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Siebentes Kapitel

Niemals will ich leugnen daß in jenen Jahren der Hochstapelei an mir selbst – und es war eine lange fast tödliche Zeit – ich mir immer vor mir als ein Ausgestoßener vorkam. Die Berufe denen ich mich genähert hatte, hatten mich nicht behalten. Ich stand vor dem Nichts. Ich wußte genau genug, daß ich vor meinem Vater nichts galt, vor meiner Mutter und meinen Geschwistern vermutlich auch nichts. Aber ich weiß auch daß sich sofort in mir eine verruchte innere Lust ausbildete, vor nichts zu stehn. Es ward eine Sensation für mich, vogelfrei zu sein wie ein aus der Gemeinschaft der Menschen Ausgeschiedener. Denn wenn ich dies auch tatsächlich und im äußern nicht war, so hatte ich doch keinen Raum im Kreise von Überzeugten, von inbrünstig Lebenden die großen Zielen nachgingen, wahrhaft Nützlichen und Tüchtigen. Ich mied daher diese Menschen, suchte sie wenigstens nicht und wo ich ihnen begegnete, verschloß ich mich ihnen.

Auch war es für mich immer ein Kräftespiel vor dem Nichts zu stehn, sich vom Unbekannten überraschen zu lassen, sich für das Unbekannte zu sparen. Ich weiß jetzt was mich damals anwandelte als es mich reizte vor dem Nichts zu stehen. Jetzt, wo ich immer wieder, wenn ich etwas gestalten will was mich furchtbar oder tief ergreift, vor dem Chaos sitze wie Gott vor dem Chaos saß, begreife ich mich: begreife ich das unbestimmte auf Bestimmtes gerichtete Kraftgefühl, mit dem ich mich so manchen Morgen erhob, begreife ich daß diese seltsame Zeit der Leere dennoch ein Stein in dem Strome war auf dem ich fußte.

Äußerlich –: ich schaute nie nach einer gesicherten Stellung aus. Meine sehr große Kenntnis des Pferdes, besonders des Vollbluts, seiner Abstammung und Züchtung brachten mir bald ein gewisses Ansehen auf diesem Gebiet. Es gab Leute die sich wegen eines Reitpferds, eines Rennpferds, einer Zuchtstute, eines wertvollen Deckhengstes an mich wandten, der ich eine Zeitlang einen so geübten Blick für Pferde besaß daß ich jedes wiedererkannte das ich auch nur einmal an mir vorübergehen ließ – und ich sah tausend Pferde in jedem Jahr. Denn ich bereiste England und Irland um jener erstaunlichen Aufzucht von Pferden willen die in keinem Lande der Welt degenerieren oder ihr Aussehen ändern, wie es die gemeinen, ländlichen Rassen tun und die der Engländer daher »durch-und-durch-gezüchtete« Pferde, der Deutsche Vollblut nennt. (Alles Vollblut der Welt stammt vom englischen, was die wenigsten Menschen wissen.) Ich wußte den Leuten die Pferde zu verschaffen die ihnen anstanden, die sie reiten konnten, die in den Rahmen und die Aufzucht ihrer Gestüte paßten; und da ich niemals einem der sich an mich wandte ein schlechtes, unbequemes oder unpassendes Pferd besorgte und antrug, hatte die Sache eine gewisse Art. Indes waren es fast nur Gelegenheiten, oft nur Gefälligkeiten die ich wahrnahm; ich konnte auf ihnen nicht einen Unterhalt aufbauen – wollte es auch gar nicht.

