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Wir hatten die Ehre und das Vergnügen, einen Königlichen Staatsanwalt unter uns zu sehen, und wir machten dabei die Bemerkung, daß es eine unrichtige Behauptung ist, wenn einige sagen, der Wein werde sauer in Gegenwart eines solchen Würdenträgers. Nein, unser alter Burgunder blieb milde und voll wie er war. Aber das ist richtig: unser Gespräch kriegte was säuerlich Muffiges. Nicht allein, daß auch nicht der geringste Bundesfürst beleidigt wurde, was doch sonst in dieser Zeit der Decomposition aller guten Angewohnheiten häufig ist und, wie ich bemerkt habe, besonders oft beim Rotspon der begüterten Classen vorkommt, nein, man hob auch sonsthin die Lippen mit einer gewöhnlichen Behutsamkeit. Schließlich fing man, und wir waren doch lauter alte Corpsbrüder, die mancherlei miteinander ausgefressen hatten, gar von Moral zu reden an. Zumal der jüngste unter uns, der eben erst Referendar und damit Alter Herr geworden war, schwang die weiße Fahne der Moral mit fast zu lebhafter Beflissenheit.
– Alles, was recht ist! rief er, Jugend muß austoben, gewiß, natürlich! Aber, wenn man älter wird, muß man sich besinnen und nicht gleich so . . . so . . .
– Losgehen meinen Sie, warf der alte Sanitätsrat Kernschlier ein, der der älteste unter uns war.
– Ja, so ähnlich, oder, na, kurz: Selbstzucht!
– Das ist ein gutes Wort, Herr Corpsbruder, sagte wieder der Sanitätsrat, eins von den auserlesen guten, die man darum, wie den Namen Gottes, nicht eitel nennen soll. Aber diese heiligen und hohen Dinge haben es wunderlich in sich. Erst lehrt man sie uns, und nun glauben wir sie; dann erkämpfen wir sie uns, und plötzlich zweifeln wir an ihnen.
Der kleine Referendar hob den Kopf:
– Zweifeln? An der Notwendigkeit und Heilsamkeit der Selbstzucht zweifeln, Herr Sanitätsrat?
Sein Schnurrbart sträubte sich noch höher, als er schon gebrannt war.
– Nicht so, Herr Corpsbruder, nein, das nicht. Absolut genommen befestigen sich diese Ideale im allgemeinen wohl, sodaß sie, als Ideale eben, nicht mehr angefochten werden von uns; aber, sehen Sie, je älter man wird, um so geneigter wird man, die Dinge, auch die hohen, relativ zu nehmen.
Sprach der Sanitätsrat.
Der Referendar, wie ich vermute, verstand das nicht gleich ganz und merkte nur, daß seine Jugend hier nicht als Erkenntnisfactor behandelt wurde, und so erwiderte er:
– Zweifellos bin ich noch nicht alt genug, um den Sinn dieser relativen Auffassung der Dinge zu begreifen, Herr Sanitätsrat, aber es scheint mir eine Auffassung zu sein, die schließlich die Ideale negiert.
Der Staatsanwalt stimmte bei:
– Ein Ideal, wie das der Selbstzucht, hat nur einen Wert, wenn man es in seiner ganzen absoluten Reinheit und Schärfe strikte begreift. (Er liebte das Wort: strikte.) Nur strikte begriffen, haben Ideale überhaupt praktischen Wert.
– Für euch Staatsanwälte, lieber Freund, sagte der Sanitätsrat. Wir anderen Menschen müssen uns mit Relativis begnügen. Ein Jurist darf wie ein Kirchenvater reden, und ein Staatsanwalt muß es wohl. Aber z. B. wir Mediziner, du lieber Gott, woher sollen wir eure Prokuratorenstrenge nehmen, die wir mit dem Fleisch zu thun haben, von dem sogar die Schrift sagt, daß es schwach sei? Wir kriegen schon von berufswegen einen Sinn fürs Relative oder, wie ich auch sagen möchte, für die Nuance. Es ist ja auch klar: Ihr seid zum Strafen da, und die Peitsche hat einen harten, festen Stil; unser Amt aber ist, zu heilen, und das Fleisch, mit dem wir zu thun haben, ist weich.
Der Staatsanwalt wurde gelinde ärgerlich:
– Du hast ganz die Art unserer bilderreichen Herren Verteidiger, die vor den guten Geschworenen mit Metaphern jonglieren, bis das feste Bild der Wirklichkeit mit ihren stricten Forderungen nicht mehr zu sehen ist. Wo willst du eigentlich hinaus: Soll der Mensch Selbstzucht üben oder soll er sein wie das liebe Vieh, das seinen Trieben oder, wie du sagen möchtest, seinem weichen Fleisch folgt?! Das Fleisch der Schweine ist nämlich ebenso weich, wie das der Menschen.
