunächststehenden begrüßt. Berg öffnete die Tür, sie ging den anderen voran hinauf, trat aber oben ein wenig zurück und ließ wirklich erst das Stadtschultheißenpaar, dann ihren Sohn vorbei. Sie selbst blieb zurück.

Sie war jetzt ein imposantes Weib geworden. Das Haar unter der Haube war aschgrau, das Gesicht braun und voll; es hatte etwas Leuchtendes unter der Brille.

Sie hatte ein tüchtiges Stück Arbeit vollbracht und war sich der Achtung, die man ihr zollte, bewußt.

»Alle, die nicht hierher gehören, müssen jetzt bitte weggehen; jetzt müssen wir hier Ruhe haben.«

Kaum hatte sie das gesagt, als alle sich zu rühren anfingen; und als die Hintersten um die Ecke bogen und verdufteten, schlossen auch bald die andern sich an; ein wenig Gekicher, noch ein paar geflüsterte Witze, aber dann gingen alle. Andreas Berg war der einzige, der große Lust hatte, aufzumucken; denn die Geschichte mit dem Stadtschultheißen war doch wirklich etwas stark.

»Jetzt kommt wohl keiner mehr; Sie können also auch hineingehen, lieber Berg.«

Und damit war es abgetan.

Sie selbst ging hinein. Die Zunächstsitzenden standen auf und grüßten aus alter Gewohnheit, denn es waren ihre ehemaligen Schülerinnen. Aber als diese aufstanden, erhob sich nach und nach die ganze Versammlung.

Sie grüßte nach rechts und links und nahm dann Platz auf der Erhöhung neben dem Katheder. Ihr Blick glitt über die Versammlung hin. Alle Sitzplätze waren besetzt; einige Männer standen im Mittelgang; jetzt bekamen auch sie Stühle; eine alte Frau brachte ihnen welche.

Tomas Rendalen stand drüben am Fenster und sprach mit Doktor Holmsen. Dieser Herr war jetzt recht wabbelig geworden und hatte ein rotes Gesicht; in seinen großen, hervorquellenden Augen lag ein Gemisch von Ironie und Scheu; er stand da und wühlte, halb lächelnd, halb verlegen, mit der einen Hand in dem braunen, etwas grau melierten Bart, während er Rendalen zuhörte.

Tomas Rendalen war das genaue Gegenteil von ihm: energisch, feurig, elegant. Die Schulkinder erzählten sich eifrig, daß er Parfüms benütze, und in der Tat, es wehte ein Duft von ihm her wie von einer eleganten Dame. Auch seine Wäsche hatte etwas ausnehmend Zierliches, und ebenso der graue Anzug, der beneidenswert nach dem neuesten Schnitt gemacht war und wie angegossen saß. Er war vorzüglich gebaut und in allen seinen Bewegungen sehr elastisch.

Während er sich flüsternd mit dem Doktor unterhielt, hatte er etwas Nervöses, Eindringliches an sich; es war, als gelte es, den Augenblick bis aufs äußerste auszunutzen. Dann brach er jäh ab und eilte durch den Saal. Die Tür wurde nämlich noch einmal geöffnet, und herein kamen die, auf die er gewartet zu haben schien: Der alte Pastor Green in Begleitung seines Adjunkten, Karl Wangen.

Ja, jetzt war er wirklich der alte Green; ein gebeugter Greis, der, behutsam auf den Arm des langen Pastors Wangen gestützt, vorwärtsging. Karl hatte eins von den Gesichtern, die sich nicht leicht verändern: die hohe Stirn, die tiefen Augenhöhlen, die gutmütigen Augen und den geraden, leicht lächelnden Mund – über den Tomas sich seinerzeit so oft mokiert hatte – alles war noch dasselbe, nur daß es jetzt auf einem längeren Kerl saß.

Tomas ging dem Greise entgegen, um ihn zu begrüßen, und schritt dann ehrerbietig an seiner Seite durch den Saal, wo neben Frau Rendalens Stuhl ein Lehnstuhl für den Alten reserviert war; Karl Wangen setzte sich neben ihn, und Tomas Rendalen bestieg das Katheder.

Er fuhr sich mit den nervösen, sommersprossigen Händen durch das rote Haar, das sich dadurch noch höher auftollte, dann in die Tasche nach dem Taschentuch, dann nach der Wasserkaraffe, dann nach allerlei Gegenständen, die er vom Pult weghaben wollte; er war ein entsetzlich unruhiger Mensch. Mit den blinzelnden grauen Augen sah er bald hierhin, bald dorthin, jetzt auf seine Mutter und den alten Pastor, dann lächelte er Karl Wangen zu – und fing an.

Seine Stimme hatte Tenorfärbung, war rund, warm und sehr geübt, so daß sie sympathisch wirkte.

Zur allergrößten Überraschung der Versammlung kündigte er an, daß er vornehmlich über die Sittlichkeit zu sprechen gedenke. Sei doch diese Halle vor allem zu sittlichen Zwecken errichtet worden. Die ganze Schulerziehung müsse fortan viel mehr als bisher Sittlichkeit als höchstes Ziel haben.

Um hierüber unumwunden reden zu können, habe er sich gezwungen gesehen, die Versammlung streng auf Eltern und solche zu beschränken, die eine ähnliche Verantwortung übernommen hätten und von denen man kraft dieser Verantwortung erwarten dürfe, daß sie die ernste Sache mit Ernst aufnähmen.

(Und es lag ein Ernst in seinem Wesen, der eine gewisse Schärfe, ja fast etwas Drohendes hatte. Er bemerkte durchaus nicht die erschrockenen Mienen dieser kleinstädtischen Versammlung; er hielt ihre Verlegenheit für etwas wie feierliche Stimmung, für etwas wie die Scheu einer Kirchengemeinde, und legte los.)

»Nicht allein um des Weibes selbst willen muß diese Sache ernst angegriffen werden; nein auch um des Mannes willen. Ein jeder, sei es Mann oder Weib, hat auf sich selbst zu passen; aber die Frau hat dazu noch den Sporn, daß sie, indem sie auf sich paßt, in der Gesellschaft und der menschlichen Gemeinschaft höher steigt.

Ihr dabei in Zukunft mehr als bisher behilflich zu sein, das ist die Aufgabe der Schule.