Die willkommensten Gelegenheiten entsprangen bei den Sommerübungen die ich in jener Zeit jedes zweite Jahr bei jenem sächsischen Husarenregiment ableistete dessen ich schon an seinem Ort Erwähnung getan habe. Man war unterdessen Reserveoffizier bei diesem Regiment geworden und stieg in der Rangliste im Lauf der Zeit bis zum Rittmeister auf. Es gehörte für mich nicht viel dazu, den Zug und später die Schwadron, die ich zu führen hatte, gut zu führen, und die geheimen Qualifikationen, die über mich bei meinem zuständigen Bezirkskommando bewahrt wurden, waren – wie ich wohl wußte – sehr rühmend. Zu diesen Übungen brachte ich nun immer ein oder zwei schöne Pferde mit die ich in England oft fast umsonst bekam, weil sie vielleicht zufällig ihren dortigen Vorbesitzer einmal enttäuscht hatten. Diese Tiere taten mir den Dienst als Offizierspferde und nie habe ich eines wieder mit fortnehmen müssen; am Schluß der Übungen wurden sie mir von Kameraden oder höheren Offizieren oft genug fast buchstäblich unter den Beinen fortgerissen und gewöhnlich blieb mein Sattel auch noch darauf liegen. Ich ging nicht leer aus. Dieses Ende bezahlte mir den ganzen Aufwand für solche militärische Dienstzeit die regelmäßig acht Wochen umfaßte, und manches Mal reichte der Erlös noch einige Wochen oder Monate weiter. Doch war der Aufwand recht beträchtlich. Man ließ sich nicht lumpen und traf außer mit guten Pferden auch mit gutsitzenden Uniformen und einem Korb Sekt französischen Namens und französischer Güte in der kleinen freundlichen Garnison ein, wo man nicht Lust hatte, sich nach einem heißen Morgen, an dem der Schweiß von Mensch und Tier floß, den Magen an asketisch-saurem Mosel oder viel zu jungem deutschem Schaumwein zu verderben.

Als Offizier ritt ich und gewann ich mein Rennen, als Sportsmann bestritt ich mit wenigen erlesenen Pferden selbst große und wertvolle Zuchtprüfungen auf flacher Rennbahn, und manch ein Begeisterter hatte sein Leben lang an dem seltenen Triumph gezehrt, als Deutscher in England, dem Mutterlande allen Sports, ein großes Flachrennen mit seinem Pferde gewonnen zu haben, bei dem mein Hengst einem Feld von achtundzwanzig Pferden über die berühmte englische Meile von Lincoln, die zu den Füßen der ehrwürdigen und doch so heiteren Kathedrale endet, auf und davon lief. Damals kam einer dieser von sportlichen Erfolgen so erregbaren Engländer zu mir, gab mir bewundernd die Hand und sagte die für uns so unfaßlichen Worte: » Well, Sir; you are the most popular man in England to-day – except the king.«

Ich aber machte aus alle dem nicht mehr als es war und alle meine großen und kleinen Erfolge – wenn man ihnen überhaupt das Brot gönnen will – wogen nicht so manche geheime Stunde der Gehobenheit auf, die ich im Zwiegespräch mit meinem stummen Lehr- und Zuchtmeister noch immer und immer von neuem erlebend empfand. Nichts von dem eben Erzählten dürfte in diesem Bericht erscheinen der das Erlebte umfaßt – jenes alleinige, auf dem das Gegenwärtige beruht. Ich könnte dem Augenblick der vor mir steht auch ohne alle diese Dinge ins Auge sehen, die nur einen Hintergrund, einen Ablauf jener Unerfülltheit bedeuten in der ich dahinlebte. Und als solche sind sie hier erzählt.

