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Obwohl ich keine innere Neigung zur Seßhaftigkeit habe und nie von einer Scholle, aus der man käme oder in die man seine Wurzeln senkte, abhängig war, ich also auch den äußeren Zustand der Schwebe hingenommen hätte wie ich mich dem innern gern ergab, habe ich mich in jenen Jahren, mehr aus dem Hang zur Selbständigkeit als aus dem Wunsch eigenen Boden unter den Füßen zu haben, in der Nähe Frankfurts angesiedelt.
Diese Stadt ich meine besonders das zarte Bild das sie am Main dem Blick bietet und das Atmosphärenhafte ihres Wesens, welches markante, stärkere Züge, die vielleicht andern, männlicheren Städten eignen, nirgends hervorkehrt hat für meine Empfindung in ihrer Anmut von jeher etwas von meiner Mutter gehabt. Ich sage nicht daß die Ähnlichkeit bestimmend für mich war; aber sie fiel mir doch oft genug auf. Die Stadt glich meiner Mutter auf die ich so lange eitel war. Sie hatte ihr zartes, nie hartes, liebliches Antlitz. Ich könnte meine Mutter in jungen Jahren nicht besser malen als mit dem Bilde von Frankfurt an einem silbrigen nicht zu hellen Frühlingstag von einer der unteren Brücken. Auch das rührend Unaufdringliche, etwas Weiche und das Gran von Vergänglichkeit ist in der Stadt wie es in der Frau war. Und wie ich meine Mutter, die nie einen entscheidenden Einfluß auf mein Leben gewann noch zu gewinnen versuchte, um ihrer Anmut willen liebte, so liebte ich Frankfurt.
Aber meine Mutter verlor ich nun. Als mein Vater die geplante Übersiedlung nach Freiburg, die von beiden so geliebte Stadt ihres frühen Glückes, vornahm, war es eine Sterbende die er mit sich nahm. Sie sah Freiburg noch, sah vielleicht mit einem letzten Blick den Münsterturm der sie entzückte und verging wie er, der im Blau so anmutvoll auf einmal aufhört. Nun lebte sie schon lange als alternde Frau an der Seite eines nie alternden Mannes. Mein Vater trug schwer daran. Schon Jahre vor dem Leipziger Fest, das meinen Vater in der jugendhaften Kraft sah, war sie eine alte und ihr Anblick, obwohl sie nicht entstellt war, widersprach grausam dem lieblichen Bilde das mich nie verließ. Sie war aus einem andern Stoff als mein Vater war und wohl alle ihre Kinder sind. Aber dennoch ist alles was weich, verzeihend, minutiös, still, heiter und anspruchslos an mir ist, von ihr. Ihre Erbschaft ist es auch daß ich viele Jahre alles was mich anging mit zu kleinen Maßstäben maß auch mich selbst. Denn sie hatte eine Vorliebe für das Kleine, Zierliche. Kleine Buchsen, kleine Schälchen, kleine Bücher, kleinere Teller, kleinere Körbe als üblich, waren ihrer Art angemessen. Ihre Briefe waren auf kleinem zierlichem Briefpapier geschrieben, fast immer noch quer überschrieben; aber die Bogen wurden nie größer. Selbst der Bissen im Mund war bei ihr ohne Ziererei zierlicher als bei irgendeinem Menschen den ich je beobachtet habe.
Ich habe manche Eigenschaften die ihr Erbteil waren an mir bekämpft. Aber dennoch ist ihre Erbschaft fühlbar in einer großen Unentschlossenheit, Bedenklichkeit, Langsamkeit die mich manchmal übermannen und dicht neben einer großen Entschlossenheit, Unbedenklichkeit und Schnelligkeit liegen die auf das Erbteil meines Vaters fallen.