Der ehrwürdige Mann, der da zu meiner Rechten sitzt, hat mir einmal gesagt, nur solche Geschlechter verfielen dem Laster der Trunksucht, deren Nerven zuvor durch geschlechtliche Ausschweifungen gründlich zerrüttet seien; in solchen Familien würde die Trunksucht leicht erblich. Ich denke,« fuhr er fort, »auch andere Laster können auf diese Ursache zurückgeführt werden. Die Genußsucht z. B. unbedingt. Die wächst oft in einem anscheinend gedeihlichen Erdreich; aber man kann gedeihlich aussehen und doch völlig ruiniert sein. Auch die Charakterlosigkeit, die beim leisesten Widerstand nicht mehr mitkann, mit will – ist in der Regel die Frucht geschlechtlicher Sünden der Väter, oft noch vermehrt durch eigne. Alle Arten von moralischer und intellektueller Stumpfheit und Erschlaffung – wenn sie in Familien, die einst hochgestanden haben, um sich greift – kann fast immer auf diese Ursache als aus die stärkste unter verschiednen andern zurückgeführt werden. Unsre Heftigkeit, unser Jähzorn, unsre Ungeduld, unsre Übertreibungssucht, unsre Reizbarkeit – wenn sie nicht durch Schuld rein zufälliger Erziehungsfehler, zufälliger Krankheiten entstanden sind – finden hier ebenfalls fruchtbarsten Boden; das alles sind Schwächungen, die gewöhnlich durch mehrere Glieder erworben und vielleicht im letzten verschlimmert worden sind.

Die Untersuchungen über diesen Gegenstand sind noch ziemlich neu; die Beweise, die wir vorlegen können, sind noch nicht schwerwiegend genug, aber wir ahnen, daß Beweise vorhanden sind. Erst in der allerletzten Zeit hat die Arbeit ernster Männer und Frauen sich auf diese Sache, als die allerwichtigste, konzentriert; aber die Zahl derer, die wissen, daß sie das wichtigste ist, ist leider noch gering.

Darum ist auch die Schule ihrer Ausgabe in diesem Punkt durchaus noch nicht gewachsen, namentlich ist die Mädchenschule geradezu kläglich.

Die Schule für die weibliche Jugend, in der wir hier stehen, ist als Unterrichtsanstalt so gut wie irgend eine andere im Lande; davon habe ich mich überzeugt. Doch hat die Leiterin dieser Anstalt es während ihrer ganzen Wirksamkeit als tiefe Entbehrung empfunden, daß sie das Ziel, das sie sich ursprünglich gesetzt hatte – nämlich einen Beitrag zur sittlichen Erziehung, einen größeren als üblich, zu liefern – nicht erreicht hat. Das hat meine Mutter mit mir öfter als irgend etwas andres besprochen, so daß es zuletzt auch mein täglicher Gedanke geworden ist. Meine Abstammung, meine Erziehung, meine Lebensweise haben diese Gedanken in mehr als einer Beziehung in mir heranreifen lassen.« (Seine Stimme bebte leicht, er mußte innehalten. Seine Mutter war bewegt. Allgemeine starre Verwunderung.)

»Die sittliche Erziehung der Frau? werden die meisten fragen. Was ist denn an der auszusetzen? Kann sein, im niederen Volke, ja; aber unter den gebildeten Klassen der Stadt? Ist sie da nicht ausgezeichnet? Im Schutze der Religion, in der reinen Luft des Elternhauses, in der regelmäßigen Arbeit der Schule, in dem abgesonderten Leben der Altersgenossen beider Geschlechter?

Ja, wie steht es nun eigentlich mit dem allen?

Nehmen wir zunächst einmal die reine Luft des Elternhauses, ganz en passant. In einer See- und Handelsstadt – das werden Sie mir wohl alle einräumen – ist die sittliche Strömung nicht gerade die stärkste. Kaufleute und Schiffer – ihre Entwicklung führt das mit sich – stehen in sittlicher Hinsicht mit auf der niedrigsten Stufe. Das kann wohl niemand leugnen! Ein frühes Reiseleben schiebt die Moral auf schlüpfrigen Grund hinaus. Die Tätigkeit des Kaufmanns – wo die Verdienstprozente immer zwischen Ehrlichkeit und – Diebstahl schweben – stärkt den moralischen Willen auch nicht gerade. Die Bildung ist in der Regel äußerst gering; die Lektüre beschränkt sich auf ein paar Zeitungen, und höchstens vielleicht ein paar Romane; von einem Verkehr außerhalb des Standes und der Familie kann kaum die Rede sein. Das Gegengewicht ist also sehr schwach.

Das Leben des Seemanns ist in der Regel ein losgebundenes Vagabondieren, zusammen mit allen möglichen Kumpanen aus aller Herren Länder. In neun unter zehn Fällen ist der Schiffer ein ungebildeter Mann, meist roh, oft tyrannisiert von seinem Reeder, wofür er dann, wenn sich die Gelegenheit bietet, stets wieder andre tyrannisiert. Und da sich die Sache nun bei uns so gestaltet hat, daß der Schiffer sich Prozente erschleicht von der Ladung wie überhaupt von allem, was er für den Bedarf des Schiffes einkauft – bis herunter auf das Wasser – ich kenne derartige Beispiele – also ein vollständig durchgeführtes Diebstahlsystem – so muß man wohl einsehen, daß bei einem solchen Leben keine allzu strengen Grundsätze großgezogen werden können. Und in der Regel wird auch den Untergeordneten ein Beispiel von Roheit gegeben.

Wenn dann diese ganze Bande heimkehrt, geschieht es wahrlich nicht, um den moralischen Willen der Stadt oder ihre Charakterfestigkeit zu stärken. Und was die Familien angeht, besonders die Schifferfamilien, so wird es uns einleuchten, daß die Kindererziehung wohl eines solideren Zuschusses bedurft hätte. Oder leuchtet das vielleicht nicht allen ein, so daß ich mich klarer ausdrücken muß?«

(Hätten nur die, die dieses lesen, den Schrecken, die Verwirrung, die Beschämung und Angst der Versammlung mit ansehen können – bei einzelnen sogar die Wut, wie z. B. bei drei kupferroten Schiffern – oder das unverwandte Starren in den Hut, auf die Hände oder auf den Rücken des Vordermanns, oder auch die Schadenfreude einzelner über den Skandal! Diese letzteren waren die einzigen, die ihre Augen zu erheben wagten. Diese Augen stürzten sich gierig auf den lächelnden Konsul Engel, auf die Schiffer, auf die Kaufleute, auf den Amtmann, sowie auf deren Frauen – auf alle, die hier für eigne oder fremde Rechnung auf dem Mokierstuhl sitzen mußten! Da waren Frauen dem Weinen nah, vor Scham, vor Entrüstung, vor Entsetzen, weil sie so etwas mit anhören mußten; sie saßen fortwährend auf dem Sprunge, wagten aber doch nicht, aufzustehen. Da waren Männer, die dachten: Geht das noch einen halben Zoll weiter – i zum Donnerwetter noch mal, dann brenn ich durch! Als der Doktor sich die Nase putzte, fuhren alle so erschrocken zusammen, als hätte es geblitzt.)

