Otto Julius Bierbaum
Studentenbeichten
Otto Julius Bierbaum

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

To-lu-to-lo
oder
Wie Emil Türke wurde

Mein Freund Emil war ein merkwürdiger Referendar: Es genügte ihm nicht, Referendar zu sein. Er wollte durchaus nach China.

Nicht etwa, daß er an einer Stangen'schen Weltreise hätte teilnehmen wollen. Nein, es war nicht eitle Vergnügungssucht oder seichte Neugierde; es war Ehrgeiz.

Emil hatte es sich in den Kopf gesetzt, schnell Karrière zu machen und auf ungewöhnliche Weise. Aber es war ihm nicht verborgen geblieben, daß es bei der erstaunlichen Fruchtbarkeit, die Mutter Germania in der Erzeugung von Referendaren an den Tag legt, seine Schwierigkeiten hat, selbst durch ungemeine Leuchtkraft juristischen Genies das Anciennetätstempo der Beförderung zu durchbrechen, und außerdem erblickte er, so genau und scharf er sich auch umsah, keine Gelegenheit, auf ungewöhnliche Manier, also außerhalb der offiziellen Klimmleiter, ein höherer Würdenträger zu werden. Denn er war nicht einmal in einem gewöhnlichen, geschweige denn in einem »besseren« Korps aktiv gewesen und hieß übrigens bloß Meyer.

Indessen, es fehlte ihm nicht an Findigkeit, und so hatte er entdeckt, daß im auswärtigen juristischen Staatsdienste ein sehr viel schnelleres Tempo des Avancements statthat, und daß dieses Tempo sich im Verhältnis zur Entfernung von Deutschland beschleunigt. Daher beschloß er, kaiserlich deutscher Konsul in China werden zu wollen.

Da traf es sich für den kühnen Referendar nun sehr gut, daß just um die Zeit, als er die erste juristische Würde erworben hatte, das Seminar für orientalische Sprachen in Berlin gegründet wurde, und zwar vornehmlich und ausgesprochenermaßen zu dem Zwecke, jungen Rechtsbeflissenen Gelegenheit zur sprachlichen Ausbildung für den Dienst in den ostasiatischen Ländern zu geben. Es schien fast, als habe das Reich bei dieser Gründung ausdrücklch die Pläne Emils im Auge gehabt, und diesem war nur das Eine fatal dabei, daß das Seminar auch den exotischen Ehrgeiz anderer Jünger der Jurisprudenz aufwecken mußte.

In der That fanden sich in der chinesischen Klasse eine ganze Anzahl junger Juristen zusammen, aber zu seiner Genugthuung konnte Emil konstatieren, daß das zumeist Jünglinge waren, die das Examensieb noch nicht passiert hatten. Es war kein Zweifel, daß er mit noch zwei Referendaren als Erster nach Peking geschickt werden würde, um sich dort als Dragomanatseleve auf Reichskosten noch weiter in der Sprache der Hansöhne auszubilden. Es kam nur darauf an, daß er sich bis zur ersten Diplomprüfung Alles aneignete, was an sprachlichen Grundlagen verlangt wurde.

Emil that, was in seinen Kräften stand. Nicht allein, daß er keine Stunde des Seminars versäumte, er leistete sich auch noch ein Übriges. Fleißig besuchte er den gemütlichen Mandschumann und Inhaber des violetten Kappenknopfes Herrn Kuei-Lin und unterhielt sich mit ihm, der kein Wort Deutsch verstand, nach Möglichkeit chinesisch, immer das Notizbuch in der Hand und unermüdlich bedacht, mit Bleistift die Zeichen nachzumalen, die der Pinsel des gefälligen Chinesen vormalte. Auch sah man ihn oft mit dem bezopften alten Herrn Straßen, Läden, Sammlungen besuchen, immer nur zu dem Zwecke, bei jedem Dinge zu fragen: Dscho sche schommo (was ist das?) und so sein chinesisches Vocabular zu bereichern.

Es ist klar, daß Emil dabei nicht viel Zeit für die Dinge übrig behielt, die sonst den Referendar in Berlin heiter in Anspruch nehmen. Zumal den Mädchen gegenüber befleißigte er sich einer strengen, ja eisigen Zurückhaltung, wie man sie sonst gewöhnt ist, mehr bei Predigtamtskandidaten als bei Referendaren vorauszusetzen.

Dies Benehmen muß verdienstlich genannt werden. Denn Emil war eigentlich nicht ohne Anlage für weiblichen Umgang und auch nicht ohne Neigung dazu. Zwar war er ein bischen klein und hatte in seinen Bewegungen etwas Schüchternes, aber man weiß, daß das manchmal recht beliebt ist. Und dann besaß er einen entzückenden Schnurrbart, und seine Augen, groß und blau, ließen auf die Gabe hingebender Zärtlichkeit schließen. Mit Recht. Emil war wirklich eine zärtliche Natur, und er wäre wahrscheinlich ein ganz verliebter Referendar gewesen, wenn nicht der Ehrgeiz und sehr solide Erziehungsgrundlagen das Gegengewicht zu den zärtlichen Seiten seines Wesens abgegeben hätten. China war es, das ihn gebietend von der Liebe wegwinkte. Er lief vor jeder Verführung davon und rettete sich hinter seine Notizbücher mit ihrem Urwalde von verzwickten, wie Bambushalme neben- und durcheinander aufsprießenden chinesischen Schriftzeichen.

Aber, man weiß es ja, die Liebe würde selbst einen meterdicken Wall bedeckt mit Keilschrift umwerfen. Und flöhest Du in das Dickicht der Dschungeln, Emil, verschanztest Du Dich selbst hinter den goldenen Ahnentafeln des Kung-fu-tße, ja, wenn die chinesische Mauer selber Dein Bollwerk wäre gegen die Liebe – sie kriegt Dich doch, wenn's ihr gefällt, Dich kriegen zu wollen.

 

Eines Abends saß Emil an seinem Schreibtisch und bemühte sich, eine Depesche des Tsung-li-ya-men, wie sich das chinesische Auswärtige Amt in Peking nennt, zu übersetzen. Es ging schon ganz gut; nur ein halb Dutzend Zeichen etwa wollten ihm nicht eingehen. Er mußte, um ihrer Bedeutung habhaft zu werden, alle seine Hefte durchsuchen. Keine kleine Mühe das! Man kann nervös dabei werden und den Chinesen ein Alphabet wünschen. Und wenn nun gar im Nebenzimmer, das von dem Deinen nur durch so eine Berliner Papiermaché-Mauer geschieden ist, fortwährend Schritte hin- und hertrippeln, Schubladen aufgezogen, Stühle gerückt und weibliche Seufzer ausgestoßen werden, so magst Du ein noch so strebsamer Referendar sein, Du wirst abgelenkt und fängst an, zu denken: »Na, was hat sie denn da drüben!«

Emil warf seinen Kopf, der eben noch im Kollegheft steckte, mit einem ärgerlichen Zungenschnalzen zurück, trommelte einen sanft nervösen Generalmarsch auf dem Zettel mit der chinesischen Depesche und wandte sich etwas unwirsch nach der Wand hin, hinter der das Getrippel, Gerücke, Geseufze fortdauerte.