Sie war in meinem Leben wie ein Klang, der einem eine Weile nachging wenn man von ihr ging, und wie Atmosphäre die einen umgab wenn man in ihr Bereich kam. Dieses Bereich erstreckte sich über die Menschen und Dinge, über die Räume und Gepflogenheiten ihres Hauses und hatte seine Grenze erst an meines Vaters Zimmer, in dem es nur noch in ihren Geschenken sichtbar wurde, die unschwer erkennen ließen daß sie von ihr herrührten. Sie war fast völlig Unpersönlichkeit, mein Vater ganz Persönlichkeit.
Meine Mutter hat mich sehr geliebt, immer mit dem Wunsche, aber doch auch mit der Unfähigkeit, besonders in späteren Jahren, eigentlich auf mich einzugehen. Sie ging liebreich über alle Fehler, alle Enttäuschungen weg die ich ihr bereitete allerdings auch in der ihr eingeborenen Neigung, Unangenehmes nicht zu berühren und zu übersehn.
Doch sah ich es schon früh als Knabe so an, daß sie nach der Geburt meiner jüngeren Geschwister, besonders meiner beiden Schwestern die die jüngsten in der Reihe waren, diesen gehöre und zustehe. Ich fand mich sehr großartig, großmütig und wahrhaft der Mutter entlaufen als ich es darauf anlegte, auch ohne sie auszukommen und sie ganz den andern zu überlassen. Sie lächelte dazu, machte sich innerlich etwas über meine Großmut und Entlaufenheit lustig und wußte wohl daß ich mich beraube.
Dies alles überkam mich, dies alles fühlte und erlebte ich nun ein letztes Mal, als ich mit meinen Geschwistern, die gleich mir heranreiften, an ihrer Leiche stand. Nur meine beiden Schwestern und Octavia, die meinen Eltern sehr lieb geworden war, waren in den letzten Wochen ihr nahe gewesen. Mein Vater hatte nicht gewollt daß wir andern sie noch lebend sähen ohne daß sie uns in der ihr nahenden Nacht noch zu erkennen vermöchte.
An der Seite meiner Schwester stehend sah ich nun was sie ihnen und Octavia gewesen war. Ich sah was ich aufgegeben hatte. Ja, sie hatten ein größeres Anrecht an sie.
Als wir, ein sehr kleines Gefolge – es war unsere Absicht daß es klein sei, in dem unfrommen, auf freundlich hergerichteten Raum auf dem Friedhof einer benachbarten Stadt saßen wo ihr Leib verbrannt werden sollte die schöne Verbrennungstätte in Freiburg bestand damals noch nicht; als viele leere Stühle mit denen man den Raum vollgestellt hatte ihre gefühllose Gegenwart neben uns wenigen bezeugten; als ein Geistlicher gräßliche Worte über unsere Tote sagte, so daß mein Vater unwillig den Kopf zur Seite warf und beinahe fortgelaufen wäre; als wir, jeder gepeinigt von allen, uns irgendwohin abzuwenden trachteten um nur nicht mehr dabei zu sein, schien es mir als wäre besser kein Wort über sie gesagt worden, als müsse nur ein kleiner Reigen um sie herziehn, freundlich, fast heiter, der ihre eigene Vergänglichkeit und Verwehlichkeit ausdrücke zu ihren Ehren. Ich sah und hörte nichts mehr was vorging oder gesprochen wurde.
Aber meine Gedanken schritten einen Reigen um sie. Ich habe sie aufgeschrieben, während ich mit den andern von dem Berge herunterkam wo die Flamme den Leib verzehrte den sie umschritten hatten:
Tod
hat gebannt
dich von dem
was du warst.
Wieder Kind
bist du nun.
Auf den lin-
desten Schuhn
erdwärts sinkst
du und trinkst
deiner Mutter
Atem wieder.
Rein und los
fällst aufs neu
du in deiner
Mutter Schoß.
Und von neuem
ungeboren
bist von neuem
unverloren.
Süßer Raub:
ins geheim
aus dem Staub
wirst du Keim.
Von der Flamme
kaum verascht
bist vom Leben
neu erhascht.
Denn vom Mensch-
lichen läßt
du dem Tod
keinen Rest.
Deines Leibs
ganz verwaist
bist vorm Tod
du ganz Geist.