»Manche denken gewiß, wenn das Kind nur zu Hause nichts Anstößiges sieht und keine zweideutigen Reden hört, so ist ja alles getan, was getan werden kann, besonders, wenn man noch obendrein acht darauf gibt, daß es selbst nicht irgend einem Laster verfällt.

Ich aber sage: Solange nicht mehr getan wird, ist das Kind allem möglichen ausgesetzt.

Man schwärmt hier bei uns so sehr für die Unschuld der Unwissenheit; das hängt zusammen mit Dingen, wovon ich jetzt nicht reden kann – später werde ich mir dazu schon Gelegenheit verschaffen. Heute begnüge ich mich damit, zu sagen: Nur die Unschuld, die weiß, welche Gefahren ihr drohen, und die von Jugend auf dagegen angekämpft hat, nur die ist stark.

Alle Erziehung, die auf diesem Gebiete etwas ausrichten will, stellt die unabweisbare Bedingung: Volles Vertrauen zwischen Kind und Eltern. Jedenfalls vom Kinde zur Mutter, oder, um meinen Gedanken recht auszudrücken, zu dem von den Eltern, der am besten geeignet ist, das Zutrauen des Kindes zu behalten; das ist nämlich eine ganz besondere Gabe. Und hat keins von den Eltern diese Gabe was ja leicht der Fall sein kann, so schafft jemand herbei, der sie hat! Setzt alles dran, um das zu ermöglichen.

Ist der Vater des Kindes ein Mann, der selbst seinen Kampf – mag dieser nun früh oder spät an ihn herangetreten sein – nicht mit Ehren bestanden hat, so ist er nicht bloß das fünfte Rad am Wagen – das ginge noch an – nein, in der Regel ist er geradezu ein Hemmschuh! Denn gewöhnlich hat er dann in seinem Wesen, in seiner Rede, in seinen Umgangsformen etwas, was verletzt oder verführt; Dinge, die mit Ernst behandelt werden sollten, werden in seiner Gegenwart leicht spaßhaft oder zweideutig.

Und in dieser Stadt – so wie ich sie kenne, und namentlich wie alle die sie kennen, die in ihr alt geworden sind und deren Blicke sich für solche Dinge geschärft haben – in dieser Stadt, denke ich, ist es mit den meisten Familien in dieser Hinsicht recht erbärmlich bestellt. Die Väter tun nichts dazu; die Versuche der Mütter, ein vertrauliches Verhältnis, eine gute Kameradschaft zwischen sich und den Kindern aufrecht zu erhalten, sind sicherlich meist sehr schwach; in der Regel werden sie wohl gar nicht mal gemacht. Sie wissen nicht, wie sie es anfangen sollen.

Und so lange wird auch die Arbeit für diese Sache in der Schule nur trügerisch sein. Leicht nämlich kann das Kind zwischen edeln Theorien und schlechter Praxis hin- und hergeworfen werden: die Kenntnis des Bösen kann, wenn sie nicht von wachsamer Vertraulichkeit gestützt wird, leicht zur Versucherin werden. Darauf ist bereits Paulus aufmerksam geworden.

Aus diesem Grunde bin ich darauf vorbereitet, daß unsre Arbeit anfangs im Leben oft wider uns zeugen wird; aber trotzdem – einen andern Weg gibt es nicht – nein, es gibt keinen andern Weg.

Und gibt es nicht ein bestimmtes Alter, über dem die Schule besonders wachen muß? Gilt es nicht vor allem, über diese Klippe heil hinwegzukommen? Die Lust hierzu anzuregen, die Mittel zu schaffen – seht, darin liegt unsere Aufgabe! Fragt mir die Ärzte, fragt erfahrne Erzieherinnen!

Meine Mutter, die ich wohl eine erfahrne Erzieherin nennen darf, bezeugt, daß die meisten im Übergangsalter abfallen, indem sie ihre Offenherzigkeit, zum Teil auch ihren Fleiß, ihren Ordnungssinn verlieren. Es schleicht sich ein fremdes Element von gemischter Natur – von höchst verschiedener Natur bei den Verschiedenen – in das Kindergemüt hinein. Denken Sie doch, sie sagt, das sei der Fall bei den allermeisten. Das andere ist eine Ausnahme, dies ist die Regel.«

Nach der Haltung der Versammlung hätte man meinen sollen, das ginge nur die Frauen und nicht die Männer an. Die Männer nämlich guckten die Frauen ganz frech und unverschämt an, was die Situation noch peinlicher machte – namentlich für die, die vor Gott und aller Welt Schülerinnen der Frau Rendalen gewesen waren.)

»Also: Hier muß unsre Arbeit angegriffen werden; diesem Übergang vollständig gerüstet zu begegnen, das ist der Kernpunkt der Sache.

Denn es nützt nichts, es abzuleugnen oder zu umgehen: dies ist doch das wichtigste. Das bedeutet nämlich im wahrsten Sinne Leib und Seele bewahren, und dagegen ist alles andre, wie Sprachkenntnisse, Musik, Frauenzimmer-Geschicklichkeiten, bloß Luxus. Geschichte, Geographie, Rechnen und Schreiben sind schon etwas mehr wert, aber doch auch nur von untergeordneter Bedeutung.

Aber die Religion? Kann die nicht darüber hinweghelfen? Ja, was meint man wohl? Die Kenntnis von Gott und den Sittengesetzen ist natürlich unentbehrlich, doch erst wenn sie Verhältnis zu uns selbst gewinnt, ist sie fruchtbringend. Und das ist ja leider nur zu selten der Fall. Baut nicht zu fest auf einen Glauben, der verloren gehen kann! Nur die wenigsten werden dauernd von religiösem Glauben ergriffen. Es mag anders scheinen, weil hier bei uns zur Zeit die Religion das einzige ist, was – jedenfalls außerhalb der größten Städte – geboten wird. Es sieht so aus, weil wir hier überhaupt noch nicht sehen gelernt haben; und auch, weil die meisten sich noch verstecken.