Er hatte Lust, Silentium! zu rufen, aber, mein Gott, es war ja schließlich eine Dame. Zwar blos eine »höhere Näherin«, wie sie von der Wirtin mit berlinisch nüanciertem Respekt genannt worden war, aber immerhin: ritterlich, Emil, ritterlich!

Er senkte sein suchendes Haupt wieder über das Glanzlederheft und fuhr mit dem rechten Zeigefinger der Hand die Schriftzeichensäulen auf und ab. Da ging drüben eine Thür, und er hörte die höhere Näherin nach der Wirtin rufen. Einmal, zweimal, dreimal. Aber vergeblich. Nun die Worte: »Gott, ist das dumm!« Und ein neuerliches Geseufze.

Emil fing an, zu kombinieren: Am Ende fehlt dem Mädchen was; vielleicht ist ihr unwohl; sie seufzt ja in einem fort, und nun ist diese Wirtin nicht da! Ich sollte doch wohl eigentlich fragen, ob ich nicht . . . Unsinn! Sie rennt ja ganz flott im Zimmer hin und her. Hol Dich der . . .

Da hörte er auf einmal ganz deutlich, wenn es auch nur halb geflüstert wurde: »Herr Doktor?! . . .«

Emil richtete sich stracks auf: Nanu? Da meint sie wohl mich?

– Herr Doktor? . . . Ach, entschuldigen Sie . . .

– Befehlen?

– Ach, Herr Doktor, möchten Sie nicht . . . verzeihen Sie nur . . . ich muß einen Brief schreiben und finde keine Feder . . . und Frau Kummer ist ausgegangen . . . und es ist schon so spät . . .

– Eine Feder möchten Sie? Aber natürlich, mit dem größten Vergnügen! Breit oder spitz?

Er war ganz Hilfsbeflissenheit und ritterlich erregt. Die Stimme gefiel ihm übrigens. Es ist doch nett, wenn ein Mädchen hinter ihrer Thür Einen anflüstert. Das hat so was . . . na . . . so was Zutrauliches.

– Ach, bitte, lieber spitz, wenn Sie Auswahl haben.

– Einen Augenblick, Fräulein, ich habe ganz spitze.

Er warf seine kostbaren Hefte rücksichtslos durcheinander und suchte mit noch größerem Eifer, als er eben chinesische Zeichen gesucht hatte, nach spitzen Federn. Dabei überlegte er sich, wie er sie überreichen sollte. Er war schon wirklich ein bischen sehr schüchtern. Sollte er durch seine Thür . .? . . oder erst über den Gang . .? . . Vielleicht den besseren Rock anziehen . .? . . Sich in aller Form vorstellen . .? . . Oder am Ende –: einen Witz machen . .? . . Ja, einen Witz! Recht forsch! . . . aber – was für einen?

Indessen hatte er die Feder gefunden. Schnell noch an den Spiegel! Und, ja, den besseren Rock! Leise! Merken darf sie das nicht. Auch ein paar Bürstenstriche über den Scheitel und, natürlich, den Schnurrbart gut nach oben! So. Und nun . . . aber wo habe ich doch die Feder hingelegt! In aller Welt, wo hab ich sie nur hin . . . Gottlob, da ist sie. So, nun hinüber . . . nein, nein, nicht durch die direkte Thür; das wäre doch wohl . . . Nein, über den Gang. Soll ich: Mein Name ist . . . oder: Das ist aber nett, daß Sie keine Feder haben! . . . Eigentlich ist diese Geschichte recht fatal. . . .

Er fing an ängstlich zu werden. Wenn ein Dienstmann zur Hand gewesen wäre, hätte er den die Kommission besorgen lassen.

Indessen, das Schicksal hatte ihn schon mit sicherem Griff am Kragen und geleitete ihn, sanft schiebend, an die Thür der höheren Näherin.

– Bitte, Herr Doktor! . . .

Emil rang noch mit einem Witze, als er über die Schwelle trat, aber als er über der Schwelle war, fand er nicht einmal gleich Worte zu einer ganz simplen Einführung.

Verflucht nochmal: diese höhere Näherin sah ja aus wie eine . . . ja . . . wie eine Gräfin! Und das war ja wie ein förmliches Boudoir! Diese reizenden geblümten Vorhänge! Diese netten Möbelchen! Ein Teppich! Spitzengehänge über dem Waschtisch! Und dieses pompöse Gestell da, dieses Gardinenwerk über glitzernden Messingstangen – mein Gott, in so einem Himmelbette schläft eine Näherin! Wo hat sie denn übrigens ihre Nähmaschine? He? Sie wird doch nicht etwa . . .? . . . Dieses Odeur . . . ! . . Der Schlafrock . .? . . ! . . Gieb Deine Feder ab, Emil, und fleuch in den Bambuswald Deiner chinesischen Charaktere!

Emils Auge, gewohnt an das kahle schwarze Gewirr seiner Schriftzeichen, sah diese neue Umwelt nicht ganz exakt, sondern mehr in einem Schimmer aus eigener Zuthat, aber so viel war richtig: Fräulein Gertrud Seubert hatte sich recht geschmackvoll und gemütlich, mit einem unverkennbaren Sinn fürs elegant Trauliche, eingerichtet. Sie hatte den Stil ihrer Persönlichkeit auf ihr Zimmer übertragen. Und dieser Stil, man mußte nur das angenehm üppige, doch nicht übervolle Mädchen ansehen mit ihren schönen blonden Haaren, ihrer weißen Haut, ihren lustigen blauen Augen und den sehr wohlgepflegten kleinen Kinderhänden, dieser Stil war nicht klassisch, nein, gar nicht, sondern eine Art modernes Barock, aufs Amüsante, rundlich Ausgeschwungene, Bunte gehend. Eine Vestalin, das konnte ein Blinder mit Genuß greifen, war sie nicht, aber Emils bange Fragezeichen drehten die Fühler des Argwohns zu weit. Fräulein Gertrud befand sich in einer sozial unantastbaren Stellung und in einer sehr wichtigen dazu; sie war keineswegs blos eine höhere Näherin, wie die thörichte Frau Kummer mit der übel angebrachten Verkleinerungssucht der Berlinerin gesagt hatte, sondern sie gehörte dem Generalstabe der Berliner Konfektion an, als welche, wie man weiß, die halbe Welt mit Damengaderobe versorgt: sie war Directrice in einem der ersten Berliner Konfektionsgeschäfte.

Damit ist zugleich gesagt, daß sie das ahnungsbange Backfischalter schon eine gute Weile hinter sich hatte. Auch im Konfektionsgeschäfte erreicht man die höheren Würden nicht vor einer gewissen Altersreife. In der That, es war nicht mehr lange hin, und diese molligen kleinen Füßchen, die augenblicklich in moosgrünen Pantöffelchen mit heliotropfarbenen Schleifen steckten, mußten über die bei Frauen wenig beliebte Schwelle, über der die fatale 30 steht. Aber mit so einem munteren Gesichte, mit diesem festen Fleische, diesen alerten Bewegungen und vor allem mit diesem zuversichtlichen Humor, der dem Leben noch die amüsantesten Überraschungen zutraut – was verschlägt da so ein thörichter arithmetischer Lebensabschnitt. Amor rechnet nicht mit Zahlen, sondern mit reellen Werthen.