Bei solchem ungeregelten und auch kostspieligen Umtreiben – schon die Reisen kosteten Geld, und wenn man in London oder Paris war, so wollte man auch bei dem Aufwand selbst nicht zu kurz kommen – brachte ich mich bald durch, bald brachte ich mich nicht durch. Ich habe nie verschwendet, war nie von Bedürfnissen abhängig, ohne deren Befriedigung andere Menschen nicht leben zu können vermeinen. Aber manchmal fehlte mir selbst die kleinste Summe. Es machte mir jedoch keinen Eindruck Geld zu haben und keinen Eindruck keines zu haben. Ich schlief mit Schulden nicht schlechter als ohne. Manchmal nahm ich meinen Vater mit keinem Pfennig in Anspruch; manches Mal wiederum sprang er mit erheblichen Summen für mich ein. Aber er hat niemals darüber mehr Worte verloren, als diesen Dingen bei ihm zukamen. Es kamen ihnen nur wenig zu; wenige und verächtliche, als ob ich gerade mit einer lächerlichen Nebensächlichkeit nicht zustande gekommen wäre. Er rechnete mir die Beträge, die ich über ein von ihm bemessenes Maß von ihm erhielt – auch sehr kleine – wortlos auf mein Erbteil an, von dem er wohl annahm daß ich es einmal doch erhalten werde. Es war ihm offenbar gleichgültig, wann ich darüber verfügte. Erbschaften, Geld, Verdienst und Schulden waren kein Gesprächsstoff in unserer Familie, nicht weil man es vermied darüber zu reden, sondern weil das – obgleich mein Vater alles was er ausgab selbst verdiente – bei ihm, unserer Mutter, seinen Söhnen und Töchtern sehr wenig galt.

 

Mein Tag war trotz meiner Unerfülltheit nicht völlig leer. Ich ritt und liebte. Ich ritt nach Herzenslust und liebte nicht anders. Es war keine Lauheit, keine Unüberzeugtheit, kein Bedenken, kein Falsch, keine Leere in beidem. Frauen sind immer reizend wenn sie lieben. Sie lügen nicht. Ich ritt aber am liebsten, am freudigsten, fast möchte ich sagen: am besten, wenn ich liebte; denn dann war ich in besonderer Weise gehoben und es bestürmte mich, daß ich weites vor mir haben müsse. Mir war als könne man ohne die freie Natur die Liebe schlecht ertragen. Noch war die große Freundin meiner männlichen Jahre fern und versagt – sie die alles gab und nahm, alles befreite und band, alles rief und erhielt, alles begann und alles endete! – aber ich habe so manche geliebt wie das Leben und es ist mir als hätte ich keine verlassen. Jede erhielt was sie sich nahm und ich glaubte mich immer erfüllt, immer erfüllend. –

Ich habe keine schlechten Frauen gekannt. Vielleicht waren sie es nicht, solange sie mich liebten. Ich habe mein Gefühl nicht geschändet und das ihre nicht. Denn wir wußten wann wir uns entfielen. Ich war sterblich und schmerzlich verliebt, aber keiner dieser Frauen galt meine Laune und jeder galt immer meine Liebe. Sie sind noch alle in mir wie ein ferner Duft und wie ein heller Glanz. Ich betrüge mich nicht.

Da bist du die erste, fast Kindliche, die nichts tat als auf mich warten. Kam ich nicht, gingst du wieder. Dann verzogst du in eine andere Stadt mit den Deinen und weintest sehr. –

Ich sehe die dunkle, verschlossene, starke, die dennoch zitterte als sie mich nahm. Sie behütete mich mit ihren Augen wenn sie tief in die meinen sah und sprach diese stillen, tiefen und zerrissenen Wünsche dazu. Sie hätte mich am liebsten geformt in diesen Blicken ihrer Inbrunst für mich. –

Ich sehe die bejubelte graziöse kleine Diva – ich wußte nicht daß sie es war und es war nicht um deswillen daß ich sie liebte –, für die Tag und Nacht gleich war; die ein Herz wie ein singender Vogel hatte – und es ging ihr immer über; die mit Leidenschaft kokett war auf den Brettern und die anspruchslose Natürlichkeit auf der ebenen Erde. Und wir dachten beide, alles wäre ewig. Aber es ist ja auch so. Bringt sie mir nicht noch immer, schnell herübergehuscht aus dem nahen Theater, in Schminke und buntem Kleid während der Spielpause, die frutti di mare, die Austern und frischesten Krabben die ihr ein anderer für ihre Rolle auf die Bühne geschickt, um sie in kindlicher Lust, geschwind und geheim, mit dem zu verspeisen den sie liebt? Ewig wird sie es tun, so oft ich an sie denke. Alle Musik der Welt war damals in ihr und alle Leichtigkeit eines ewigen Tanzes. –