Kinder bilden in dieser Beziehung keine Ausnahme. Denken Sie das nur ja nicht. Man kann Kinder leichter mit sich fortreißen; aber sie vergessen auch viel leichter das eine über dem andern. Es gehört nicht viel dazu, sie glauben zu machen, aber auch nicht viel, sie zweifeln zu machen. Das Verhältnis ist hier also dasselbe. Die Zahl derer, die sich durch ihren Glauben dauernd in ihrem sittlichen Willen beeinflussen lassen, ist auch unter den Kindern nur sehr gering.

Hier sind vier Geistliche anwesend, ich bitte die Herren, sich zu erheben und mich zu widerlegen – ich glaube nicht, daß sie das Bedürfnis dazu fühlen.«

(Kurze Pause; aller Augen richteten sich auf die von den vier Geistlichen, deren man ansichtig werden konnte. Die vier Hochwohlehrwürdigen saßen unbeweglich wie Götzenbilder.)

»Meine ich damit nun etwa, daß auf die Verkündigung der Religion in der Schule kein Gewicht gelegt werden solle? Im Gegenteil!

Keine Religionsstunde ohne den vollen Ernst der Verkündigung, und am liebsten von dem geleitet, der das Kind bis zu seiner Konfirmation auf das Verhältnis zu Gott vorbereiten soll, also von dem Geistlichen selbst. Ich würde sagen, unbedingt und allein von dem Geistlichen, wenn sich das machen ließe. Auch das Verhältnis zu seinem Lehrer sollte dem Kinde nämlich eine Stütze sein. Ich kann nicht näher auf diesen Gegenstand eingehen; ich will nur darauf hinweisen, daß es an unserer Schule so eingerichtet ist. Mein Jugendfreund und Bruder Pastor Wangen wird unsre Zöglinge vom sechsten bis zum sechzehnten Jahre jeden Morgen zur Erbauung und zur Glaubenslehre versammeln. Und unsre Absicht ist, daß er diese seine Schar auch am Tage der Einsegnung vor der ganzen Gemeinde vor den Altar führen soll.

Doch aus allem, was ich gesagt habe, geht es immer wieder hervor, daß ein wirklich tiefes und schönes Verhältnis nur bei einigen wenigen geknüpft wird.

Es ist die höchste Zeit, daß die Schule das einsehen lernt. –

In der jüngsten Zeit,« fuhr er nach einer kurzen Pause fort, »hat man angefangen, die Welt- und die Literaturgeschichte zu charakterbestimmenden Fächern zu erheben. Wenn einst diese Wissensgebiete für den Schulgebrauch besser bearbeitet sein werden, als sie heute sind, dann werden sie auch sicher größere Bedeutung für die Charakterentwicklung erlangen.

Veredelnd wirkt es natürlich immer auf das junge Gemüt, daß ihm erhabene, edle Beispiele vor Augen geführt werden, daß es erhabene Gedanken kennen lernt und einen – wenn auch beschränkten – Überblick gewinnt über den Lebensgang der Menschheit, wie den eines einzelnen Volkes, eines einzelnen großen Menschen. Aber es darf doch nie zur Hauptsache werden, von andern erzählen zu hören.«

(Jetzt fing die Versammlung neugierig zu werden an. Wo wollte er denn eigentlich hinaus? Alle fühlten, jetzt mußte es kommen.

Er beugte sich über das Katheder vor und sagte langsam:)

»Die wichtigste Kenntnis für den Menschen ist, über sich selbst wachen zu lernen, und die zweitwichtigste, über seine Nachkommen zu wachen. – Diese Worte Herbert Spencers werden bald das Programm der ganzen Welt werden.

Ehe das nicht auch für die Schule das wichtigste wird, können auch die übrigen Fächer nicht ihren richtigen Platz im Erziehungswesen erhalten.

Aber über sich selbst wachen lernen, über seine Kinder wachen lernen, – das hat einen sittlichen Zweck und ist das einzige, was hier als Grundlage gebraucht werden kann.

Lernst du schon in früher Jugend, wie dein Körper zusammengesetzt ist und wie er arbeitet, und lernst du von Grund auf, wodurch du ihm schaden oder nützen kannst – und dadurch auch denen, die einst von dir geboren werden oder abhängig sein werden –, dann ist dieses dein Wissen dein zuverlässigster Wächter, und nicht bloß dann, wenn du ihn brauchen willst, nein, es verleiht dir in der Regel auch den Willen dazu. Nichts weckt das Gefühl der Verantwortlichkeit stärker als Kenntnisse. Aber diese Kenntnisse dürfen nicht gar zu spät kommen.

Ich brauche wohl nicht erst auszuführen, daß die herkömmliche Schule deren oft allzu wenig gibt – und dieses wenige nicht einmal in der richtigen Weise.

Man muß wissen, warum etwas gelehrt wird. Man muß offenherzig, eingehend sein; durchaus nichts verheimlichen; gerade das, was jetzt gewöhnlich verheimlicht wird, ist das wichtigste.

Ich habe vom Übergangsalter gesprochen. Weiß das Kind, was da beginnt und warum es beginnt – weiß es das gründlich? Weiß es, welche Versuchungen ihm dann nahen und warum sie nahen? Hat es gelernt, wie es diesen Versuchungen begegnen kann? Hat es gelernt, wie es in jener Zeit die Grundbedingungen für die Gesundheit und dadurch für Charakter, gute Laune, Glück bauen kann? Daß von dieser Zeit sein ganzes späteres Leben, ja das Wohl und Wehe seiner Nachkommen abhängt?

Und wird dieses Wissen so gelehrt, daß es sich unauslöschlich in des Kindes Willen einbrennt? Sind die Fächer, die ich vorher erwähnte, mit aller Kraft helfend beigesprungen, mit allem, was jetzt, gerade jetzt, des Kindes Phantasie auf edlere Spuren lenken, seine Vorsätze stärken, es begeistern kann? Denn Kinder, namentlich junge Mädchen, können sich begeistern lassen.

Oder – um hinunterzusteigen zu dem, was alle durchführen können – wissen die Eltern daheim, daß in diesem Alter gewisse Speisen und Gewürze für manche Naturen gefährlich sind? Daß am besten eine ganz bestimmte Diät beobachtet werden sollte – und welche? Weiß die Schule, daß eine besondre Art von Gymnastik stützend hinzukommen sollte?