Emil der Referendar fühlte sich also etwas beklommen im parfümierten Dunstkreise seiner Nachbarin. Du lieber Gott, hier hatte er sich mit einem »Witz« einführen wollen! Vor des deutschen Gesandten in Peking Exzellenz hätte er nicht vertatterter sein können.

Fräulein Gertrud bemerkte die Schüchternheit mit Wohlgefallen. Gerade das hatte sie jetzt gerne. Sie mochte die betont schneidigen Herren nicht mehr, die die Stiefelabsätze aneinanderschlagen wie Husarenleutnants und aus der deutschen Sprache ein Schnarrwerk machen. Wie sie den schüchternen Emil so vor sich stehen sah, nicht gerade in der Jammerstellung, wie wir sie bei den betrippten Jünglingen des deutschen Lustspiels warnehmen, aber doch einigermaßen in verlegener Schräge, da hatte sie gleich ein recht angenehmes Gefühl, wie nett sich hier Bemutterung mit anderweiter Zärtlichkeit verbinden lassen möchte.

Da Emil durchaus nichts sagte, sondern nur zwischen Daumen und Mittelfinger der rechten Hand die spitze Stahlfeder ihr entgegenhielt, so meinte sie, daß es gut sei, ihrerseits Worte verlauten zu lassen.

Sie sprach: Jetzt hab ich Sie gewiß in einer wichtigen Arbeit gestört, Herr Doktor! und nahm mit einem hellen Lächeln die ganz warm gewordene Feder aus Emils Fingerklemme.

– Ach, es . . . es ist mir ein Vergnügen, Fräulein. Ich habe nur ein bischen in meinen Kollegheften nachgesehen.

– Und da hab ich Sie nun mit meiner dreisten Bitte herausgerissen! Ich kann mir schon denken, wie unangenehm das ist. Wer weiß, ob Sie nun gleich wieder hineinkommen in Ihre chinesischen Geschichten. Gott, das muß furchtbar schwer sein!

Emil blickt erstaunt auf.

Das Fräulein lachte.

– Sehen Sie, ich weiß schon, was Sie studieren. Ich hab Sie sogar schon chinesisch reden hören!

Emil wurde immer erstaunter, aber zugleich hatte er ein Gefühl der Genugthuung. Da er es selber für keine kleine Sache hielt, sich mit einem Chinesen chinesisch unterhalten zu können, so nahm er an, daß das auch anderen respektabel erscheinen müßte.

Er fragte:

– Mich . . .? Chinesisch . . .? Aber wo denn?

– Ja, antwortete Fräulein Gertrud, ich habe Sie ganz aus der Nähe bewundert, bei Gerson, in der Frühjahrsausstellung! Aber häßlich ist Ihr alter Chinese! So was von Mann! Sind denn die Chinesen alle so?

Jetzt nahm Emil das Gebahren des Wissenden, heiter Wissenden an. Er lächelte und strich sich den Schnurrbart, indem er sprach:

– Sie sollten da nur einmal meinen Südchinesen sehen, Herrn Pan-Wei-Fu aus Kanton! Der ist sogar sehr nett!

– Ja, haben Sie denn gleich zwei Chinesen?

– Eigentlich geht mich nur der Peking-Mann an, der Alte. Ich studiere nämlich Nordchinesisch, die Beamtensprache . . .

– Gott, haben denn da drüben die Beamten eine Sprache für sich? Das ist doch komisch! Ach, Herr Doktor, erzählen Sie mir doch ein Bischen!

Die Direktrice hatte es sehr schnell ergriffen, daß dieser schüchterne Herr bei seinen Kentnissen genommen sein wollte. Der Umweg über China war ihr neu, aber amüsant.

Emil war sofort bereit, die Wissbegierde der Nachbarin zu stillen, die ihm nun gleich anfing, sehr sympathisch zu werden. Er ließ sich gern einladen, auf einem der kleinen blausammtenen gepolsterten Stühle niederzusitzen, und er hielt mit seinen Kenntnissen über das blumige Reich der Mitte nicht zurück. Was Fräulein Gertrud auch fragte, Herr Emil hatte eine Antwort.

So saßen sie im roten Lampenscheine recht angenehm beieinander und schoben sich gemütlich Frage und Antwort über die wunderlichsten Dinge des chinesischen Lebens zu, während das eigentliche Interesse ihres Gespräches sich in konzentrischen Kreisen mehr und mehr an eine nähere Sphäre heranschob. Emil fing schon an, nur noch halb in China zu sein, da stieß Fräulein Gertrud, als es eben auf ihrer Standuhr elf schlug, ein leises Ach! aus:

– Gott, schon elf! Jetzt wird gleich Frau Kummer aus ihrem Kränzchen kommen. Hm, ist das dumm! Nich? Wir waren so nett im Plaudern! Aber so eine alte Tante . . . na, Sie können sich denken . . . da muss man schon . . . Aber, nicht wahr, Sie erzählen mir 'mal weiter . . .?

Sie gab ihm über den Tisch weg mit einem ungemein einladenden Blicke die Hand, und die liberale Machart des Schlafrockes brachte es mit sich, daß dabei der halbe rechte Arm in seiner ganzen weißen Fülle zum Vorschein kam.

Himmel, wie gefiel das dem Referendar! Er ergriff die kleine Hand und – ja, was wollte er denn? – behielt sie eine Weile in der seinen. Währenddessen erklärte er mit großer Bestimmtheit, daß es ihm ein ungemeines Vergnügen sein werde, seinen »Vortrag« sobald als möglich fortzusetzen. Aber wann?

Die Direktrice lächelte:

– Bringen Sie mir doch den Halter herüber, der zu der Feder gehört, Herr Doktor! So kann ich ja doch nicht schreiben!

– Richtig! rief Emil und ließ die Hand los, um sich an die Stirn zu schlagen. So was! Eine Feder und keinen Halter!

Draußen ging eine Thür.

– Herrgott, die Frau Kummer! Wie komm ich nun wieder hinaus . . .?

– Pscht! machte die Direktrice und schob den Riegel an der Zwischenthür zurück. Und nun, ganz leise, ihm über die Schultern her flüsternd, während sie ihn hinausschob:

– Ich brauche den Halter noch heute . . . In einer Stunde vielleicht . . . Ja? . . .

Die Thüre zu.

Emil stand in seiner Stube. Brühheiß stand er da und sah sich erstaunt um.

Dann lief er mit großen Schritten in seinem Zimmer auf und ab: In einer Stunde! Ah! . . . Ja . . . aber . . . am Ende . . . Schließlich will sie wirklich blos . . . Unsinn!

Indessen, er nahm, als die Stunde vorüber war, vorsichtshalber doch den Halter mit.

Die Direktrice hat sich sehr darüber amüsirt:

– Doktorchen, im Dunkeln kann ich doch keinen Brief schreiben!