Hier, glaube ich, trennte ich mich von Octavia. Sie wurde meinem Vater viel; mehr als sie mir noch sein konnte. Er aber begann seine Arbeit – das was ihm noch auszustehen schien im Dienst an seiner Wissenschaft und am eignen – wie er es zu mir gesagt hatte: »ich will auch einmal arbeiten«.
Als ich von der Bestattung meiner Mutter in den kleinen Ort zurückkehrte wo ich nun ansässig war, bemerkte ich daß sie mir in ihrer jetzigen Ferne gegenwärtiger war als vielleicht je. Ich wußte daß es wegen des kleinen Reigens war daß sie diese Gegenwärtigkeit hatte. Sie war wirklicher in der Gestalt die irgend etwas von ihrem jetzigen Wesen und Nichtdasein ausdrückte als je in ihrer Leiblichkeit. Es war augenfällig, fast beleidigend für sie und ein wenig wehmütig für mich, obgleich sie eigentlich während der ganzen Zeit ihres Lebens nie wahrnehmbar und wirklich um mich war sondern nur in dem bewahrten Bilde der jugendlichen, unvergänglichen Freiburger Zeit; ich wußte wohl daß ich ihr mit aller Liebe nahte als ich von ihr sprach; ich wußte wohl daß ich sie zu einem neuen Leben erweckte; aber es berührte mich doch seltsam klar und erschreckend daß sie mir in ihrem gelebten Leben ferner und unwirklicher gewesen sein sollte als in dem welches ich ihr nun zuschrieb und in dem sie ihres Leibs ganz verwaist nur noch Geist war.
Indes ging es mir damals mit allem so. Ich beging diese Verwirklichung hundertfach. Das wahrhaft Erlebte verdichtete sich; es wurde Gedicht. Die Gestalt die es darin annahm war das Ende meines Erlebnisses. Nur Erlebtes bot sich zum Gedichte an und endete im Gedicht. In dieser Gestalt wurde es ganz Wirklichkeit.
Bei solcher Tätigkeit, die für mich ein Äußerstes und Letztes war, vergaß ich daß ich früher an irgendein Äußerstes, Letztes noch gedacht hatte auf das man immer gefaßt sein mußte; ich vergaß daß ich so manches Jahr, als ich noch Pferde ritt und Offiziersdienste tat, nicht aufgehört hatte an den Krieg als an ein Äußerstes zu denken; ich dachte nicht mehr an das Wort von Clausewitz, das ich so wohl kannte: daß selbst die gebildetsten Völker gegeneinander leidenschaftlich entbrennen können, als wir, wenige Männer, am 28.Juni 1914 nach einem kleinen Mittagsmahl im Hause eines hochstehenden jungen Österreichers, der in Frankfurt wohnte, in heiterem Gespräch beieinander saßen. Es wurde ihm eine Depesche gereicht. Er öffnete sie. Sein Gesicht versteinerte sich. Alle saßen sprachlos. Darauf sagte er, noch immer auf die Worte starrend die ihn nicht losließen: »Der österreichische Thronfolger und seine Gattin sind in Sarajewo von politischen Mördern erschossen worden.«
In diesem Augenblick war es mir als risse etwas ab. Ich fühlte einen deutlichen Ruck als ob uns alle etwas Fürchterliches betroffen hätte. Und dann sprach dieser Mann die Worte aus die in uns waren: » Das ist der Krieg«, sagte er. Man hätte ein Stäubchen fallen hören. Ein Diener hielt mir schon eine ganze Weile auf einem silbernen Brett eine Tasse Mokka hin; ich sah es, aber ich bemerkte es nicht. Die Schüsse krochen weiter. Sie verhallten nicht. Sie krochen unaufhaltsam weiter in immer sich erweiternden Ringen. Sie schalteten den Gang der Welt aus. Sie waren ganz allein da, und der Mensch der vor mir stand war ebenso wenig da wie irgend etwas anderes.