Nicht alle Kinder brauchen in gleichem Grade Vertraulichkeit, Aufsicht, schonende Behandlung. Aber die meisten – ich kann mich getrost auf die Erfahrung dieser Versammlung berufen. Wir sind alle einmal jung gewesen und haben Kameraden gehabt.«

(Er machte eine Pause und sah sich um. Fern, ganz fern konnte man ein Vöglein aus frischer Kehle zwitschern hören.)

»Ich frage weiter: Haben nicht die, die früher von sowas nichts wußten, gerade in diesem Alter gelernt, zu verheimlichen? Heimlich zu Werke zu gehen? Mit der Keuschheit wird auch das Ehrgefühl verletzt; und mit diesem der Mut. Wenn wir eins zu bekennen wagen, ein andres nicht – ja, dann bekommt unser Mut einen Knick. Ganz still und unbemerkt beginnen in diesem Alter in Körper und Charakter die Kräfte der Selbstzerstörung. Niemand wird mir zu widersprechen wagen!«

(Diese schrecklichen Pausen, die er machte, waren fast noch schlimmer als alles, was er sagte. Hier machte er wieder eine; er ging nämlich jetzt zu etwas andrem über.)

»Gibt es nun irgendwo in der Welt einen Ort,« fragte er, »wo die Schule so eingerichtet ist, wie diese Erfahrungen es verlangen?«

Hierauf gab er Antwort, indem er mehrere Schulen in Amerika und England eingehend schilderte, teils für Mädchen allein, teils für Knaben und Mädchen zusammen, ebenso wie mehrere Hochschulen für junge Mädchen allein, wie für junge Männer und junge Mädchen zusammen. Zwar meinte er, böten auch diese noch lange nicht alles, was wünschenswert sei; aber jede böte doch etwas; manche sogar sehr viel.

Besonders verweilte er bei einer medizinischen Hochschule in Boston, an der eine unverheiratete Frau als Professor der Anatomie angestellt sei, und zwar für junge Studenten beider Geschlechter. Er erzählte, daß sie später dafür Sorge trage, daß ihre Schülerinnen an den städtischen Mädchenschulen angestellt würden.

Dieser weibliche Professor vertrete die Ansicht, jede Schule müsse einen Arzt als Lehrer haben. Entweder der Arzt selbst oder ein andrer Naturkundiger müsse die naturgeschichtlichen Studien des Kindes leiten; und zwar stets so, daß es treffende Eindrücke erhalte. Schon das Kind könne durch das Mikroskop sehen, wie z. B. die Pflanze sich aus Zellen aufbaut, und wie alle ihre verschiedenartigen Teile sich aus einem einheitlichen Grundstoff entwickeln; die Atmungstätigkeit der Pflanze, die Zelleneinteilung, das Wachstum, die Befruchtung könne es beobachten; die Einbildungskraft würde beschäftigt, ja reguliert durch die Arbeit und die Harmonie der Natur.

Schon von früh an müsse dem Kinde die heilige Bewunderung für alles, was gesund, frisch, natürlich ist, eingeflößt werden; ebenso Mitleid mit allem, was gebrechlich und krank ist, und Ekel vor allem Naturwidrigen, aber auch da gepaart mit Mitleid.

Dazu müsse Mikroskop und Analyse und eine solche Menge von Zeichnungen und Apparaten herbeigeschafft werden, daß von einem versagenden Verständnis in einem der Hauptpunkte überhaupt nicht die Rede sein könne; auch dürfe der Unterricht beileibe nicht nur ein langweiliges Herplappern der Aufgaben oder eine einschläfernde Vorlesungsstunde sein, nein, Eigenarbeit, wirkliche kraftentwickelnde Eigenarbeit unter der Leitung des Lehrers.

»Solch eine Schule wird natürlich weit kostspieliger als die jetzige; schon die Beschaffung des Materials, wenn dieses zweckentsprechend sein soll, fordert eine bedeutende Ausgabe.« Er erzählte ihnen, was allein ein Mikroskop koste, und davon müsse jede Schule viele haben; außerdem müßten auch die Lehrer höhere Gehalte haben.

»Nun ja, da muß eben der Militäretat herhalten,« sagte er humoristisch. »Ein moralisch und physisch kräftiges Geschlecht – das ist doch reichliche Entschädigung dafür.«

Um Zeit zu gewinnen, müßten – abgesehen von dem modernen Apparat, der die Aneignung des Stoffes wesentlich erleichtere – auch andre Fächer teilweise ganz anders vorgetragen werden als bisher, und alle Schularbeiten unter Aufsicht des Lehrers auf der Schule gemacht werden. Selbstverständlich müßte sowohl vormittags wie nachmittags Schule gehalten werden, mit einer reichlichen, kräftigen Mahlzeit an Ort und Stelle. Wenn das Kind nach Hause komme, müsse es vollständig frei sein, ohne Gewissensskrupel für den morgenden Tag.

Über dies alles und namentlich über den neuen Schulplan wolle er hier an derselben Stelle am nächsten Sonnabend reden, wozu er, wie heute, die Eltern einlade.

Er wolle nicht mit seiner Meinung hinterm Berge halten, daß in nicht allzu langer Zeit der Unterricht in der ganzen Welt so wie hier vorgeschlagen geordnet werden würde, und zwar vollständig auf Kosten des Staates oder der Stadt. Das sei die größte Programmsache der bürgerlichen Gemeinschaft.

Doch unbekümmert um das, was kommen solle und das, was war, solle nun seine Schule, was die Entwicklung des Charakters und der Anlagen des Weibes anbelangt, der Linie folgen, die er für die richtige halte. Von allen Arten von Belehrung sei die des Beispiels die tüchtigste.

Er bat eindringlich um die Hilfe der Eltern. Er wolle versuchen, es zu einer Ehrensache für diese Stadt zu machen, Vorkämpfer dieser Sache zu werden. Freilich, ein kostspieliges Unternehmen sei es! Was koste nicht allein der weibliche Arzt, den er jetzt aus Amerika hierherkommen lasse, um den Teil des Unterrichts, den er für den wichtigsten halte, durch sie leiten zu lassen!

(Bewegung, Gemurmel, lebhafte Teilnahme in der Versammlung; zum erstenmal während des ganzen Vortrages.)