Ich sehe jene gefährlich Schöne, gefährlich Entzündbare, die noch in späteren Jahren als reife Frau, da sie mich nach langer Zeit wiedersah, das volle Sektglas nach mir schleuderte, daß das Naß wie eine Schlange auf mich zusprang –; ich erkannte sie an dem Wurf. Niemand außer sie hätte am hellen Mittag in einem der vornehmsten, besuchtesten Frühstückslokale des damaligen Berlin diesen Wurf gewagt, um nichts als eines Zeichens willen. Ich weiß: früher warf sie nur mit Blumen; aber es standen keine Blumen auf dem Tisch. –

Ich sehe wieder diesen schönen nackten Arm, ganz weiß im Mondlicht eines Gartens aus dem Schwarz der offenen Flügeltür sich mir entgegenheben; er war so weiß und kühl im Licht des Mondes, daß ich erschrak als er warm war. Und alles war so still. Ein Tropfen fiel und unter meinem Fuß knirschte leis ein Kiesel, als ich den Schritt über den Weg hinüber tat. Die warme weiße Hand tastete nach mir und zog mich hinein ins heiße Dunkel stummer Küsse. Ewig bist du, schöner Arm!

So liebte ich viele im Lauf der Jahre, und habe doch nur immer die geliebt, um die ich meinen Arm schloß. – Es war mir eine Genugtuung zu lieben und das Gefühl beglückte mich nicht weniger als damals da ich als vierjähriger Knabe das Bild meiner ersten Geliebten in Freiburg in meinem Herzen verschloß.

 

In diesen Jahren schien es mir wohl, als ob das Leben selbst, so wie es sich bot, mein Feld und Beruf sei. Die Zukunft, so meinte ich, werde sich schon einstellen wie sich der Augenblick einstellte. Auch sie würde mich bereit finden. Jedenfalls habe ich meine Geliebten und die Menschen mit denen ich bei solchem Leben zusammentraf meine Unerfülltheit nicht entgelten lassen. Keiner bemerkte sie und vermochte sie zu bemerken. Selbst der Eine den ich in dieser Zeit gewann, der mir wahrhaft zufiel (wie ein ungesuchter Zufall), der allein tiefer um mich wußte und mich erahnte noch ehe ich selbst mich ahnte – selbst dieser Eine gewahrte eher eine Fülle in mir als eine Leere. Ein solcher Vorgang erstaunte mich.

Es begab sich daß mich eines Tages – ich lebte damals schon einige Jahre in Berlin – unter den Linden ein junger Mensch ansprach den ich bisher nur als sehr hübschen aber auch sehr grünen und unbedeutenden Offizier bei dem nun schon mehrfach erwähnten Regiment gelegentlich meiner Sommerübungen gesehn hatte. Er war etwa zehn Jahre jünger als ich, und ich war ihm im Grunde so gleichgültig als er mir. Auf Grund unserer bisherigen Bekanntschaft und in dem Kreise wo wir uns begegnet waren, hielt jeder den andern für eine gutaussehende ausgezogene Null, die man kameradschaftlich begrüßen aber auch bald wieder laufen lassen würde. In diesem Gefühl vollkommenster Hochachtung gingen wir gemeinsam ein Stückchen Wegs die Linden hinunter. »Was tun Sie eigentlich hier?« fragte ich. – »Ich?« sagte er; »ich studiere Kunstgeschichte.« – Ich blieb einen Augenblick stehn und blickte ihn sprachlos an. Es war immerhin nichts ganz gewöhnliches, einen Menschen, den man ziemlich richtungslos vor einem Zug Husaren hatte reiten sehn und der im Kreis seiner Kameraden höchstens für die Veranstaltung interessiert war, um einer Wette willen einen lebendigen Regenwurm in einem Cognac zu verschlucken, nun plötzlich mit einem Studium beschäftigt zu sehn das vermutlich andere Empfindungen voraussetzte. Indes er erklärte mir allen Ernstes, er habe dem Soldatenspielen den Rücken gedreht und sich der Kunstgeschichte zugewandt; und die und die Vorlesungen besuche er. Wie es so geht machte er kurz nach dieser Eröffnung, die ich mit abwartendem Gesicht aufnahm, eine Bemerkung aus der ich ersah, daß er den Grünen Heinrich kenne. Ich blieb abermals stehn. »Sie kennen den Grünen Heinrich?« fragte ich als ob es sich um eine Unmöglichkeit handele. Aber er war viel erstaunter als ich. Auch für ihn schien es eine Unmöglichkeit daß ich ihn kannte. Wir mußten uns plötzlich sozusagen »beziffern«; die Bequemlichkeit, sich nicht oder nur als Null zu zählen, war uns entrissen. »Wenn Sie also den Grünen Heinrich kennen, können Sie heute Abend mit mir essen«, sagte ich mit mehr Logik als man diesen Worten ansieht. Es klang nicht sehr höflich. Aber wir schüttelten uns die Hände und waren der stillen Meinung daß wir auf dieser gemeinschaftlichen Basis ganz ordentliche Kerle sein müßten. Wir kamen am Abend zusammen und es war so.

