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Zweites Kapitel

Während Vater und Mutter den Umzug aus Straßburg und die Übersiedelung in eine neue Umgebung betrieben von der wir nichts ahnten, sahen wir Kinder uns, wie schon erwähnt, im Haus der Großeltern in Frankfurt untergebracht, dem Vaterhaus meines Vaters. Auch die Eltern meiner Mutter lebten in der Stadt, aber die Großeltern unseres Namens und von beiden besonders die Großmutter wurden ihrer Persönlichkeit nach und um der Beziehung zu meiner Knaben- und Jünglingszeit willen die wichtigeren. Da von Frankfurt die Fahrt in jene Fremde ging in der wir, obgleich sie im deutschen Vaterlande lag, doch nie eigentlich Wurzel fanden und jedenfalls keine Wurzeln hatten, da, wenn auch nicht wir so wenigstens die Eltern Frankfurter waren, es uns Kindern wohl in der Stadt erging, wir immer nur hierhin zurückkehrten wie zur Wohltat einer besser bekannten Erde und Sonne, sie uns immer wieder umfing und gefangen nahm, genoß sie eine besondere Neigung bei uns. Von hier kam alles Gute. Hier feierte man Weihnacht, doppelt sogar: denn die beiden Großeltern bereiteten uns gesondert das Fest. Nirgends war das Brot, waren die Eierweck, die Brenten, das Buttergebäck, das Bauerngebackene, die Pfeffernüsse, die Lebkuchen, die Würste, der Handkäs, das Bier, der Wein, selbst das Wasser besser als in Frankfurt, von den Bethmännchen und den Radankuchen der Großmutter, die es anderswo überhaupt nicht gab, gar nicht zu reden. Von hier kam das Schöne, das Ausgesuchte. Hier wohnten die Menschen die uns angingen. »Morgen gehn wir ins Burnitze, übermorgen ins Bansas und am Sonntag ins Heerdte« sagte die Großmutter. (Sie verwandte, wie ich später mit Genugtuung feststellte, eine Art griechischen Genitiv des Orts; denn es war zu ergänzen: ins Haus der Burnitz, ins Haus der Bansa, der Heerdt, – und sie hätte noch viele solche Genitive bilden können.) Hier war das Nizza, der Zoo mit den Bären (der einzige damals von Bedeutung in Deutschland), der Palmengarten mit den Azaleengängen. Hier sprach man die Sprache unserer Mutter. Und hier stand – oben am Main, am schönsten Fleck, »an der schönen Aussicht« – das Haus, und die Großmutter erwartete uns.

Aber es war mehr als Erinnerung. Wenn der Zug in der Frühe – denn wir benutzten fast immer die Nachtzüge – schon verlangsamt in seiner Fahrt über die Eisenbahnbrücke rollte, die damals den Main etwa an der Stelle der heutigen Kaiser-Wilhelmbrücke überquerte, dann standen wir, mein Bruder und ich – ich wußte jetzt daß da ein Bruder an meiner Seite war mit dem ich das Leben teilte – auf dem Polster der Sitze nebeneinander. Das war Frankfurt. Uns gerade gegenüber, wo der Main herkam, ging die Sonne auf, legte ein goldenes Gewoge in den Fluß und setzte die Fenster droben wo wir hinschauten in eine blitzende strahlende Illumination. Die alte Brücke, dicht begangen von der Sachsenhäuser Seite, wogend von Marktweibern mit den schweren Körben auf dem Kopf, lag im tiefen Violett ihres Schattens mit vom Licht aufgerissenen Bogen. Dort, oberhalb der Brücke, suchten wir mit unseren Blicken das Haus.