Der Referendar lächelte. Der Sanitätsrat aber sprach:
– Über das Sollen habe ich kein Amt zu reden. Dafür seid ihr da. Daß ich die Notwendigkeit hochaufgerichteter Ideale anerkenne, habe ich schon gesagt. Sie sind goldene Ziele, und wer sie erreicht, ist vollkommen. Aber ich habe es nicht blos aus Büchern gelernt, sondern sehe es täglich im Leben, daß die Vollkommenheit eine überaus seltene Sache ist, selbst unter sehr anständigen Leuten. Solange ich auch lebe, ich bin noch keinem Heiligen begegnet, weder unter Juristen noch unter Medizinern; auch unter Theologen nicht; und mit Philosophen habe ich keinen Umgang, weil sie immer seltener werden. Und so habe ich denn auch quoad Selbstzucht gefunden, daß schon eine relative Ausübung dieser Tugend rühmlich ist. Weshalb ich übrigens vorhin, als unser jüngster Konphilister so löblich für das Ideale eintrat, meine Bemerkung machte, das hat seinen Grund in einer persönlichen Erfahrung an mir selber, die ich aber vor einem Staatsanwalt, und wäre er auch mein Corpsbruder und ehemaliger Leibfuchs, nicht mitteilen kann.
– Das wäre noch schöner, rief der dicke Major a. D. Deneke, der seinerzeit aus dem Corps ins Casino umgesattelt war, daß ein Leibbursch sich vor seinem Leibfuchs genieren sollte! Wo bleibt da der Comment? Das ist Nihilismus! Hier gelten die Semester, wenn ich bitten darf.
Und der Staatsanwalt erhob sein Glas und rief:
– Dein Spezielles, Leibbursch! Schieß los!
Der Sanitätsrat that einen guten Zug und sprach:
– Das Ding ist heikel. Aber wenn die Semester gelten, hab' ich hier niemand über mir, und gerade weil ich ein alter Bursch bin, noch aus der Zeit, da man noch das Tonnencerevis trug, darf ich's vielleicht erzählen. Aber unser jüngster alter Herr muß mir versprechen, daß er mich nicht verachtet.
Der kleine Referendar machte eine große Verbeugung und trank sein volles Glas aus.
– Also gut denn! Und zuvor nochmals dies: Ich verehre die Heiligen und bekenne mich, ich darf wohl sagen: jetzt mehr denn je, zur Selbstzucht.
Wenn ich dabei auch die andere Seite sehe, thu ich's wie Augustinus, obwohl ich seine radikale Methode, sich vor Anfechtungen zu schützen, nicht billige. Also: Ich war, mein Gott, wie lange das nun her ist, gerade vom Gymnasium frei, und das Gymnasium war eine königlich sächsische Fürstenschule gewesen, ein Internat, meine lieben Leute, von dem sich keiner einen Begriff machen kann, der nach den Schulstunden nach Hause hat gehen dürfen. So alt ich bin, so deutlich fühl ich doch noch, wie scheußlich das im Grunde war. Es giebt ja allerhand köstliche Erinnerungen auch aus diesem Leben, denn man war jung und voll Übermut trotz alledem. Aber nein, brrr, dieses ewige Eingesperrtsein, diese Klosterhaft in den saftigsten Jahren, wo man über Stock und Stein, Heck und Heide hätte springen mögen und mußte hinter Mauern sitzen, immer zwischen denselben Gesichtern, immer gehalten wie ein kleiner Knabe, immer mit sich allein und den anderen, die gerade auch so hinausbegehrten in die Welt, wo die Freiheit war und die große weite Bahn, zu rennen und zu ringen und den Mädeln um den Hals zu fallen. Weiß Gott, wir haben uns manchmal seltsam umarmt, wir großen Burschen zwischen achtzehn und zwanzig Jahren damals, denen der Bart aus der Backe stach. Und dabei lasen wir Platons Symposion, wo sich die alten Griechen in ihrer verteufelt unchristlichen Art über die Liebe unterhalten. Ich weiß augenblicklich nicht mehr, ob da von Selbstzucht die Rede ist. Es kann sein. Aber gut: Endlich war ich frei und fuhr südwärts der Stadt zu, wo wir alle unter roten Mützen so fidel gewesen sind.
– Stoßt an, Freiburg soll leben, hurrah, hoch! sang der dicke Deneke mit Schmelz und Leidenschaft, und die Gläser fuhren aneinander.