 

Emil, oder der verführte Referendar – kein Zweifel, das Schicksal hatte es vor, aus ihm ein ganz absonderliches Exemplar seiner Gattung zu machen. Aber wie bei seinen erstaunlichen chinesischen Studien, so fühlte er sich auch bei seinem erstaunlichen »Verhältnisse« sehr wohl. Er widmete sich ihm mit derselben stillen und stetigen Hingabe wie der Pekinger Beamtensprache, wenn auch nicht mit demselben guten Gewissen.

Anfangs, am Tage nach dem Abenteuer, hatte er sogar an Flucht gedacht.

Ausziehen! Sofort ausziehen, noch ehe die Direktrice in ihr blausammtenes Privatmilieu zurückgekehrt war!

Aber das hätte ihm nicht blos für den angerissenen, sondern auch für den folgenden Monat doppelte Miete gekostet, denn so viel mußte er sich als Jurist wohl sagen, daß die Nachbarschaft eines liebenswürdig aggressiven Mädchens nicht zu den Fällen rechnet, die zum kündigungslosen Aufgeben eines Mietsvertrags berechtigen. Und als dann Fräulein Gertrud Abends ein Papierröllchen durch das Schlüsselloch schob, darauf die Worte zu lesen waren: »Wie geht's meinem kleinen Chinesen? Nicht vergessen: ½12 Uhr!«, da fand er die Idee einer heimlichen Flucht überhaupt unwürdig, unmännlich und absurd. Er hat auch nie wieder Anwandlungen dieser Art gehabt. Im Gegenteil: er verliebte sich. So soliden Leuten sind »Verhältnisse« am gefährlichsten, und wenn ein Schüchterner aufthaut, giebt's gleich einen See.

Feurig und überschwänglich wurde er ja nicht, und zum Versemachen ließ ihm schon das Chinesisch keine Zeit, aber er nahm die Sache gleich tief und bieder. Sein ganzer Grundschatz an Zärtlichkeitsgefühlen schwamm nach oben und lud sich breit und gründlich aus. Die Beiwürze des Unerlaubten, Heimlichen (Frau Kummer!) schmeckte ihm zwar ungewohnt und bedrohlich, aber im Grunde doch auch gut. Auch dem soliden Manne gewährt es ja eine wunderliche Genugthuung, wenn er sich einmal still bekennen zu dürfen glaubt: Siehe da, ich bin doch kein Philister!

Zudem war er wirklich in guten Händen. Die Direktrice wußte der Sache ein allerliebstes Wesen von bürgerlicher Ordnung zu geben. Alles Wilde, Alles, was der guten Kinderstube Emils fatal zuwider hätte sein können, vermied sie. Es war eine säuberliche Art des Unerlaubten. Netter konnte man gar nicht hinter den Kulissen der Moral vergnügt und verliebt sein. Sie ging sogar auf Emils Chinesisch ein. Ihren Namen, Trudel, ließ sie sich chinesisch aufbügeln, so daß To-lu-to-lo daraus wurde, weil ja die Nordchinesen so wunderliche Sprachwerkzeuge haben, daß sie kein R und die meisten anderen Konsonanten wenigstens nicht als Auslaut aussprechen können. Alles das lernte sie mit spaßiger Aufmerksamkeit und auch: wo ai ni (ich liebe Dich) konnte sie sehr hübsch sagen. Emil repetirte direkt mit ihr des Abends, was er in der Frühe im Seminar gelernt hatte, wenigstens, soweit es die Zeit und die Notwendigkeit, in Flüstertönen zu sprechen, erlaubte.

Diese Notwendigkeit fiel nur an den Sonntagen weg, die man zu allerlei Ausflügen benutzte. Man bevorzugte dabei durchaus die Teile der Berliner Umgebung, die nicht völlig mit Butterbrodpapieren und ähnlichen Dokumenten Berlinischer Naturschwärmerei garniert sind. Im Tegeler See giebt es ein paar kleine heimliche Inseln, wo verliebte Leute die Natur ganz ungestört auf ihre Art genießen können. Da gingen sie gerne hin. Eigentlich waren To-lu-to-los Kleider zu elegant für Idyllen, aber da sie vom Metier der schönen Kleider war, hatte sie nicht das Bedürfniß, mit ihnen vor der Welt Staat zu machen.

Ach ja, sie waren sehr glücklich so miteinander. Ein halbes Jahr verfloss in völlig ungetrübter Zärtlichkeit, und Emil nahm, wie an Chinesisch, so auch an Liebe immer noch zu. Der Gedanke, nach China zu gehen, war ihm schon gar nicht mehr sehr verlockend, denn dass ein Dragomanatseleve sich in Peking mit einer Berliner Direktrice vorstellen sollte, war ebenso ausgeschlossen wie die Möglichkeit, To-lu-to-lo ihrer Konfektionsthätigkeit in der Jägerstraße zu entziehen. Bis zur Diplomprüfung war es freilich noch ein ganzes Jahr hin. Aber was ist ein Jahr für ein kümmerlicher Zeitabschnitt, wenn man so verliebt ist wie Emil. Er fing an, China zu verwünschen und auf eine Revolution in Peking zu hoffen, die den Abbruch der diplomatischen Beziehungen mit diesem gefährlichen Lande herbeiführte.

To-lu-to-lo war ruhiger. Sie fand den kleinen Chinesen immer noch sehr nett, und wie das Alles in so guten, glatten Geleisen lief, das behagte ihr schon recht wohl, aber Perspektiven in die Ewigkeit hatte sie von vornherein nicht angelegt, und überdies konnte sie sich vorstellen, daß eine kleine Abwechslung am Ende auch nicht bitter wäre.

Wenn die Sonntagsausflüge jetzt mehr in belebtere Gegenden, am liebsten in Konzertgärten, gerichtet wurden, so war das ausschließlich ihr Werk. Sie wollte plötzlich »Menschen sehen«.

– Man muß sich auch ein bischen unterhalten, sagte sie.

– Aber hast du nicht mich? sagte er.

– Freilich, mein Süßes, aber Dich hab ich ja auch so, und das mit dem Unterhalten mein ich überhaupt anders.

– Aber wie denn?

– Na ja, so, weißt Du, daß man 'mal neue Gesichter . . . Du, sag 'mal, kannst Du nicht 'mal deinen Chinesen mitbringen? Das stell ich mir riesig drollig vor, mit einem Chinesen unter den Zelten!

– Herr Kuei geht Sonntags nicht gerne hin, wo viele Menschen sind.

– Na, dann bring einfach den anderen Onkel mit, den Südlichen. Oder fürchtet er sich auch vor den Berlinern?

– Nein, aber . . . der Kanton-Mann . . . ich muß Dir offen gestehen . . . der ist mir nicht gerade sehr angenehm . . . Mit Damen kann man ihn eigentlich nicht gut zusammenbringen. Er . . . weißt Du . . . er hat so orientalische Begriffe . . . ja . . . und er soll manchmal direkt frech werden.

– Na, Gott, wenn er doch ein Chinese ist.