Ich glaube nicht an Ahnungen – es war auch keine Ahnung was mich überfiel; ich habe keine Neigung und keine Anlage für dumpfe Gefühle. Es war ein Blitz von dem man weiß daß er gezündet hat. Ich habe eine ähnliche Sicherheit, die von mir völlig Besitz nahm, nur noch einmal erlebt; das war am 15.Juli 1918 an der Front als plötzlich diese Mauer der Gewißheit sich aus dem Nichts vor uns erhob: wir sind am Ende unserer Kraft; der Krieg ist gegen uns entschieden. Es wußten Tausende. So wußten damals als da irgendwo in Serbien die zwei Schüsse gefallen waren Tausende: das ist der Krieg; und was ich hier von mir erzähle, steht für viele mit denen wir lebten. Was man sich danach zurechtlegte es werde für uns ein Krieg gegen Rußland sein; oder ein Krieg mit zwei Fronten nach Ost und West war das Tasten nach Vernunft und Besinnung, während man schon in den Strom gerissen ist; aber man hatte schon Wasser geschluckt.
Die Schüsse der Mörder waren gefolgt von einem unannehmbaren Ultimatum Österreichs an Serbien. Die Aufnahme dieses Ultimatums bei den Regierungen Europas zeigte merkwürdige und überraschende Sympathien und Antipathien, die ich erst begriff als ich um sie zu begreifen mir vorstellte daß es gar nicht um Sympathien und Antipathien ginge sondern um Politik. Die Schüsse in Sarajewo entschieden nicht darüber, in welchem Ausmaß, nach welcher Richtung die Explosionen sich entlüden die sich entladen würden. Kaum noch daß man sagte, sie hätten sie entzündet. Sie entschieden nicht, gegen wen sich die Kräfte wenden würden die gegeneinander wirken und wie unbewegliche Gewitter nebeneinanderlagen. In diesen Tagen, je näher die Gefahr kam desto eindringlicher, behauptete jede der europäischen Mächte besten Glaubens und voller Überzeugung, es hinge nur von der andern ab, den Krieg zu vermeiden. Kein Land das nicht mit den Mitteln die es noch zu haben glaubte diesen Versuch machte. Doch alle Schritte die getan wurden waren als ob sie nicht getan wären. Man hätte ebensowohl den Blitzableitern auf den Häusern zumuten mögen, sie sollten das Gewitter vermeiden. Das Gewicht einer jahrelangen, vielleicht jahrzehntelangen Politik jedes einzelnen europäischen Staates war stärker als jedes Wort und jeder Schritt. Aber man begriff nicht, warum diese Worte, diese Schritte so ganz wirkungslos waren. Die Wirkungslosigkeit folterte. Jedes Volk würde dem andern nach Möglichkeit zuvorkommen müssen. Man sprach nicht davon. Dies beides war in jedem.
Der Krieg kam. Eine feindliche Mobilmachung folgte der andern, eine Feindseligkeit kam der andern zuvor. War noch ein Schrei der Verwunderung? ein Schrei des Entsetzens? Es kam die Stunde für Deutschland. Da war ein Schrei. Ein Schrei der Entspannung und Befreiung. Das Volk fühlte sich seinem Schicksal gewachsen. Es fühlte seine Kraft, Es jubelte in hunderttausend Stimmen der Armee, dem Kaiser zu. Er war nicht geliebt; aber er war der oberste Kriegsherr. Dies galt im Volke: es war sein Kriegsherr, dem es mit den Hochrufen der Hunderttausende vor dem Schloß seine Huldigung und seine Gefolgschaft darbrachte; es war sein Kriegsinstrument, sein Heer, sein Blut, das es mit den Hochrufen der Hunderttausende anrief und ins Recht setzte.