»Ja, in Boston habe ich eine norwegische Dame kennen gelernt, die schon in früher Jugend dorthingekommen ist und vor mehreren Jahren ihr Examen an der medizinischen Hochschule in Boston gemacht hat. Sie heißt Miß Cornelia Hall (er sprach den Namen englisch aus). Diese Dame hat bereits eine große Erfahrung als Lehrerin an Mädchenschulen. Auch eine gute Praxis hat sie sich erworben. Daß sie nun zu uns kommt, ist ein Opfer, das sie ihrem Vaterlande bringt; aber wir können das natürlich nicht so annehmen, daß dadurch ihre Einnahme von dreitausend Dollars jährlich auf einen gewöhnlichen norwegischen Lehrerinnengehalt reduziert würde. Als Ärztin wird sie hier nichts verdienen; sie kann hier nicht anders praktizieren als auf Grund der im »Quacksalbergesetz« ausgewählten Bedingungen – und die sind eines fremden Arztes ebenso unwürdig wie des Volkes, das dieses Gesetz gegeben hat.

Was ferner die Apparatesammlung der Schule angeht, so ist diese allerdings schon jetzt recht ansehnlich; doch sie kann kaum je bedeutend genug werden. In dem Maße, wie diese vervollständigt wird, wird auch der Unterricht erleichtert werden.

Ich geniere mich nicht, zu gestehen, daß meine Mutter, die ein Vermögen für diese Schule geopfert hat, unmöglich noch weiter gehen kann; vielleicht habe ich ihr Leistungsvermögen schon über Gebühr angestrengt. Ich wende mich daher getrost an diese Versammlung, an die Frauen im besondern, und sage ihnen: Wißt ihr aus Erfahrung, was es hier gilt, was eine in allen Kenntnissen bewanderte Frau, die gelernt hat, sich selbst zu beherrschen, sich auf sich selbst zu verlassen, wert ist – dann kommt mir zum Entsatz! Um eurer Kinder willen tut es. Um des guten Beispiels willen tut es!

Was mich angeht – ich will hier in meiner Vaterstadt für diese Sache leben und sterben!«

* * *

Die letzten Worte sagte er mit einer plötzlich aufwallenden Bewegung; diese kam so unerwartet über ihn, daß er ganz vergaß, die Turnhalle einzuweihen; ohne sich zu verbeugen, stieg er hastig vom Katheder hinunter und verschwand in der Tür nach dem kleinen Vorzimmer, von wo er über den Hof nach Hause stürmte.

Das Publikum saß da, als wäre er noch nicht fertig. Der Schluß kam allen so verquer, so gänzlich unerwartet, und in Rendalens Bewegung war eine elektrisierende Macht, die alle gefangen nahm. Man mußte erst zur Besinnung kommen.

Einige gröbere Naturen unten an der Tür standen indessen auf, und darauf alle andern. Und nun kam für Frau Rendalen ein Augenblick der höchsten Überraschung.

Sie sah bekanntlich nicht gut, nicht einmal mit der Brille; und zudem hatte sie die ganze Zeit nur ihren Sohn angesehen. Die Halsmuskeln an der rechten Seite taten ihr so weh, da sie fortwährend den Kopf nach ihm drehte, daß sie schließlich den Stuhl umgedreht hatte und nun ganz ihm zugewendet saß.

Das Thema war ihr ja bekannt, Satz für Satz. Aber seine energische Vortragweise, seine persönliche Macht, seine Unerschrockenheit waren ihr etwas ganz Neues. Sie hatte er nicht eingeschüchtert. Im Gegenteil; sie war selbst eine tapfere Natur und wußte, war irgendwo Offenheit notwendig, war sie es hier. Sie kannte die Zustände und die Gleichgültigkeit der Masse. Sie wollte es selbst so, einmal in ihrem Leben sollten sie hören. Und er tat es in so vornehmer Weise, fand sie. Sie folgte gespannt und fühlte seine innere Bewegung dabei mit; sie wußte, wenn er sich nicht zusammennähme, würden seine Gefühle ihn überwältigen. Und als dann die wenigen Worte an die Versammlung plötzlich Feuer schlugen, da war auch sie fertig, ganz wie er. Seine Schlußworte füllten ihr die Brillengläser. Sie mußte sie trocknen, und dabei sah sie niemand und dachte an nichts um sich her als an sich selbst.

Aber als sie hörte, daß die Versammlung sich erhob, erwachte sie aus ihrer Selbstvergessenheit und machte sich schnell fertig, sich zu erheben. Sie wollte gern bereit stehen, um alle die zu empfangen, die ihr gern die Hand drücken wollten und vielleicht auch kämen, um einen Gruß an den, der da eben hinausgebürstet war, zu bestellen.

Und nun kam niemand ... Doch. Die beiden Fräulein Jensen, die kleinen, schiefen Modistinnen kamen. Still, herzlich und lächelnd wie immer kamen sie; sie bedankten sich und baten um viele Grüße an den Herrn »Schuldirektor«; wenn sie dürften, möchten sie gern selbst mal kommen, um ihm ihren besten Dank abzustatten. Aber die beiden Fräulein Jensen waren die einzigen. Nicht einmal Niels Hansen kam; auch Laura nicht, nicht eine einzige von ihren ehemaligen Schülerinnen ... Nicht einmal Frau Engel, die arme, liebe Emilie – an die sie während des Vortrages so oft hatte denken müssen – niemand ...

Wäre jemand auf Frau Rendalen zugegangen, um ihr im Namen der Versammlung eine Ohrfeige zu versetzen, die brave Frau hätte nicht erschrockener sein können. Großer Gott, was hatte das zu bedeuten?!

Für sie bedeutete ja seine Rede ihr ganzes Zusammenleben; Gedanke um Gedanke war die Summe dessen, was sie gemeinsam gelernt und erfahren und einer dem andern bestätigt hatten.

Nein, sie bedeutete mehr; sie war das A und das O ihrer ganzen langen Lebensarbeit an ihm selbst, von der Stunde seiner Geburt an bis zu diesem Tage, da er hier stand, klar, reich an Kenntnissen, warm, erfüllt von dem großen Ziel; – seine Rede war diese ihre Arbeit, diese Entwicklung in Blüte; jetzt sollte sie zur Frucht reifen.

Wie sie ihn liebte; wie sie ihn bewunderte! Sie wußte, was er in diesen achtundzwanzig Jahren durchgekämpft und geleistet hatte; sie wußte, woraus jeder einzelne Gedanke, der jetzt so hellen Klang gab, zusammengewoben war.

Sie hatte nur verschwommen davon geträumt, ohne zur Klarheit zu kommen, aber die Klarheit hatte er! Sie hätte mit dieser Klarheit nichts ausrichten können, selbst wenn sie sie gehabt hätte; aber das konnte er!