– Ja, ja, Du mußt mich nicht falsch verstehen; ich mache ihm keinen Vorwurf. Er hat eben andere Kulturanschauungen, aber ich mag Dich doch keinen Dummheiten bei ihm aussetzen.

To-lu-to-lo lachte:

– Bist Du komisch! Jetzt soll sich eine Berlinerin vor einem Chinesen fürchten! Nu erst recht! Ich will Dir doch zeigen, daß ich mit so einem gelben Onkel fertig werde.

Und so war denn freilich kein Ausweg; Direktrice kommt von dirigieren. Am Sonntag, der auf dieses Gespräch folgte, traf man sich mit Herrn Pan-Wei-Fu in der Flora zu Charlottenburg.

Der Herr aus Kanton war wirklich ein schöner Chinese. An den Typus des Apollo von Belvedere zu erinnern verbot ihm freilich seine Eigenschaft als mongolischer Mensch, aber mongolisch genommen konnte er sich sehen lassen. Ziemlich lang und sehr schlank, in den Bewegungen eine würdevolle Steifheit, leise belebt durch eine gewisse Eleganz von selbstbewußter Grazie; die Gesichtsfarbe durchaus crême; die Augen schwarz und funkelnd wie überreife Brombeeren, nicht übertrieben schief liegend und auch nicht allzu schmal; die Nase beträchtlich, der Mund etwas aufgeworfen mit sehr vollen Lippen; der bis auf den Hinterkopf glatt rasierte Schädel schmal und lang; der glänzend schwarze Zopf zweifellos echt und voll, bis in die Kniekehlen hangend. Seine Hauptzierde und sein Stolz aber waren die überaus feingegliederten Hände mit den tadellos gehaltenen langen Nägeln.

Er hatte sich, wenn auch nicht mit dem Staatskleid des Gelehrten von Rang, so doch mit einem besonders kostbaren Gewande angethan: das Unterkleid moosgrün, das Oberkleid hechtblau, in den Aermelöffnungen ultramarin. Statt des gewöhnlichen Klappfächers trug er einen runden Stielfächer, der auf gelber Seide reiche bunte Bemalung aufwies. Auf fünf Meter hin verbreitete er ein Gedüfte von Moschus und Kampher.

Hocherhobenen Hauptes trat er auf seinen dick filzsohligen braunen Stiefeln einher, und als ihm To-lu-to-lo vorgestellt wurde, legte er die leise geballten schönen Hände sanft aneinander und schüttelte sie mit vollendetem chinesischen Anstände ein paar Mal der Direktrice entgegen. Dann sagte er sofort:

– China-Mann sehr lieben Berlin-Weib. Ja! Gewiss! Gewiss! Immer! Sehr!

Dazu machte er ein überaus seriöses Gesicht, indem er To-lu-to-lo mit weit geöffneten Augen bis ins Einzelne musterte. Als er damit fertig war, wandte er sich zu Emil und erklärte:

– Gut! Dick! Ja! Sehr!

Die Direktrice fand das reizend und lachte mit vollem Gesicht, indem sie ihre chinesischen Kenntnisse verwendete und fragte:

– Hao-pu-hao? (Wie geht's Ihnen?)

– Hen hao! Hen hao! (Sehr gut!) antwortete entzückt Herr Pan, schob Emiln, der an To-lu-to-los Seite ging, entschlossen weg und begab sich an den freigewordenen Platz.

Emil erklärte ihm mit den besten chinesischen Höflichkeitswendungen, dass das des Landes nicht der Brauch sei, aber der Herr aus dem chinesischen Süden erwiderte blos in einer Art von Hammerrhythmus deutsch:

– Das geht! Ja, ja! Das geht!

Er wollte damit sagen: Sie haben ja so recht, aber ich bin aus Kanton.

Emil war entrüstet und hätte gewünscht, dass es To-lu-to-lo auch gewesen wäre. Aber die war sehr vergnügt. Sie fand den offenherzigen China-Mann nicht blos amüsant, sondern auch viel interessanter als den säuberlichen Emil, der immer blos mit den Augen flüsterte. Er drängte sich ja bedenklich nahe an sie heran, und sein Geruch war ein bischen bedrückend, aber sie empfand doch eine sehr eigene, ganz neue und gar nicht unangenehme Sensation. Sie hatte ursprünglich gedacht, der Chinese würde ein bischen eklig sein, aber nein, gar nicht! Im Gegenteil, anziehend, sehr anziehend! Alles an ihm fand sie so . . . so . . . rätselhaft . . . so angenehm merkwürdig . . . so . . . na ja, daß man ganz dahinterkommen möchte.

Sie gab sich ausschließlich mit Herrn Pan ab und nahm den empörten Referendar nur noch als Dolmetscher in Anspruch:

– Du, sag ihm mal, ich möchte gerne wissen, ob er außer seiner richtigen Frau auch noch ein paar Gemahlinnen zweiten Ranges hat?

– Aber To-lu! Das schickt sich doch nicht!

Er mußte aber doch fragen.

Zur Antwort hob Herr Pan drei Finger empor und lachte:

– Ja! Ja! Gewiß! Sehr! Das geht! Das geht!

Und To-lu-to-lo:

– Nun frag ihn 'mal, ob sie nett sind, seine Frauen.

– Aber To-lu! Was muß er sich denn nur von dir denken!

Er mußte aber doch fragen.

Herr Pan wiegte sein schmales Haupt hin und her, dann rief er:

– Das geht! Das geht!

Diesmal sollte das heißen: Wie man's nimmt! Augenblicklich bin ich für Sie, mein Fräulein.

Er wurde aber noch deutlicher in der Zeichensprache. Er nahm To-lu-to-los rechten Zeigefinger und plazierte ihn neben die drei Finger, die seine Gattinen vorstellten. To-lu-to-lo wollte sich ausschütten vor Lachen, aber Emil fand diese stumme Werbung schamlos und impertinent. Er ballte seinen chinesischen Wortschatz zu einer zornigen Abkanzelung zusammen, die Herrn Pan an seine Pflichten als Ehemann und an seine Stellung als kaiserlich deutschen Lektor des Südchinesischen am orientalischen Seminar erinnern sollte.

Aber der entartete Gatte und Lektor hatte wieder blos sein leidenschaftsloses Universalwort:

– Das geht! Das geht!

Ein gewisser Ton darin zeigte deutlich, daß es diesmal heißen sollte: Junger Mann, kümmern Sie sich nicht um chinesische Sittengesetze!

In diesem Stile, an dem To-lu-to-lo sehr viel, Emil aber gar keinen Gefallen fand, ging es fort, bis es Zeit war, die Flora zu verlassen und irgendwo in Berlin zu Nacht zu essen. Emil bemühte sich, dem zügellosen Mann aus Kanton klarzumachen, daß er es für seine Pflicht halte, ihn vorher in seiner Pension abzuliefern, aber Herr Pan erklärte, daß es die chinesische Höflichkeit nicht zulasse, eher nach Hause zu gehen als eine Dame, mit der man sich gut unterhalten habe. Emil mußte sogar seine Zeche bei Kempinsky mitbezahlen und schließlich auch die Droschke, in der er den vom Champagner überfidel gewordenen Gelehrten der sechsten Rangklasse nach Hause schickte. Noch aus dem Droschkenfenster heraus sandte Herr Pan merkwürdig stilisirte Kußhände an To-lu-to-lo, unablässig mit dem Kopfe nickend und laut rufend:

– Das geht! Das geht!