Damals einte das Volk nicht die Notwendigkeit – an diese dachten alle zuletzt. Es war eine große Gläubigkeit die über die Menschen kam, und selbst das Vaterland war weniger Gegenstand der Begeisterung als der Glaube an ein gemeinsames Schicksal der die Menschen emporriß und sie alle gleichsetzte. Denn sie galten alle gleich. Keiner wollte mehr gelten als der andere. Auf Straßen und auf Plätzen sahen sich die Menschen in die Augen und freuten sich ihrer Gemeinsamkeit. Der Arzt, der Richter, der Kaufmann dicken Bauches, der Arbeiter, der Fabrikherr, der schlanke Leutnant, der General im Ruhestand, der stille Gelehrte, der Schauspieler und der Polizist, der Verkäufer und der Kunde trugen gleichen Dienst und gleiche Bereitschaft. Keiner murrte. Die ekelhaftesten Menschen wurden willig und verträglich. Es gab keine Überflüssigen mehr. Es war wie ein neuer Anfang des Lebens. Jeder gab sich Mühe, es allen gleich zu tun, sich einzureihen, zu beginnen. Es war den Menschen froh und stark zumute und allen trotzdem ernst. Blasse Mädchen gingen weinend aufrecht in der Menge und verhüllten sich nicht sondern leuchteten in Tränen in neuem ungewohntem Stolz. Aber es waren Mütter unter dem Volk, die legten Trauerkleider an und verschleierten sich. Denn die Mütter wußten was Krieg war, aber das Volk wußte es nicht. Horn und Trommel rührten an die Sinne der Ausziehenden als gäbe es keinen Tod. Der Gleichschritt vieler Tausende lebte und zitterte in den Herzen der Zurückbleibenden. Es war nicht ihr Schritt allein, der den Tagen und den Nächten den Takt gab.
Das wunderbare Schauspiel der Mobilisation rollte über das Land hin. Man hörte die schnellen, rasenden Züge durch die Nacht jagen, unaufhörlich, Stunden und Stunden, Nächte und Nächte. Sie führten Heimkehrende in ihre Städte, Männer zu ihren Truppen. Sie machten das ganze Land frei für andere unendliche, bedächtige, verschwiegenen Zielen im Westen, verschwiegenen unbestimmten Zielen im Osten zustrebende Züge, die von Stäben, Soldaten, Kriegsgerat, Pferden, Fahrzeugen, Geschützen, Munition, Proviant, Fourage, Bekleidung, Lazaretten, Kolonnen, Brücken, Masten und unvorstellbaren Dingen starrten. »Das machen sie uns nicht nach«, sagten die Menschen. Aber sie wußten nicht daß in feindlichem Lande die gleichen Züge mit Stäben, Soldaten, Kriegsgerät, Pferden, Fahrzeugen, Geschützen, Munition, Proviant, Fourage, Bekleidung, Lazaretten, Kolonnen, Brücken, Masten und unvorstellbaren Dingen rollten. Schon rollten sie in vielen Ländern.
Auch mich ergriff das Schauspiel, ergriff der Anblick des Volks das vom Kriege, ergriff der Anblick der Ausziehenden die vom Tode nichts wußten. Ich sah daß die Begeisterung der Vielen blind war insofern sie kein Ziel vor sich sahen und nicht wußten wofür sie sich begeisterten. Die Erhebung begeisterte an sich. Aber ihre Begeisterung war darum noch heiliger, schicksalhafter, wahrhaftiger. Sie waren wie von einem Gotte angerührt der nicht sagt wozu er rührt.
Ich hörte Menschen sagen als schon nach ersten Tagen Siege gemeldet und eingenommene überrannte Städte an den Fingern hergezählt wurden: »Weihnachten sind wir zu Haus.« Ich sagte es keinem damals, außer dem Freunde der mich auf dem Bahnhofsplatz in Frankfurt sehr ernst danach fragte: »Wie lange, meinst du, dauert der Krieg?« Die deutschen Truppen hatten längst Lüttich und Maubeuge hinter sich. »Sieben Jahre«; ich sagte es diesem, sonst keinem. Die Dinge sich richtig vorzustellen war schon ein Verrat am Bewußtsein des Volkes. Erst im Felde, gestützt auf meine Autorität als Vorgesetzter, sagte ich den Offizieren meiner Schwadron das gleiche.