Und war das nicht trotz allem doch ein Märchen? trotz aller der Arbeit, ihrer eignen, sowie seiner. Was sie einst in ihrem Jugendmute sich unklar ausgedacht hatte, nämlich das Kurtsche Erbe durch Verschmelzung mit ihrem eignen Erbe umzuformen – und was sie später kühn begonnen hatte, als sie das dumpfige Haus der Familie ausräumte und es hell und rein drin werden ließ, und sich dann die Aufgabe stellte, »trauliches Kinderlachen« hier einziehen zu lassen; unklar und töricht, aber mutig hatte sie es begonnen – jetzt stand es fertig da! Und zwar durch ihn, durch das Kind. War das nicht ein Märchen?

Wie überglücklich sie war! Sie hätte vor der ganzen Versammlung niederknien mögen, um Gott zu danken; ja, gern durch einen Lobgesang, obwohl sie keinen Ton rein singen konnte. Sie wußte, wenn alle diese Menschen jetzt zu ihr kämen, um ihr zu danken, mit ihr zu sprechen, so würde sie sich nicht länger halten können – sie würde sich geradezu prostituieren; aber was tat das? Er hatte es ja so gut gemacht!

Und nun kam nicht ein einziger. Doch, die beiden Fräulein Jensen; aber sonst niemand. Sie gingen alle, alle.

Aber der alte Probst? Richtig, der saß noch sinnend da; ihn müßte doch ein unmittelbarer Drang getrieben haben, mit ihr zu reden, sich zu erheben, ja, im Namen der Versammlung ein paar Worte zu sagen ...? Erst jetzt, da fast alle gegangen waren, begann auch er sich zu regen. Er sah auf, sah sie lange an, fast fragend, erhob sich mühsam und kam. – Endlich!

»Ja, meine liebe Frau Rendalen, das hat er ja recht brav gemacht.«

»Ja, nicht wahr –?«

»Wirklich recht brav. Aber ich gäbe viel drum, er hätte es nicht getan.«

»Aber, Herr Probst –?«

»Ja, ich kann jetzt nicht weiter darüber sprechen, es ist zu viel Lärm hier, und ich bin müde. Ein ander Mal. Grüßen Sie ihn von mir! Adieu, liebe Frau Rendalen!«

Er nahm Karl Wangens Arm und wollte gehen.

Nur einer war da, der von dem allen ebenso entsetzt, ja überwältigt war wie sie: das war Karl. Er war von Anfang an nur der Rede und dem Redner gefolgt; unschuldig wie er war, hatte er nie an die Möglichkeit gedacht, daß jemand etwas anders fühlen könnte, als daß dies das rechte Wort sei, von dem rechten Manne gesprochen. Aber später, als er zufällig einmal die Versammlung beobachtet hatte, nämlich als Rendalen die direkten Fragen an sie gestellt hatte, – da war doch ein Zweifel in ihm aufgestiegen, und der war gewachsen, so daß er schließlich mit Herzklopfen dasaß. Aber daß niemand zur Mutter kam, nicht einmal eine ihrer frühern Schülerinnen – er kannte ihr Gesicht, er sah ihren Schmerz! ... Und jetzt sogar der Pastor! ... O, er ließ dessen Arm los und ergriff mit beiden Händen ihre Hände: er hatte die größte Lust, sie zu umarmen; aber es waren noch zu viele Menschen im Saal ... er sah sie an, bis seine Augen sich mit Tränen füllten, und da konnte er's doch nicht lassen, er umarmte sie und küßte sie; mochte es sehen, wer wollte ... Dann gab er etwas linkisch dem Pastor seinen Arm und geleitete ihn hinunter.

Dadurch wurde die brave Frau Rendalen wieder zum Menschen. Leichter, als man ihr zugetraut hätte, lief sie durch die Tür in das kleine Vorzimmer, und von dort über den Hof ins Haus hinüber.

Hier suchte sie ihren Sohn.

Er hatte gerade Rock und Weste abgeworfen und wollte ein Bad nehmen. Aber so lange konnte sie nicht warten. Sie warf sich an seine Brust, drückte ihn warm an sich und weinte, während sie sagte: »Tomas, mein Junge, mein geliebter Junge!«

Auch ihm war es längst klar, daß da etwas nicht in Ordnung war. Das bestätigten ihm jetzt ihre Augen, ihr ganzes Wesen; auch, daß sie gar nichts sagte, ihm von niemand einen Gruß brachte, obgleich sie doch im Saal zurückgeblieben war. Jetzt, da die Spannung vorüber war, fühlte er eine dunkle Angst, einen Stich im Herzen.

Aber er wollte nicht davon sprechen. Und sie auch nicht. Sie ging also, und er nahm sein Bad.

Andreas Berg blieb allein in der Turnhalle zurück. Und als die letzten hinaus waren, schloß er die Tür und begab sich mit würdevollem Schritt in die Ecke unten neben der Haupttür. Dort waren verschiedene Turnapparate aufgestapelt, über die man eine große Leinwand gebreitet hatte.

Diese Leinwand zog er nun fort und zerrte sie geräuschvoll auf den Boden. Dabei kamen zwei Köpfe und vier Arme, die sich schnell ineinander hakten, zwei Röcke und vier Schnürstiefel zum Vorschein. Zwei schweißtriefende, feuerrote Gesichter drückten sich aneinander und ein zerzauster Blondkopf mischte sich mit einem dito Braunkopf.

Berg stand mit strenger Miene da.

»Oho, hab' ich's nich gedacht? Eegal rumort es da unter der Leinwand,« sagte er. »Erst könnt ich gar nich begreifen, was 'u das bloß sein kann; na, zuletz denk ich, 's werden woll so 'n paar kleene Jöhren sind. Un was is es? Ausgewachsene Mächens. Schämt euch was!«

Die eine von den zweien fing zu lachen und die andre zu weinen an.

»Un das wollen Kinder von anständjen Eltern sind, he? 'n Herrn Amtmann seine. Na, ich sag es ja –!« sagte er zu der, die gelacht hatte. »So 'n jroßes Mächen, komfermiert und in der ersten Klasse. – Na, un du da? Denkste, ich kenn dir nich? Schuster Hansen seine; ja, deine Mama war ooch hier, wart man, Range. Die hätt dich man bloß mal da sehen sollen unter der Leinewand. Ja, dein Pappa ooch. Da hättste man mal deine Schwester Augusta sehen sollen, das war 'n Kind, na! Die betrug sich doch immer wie 'n anständjes Mächen. – Na ja, nu packt euch man. Jetzt geh ich rein un sag's.«

Kaum war er zur Tür hinaus, da fuhren die zwei in die Höhe. Gott, wie sie aussahen! Die Kleider, die Haare, die Gesichter – ja, besonders die Gesichter! Beinah wie kleine Kinder, die geweint haben und sich mit den schmutzigen Händchen die Tränen über Augen und Backen hingeschmiert haben.