 

Zwischen Emil und To-lu-to-lo gab es eine Szene.

Der Referendar durchlief dabei die ganze Tonleiter des beleidigten Liebhabers, vom dumpfgrollenden Tremolo des schmerzlichen Vorwurfs bis zu den schrillen Fistelhöhen gebietender Energie. Die Direktrice aber, wenn sie nicht einfach: Das geht, das geht! erwiderte, indem sie sich vor Lachen nicht zu halten wußte, beschränkte sich darauf, in mannigfachen Nuancen den Standpunkt zu betonen, daß sie doch nicht seine Frau sei.

– Ueberhaupt bist Du komisch. Ich habe Dir ja noch gar nicht gesagt, daß ich in den Chinesen verliebt bin.

– Schämen sollst Du dich, schämen! Erstens vor mir und dann vor dem . . . dem Chinesen!

– Aber so was! Schämen? Weil ich ihn nett finde und Dich langweilig?

– To-lu . . . ! Ich sage Dir . . . !

– Was denn?

– Bring mich nicht um den Verstand!

– Das geht! Das geht!

– To-lu! Das hätt ich nicht von Dir gedacht. Sieh 'mal, wir sind doch immer so nett zusammen gewesen, und Du liebst mich ja doch noch . . .

– Ja, ja, ja! Gewiß! Sehr! Immer!

– To-lu! Ich sage Dir: Das lass ich mir nicht gefallen!

– Nicht?

– Du denkst wohl, ich bin ein kleiner Junge? Wie? Ich sage Dir . . . !

– Na, nu hör aber blos auf! Bange machen gilt nicht! So was! Schlaf Dein Gift aus! Das mag ich nicht, so ein Gethue. Gute Nacht!

Sie waren an ihrem Hause. Die Direktrice ging voran. Er mußte, wie sie es Frau Kummers wegen immer hielten, noch eine Viertelstunde unten bleiben.

Gott, wie fühlte er sich unglücklich, als er auf dem Trottoir drüben auf- und ablief, immer den Blick nach To-lu-to-los Fenster, hinter dessen Gardine er ihre Gestalt sehen konnte. Zum Weinen war ihm, zum Weinen! Aber vielleicht ging Alles noch gut, wenn er nachher in aller Liebe ihr bewiese, wie unrecht sie handelte. Er pries zum ersten Male die Notwendigkeit, zu flüstern. Flüsternd und im vertrauten Dunkel kann man sich doch nicht zanken.

Das Licht in To-lu-to-los Zimmer erlosch. Nun konnte er hinauf. Nie hatte er es so gefühlt, wie lieb sie ihm war, als jetzt, wie er sein Zimmer betrat und in sich die Worte erwog, die leisen, heißen Worte, die er zu ihr sprechen wollte.

Aber der Riegel war vorgeschoben.

Emil erschrak ins Tiefste. Ihm war wie obdachlos.

– To-lu!

Keine Antwort.

– Ich bitte Dich, Tolu!

Er hat noch ein paar Mal gerufen, aber sie hat nicht geantwortet.

Bald hörte er an ihren Atemzügen, daß sie schlief. Er legte sich nicht einmal ins Bett.

 

Die Wollust des Schmerzes ist eine spezifische Gabe der Lyriker; Referendaren ist sie meist versagt. Emil dachte nicht einmal daran, sich rhythmisch zu entladen; nein, er schrieb, mit Einhaltung der Höflichkeitsränder oben, unten und an den Seiten, sehr deutlich und mit unverkennbaren Anklängen an jenen Juristenstil, der mit der deutschen Sprache einige Worte gemeinsam hat, einen acht Seiten langen Brief. Darin wies er zwingend nach, wie unrecht die Direktrice handle, indem sie zu ihrem üblen Betragen in der Flora und bei Kempinsky nun auch noch Trotz, Hohn und Lieblosigkeit füge. Kein Zweifel, daß es eigentlich an ihr sei, den ersten Schritt zur Versöhnung zu thun; aber sie sei ein Weib, und also wolle er sich nicht auf den Standpunkt kalter Rechtserwägungen stellen. Er habe sie viel zu lieb dazu; hier sei seine Hand; Alles möge vergessen sein. Er werde sie nie daran erinnern, wie weh sie ihm gethan habe. Möge nun aber auch sie ihm mit doppelter Liebe entgegenkommen.

Dieser Brief bereitete ihm dieselbe Genugthuung wie einem Lyriker ein schmerzhaft zärtliches Gedicht. Er fühlte sich, während er ihn schrieb, intensiv und angenehm als stoisch milden, aber doch unentwegten Mann, und als er ihn geschrieben hatte, kam eine große Zuversicht über ihn: Jetzt wird sie erst ganz meine Liebe und meinen Wert begreifen; gepriesen sei dieser thörichte Chinese, daß er mir Gelegenheit gegeben hat, ihr einmal mehr aus mir zu offenbaren als die untergebene Zärtlichkeit des verliebten Jünglings.

Er schob, als sie nach Hause gekommen war, den Brief durch den Thürspalt und hustete drei Mal energisch dazu.