Ich sah die Menschen ausgeliefert an den Krieg, an dies für höchste Vorstellung kaum Vorstellbare, und die Nacht ihrer Vorstellung, die Nacht ihrer getrübten Sinne entsetzte mich. Man endete diesen Krieg zu Weihnachten. Mit Gewehren ausgerüstete, ruhige und vernünftige Leute des Landsturms, die zum Schutz der Militärzüge gegen Unfug und Gefährdung an den Bahndämmen verteilt waren, schossen am hellen Mittag in den heiteren Himmel, wo sie das feindliche Flugzeug, das feindliche Fliegergeschwader zu sehen glaubten. Es wurde mir amtlich telegrafisch mitgeteilt ich war der erste Mann damals in dem kleinen Ort, ein russisches Auto mit vier als Damen verkleideten Franzosen und beladen mit einer Million Franken in Gold werde auf der durch meinen Ort laufenden Waldschneise erwartet und sei anzuhalten. Die Bewohner der Siedlung ganz vernünftige, gebildete Männer, Post- und Versicherungsbeamte, Angestellte bei Banken und kaufmännischen Betrieben ruhten nicht, bis ein Baum gefällt wurde, als Schlagbaum quer über die besagte stille Waldschneise gelegt und sie selbst als bewaffnete Wache mitten im Innern Deutschlands die ganze Nacht dazu gestellt wurden. Mitten in Deutschland wurden Deutsche in ihrem Auto erschossen weil man sie für fliehende Feinde hielt. Leute die einen Vollbart trugen wurden als Russen unter den Mündungen geladener Gewehre in die Gefängnisse gebracht. Man machte nichts daraus; mich schauderte der Anblick. Dieses Befallenwerden vom Wahnsinn, dieses Mit-Blindheit-geschlagen-sein, wo endete es beim menschlichen Geschlecht? War vielleicht keiner der Begeisterten frei?
Aber man fühlte plötzlich wo die Grenzen Deutschlands liefen. Sie lagen sehr weit draußen, Deutschland war unermeßlich, unerschöpflich.
Gleich nach der Mobilmachung stellte ich mich bei meinem früheren Regiment zur Verwendung bei einer Frontformation zur Verfügung. Die durch Jahrzehnte geübte Zucht meines Leibes hielt noch stand. Um nichts zu versäumen stellte ich mich einem Militärarzt vor. Ich wollte mich nicht von mir selbst enttäuschen lassen. Er besichtigte mich, lächelte und nickte. Das Regiment sei schon auf dem Marsch wurde mir telegrafisch geantwortet; an zuständiger Stelle werde mein Gesuch um Wiedereinstellung weiter behandelt werden. Ich wartete. Ich wußte daß ich in diesem Kriege nicht zu spät kommen würde.
Schon fielen draußen der und der den ich gekannt und erste Freunde. Es kamen auch Männer zurück die sich nicht trennen konnten, um noch ein zweites Mal Abschied zu nehmen von Frau und Kindern und ein drittes Mal, ehe sie es vermochten.
Am 23. August erhielt ich die telegrafische Anfrage, ob ich bereit sei eine selbständige Schwadron für eine neu zu bildende Division aufzustellen und zu führen. Es war die Kavallerie- Abteilung für eine der Jungdeutschland-Divisionen die damals sich zum Auszug vorbereiteten. Ich sagte zu und war für viele Wochen der bestbeneidete Mann weit und breit im Umkreis. Vermutlich hatten mir meine Qualifikationen aus früheren Jahren, die sich bei der zuständigen Stelle vorfanden, diese Anfrage eingetragen. Ich nahm meinen letzten Sattel, den einzigen den ich von früheren Tagen bewahrte, aus dem leinenen Überzug der ihn umschloß. Er glänzte noch vom letzten Ritt wie lange war das her! und lag am übernächsten Tage auf einem kleinen schwarzbraunen tapferen Vollblutpferd mit kühnem Auge das niemand hatte haben wollen ein federndes Gebäu aus warmem lebendigem Stahl.