Das kam davon, daß sie sich an allen den Gerätschaften, die hier lagen, die Hände schmutzig gemacht hatten und damit den Schweiß, der ihnen die Backen herunterrann und in den Augen brannte, hatten abwischen müssen. Und wie gerädert und jämmerlich sie sich fühlten! Obwohl sie reichlich Gelegenheit gehabt hätten, sich's auf ihrem Platze bequem zu machen, hatten sie doch die ganze Zeit in derselben Stellung gelegen; schon eine Stunde vor Beginn des Vortrages hatten sie sich unter der Leinwand verkrochen und sich keinen Moment sicher gefühlt.

Die eine weinte und schalt auf die andre, die lachte. Aber als sie sich dann ordentlich anguckten und sich gegenseitig beschrieben, wie sie aussahen, brachen sie beide in unbändiges Gelächter aus und stürzten in das kleine Zimmer am andern Ende des Gebäudes, wo, wie sie wußten, Waschgelegenheit war. Und von da sollte es zu den Pensionärinnen hinübergehen zum Erzählen. Denn sie hatten nicht bloß zum eignen Vergnügen zwei Stunden da unter der Leinwand gehockt, nein, sie waren von der ganzen obersten Klasse dazu auserwählt worden. Die ganze Klasse war mit dabei gewesen und hatte die Leinwand über sie gezogen.

Proviant hatten sie mitgenommen, auch Trinkwaren, Bier. Aber das war schon lange vor Beginn alles verputzt.

Drüben bei den Pensionärinnen war die erste Klasse versammelt, dort erwartete man sie. Was mochte das nur sein, was nur die Eltern wissen durften, das mußte doch etwas ganz Apartes sein.

Und jetzt wußten diese beiden es! Sie hatten kaum Zeit, das dickste von sich abzurubbeln und sich die Haare wenigstens so zu kämmen, daß sie, ohne sich zu schämen, über den Hofplatz rennen konnten. Aber wie sie sich auch eilten, die Ungeduld der andern kam ihnen schon entgegen. Die ganze Klasse kam über den Hof nach der Turnhalle gestürmt; sie hatten nur darauf gewartet, daß Andreas Berg die Tür schließen und verschwinden würde. Er hatte sich gräßlich viel Zeit dabei gelassen! Aber endlich schrummte er denn doch ab in die Küche.

Die beiden waren um ihres brillanten Gedächtnisses willen erwählt worden; und das Unglaubliche geschah, daß sie fast die ganze Rede auswendig konnten; jedenfalls alle die Wendungen, die am meisten gepackt hatten, die am besten vorgetragen worden waren und am neuesten waren!

Und hatte Tomas vor einem undankbaren Publikum gesprochen – hier war ein Publikum, das dankbar war. Junge Mädchen lieben den Mut; wenn sie sich nur nicht selbst vornan zu stellen brauchen, dann glühen sie vor Begeisterung. Seht nur die Blonde da, die schlanke, schmächtige, mit den großen Augen, das Amtmannstöchterlein, seht sie an! Sie hatte das Vogelgesichtchen der Mutter; aber statt wie das der Mutter verschüchtert, war ihrs wie zu keckem Fluge erhoben. Ein Rahmen von üppigem Blondhaar lag wirr darum, und jetzt, da die Augen und das ganze Gesicht strahlten, ward auch das Haar zu Flammen.

Sie erinnerte sich nicht genau der Reihenfolge, in der er gesprochen hatte; das däftigste, das spaßigste kam zuerst. Sie hatte ein unbedingtes Verständnis; von der Schule her und dem Zusammenleben mit ihm und mit Frau Rendalen und den Lehrerinnen hatten sie alle Vorbedingungen, um zu erfassen, was er wollte – mehr, als die Versammlung im allgemeinen.

Aber mitten in der höchsten Extase hielt Nora plötzlich inne, wurde feuerrot und dann leichenblaß – auf der Treppe stand – Frau Rendalen!

Andreas Berg hatte Wort gehalten. Aber die Mädchen hatten ihn total vergessen.

Als Andreas Berg zu ihr kam, war Frau Rendalen in ihrer tiefen Erregung im Zimmer auf und nieder gegangen; und es war ihr ordentlich lieb, daß sie ihr Mütchen an jemand kühlen konnte. Sie stapelte sofort hinaus und die große Treppe hinunter; sie wollte die Missetäterinnen auf frischer Tat ertappen und trabte deshalb um den ganzen Flügel herum und an der Turnhalle entlang, um ihnen in den Rücken zu fallen. Aber dicht an der Tür zum Vorzimmer, das die andern natürlich abzuschließen vergessen hatten, hörte sie Nora, von ihrer Freundin unterstützt, die Rede, Tomas Rede vortragen – mit Tomas Tonfall, mit seiner Vortragsweise, seinem Feuer – mit wirklicher, echter Beredtsamkeit ... ja, das war eine, die zugehört hatte!

Die prächtige Frau Rendalen trat in völliger Selbstvergessenheit ganz vor, wirklich nur um sehen und dabei sein zu können. Aber so wurde es nicht aufgefaßt.

Noras Entsetzen, das Aufschreien der andern, als sie sich umwandten und die Allgewaltige erblickten – es war ein Bild! Frau Rendalen war Schulmutter genug, um diesen Respekt zu genießen; und dann sprach sie mit gehobener Stimme:

»Ich müßte eigentlich böse sein, und zwar ganz tüchtig. Ihr seid mir ne nette Bande! Aber so was Unvergleichliches wie Noras Gedächtnis, hab ich doch noch nie was Ähnliches gehört. – Unvergleichlich – nie was Ähnliches gehört, feiner Stil, gut, daß es nicht in der Stunde war! – –«

Als Nora hörte, daß es ihr nicht an den Kragen ging, und als sie Frau Rendalens ehrliche Freude sah, da warf sie sich mit dem ganzen Ungestüm und dem Rausch einer Sechzehnjährigen an ihre Brust und brach in Tränen aus.

Ja, so wollte Mutter Rendalen es haben. Und darum sagte sie:

»Du bist ein furchtbar lieber Kerl, Nora! Hört, Kinder, wenn ihr hier fertig seid, dann kommt zu mir rüber, dann wollen wir uns nen fidelen Tag machen!«


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