Die Direktrice hatte so etwas erwartet und lächelte blos, als sie das Papier niederfallen hörte. Sehr neugierig auf seinen Inhalt war sie nicht. Sie zog sich erst hübsch langsam aus, und zwar bis aufs Hemd, lockerte mit dem üblichen Seufzer der Erleichterung (den sich Emil als Reueseufzer auslegte) das Korset und kroch in ihren blausamtenen Schlafrock. Dann begab sie sich ans Theemachen, freute sich am blauen Ausschlag der Spiritusflamme, sah wohlgefällig zu, wie das Feuerchen sich um die Nickelkanne schmiegte, wartete, indeß ihre Augen sich im Schauen weiteten, auf die ersten herauspuffenden Stöße des Dampfes und goß dann mit einem Ausdruck von Befriedigung das sprudelnde Wasser über das Kraut. Drei Minuten muß er ziehen, dachte sie sich, ja nicht länger. Nun die schöne, kleine, grüne Kanne mit dem elegant gebogenen Schnabel! So! Und nun das chinesische flache Täßchen – ob das aus Kanton ist? Fein riecht er, der Thee! Nichts schmeckt besser dazu als Ingwerbiskuits. Die legte sie sich immer schon früh bereit, immer eins halb aufs andere, wie Zinnsoldaten, wenn sie in der Reihe umgefallen sind, auf einer netten Majolikaschale. Nun trinken und schnabulieren! Nachher so ein langes, dünnes Zigarrettchen! . . . Ob die Chinesen eigentlich den Thee auch so machen? Sie sollen keinen Zucker daran thun. Ob das schmeckt? . . . Nee! Bitter! Brr! Ein Stückchen muß hinein! . . . Wenn der Chinese blos nicht so nach Kampher und Moschus röche. Ob man ihm das abgewöhnen kann? . . . Die Hände sind entschieden das Schönste an ihm . . . Sonst ist er ein bißchen schmal . . . Überhaupt: so merkwürdig unfleischig . . . so wie aus Elfenbein der ganze Mensch . . . Waden hat er wohl überhaupt keine und Muskeln mal sicherlich nicht . . . Aber trotzdem, das ganze Auftreten so bewußt, so bestimmt, so angenehm unverschämt. Drollig! Aber doch, eigentlich lustig kann man sich nicht über ihn machen. Er kann gewiß recht wild werden . . . Und so verliebt . . .! Ich möchte eigentlich wissen, ob er . . . Na, ich denke . . . Ein bißchen Angst hätt ich schon . . . So ein Chinese! Chi-ne-se! . . . Vier Frauen hat er . . . komisch. Na ja, China! . . . Wie er Einen ansieht, so durch die Kleider durch . . . eigentlich ist es doch ein bischen . . . Aber es hat was: Weil er eben ein Chinese ist! . . . Einmal ist er mir mit seinen langen Fingern ein Stück in den Aermel 'raufgefahren – warme Knochen! Ich fühl's noch . . . Merkwürdig, durch und durch ging's . . . Ich kann mir denken, daß er Einen ganz verrückt machen kann . . . Ob er sich eigentlich den Zopf im Bette aufmacht? Gott, muß das aussehen! Der lange, dürre Mensch, und hinten so eine schwarze Haarlatte 'runter bis in die Knie . . . Strümpfe haben sie überhaupt keine und Hemden auch nicht . . . komisches Volk doch . . . Aber ein feiner Kerl ist er! Wenigstens 'mal was Anderes als unsere . . .«

Da fiel ihr der Brief ein, der da an der Thüre lag.

– Der gute Emil. Na ja . . . er ist ja recht nett und lieb. Aber auf die Dauer . . . Und nun will er gar so sein! Was denkt er sich denn eigentlich? Das wollen wir denn doch lieber nicht einführen! – – Also, was schreibt er?!

Sie holte den Brief, zündete sich eine Zigarrette an und las. Kopfschüttelnd. Als sie fertig war, sah sie nach der Thür zu Emils Zimmer und schüttelte den Kopf wieder. So, wie wenn Jemand gar nicht begreifen kann, was der Andere will. Aufgeregt war sie gar nicht. Nach einer Minute auch schon nicht mehr erstaunt.

Sie ging an ihr kleines Schreibtischchen, wo eine Herde Pinscher und Katzen aus Chenille stand, nahm ein steifes ockergelbes Kärtchen mit Goldschnitt und schrieb darauf: »Du bist wohl nicht ganz munter!!??«

Das ockergelbe Kärtchen ging nicht ganz leicht durch den Thürspalt. Sie mußte es mit Gewalt hineinschieben, aber kaum, daß es ein Stückchen hineingedrungen war, fühlte sie auch schon, daß es drüben ergriffen und herangezogen wurde.

Da mußte sie wieder lächeln.

Emil dagegen . . .

Was ist die Wirkung des blauen Briefes auf einen alten Hauptmann gegenüber der Wirkung dieser gelben Karte auf den jungen Referendar! Er empfand nicht blos die schnöden Worte als Harpunen in seinem Herzen, sondern, angefüllt mit dem Lehrstoffe der chinesischen Klasse, wie er war, sah er auch in der Wahl der Kartenfarbe schlangenhafte Perfidie: Gelb, die Farbe des chinesischen Drachens!!

– Oh, dieses niederträchtige Weib!

Von der Höhe seiner männlichen Zuversicht fiel er in einen sumpfigen Abgrund der Verzweiflung.

Kein Zweifel, es war endgiltig Alles aus! Verstoßen war er, um eines schlitzäugigen, zopfigen, knochigen, blöden, frechen Chinesen willen verstoßen!

Wollte sie ihn verrückt machen?! Wollte sie ihn . . . ah, oh, . . . was sollte er denn thun?

Die Thür einschlagen? Hinüberstürzen!?

Diese heroische Anwandlung war aber nur wie das letzte Aufblacken der Flamme eines Stearinlichtes. Gleich war's vorbei, und ihm blieb blos die große Niedergeschlagenheit, dieses Gefühl: Da lieg ich und bleib ich liegen, und wenn ein Lastwagen kommt, ich steh nicht auf. Und: Ach, wenn doch ein Lastwagen käme . . .!

 

Emil hat noch ein paar Versuche gemacht, die Direktrice wiederzugewinnen. Briefe in einem weniger männlich-logischen Stile, Briefe mit Anflügen von weihevollem Schwung, Briefe ohne Einhaltung der Höflichkeitsränder, kurzum: Briefe, die eine Hyäne besänftigt hätten – aber Fräulein Direktrice fand sie blos »kalbsledern«. Sie hatte wirklich keine Zeit mehr für diesen Referendar mit den wasserblauen Augen und den ewig gleich sänftlichen Zärtlichkeiten. Das war ja einmal sehr nett gewesen, und es hatte ihr recht wohl gefallen, so ein großes Baby zu haben, aber kann man neben einer Feuerlilie noch ein Vergißmeinnicht ansehen?

Herr Pan war die gepanterte Feuerlilie, die Fräulein To-lu-to-lo nun mit viel Sorglichkeit und Liebe in ihr Beet pflanzte. Ganz offenkundig betrieb sie ihre exotische Liebhaberei.

Dieser schamlose Lektor entblödete sich nicht, Sonntags schon früh um acht bei ihr zu erscheinen. Dann fuhren sie um 12 Uhr zusammen aus, in offener Droschke natürlich, ein Skandal und Schauspiel für die Nachbarschaft. Wie ein Pfauhahn sah der Kerl jetzt immer aus, wie ein chinesisches Gigerl! Apfelgrünes Oberkleid mit eingewobenen Pfirsichblüthen, himmelblauer Beinrock mit Goldbrokat. Dazu ein rotes Band in den Zopf geflochten und diese lächerliche goldbraune Tellermütze auf und am Gürtel den rotledernen, dick mit Gold bestickten Pinselköcher und in der Hand einen geradezu wahnwitzigen Sonnenschirm. Das Seminar sollte doch wirklich einschreiten gegen ein so operettenhaftes Betragen! Und sie! Was an Farben ihm etwa fehlte, trug sie an sich. Weil dieser elende Kantonese das Grelle, Bunte liebte, hielt sie es für nötig, in allen Farben zu schillern wie die Horndecke eines Rosenkäfers. Und die Hüte! Empörend! Schamverletzend! Die Natur scheute sich, Farben von dieser herausfordernden Frechheit hervorzubringen; wenigstens kam es dem Referendar so vor, als gäbe es dieses »Farbengewieher« auf der ganzen Welt nicht, außer auf diesen zur höheren Ehre des Herrn Pan komponierten Hüten der Direktrice. Und dabei konnte er sich nicht unklar darüber sein, daß er sie entzückend schön fand, diese »Person«, daß er hinter der Droschke hätte herlaufen mögen, um sie nur länger zu sehen, daß er . . . . ach Gott: es blieb ihm ja doch nichts Anderes übrig, als stumm zu dulden.