Es stellte sich heraus daß dieser Mann, abgesehen davon daß er eine sehr weitgehende Bildung, Belesenheit und Bewandertheit neben mancher Begabung besaß, zugleich für alle Dinge des Lebens, besonders die künstlerischen, eine natürliche Neigung und eine eigene, unangelesene, teilnehmende und wahrhafte Empfindung barg und diese besonnen und nicht ohne Grazie und Geist zum Ausdruck brachte. Der Reiz eines ungekünstelten und zugleich wohlgebildeten musischen Menschen ging von ihm aus und – was mich besonders bestach – alles Tun-als-ob schien ihm fremd; eine heitere Ehrlichkeit, die bis zu einer leichten Selbstverspottung gehen konnte, war in ihm und äußerte sich in einer seltenen Frische und Gelöstheit, wenn er mit mir zusammen war. Dann spürte er wohl die gleiche Feindlichkeit gegen die Heuchelei, spürte und atmete also die gleiche Luft. In vielem war er sehr verschieden von mir und übrigens durchaus nicht der Inbegriff des Guten oder auch nur des Angenehmen. Er war ein Egoist; – aber er sagte es. Er war durchaus kein Held; – er gestand es ein. Er war reichlich zuchtlos und bequem; – er gab es zu. Er lebte sehr üppig aus der Tasche seines Vaters, der sehen mochte wo er das Geld hernahm; – er hielt davon, daß seines Vaters Geld doch nur aus Renten und Börsengeschäften stamme und also durchaus gut angewandt sei wenn er davon lebte. Er liebte nicht, denn er hätte sich nie geopfert; – er wußte das, aber er sagte es auch. – Eine gehobene sinnliche Harmonie, nicht gerade aufregend, etwas ästhetisch, unverbindlich, ohne eigentliche Verantwortung, ohne Konflikte – dieses besonders –, kampflos, kultiviert, unheroisch und unplebejisch: das war das Ziel des Menschlichen dem er lebte.

So war Anton. Er war damit eine der vollkommensten Inkarnationen eines gehobenen jungen Mannes aus der Wende des Jahrhunderts; die vollkommenste die ich je gekannt, mit allen Schwächen, die er bereitwillig zugab, und allen Reizen der Echtheit und der besonderen Essenz.

Seit jenem Abend kamen wir häufig zusammen. Er schien in mir eine gewisse Festigkeit und Unanfechtbarkeit neben dem Musischen zu lieben das uns wie eine gleiche Einstimmung der Welt gegenüber verband. Er machte nichts daraus daß ich nichts war und nichts Ernstliches trieb; im Gegenteil bewunderte er, wie ich glaube, den Anblick des Losgelösten, auch des recht eigentlich Amateurhaften den ich bot. Dies war mir durchaus nicht recht, aber ich hatte nichts anderes aufzubieten.