– Aber vorher machte ich in einer kleinen Stadt, ich nenne sie nicht, ihr kennt sie alle, Halt. Ich machte überhaupt oft Halt auf meiner Reise. Es gefiel mir überaus gut, so in den Hotels abzusteigen und als freier Herr in den fremden Städten herumzuspazieren, eingeschrieben als »mul. med. auf der Reise nach Freiburg. Legitimation: Reifezeugnis der kgl. Fürstenschule zu Meißen in Sachsen«. Das Hotel hieß »Zur goldenen Traube«.
– Ah! erklang's im Kreise:
Ich kenne die Wirtin, ich kenne den Wein,
Ich kenn auch der Wirtin Töchterlein,
Wir haben zusammen getrunken
Und sind uns ans Herz gesunken;
Da schlief die Kleine ein.
– Ja, ja, aber das Lied ist älter als ich, und der Wirtin Töchterlein ist's nicht gewesen.
– Sondern? fragte in höchster Spannung der dicke Deneke.
– Laß nur, laß! Ja, wie war es doch? richtig: ich kam gerade zur Mittagszeit an und hatte nur eben Zeit, mich zu waschen und umzuziehen, dann ging ich hinunter an die Tafel. Ich sehe mich noch mit meiner Fürstenschüler-Tanzstunden-Verbeugung, wie ich an den Tisch trat und hinten, gerade neben dem Fenster mit dem alten Epheustock, ein junges Mädchen erblickte, das mir augenblicklich so in Herz und Seele gut gefiel, daß ich in ihrer Gegenwart kaum zu essen wagte. Vorstellen kann ich sie mir jetzt aber nicht mehr. Nein, wie ich mich auch anstrenge. Es kommt immer blos so ein glänzendes Idealbild heraus, bei dem man alles empfindet, aber höchstens zu sagen weiß, daß blonde Zöpfe und blaue Augen dazugehörten. Aber ich kann nicht einmal mehr für die Augen einstehen. Sie können auch braun gewesen sein, obwohl ich allerdings glaube, daß sie blau waren.
– Leibbursch! rief der Staatsanwalt, ich glaube, du bist noch verliebt?
Der Sanitätsrat nickte nachdenklich mit dem Kopfe:
– Seltsam, seltsam; wenn ich denke: so zu einander gestoßen wie im Wirbelwind, ineinander geweht wie zwei Flammen, und dann dahin. Vielleicht ist das die Frau gewesen, die ich dann nicht mehr gefunden habe. Vielleicht zur Strafe nicht gefunden.
Es schien, als wollte der alte Herr sehr nachdenklich werden, aber er gab sich einen Ruck:
– Dies, Leibfuchs, zum Beweis, daß ich nicht ohne moralische Gefühle bin. Übrigens, das ist das Alter. Weg damit! Wo war ich doch stehen geblieben . . .? Ja, richtig: also das Mädel gefiel mir sehr gut und ich guckte sie wohl ein bißchen häufiger an, als es dem Elternpaar, das neben ihr saß, gefallen mochte. Sie brachen mit einer steifen Verbeugung, das Mädelchen blos mit einem kurzen Kopfnicken, schnell auf und gingen in die Stadt. Ich sah den blonden Zopf mit der blauen Schleife noch lange. So sechzehn, siebzehn Jahre, dacht ich mir. Wie sie nett schwänzelt, und wie der Zopf hin- und herfährt! O, du Schatz, du Schatz! Wirklich, mit diesen Worten, ausgesprochen, dacht ich an sie. Und mir war unbeschreiblich selig zumute.
Ich glaube, der Sanitätsrat schämte sich, wie er das sagte. Wir merkten jedenfalls, daß es ihm nahe ging. Deneke, wie gewöhnlich, fand den rechten Vers, die Stimmung gut ins Glatte zu lösen. Er brummelte:
Und das Zöpfel ging bim-bam,
Und das Herz schlug mir zusamm,
Ach, du liebe Weise!
Der Sanitätsrat trank dem hilfreichen Major dankbar zu und fuhr fort:
– Ich sah sofort im Fremdenbuch nach, wer die Familie wäre, und fand die Eintragung: Zimmer 13 und 14 Rentier Brandeiß mit Frau und Tochter. Hinter das Tochter hatte eine Mädchenhand geschrieben: Lisbeth. Ich könnte die schmächtigen, ganz flach hingelegten Züge heute noch nachschreiben. Damals hätt ich sie küssen mögen. Ihr seht also, ich war nach Mulusmöglichkeit verliebt. Es war das erste Mal in meinem Leben. Wirklich. Und es ist nie wieder so gekommen. So blitzschlaghaft. Nein. Nie.