Aber da war erst das Antlitz der Stadt selbst, diese schöngeformte Stirn, diese freie Anmut des an den Fluß geschmiegten Häuserleibes, diese fast zu liebliche Krönung in dem leichten Aufstieg des Doms, und weiter herunter am Ufer die festen Gefüge mittelalterlicher Bauten am Römerberg, die schmalen Ausfallgäßchen zum Ufer, die alten beengten Kirchen ins Band der Häuser an den Fluß gestellt, die flache »Muschel« und davor die vielen verankerten Schiffe mit den schwippenden Laufplanken zu den Landungsmauern. Das umfaßte begierig der Blick. Aber dann hing er sich fest an der langen geschlossenen Zeile der hellen Häuser oberhalb der Brücke. Dort! das Eckhaus! wir wußten: Nummer elf! Das war es. Das Eckfenster im ersten Stock stand offen. Wir hatten Augen wie junge Luchse. Die Großmutter war schon aufgestanden. Sie sah natürlich den Zug über die Eisenbahnbrücke fahren; sicher! sie sah es. Wenn der Bäcker jetzt noch nicht da war, würde sie unruhig werden.

Das alles lebt noch jetzt in mir als ob es ein Bestandteil meiner selbst geworden wäre.

Und dann waren wir auf einmal im Hause. Da war die breite kühle Treppe, um eine mächtige Holzspindel gedreht, hell und doch ehrwürdig, mit breiten niedrigen Stufen, und oben, mit fester tönender Stimme, die Großmutter. Von meinem Großvater, einem ruhigen schönen Manne von großer stiller Freundlichkeit gegen uns, habe ich eine weit geringere Erinnerung; er starb lange vor der Großmutter, die uns aber von jeher in ihrer Lebhaftigkeit und ihrer Unternehmungslust ganz mit Beschlag belegte. Es war ein lebhaftes, von Verwandten, Bekannten, Freunden beständig und viel besuchtes Haus, aber alle verblaßten vor der Großmutter. Ich ging in den Zimmern umher und prüfte ob alles noch an dem gehörigen Platz stand. Da war des Großvaters endloser Schreibtisch mit der dicken schwarzen Platte die sich wie Ebenholz anfühlte und den kleinen spielenden Schubladen aus Sandelholz; auch das Sandfaß war da (zum Ablöschen der Tinte), dessen feinen kühlen Strom er über unsere kleinen Hände goß bis sie ganz im glitzernden Sand begraben waren; wenn der Sand von unseren Händen warm wurde, war die halbe Sensation dahin und das Spiel hörte auf. Da war der perlengestickte breite Klingelzug mit dem schweren ziselierten Messingring am Ende. Da war der Flügel und kleine auf Borsten stehende Püppchen tanzten für uns unter dem geöffneten Deckel im Innern auf dem Holz des Resonanzbodens. Da war die Bronzeuhr mit der schönen deutenden Frauengestalt. Da waren die sicheren Stühle und Schränke mit ihrem ruhigen großväterlichen Schwung und in den Schlafzimmern die gleichartigen Betten mit den breiten ausladenden Enden an den geschwungenen Pfostenbacken. Ich kannte es alles; ich kannte es, obwohl ich doch die Gegenstände gleicher Bestimmung in meinem Elternhause nicht kannte. Als ob dort Dinge ohne Form und Wesen ständen und nur hier war Leben.

Vor den Fenstern aber ging der Main. Die schwer beladenen Schiffe schwammen rasch und glatt mit umgelegten Masten den frei fließenden Strom hinab und verschwanden durch die schmalen Brückenbogen; andere wurden gleichzeitig mühsam nahe dem diesseitigen Ufer, wo unten der Leinpfad lief, von eckigen starken Pferden stroman gezogen, und manchmal, wenn der Wind von Westen oder Süden blies, halfen große Segel an den Masten ihrem langsamen Fortkommen. Die Flöße hatten es den Fluß hinab womöglich noch eiliger als die Schiffe. Da die Strömung sehr stark war, wurden sie bei Hanau schon – wie uns die Großmutter sagte – auseinandergekoppelt und in vielen zueinander gehörigen Teilen, nur wenige Baumstämme lang, unter höchster Aufregung, Schreien und Rufen der Flößer durch die Brücke geflößt. Diese hingen an den sich biegenden, wuchtigen Fährstangen mit dem ganzen Gewicht ihres Körpers um den unlenksamen Stämmen die Richtung zu geben. Beim Gegenstemmen wurden sie an ihren Stangen hoch empor gehoben und standen so oft minutenlang wie es schien schwebend und schimpfend über dem dahingleitenden Rand des Floßes spreizbeinig in der Luft. Wer am längsten und höchsten in der Luft schwebte genoß unser Beifallsgeschrei. Manchmal erwarteten wir mit höchster Spannung ein Zerreißen des Floßes an den Brückenpfeilern die sie streiften; aber selbst ein leichtes Krachen und Knirschen war schon schön und hinreichend ängstlich. Dazwischen standen schlanke Nachen in der Strömung die den sauberen Mainsand schöpften und mit zwei hochgespitzten Haufen vorn und hinten nach getanem Fang dem Sachsenhäuser Ufer zustrebten. Wie flinke blinkende Pfeile schossen die buntbemannten Boote der Rudergesellschaften in den Abendstunden über das Wasser, und ihre Geschwindigkeit wenn sie mit der Strömung ruderten schien die von Geistern zu sein.