Ich liebte an ihm ein köstliches, bildsames und jugendliches Material, das ihn, da er als Persönlichkeit noch kaum gelten mochte, auszeichnete und eigentlich ausmachte. Er war unerhört begabt sowohl nach der Seite seines Verstandes als seiner Gefühle hin. Farbe und Ton taten sich ihm in gleicher Weise auf, und nie habe ich ihn ganz ohne einen Klang, eine Weise, ein Stückchen unmerkliche Musik in seinem Innern getroffen. Nie war er langweilig oder reizlos in seinen Bemerkungen und Gesprächen und es mußte schon sehr spät werden, bis man ihn müde, zum Aufbruch oder zum Schlaf bereitfand. Im Gegenteil: erst gegen Morgen schien er völlig zu sich zu erwachen und manche blaue Stunde, manche dämmernde Frühe habe ich mit ihm erlebt, in der wir, nach seliger Umnebelung, in eine noch seligere heilige Nüchternheit einfuhren wie schwankende Schiffe aus stürmischer Fahrt in eine sonnige See. Er trank gerne und aus vollen Gläsern, immer mit einer hohen, nie versiegenden Verehrung für das Trinken und den Wein. Dann wurde seine Stimme ganz innerlich, die Rede wurde zur Feier und in jenen Stunden zwischen Nacht und Morgen haben wir, Mann zu Mann, die unvergeßlichen, tiefen Gespräche geführt, in denen keine Trauer und nur das Leben war, jene olympischen Gespräche nach denen wir zur Ruhe gingen wie die Götter.

Später habe ich erfahren und wahrnehmen müssen daß er sich mit mir – wenigstens was die Abende anging – sozusagen gegen eine Weichheit seiner selbst schützte. Er ertrug es nämlich nicht allein zu sein. Dies machte ihn auswahllos gegen seine Gesellschaft und manchen Abend hat er mit einem aufgelesenen Menschen verbracht nur um den einsamen Stunden zu entgehen die ihm drohten.

Danach freilich hatte er bald, Abend für Abend, eine noch bessere Gesellschaft als mich. Denn es war in diesen Jahren als ich den reizenden Beginn einer Freundschaft miterleben durfte, die ihn eine lange Zeit seines Lebens mit der damals aufsteigenden, begabtesten und größten Schauspielerin Berlins verband. Damals ward ich der Freund dieser Freundschaft. Wenn er und ich, erschüttert und beglückt, nach einer Vorstellung des führenden Theaters von Berlin vor den Türen oder schon in dem Restaurant wo wir uns treffen wollten Lux erwarteten, wenn sie dann kam und vor Freude über ihren Erfolg erst einmal der Butter, die in einem Kranz von blinkenden Eisstückchen auf dem Tische stand, mit der Hand, sich nicht lassen könnend, auf den Leib klopfte; wenn ihr ganzes sauberes ungeschminktes helles Wesen den Raum erfüllte, dann war es ein Auftritt der über alle Auftritte in den Theatern der Welt ging. Aber in einer Aufführung in der sie spielte waren Anton und ich nicht; und von diesem Ausbleiben wird an seinem Ort die Rede sein.

Mit Anton besuchte ich in jenem Jahre eine Reihe von Vorlesungen an der Universität, die er belegt hatte. Er neigte damals sehr der Antike zu als der nach seiner Meinung einzigen Form des Lebens die Würde und Anmut vereinigte. Ich widersprach ihm im Innern, da er in irgendwelcher Weise sich damit von der Gegenwart loszusagen gedachte. Aber bei der Unwahrhaftigkeit der Formen des Lebens die uns umgaben – es war im wörtlichen und übertragenen Sinne alles Stuck was uns umgab und stellte etwas vor was es gar nicht war – konnte ich ihm nichts entgegensetzen.

Es war im vierten Jahre dieser Freundschaft und ich näherte mich meinem vierzigsten Lebensjahr als mich das wegen seiner Unvermutetheit erschütterndste und unheimlichste Ereignis betraf, das je in mein Leben und in meinen Willen sich eingemischt hat.