So zog ich aus. Als ich meine Schwadron beisammen hatte, die Leute, die Pferde, die Waffen, die Bekleidung, die Ausrüstung und die unzähligen Dinge die dieses Wort für Mann und Pferd begreift, als ich meiner Unteroffiziere sicher war und des Wachtmeisters den ich mir wählte er hatte auf einen Menschen geschossen der verächtlich von der Armee gesprochen hatte und sollte für eine Gerichtsverhandlung über diesen Fall zu Hause bleiben, ich aber fand es sei Krieg und nahm ihn mit ohne viel zu fragen, und er hat es mir nie vergessen, als meine Schwadron so gut aussah und so gut beritten war wie es ging, als sie so gut imstande war wie ich es vermochte und ich zum letzten Male vor dem Ausmarsch vor ihr hielt, da richtete ich ein letztes Wort an sie. Wir zögen ins Unbekannte, sagte ich, aus dem vielleicht keiner wiederkäme und sicher wisse keiner wann; und wer wiederzukommen gedächte oder nicht alles wirklich und wahrhaftig hinter sich lasse, der solle aus dem Glied herausreiten und mit einer andern Schwadron ausrücken. Dann wartete ich. Aber es rückte keiner aus dem Glied.
Vorher indes hatte es noch einen Aufenthalt gegeben. Während sich die Schwadron auf dem Kasernenhof aufstellte, bemerkte ich daß einer meiner Dragoner einen Schimmel aus dem Stalle zog, zum Abmarsch gesattelt und bepackt wie die andern. Auch gerade vor mir stand ein Pferd im Glied das ich noch nie gesehen und der Mann stand daneben. Als ich näher zusah waren es noch mehrere und wie mir schien durchaus nicht bessere Pferde die mir auffielen. Wie sie zu den Pferden kämen, fragte ich die Leute; wie er zu dem Schimmel käme, fragte ich den einen Mann; denn ich wollte aus guten Gründen keinen Schimmel und aus noch besseren nur die Pferde die ich ausgesucht und mit denen ich jeden einzelnen beritten gemacht hatte. Er ritte so gerne Schimmel, sagte der Mann der das beanstandete Tier am Zügel hielt. »Und die andern?« Sie kannten mich noch nicht und hatten gemeint, etwas besonders Pfiffiges zu tun, wenn sie einen braven Rattenschwanz gegen ein weiches, fettes Tier mit einem vollen, langen Schweif, wenn sie einen eckigen harten gradknochigen alten Wallach gegen eine runde mollige Stute mit weichen Gelenken, wenn sie einen unscheinbaren Braunen gegen einen auffälligen bunten Fuchs austauschten. Das hatten sie denn auf eigene Faust in der letzten Minute getan und ihre Pferde an Stelle der ihnen wohlgefälligeren in die Stände gestellt. Denn eitel waren sie auch und mußten eine gute Figur machen wenn sie aus dem Tore ritten. Aber der brave Rattenschwanz, der eckige Wallach, der unscheinbare Braune mußten wieder herbei und der Schimmel blieb zu Haus. Diese Schwadronen sahen schon etwas ungleich aus wenn man die Pferde betrachtete. Aber ich hatte eine andere Freude als die Gleichmäßigkeit an der meinen, als wir mit Blumen geschmückt aus Darmstadt ausrückten. Es ging dem Unbekannten entgegen von dem ich gesprochen hatte.
Wenige Wochen später zog die Schwadron durch die leeren herbstlichen Alleen Flanderns. Alle Straßen führten nach Westen. Fremdes Land lag einsam vor uns. In Dörfern staken Menschen ängstlich in verschlossenen Häusern oder standen still und dumpf beiseite. Es war die Zone von der die feindlichen Streitkräfte zurückgeebbt waren. Aber der Gürtel der Brandung, wo die Ebbe kehrtmachte, wo neue Kraft aus dem Meere kam, wo die Engländer bei den Belgiern standen und Feind und Feind nun aufeinanderprallten, stand vor uns auf.