So brauchte uns unsere Großmutter nur ans Fenster zu setzen, um unser Herz mit allem zu erfüllen was ihm damals groß und herrlich erschien wovon sie denn, ab- und zugehend und in unsere Ausrufe mit eigenen ihr geläufigen einfallend, weitgehenden Gebrauch machte und dabei ihren häuslichen Geschäften nachging.

 

Die Großmutter war eine robuste Frau mit großen, bedeutenden und sicheren Zügen und von einer ungeheuerlichen Kraft des Körpers und der Seele, die sie nach beiden Richtungen zeitlebens voll in Aktion brachte. Wenn sie in Bewegung war, zitterten die Türen, und nur wenn sie gerade mit der ihr genehmen Wucht durch sie hindurchfuhr und sie mit fulminantem Krach in voller Sorglosigkeit hinter sich zuschmiß, zitterten sie noch mehr. Sie behauptete etwa, ein Kuchenteig müsse eine halbe Stunde lang unausgesetzt gerührt werden, und da das eine ziemliche Leistung war, die das Mädchen offenbar nicht ohne Pause bewältigte, nahm sie ihr die Schüssel aus der Hand, rührte den schweren Teig die erforderliche Zeit in einem Sitz und gab ihr mit einer geringschätzigen Bemerkung über menschliche Schwäche, den Löffel energisch auf den Rand klopfend, ihre Arbeitsmaterie zurück. Wo sie einen Stuhl hinstellte, da stand er eben, und wenn sie eine Fliege tot schlug, war sie ganz bestimmt tot. Aber mit gleicher Energie, unter lebhaftem, bewunderndem »Hoh!« und »Höh!« und »Herrlich! Unerhört!« vermochte sie es, lange Stellen aus Schiller oder Shakespeare aufzusagen, die sie begeisterten, oder unter »Schrecklich!« und »Schön!« meinem Großvater zuzuhören, wenn er ihr die Verse aus dem Homer, wo Achilles den Leichnam Hektors um die Tore von Troja schleift, in griechischer Sprache vorlas. Sie konnte kein Griechisch, aber sie liebte den Klang und den Sinn der Worte in ihrem Ohr. Alles Leben war Handlung für sie aus einer Anlage heraus. Sie agierte es. Es war dramatisch aus sich, selbst im Kleinsten. Ihre Erziehung an uns, ihre Lehren oder Zurechtweisungen verliefen nur im Dramatischen. Hatten wir etwas dumm angestellt, so dauerte es ihr viel zu lange, sich etwa in ein Gespräch, eine Erörterung oder eine Belehrung einzulassen. Einen Augenblick stand sie in der Mitte des Zimmers und sah uns an. »Kinder wie Rinder!« rief sie uns zu, schlug sich dabei mit den Fingerspitzen kraftvoll auf die Stirn, um den Sitz unserer Dummheit keinesfalls in Zweifel zu lassen, und fuhr eilig zur Tür hinaus die mit gewohntem Krach hinter ihr zufiel. Das war dann Vorhalt, Lehre und Verzeihung zugleich und in einem; und ich gestehe daß mir ihre Lehre in solcher sentenzhaften Verallgemeinerung einen weit größeren Eindruck machte und zugleich eine weisere erzieherische Beruhigung gewährte, als wenn sie mir vorgehalten hätte, ich hätte mich in dem und dem besonderen Falle besonders dumm, ungeschickt oder töricht benommen. Sie hat uns nie gestraft mit kleinen Maßnahmen, Verboten oder Züchtigungen. Ihre humorvolle Kraft war so stark daß sie uns bezwang ohne daß wir es wußten.