Was mir begegnet ist weiß ich nicht. Unmerklich – in längerer Zeit – verlor ich die Zuverlässigkeit, fast das Bewußtsein meines Handelns, d. h. Einzelnes, auch Unbedeutendes, war erschrecklich klar und belichtet, anderes vielleicht Bedeutendes, völlig unbelichtet. Ich tat ganz gleichgültige Dinge zweimal – klingelte etwa einem Diener zweimal oder schrieb zweimal den gleichen Brief – was ich dann oft erschreckend im zweiten Tun gewahrte oder nicht gewahrte, und ebenso unterließ ich es ohne es gewahr zu werden das Wichtigste – wie wenn Tag und Nacht ungeregelt und unwahrnehmbar in mir wechselten. Ich geriet in eine mir unbekannte Angst, wach und licht zu bleiben, um der Umarmung und Verdunkelung zu entgehen oder ihr nicht zu verfallen; und doch trat unmerklich ein Gifttod der Erschlaffung und Unbewußtheit ein, aus dem ich dann im nächsten Augenblick in die fürchterlichste Ernüchterung, Klarheit und Gewißheit über meinen Zustand erwachen konnte, so daß mich Schweiß badete und Eiseskälte und Angst des gegenkämpfenden Willens mich schüttelte. Ich war sehr krank. Ich wurde eingehend untersucht. Ein Arzt der sich mit mir befaßte, fragte mich, in welchem Jahr und an welchem Tage die Schlacht von Sedan gewesen sei, was jedes Kind wußte, denn der Tag von Sedan war ein nationaler Feiertag. Ich vermochte es nicht zu sagen. – Er fragte, ob ich Geschwister habe. »Ja.« – »Wieviele?« – ich vermochte es nicht zu sagen. – Während ich nach der Untersuchung meine Kleider wieder anlegte, verwirrte er mich damit daß er sagte, ich hätte den rechten Stiefel an den linken Fuß gezogen und den linken an den rechten. Obgleich es nicht der Fall war, begann ich die Stiefel zu wechseln und bemerkte erst nachdem ich den einen aufgeschnürt hatte daß ich mich hatte verwirren lassen. Als ich auf der Straße war, war wieder Tag in mir; alles war klar und ich begriff nicht, warum ich nicht zu sagen vermochte, wann die Schlacht von Sedan geschlagen wurde, wieviel Geschwister ich hatte und wie ich mich hatte verwirren lassen können. Es schauderte mir nicht vor mir; dazu hatte ich sozusagen keine Zeit. Ich lebte nur in diesem unkontrollierbaren Wechselbad von Umtagung und Umnachtung, das ohne Unterlaß meine Kraft beanspruchte und verzehrte. Mein Gehirn schmerzte oft sehr, daß ich es stützen und ewig anders hätte lagern mögen; in meine Glieder war Schmerz und Blei zerstreut; auch sah ich oft nicht mehr was ich sah, d. h. das Auge sah, aber ich vermochte in meiner Seele nicht zu sagen was es sah – oder erst nach großer Anstrengung und wie auf Umwegen. Schließlich gelang es mir nicht mehr nachzukommen. Die Dinge und Menschen schoben sich in einem merkwürdigen Gefüge und Geschiebe an mir vorüber und ich zwischen ihnen, wie auf einem Rangierbahnhof man zwischen langsamen, schnellen und stehenden Zügen nicht mehr weiß, ob man sieht, langsam oder schnell geschoben wird, ob man sich vor- oder rückwärts bewegt. Endlich vermochte ich nichts mehr eigentlich zu wollen. Das Unheimliche vollzog sich an mir, daß ich mich eine Zeitlang aufgab, daß ich mir abhanden kam, daß jede Erinnerung aussetzte. Es wurde mir alles gleichgültig. Ich versank in einen Schlaf meines Willens: ich war mir nicht lieb, ich war mir nicht zuwider; ich war mir nichts. Ich wollte mir auch nichts sein. Es war schon recht so. Es war das Letzte was ich an mir wahrnahm.


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