Freilich, Wand an Wand weiter hier mit ihr in einem Hause zu wohnen, das überstieg seine Kräfte. Roch es nicht durch den Thürspalt nach Kampher und Moschus? Mußte er nicht zu den schmerzlichsten Schlüssen gezwungen werden, wenn er konstatierte, daß sie niemals mehr abends vor 11 Uhr und Sonntags Nacht überhaupt nicht nach Hause kam?

– Frau Kummer, hier haben Sie die Miete für nächsten Monat; ich ziehe heute aus.

– Ja . . . aber . . . Herr Doktor . . .?

– Ich . . . ich muß. Es thut mir leid.

– Aber nee, so was! Alle zwei Zimmer leer, und Knall und Fall!

– Was, alle beide Zimmer? . . .?

– Ja freilich, das Fräulein zieht ja auch! Ich weiß nicht! Ich weiß nicht! In die Dorotheenstraße zieht sie, als ob's dort schöner wäre.

– Dorotheenstraße . . .!?

Das war zuviel! Also in die nächste Nähe des Menschen, wenn nicht gar in dasselbe Haus!

– Wann zieht sie denn?

– Die Woche noch, und hat doch das ganze Vierteljahr schon bezahlt. Ich weiß nicht! Ich weiß nicht! . . . Ungeziefer giebt's keins, reine wird auch Alles gemacht, kein Titelchen fehlt . . .!

Sie zuckte mit dem Kopfe mechanisch hin und her und riß die Augen auf. Auf einmal schien ihr eine Idee zu kommen. Sie unterbrach ihr zuckendes Kopfgeschüttel und sah den Herrn Referendar boshaft fragend an:

– Entschuldigen Sie, Herr Doktor – aber am Ende ziehen Sie auch in die Dorotheenstraße . . .?

– Nein! Ueberhaupt: ich ziehe gar nicht.

– Na nu aber!

Frau Kummer mußte sich aufs Sopha niedersetzen.

– Jetzt weiß ich gar nichts mehr! Bin ich denn drehend? Aber sagen Sie mir doch nur . . .

Emil sagte nichts. Er fühlte nur immer: Dorotheenstraße!

 

Die Direktrice war ausgezogen, aber geholfen war dadurch nichts. Denn wenn er auch sie nicht mehr sah, so mußte er doch ihren chinesischen Liebhaber täglich erdulden.

Die südchinesische Klasse war aus Mangel an Teilnehmern geschlossen worden, und Herr Pan wohnte nun den nordchinesischen Stunden bei, weil er wenigstens beim Schreiben mit unterweisen konnte.

Da saß er nun wie ein triumphierender Truthahn dem bedrückten Emil täglich zwei Stunden lang gegenüber und machte sich ein Vergnügen daraus, seine unterweisende Aufmerksamkeit besonders ihm zu widmen. Regelmäßig zu Beginn jeder Stunde richtete er einen Gruß von To-lu-to-lo aus, und die Brombeer-Augen funkelten dabei höhnisch. Aber auch sonst unterließ er es nicht, dem armen Referendar ab und zu ein paar Splitter ins Fleisch zu schieben.

– Bitte lesen das!

Emil sah vier Zeichen auf hochrotem Papier. Schwere Zeichen, seltene. Endlich hatte er das erste: To!

– Sche, sche! (Richtig!)

Das zweite fand er nicht. Sein Nachbar war glücklicher: Lu!

– Sche sche!

Jetzt fühlte Emil den Splitter und verzichtete darauf, sich an der Enträtselung der übrigen Zeichen zu betheiligen.

To-lu-to-lo! erklang es im Kreise. Der Chinese hüpfte vor Vergnügen und schrieb's groß an die Wandtafel: To-lu-to-lo.

Die Zeichen hießen auf Deutsch: Fremd kommt zu Fremd und wird vertraut.

Das ist wohl wieder eine von diesen chinesischen Gnomen, deren innerer Sinn sich uns versagt, dachten die Übrigen. Emil aber begriff, packte seine Hefte zusammen, empfahl sich bei Herrn Kuei-Lin und ging.

Nein, das konnte er nicht ertragen! Der Verlust des Mädchens allein war seiner Seele schon eine schmerzliche Wunde, aber sich täglich von diesem höhnischen Hallunken mit seinen langen Fingern darin herumstochern zu lassen – nein! Ein Ende! Ein Ende!

– Wenn ich zu ihm ginge und es mir verbäte!? Unsinn!: »Das geht! das geht!«

Und dazu dieses infame Gegrinse.

Fortwährend sah er dieses Gesicht mit dem niederträchtigen dummschlauen Zuge vor sich.

Unerträglich! Diese Visage! Dieser Geruch! Diese Sprache!

Alles Chinesische war ihm plötzlich eine große Widerwärtigkeit.

Oh, diese Rasse! Verlogen! Verkommen! Verseucht! Heimtükisch! Feige! Frech! Grausam! Häßlich! Schadenfroh!

Und diese Sprache! Ein Gebell! Ein Geklapper mit Holzklötzen! Ein ungefüges kindisches Gepappel!

Dann kam das Klima dran, der Fremdenhaß, der Schmutz, der mangelnde Komfort, die weite Entfernung des Landes.

– Ein dummer Streich, weiß Gott, ausgerechnet in das unliebenswürdigste Land der Erde gehen zu wollen! Die Konsulatskarriere – ja: ein guter Grundgedanke! Aber warum gerade unter diesen gelben, verlogenen, verkommenen etc. etc. Fratzen? Da war Japan! Persien! Indien! die Türkei!

– Wie anders wirkt dies Zeichen auf mich ein!

Zumal die Türkei. Er machte es sich klar, daß die Türkei wie für ihn geschaffen wäre. In jeder Hinsicht.

Aber die Hauptsache, die er sich indessen nicht als solche eingestand, war wohl der Umstand, daß die türkischen Stunden Nachmittags lagen, so daß er sicher sein konnte, um diese Zeit keinen Chinesen im Seminar zu sehen.

Ein Ende! Ein Ende! Und wenn das gleich so viel bedeutete, wie etwas Neues anfangen müssen. Nur nichts Chinesisches mehr! Wie Gift lag's in seinem Gehirne, dieses Tsching und Tschang und To und Lo! Hinaus mit ihm! Hinausgekehrt mit türkischem Besen! Hinter die Bücher! Hinter die Bücher! Nichts hören, nichts sehen, nichts denken als Türkisch!

Und so geschah's. Emil verschwand aus der chinesischen Klasse und tauchte in der türkischen wieder auf. Die chinesisch gebliebenen Referendare wunderten sich sehr darüber und fanden keine Erklärung, desgleichen die Studenten. Aber Herr Pan-Wei-Fu grinste und spielte mit einem ockergelben Zettel, auf dem zinnoberrot die Zeichen standen: To-lu-to-lo.

. . . Fremd kommt zu Fremd und wird vertraut . . .

 


 << zurück weiter >>