Waren ihre Lehren zwar gewiß zugleich gutmütig und unvergeßlich, so hat sie mir doch auch eine erteilt die mehr als das war und an der ich mein ganzes Leben getragen habe. Zum Bild des Mains, wie wir es damals von den Fenstern der großelterlichen Wohnung in uns aufnahmen, gehörten auch immer eine Anzahl Angler, die eine ziemlich harmlose Jagd auf kleine Weißfische machten. Sie standen sehr geduldig und gefahrlos wie es uns schien drunten am Ufer oder drüben auf der Maininsel und ab und zu konnten wir beobachten, wie sie einen glänzenden zappelnden Fisch aus dem Wasser schnellten und von der Angel lösten. Es muß während jener Zeit gewesen sein, gerade bevor ich in die Schule kam, daß uns diese Beschäftigung reizte. Wir fanden sie lustig und lehrreich und sagten der Großmutter, wir wollten auch angeln. »Angelt zum Fenster hinaus!« sagte die Großmutter, die uns offenbar nicht unbeaufsichtigt an den Fluß hinuntergehen lassen wollte, für die aber jedenfalls Angeln keine Beschäftigung war.

Nun weiß jeder, der die Verhältnisse kennt, daß da vor den Häusern der Schönen Aussicht erst die Straße lief, dann die hohe Ufermauer abfiel, unten dann die Geleise der Mainuferbahn auf einem immerhin erhöhten Damm sich hinzogen, danach der Leinpfad und davor erst die Steine und der Sand des Ufers zu überschreiten waren um ans Wasser zu gelangen. Aber das kümmerte uns vorerst nicht. Wir machten uns aus einem Stock des Großvaters, einer Schnur und einer umgebogenen Stecknadel ein primitives Angelgerät zurecht, für jeden eines, und angelten zum Fenster hinaus. Ganz folgerichtig betrachteten wir die Menschen auf dem Bürgersteig als die Fische die sich fangen und anbeißen sollten, und führten also unsere Angelhaken artig und verlockend in Mund- und Nasenhöhe der Vorübergehenden hin und her. Es dauerte nicht lange als die Klingel ging und der dicke Polizeiwachtmeister erschien. »Frau Rat! das geht nit« sagte er betreten, »die Leut' beschwer'n sich!« Die Großmutter lachte, versprach Abhilfe und wir mußten unsere Angelruten einziehen. Aber wir drängten nun nach dem Main; die Großmutter hatte es doch nun einmal erlaubt und nur aus dem Fenster konnte man eben nicht angeln. Zu unserem grenzenlosen Jubel gab die Großmutter kurz entschlossen nach, bald standen wir unten am Wasser, warfen unsere gebogenen Stecknadeln nach Fischen aus und die Großmutter – ich sehe sie noch – ging in ihrem Seidenkleid, einen grünseidenen Knicker – wie sie damals Mode waren – gegen die Sonne haltend, hinter uns auf den Steinen auf und ab. Sie erwartete ihren Triumph wortlos und in voller Ruhe. Das Drama mußte seinen Lauf nehmen. Nach einer Weile zog es sich denn auch zusammen. Kleine Fische, die arglos bis zu unseren Füßen heranschwammen, nahmen nicht die leiseste Notiz von unseren Angelhaken, die wir ihnen maulgerecht hinhielten; ein Angler in meiner Nähe, der einen Fisch gefangen hatte, hantierte mit seinem Angelhaken in einer Weise, die in mir den Verdacht hochkommen ließ, daß da doch noch etwas besonderes dabei sei was mir vorenthalten war.