Für das größte Erlebnis meiner Zeit und meines Volkes, für das größte zugleich meines Lebens haben die Aufzeichnungen »aus dem Kriege« nunmehr das Wort, die ich damals begann. Ich vermag keine Hand an sie zu legen und wenn sie dennoch die Linie des »erlebten Lebens« mitmachen, so ist es darum, weil auch sie nur den Weg bezeichnen den ein Mensch durch vier Jahre gegangen ist die eine Welt erschüttert haben.
Dort aber vor mir, in der Richtung wohin ich ritt, lag dieses Äußerste, Letzte, in dem man erproben könnte »ob man es vermöchte«. Hatte ich nicht schon als Knabe in Straßburg daran gedacht, als mich der Anblick des Rheins überwältigt hatte, »wie man sich dem Stärkeren gegenüber, das da herandränge, benehme«? Und dann ging man eben unter. Das konnte einem begegnen daß man unterging. Es war kein Gelüste nach Ruhm und Sieg in mir. Mein Fahneneid: ich habe nie einen Augenblick an ihn gedacht. Ich teilte nicht mit andern die Begeisterung, für Weib und Kind zu sterben, noch mein Haus zu erhalten. Ich kämpfte für fremde Frauen und fremde Kinder und mein Herd mochte hinter mir erlöschen. Es ging mir um das Schicksal in das ich hineinritt aus keinem andern Grunde als um es zu bestehn. Es ging mir darum wie ich es bestände. Ich fieberte danach in einem kalten Fieber von Entschlossenheit und Besonnenheit, und nicht von Zuversicht auf unsre Waffen und auf unsre Kraft. Die Heimat versank hinter mir. Ich habe meinem Gefühl Ausdruck verliehen als ich meinen Dragonern sagte, wer nicht alles wirklich und wahrhaftig hinter sich ließe möge aus dem Gliede herausreiten. Denn ich glaubte nicht daß es schöner und süßer sei für das Vaterland zu sterben als sich vor sich selbst zu bewähren.
Mein Leben steht für viele Leben. Wenn mein Auge damals leuchtete, so war es aus diesem Gefühl, und ich sah Hunderte und Tausende von Männern in einem gleichen Leuchten . . . Es war uns ernst und gefaßt zu Sinn. Wir wußten was vor uns stand. Die Begeisterung der andern focht uns nicht an und nicht der Ausgang. Ich täuschte mich nicht und bilde mir nicht nur ein, dies sei mein und unser vieler Gefühl damals gewesen als wir auszogen. Denn ich habe einen Zeugen, und damit es bewahrt bleibe was so manchen damals erfüllte, soll der Zeuge reden. Im Morgenblatt der Frankfurter Zeitung vom 16.August jenes Jahres ist mein einziges Gedicht aus dieser Zeit hinausgegangen und ich weiß manchen der den kleinen Zeitungsausschnitt über dem Herzen trug als er fiel.
Ich zieh in einen heiligen Krieg,
frag nicht nach Lohn, frag nicht nach Sieg,
Ich bin ein heiliger Reiter.
Kein Kreuz such ich und keinen Gral
und bin doch heilig tausendmal
als meiner Sache Streiter.
Nun bin ich ledig aller Laun
und Gunst der Welt und Gunst der Fraun,
Ich bin ein heiliger Reiter,
Mein Herz schlägt still bewehrt in mir.
Still unter mir regt sich mein Tier
und sonst regt sich nichts weiter.
Verglimme hinter mir ein Herd!
Die Sorge sitzt nicht mit zu Pferd.
Ich bin ein heiliger Reiter.
Mein Sattel ist für sie zu knapp.
Greif aus mein Tier, greif aus mein Rapp,
greif aus und hilf uns weiter!
Mein Herz hält Schritt mit meinem Pferd,
Die Erde zittert. Zittre Schwert.
Ich bin ein heiliger Reiter.
Weiß nicht mehr was mich vorwärts treibt,
Der Beste ist der Sieger bleibt,
Und ich begehr nichts weiter.