Es wurde kein Wort gesprochen. Nach einer weiteren Weile, die einem letzten schon ungläubigen Versuch galt, sah ich meinen Bruder an und wir zogen in stillem Einverständnis unsere Angelschnüre ein. Schweigend wurde der Heimweg angetreten, schweigend folgte uns die Großmutter und vom Angeln war nicht mehr die Rede.

Mich aber bestürmte etwas was bisher niemals auch nur sich in mir geregt hatte. Ich verdachte es meiner Großmutter nicht im mindesten, daß sie uns aufsitzen ließ, daß sie sich mit solchen Mitteln aus einer ihr unbequemen Affäre zog, daß sie mich verspottete. Sie spottete gern und oft. Mein Verhältnis zu ihr blieb ungetrübt. Das war es nicht. Aber der erste Zweifel fiel in mein kindliches Herz. Wozu ich sicher keine Anlage hatte: mit diesem Augenblick wurde ich Skeptiker. Man mußte auf seiner Hut sein. Mit dem Fischzeug mit dem die Großmutter uns an den Main ziehen ließ konnte man nicht fischen. Man mußte sich in Zucht nehmen, um auf der Hut sein zu können. Meine Beobachtung verschärfte sich. Ich glaubte nichts, was ich nicht mit eigenen Augen sah. Ganz gewiß: man konnte niemandem trauen. Man durfte ja vielleicht, man mußte oft genug sogar auch andern trauen; aber es war besser, es war die Lehre dieses Erlebnisses und das Erlebnis in einem: allem – ja schließlich auch sich selbst – zweifelnd gegenüberzustehn. Es war mir im Grunde ganz wohl dabei, als ich den ersten Stoß überwunden hatte. Es gefiel mir, weil ich dadurch wieder ein Stück mehr auf mich selber verwiesen wurde. Es stak irgendeine Erprobung eigener Kraft darin, ähnlich wie bei dem Erlebnis am Rhein und der Erprobung die ihm folgte. Dies schien mir wichtig. Die Großmutter hatte mich beschämt wie ein Kind; aber sie hatte mich zugleich dem Kind, das ich vor einer Viertelstunde noch war, ungeheuer überlegen gemacht. Der Zweifel an mir selbst kam später; aber er entstand in der Folge dieses ersten frühen Zweifels wie das natürliche Wachstum aus einer Saat. Ich konnte ihn sozusagen bis an die Stelle seiner Geburt verfolgen.

Wenige Tage schon nach dieser Begebenheit wurde mir der Beweis meiner zweifelnden Verfassung zuteil. Meine Großmutter hatte uns in den Zoologischen Garten mitgenommen. Das Füttern der Fische von der Brücke des Weihers, das Drängen der dicken glitschigen Leiber und das dumm-gierige Schnappen der runden Mäuler um den Brotbrocken war nur das gewohnte Vorspiel. Die große Aufführung fand im Bärenzwinger statt. Dort lockten wir von dem oberen Umgang aus die Bären mit einem durchbohrten, an eine lassoartige Schnur gebundenen harten Brötchen auf den mächtigen Kletterbaum der in der Mitte des Zwingers angebracht war. Das Lasso flog, das Ende mit dem Brötchen wickelte sich oben um die höchste Gabelung des Baumes, der Bär kam.

Diesmal kam er nicht. Er saß vielmehr dicht am Gitter des Käfigs und äugte gelangweilt nach oben. Daher wurde meine Großmutter die Treppen heruntergeschickt, um ihn von außen zu ermuntern. Der Bär blieb in seiner Stellung. Ich schöpfte Verdacht. Sicher stocherte sie ihn nicht gehörig mit ihrem Sonnenschirm. Ich eilte die Stufen hinunter. Aber da stand die Großmutter mit Hoh! und Hallo! und stieß nach den Kräften ihres Schirmchens den Bären aus dem Abstand der Barriere in das dicke Fell. Ich schämte mich sie kontrolliert zu haben und wurde betreten. Meine Großmutter erkannte meine Verfassung und da sie wohl wußte daß sie es war die sie verschuldet hatte, versuchte sie wiedergutzumachen was sie mir angetan hatte. Sie hat seitdem jedes meiner Worte, ja jeden meiner Blicke, jeden meiner Schritte und jeden meiner Wünsche die ich zu ihr brachte mit einem zarten Ernst aufgenommen den ich nie vergessen werde.

 

Bei aller meiner Neigung für Frankfurt, bei allen Reizen der Stadt und des Hauses als Schauplatz einer Kindheit, bei aller Eindringlichkeit der Bilder und Erlebnisse, bei allem Wohlbehagen und aller Geborgenheit, die ich im Bereiche der Großmutter empfand, wußte ich doch von je in mir, daß ich dort nur zum Besuche aufgenommen war. Ein heimatliches Gefühl habe ich nirgends gehabt, auch nie, weder in diesen noch in späteren Jahren, dieses Gefühl oder die Heimat vermißt, die mir versagt geblieben ist. Die Großmutter aber schien zu meinen daß man eine Heimat haben müsse. Sie beklagte oft in ihren Briefen daß mir dies Gefühl fremd sei. Es war mir aber fremd und unbegreiflich. Dennoch sagte ich damals und später, da es mir in gewissem Sinne ehrlos erschien, keine Heimat zu haben, meine Heimat sei Frankfurt. Dann meinte ich aber dieses Frankfurt das ich beim Überfahren der Eisenbahnbrücke vor mich hingebreitet sah, das mich erregte, für das ich zitterte, weil es schön war; und weil es schön war, wählte ich es als Heimat; es durfte diesen Platz in meinem Herzen in diesen Jahren einnehmen; ich hatte es an diesen Platz gesetzt – fast aus Eitelkeit.

Es gab aber noch ein anderes Frankfurt, das zwar auch in tausend Erinnerungen lebt und wiederkehrt, gegen das ich freundlich in meinem Innern und dankbar bin, das mir aber nicht kraft des Erlebens wie jenes gegenwärtig geblieben ist. Es war das Bereich der Familie meiner Mutter. Ja sogar die Familie meines Vaters, soweit es nicht die Großmutter war, teilte dieses Schicksal. In jenem nämlichen Haus an der Schönen Aussicht ging mein Großvater, ging eine sehr kluge und liebevolle Schwester meines Vaters, gingen Vettern und Kusinen, alle mir wohlgesinnt, durch die nämlichen Türen und ich erinnere mich sehr wohl ihres Wesens und ihres Aussehens, ich hatte sie lieb, weil sie lieb zu mir waren, aber ich habe sie dennoch nie besessen. Sie waren jenseits der scharfen Grenze dessen was ich erlebte, sie waren niemals in meine Erlebnisse verwoben und so konnte ich sie auch nicht durch mein Leben mit mir tragen.

Das Haus meiner Großeltern von Mutters Seite hätte mir sogar in gewissem Sinne besser gefallen müssen als das der Großeltern am Main, ja es gefiel mir sogar besser. Es war von einer weststädtischen Gepflegtheit und in allem von größerer Feinheit. Alles war in geschmackvoller Ordnung aufgestellt, viele Stücke des Mobiliars waren von hohem Wert und ausgesuchter Schönheit. Geschnitzte und getäfelte alte Schränke mit ausladenden Simsen standen an den Wänden, ich spielte in der Nische eines der zierlichsten Renaissance- Gebetpulte das man sich vorstellen kann – ich fühle noch die zarten Windungen der gedrehten Säulchen in meinen Händen – große dunkle Bilder, Kopien berühmter Gemälde, hingen umher – aber es war irgendwie ausdruckslos, es war eine Distanz zwischen den Menschen und den Dingen, zwischen den Dingen und mir, ich getraute mich nicht mich frei zu regen, man konnte nicht mit ihnen leben. Aber wenn sich die Großmutter von der Schönen Aussicht auf einen ihrer Stühle setzte, so gehörte er zu ihr und ich turnte über die Betten.

Wie es mit den Dingen war, so war es mit den Menschen, wennschon aus anderen Gründen. Wenn die Großmutter vom Main mich auch nur einmal durch die Judengasse führte oder zu den Schwänen am Rechneigraben, so war das mehr als wenn mich die Großeltern der Weststadt mit auf eine Reise nahmen. Dabei liebte ich sie beide und ich kann nicht das leiseste anführen was mich ferngehalten hätte. Mein Großvater war ein auffallend wohlgewachsener Mann mit vornehmen Zügen; er trug gewöhnlich einen schwarzen englischen Rock mit seinen Seidenpassepoils, vom besten Stoff und dem besten seit Generationen berühmten Schneider, zu einem blanken, immer frisch gebügelten Zylinderhut; ich zeigte mich gern mit ihm. Es war immer fein, artig, gepflegt, angenehm, freundlich, geordnet mit diesen Großeltern und konnte sich sehen lassen. Aber für die Erlebnisse war die Großmutter an der Schönen Aussicht da.

Vielleicht war es nur so: Ein Brötchen das für einen Knaben mit anderen zum Frühstück in einem kleinen Korb auf einem wohlgedeckten Tisch steht und wartet, ist ein anderes als jenes das ein Knabe morgens aus dem großen Korb des Bäckerjungen nimmt der vor der Tür steht. Die Klingel draußen wird hart und auf besondere Weise gerissen. »Es ist der Bäcker!« – der Knabe weiß es schon. Die Großmutter sagt, er soll acht Brötchen nehmen und zählt ihm das Geld in die kleine Hand. Sie zeichnet ihn aus daß er selbst zur Türe gehen darf und der Knabe weiß es. Er rennt und öffnet und langt in die Tiefe des hingehaltenen Korbs und paßt wohl auf daß er seine acht Brötchen erhält und zahlt dem Bäcker, nicht so genau aber doch in Nachahmung der Großmutter, seinerseits das Geld in die seltsam wulstige Hand. Und dann wird die Tür hinter dem Bäckerjungen zugeschlagen, damit die Großmutter drinnen auch hört, daß draußen alles richtig vor sich geht, und der Knabe stellt selbst die eingekauften Brötchen auf den Frühstückstisch. – Vielleicht war dem Knaben der Unterschied der beiden Brötchen nicht ganz klar; aber dem Manne ist er sehr klar, und daher weiß er heute noch, welchen besonderen Geschmack, Duft und Geruch, welche besondere Form und Farbe die Brötchen hatten, die er als Knabe an der Schönen Aussicht auf seiner Großmutter Tisch stellte.

 

Diesen schwankenden Schauplatz meines Lebens, der dennoch einen so großen Raum und festen Platz in meinem Herzen einnahm, sollte ich nun damals entscheidend verlassen als es, am Ende jenes Aufenthaltes welcher der Anlaß zur Schilderung der Frankfurter Verhältnisse geworden ist, hieß, wir reisten mit Vater und Mutter, die angekommen waren, in eine große Stadt, wo wir wohnen und bleiben würden. Mein Vater verkündete das in erhobener Stimmung wie eine Aussicht. Meine Spannung und Erwartung, meine Zuversicht, mein Mut, meine Unternehmungslust kannten keine Grenzen. Ich war wie getragen. Eine weite Reise stand bevor, eine noch größere Stadt als Frankfurt, eine neue Umgebung mit neuen Erlebnissen. Ich konnte mir nichts Bestimmtes vorstellen, als daß alles groß, wichtig und neu sein würde. Ein weithin Leuchtendes, etwas wie das Leben selbst schien sich zu öffnen, fern und zukünftig, gar nicht entgegenkommend, sogar fremd und anders, aber eben sehr wichtig, schön und groß. Es war das erste Mal daß etwas vor mir lag; aber ich ahnte nicht was hinter mir lag. Auch den Namen der Stadt erfuhr ich nun: es war Leipzig.

 


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