Wieder eine Pause. Es schien, als scheute sich der Sanitätsrat, zu Ende zu erzählen. Da dem Major kein Vers einfiel, dauerte die Pause etwas lange.
Endlich fuhr der Sanitätsrat fort:
– Ich war, weiß Gott ein guter Junge und so unverdorben, als man sein kann, wenn man aus einem Internat kommt. Nicht einmal so eine frühe Jugendliebschaft hatt ich gehabt. Darum entlud sich's hier wohl auch so schnell. Ich lief natürlich der Richtung nach, wohin ich das Mädchen mit ihren Eltern hatte gehen sehen, in die Stadt, aber es gelang mir nicht, mit ihnen zusammenzutreffen. Als ich abends ins Hotel zurückkehrte, hörte ich bei Tisch, die Herrschaften hätten sich in ihrem Zimmer decken lassen. Das bekümmerte mich richtig, und in einer Art von unbewußtem Liebesgram trank ich zwei Flaschen roten Öberingelheimer und ließ mir vom Traubenwirt alles erzählen, was er von den Freiburger Corpsstudenten wußte, die bei ihm verkehrten. Dann ging ich müde, wie man's mit neunzehn Jahren so schön sein kann, mit meinem Leuchter hinauf, mich schlafen zu legen. Ich glaube, ich dachte da gar nicht an das Mädel, aber, wie ich den Schlüssel an der Thüre Nr. 12 herumdrehte, sah ich vor der Nachbarthüre rechts, Zimmer 13, ein paar kleine Stiefelchen stehen, und da war mir's wahrhaftig, als schlüge mir das Herz plötzlich im Halse. Es hätte nicht viel gefehlt, und ich hätte mich gebückt und die Stiefeletten geküßt. Jedenfalls stellte ich mich direkt vor sie hin und sah sie, weiß Gott, mit Rührung an. Nebenan, vor Thür 14, stand das elterliche Schuhwerk. Es ist unglaublich, aber ich sehe es heute noch vor mir: die Stiefel der Rentiers hatten merkwürdig lange und mit A. B. I. gezeichnete Strippen, die rechts und links wie die langen Ohren eines Vorstehhundes herunterhingen. Mein Gott, dachte ich mir, läßt sich der Kerl sogar die Stiefelstrippen zeichnen. Dann ging ich, ganz aufgeregt, in mein Bett. Aber meine neunzehn Jahre und die beiden Flaschen Oberingelheimer brachten mich bald in Ruhe, obwohl ich vorher an der Thüre, die aus meinem Zimmer nach dem Zimmer Nr. 13 führte, gelauscht und ruhige Athemzüge zu hören geglaubt hatte. Oh, du Schatz! Mit diesen Gedanken, bin ich, glaube ich, eingeschlafen.
Der Sanitätsrat trank sein Glas aus und sah vor sich hin.
– Ja, ist die Geschichte denn schon aus? dachte sich der Referendar mit der Selbstzucht. Will uns die Sanität denn foppen? Und auch der Staatsanwalt fühlte eine Art Beunruhigung bei dem Gedanken, daß es nicht weiterginge. Am Ende will er uns auf die Probe stellen, der alte Fuchs, dachten die übrigen. Blos Deneke war so ehrlich, geradezu zu fragen:
– Na, und das ist die ganze Selbstzucht?
Der Sanitätsrat sah auf:
– Selbstzucht? Ja, ach so! Problema! Ist es nicht merkwürdig, daß ich damals gar nicht daran gedacht habe? Und die Gelegenheit forderte doch geradezu auf dazu! Aber nein! Plötzlich stand ich an der Thüre zu Nr. 13 . . .
– Pardon, Leibbursch, vorher mußt du aufgestanden und zur Thür gegangen sein! warf der Staatsanwalt ein.
– Vermutlich, Leibfuchs, aber ich weiß davon nichts. Ich weiß nur, daß ich mich auf einmal an jener Thüre sah und die Klinke in meiner Hand fühlte.
Der Staatsanwalt schüttelte den Kopf und brummte:
– Vor Gericht dürfte ich dir das nicht glauben. Auf solche Lücken im Bewußtsein berufen sich viele, die für ihre Thaten nicht einstehen wollen. Wohin kämen wir, wenn wir es den Verbrechern erlaubten, sich hinter solche Bewußtseinswolken zurückzuziehen?
Der Sanitätsrat lächelte:
– Mußt du denn immer Fach simpeln, Leibfuchs? Vorerst weißt du ja noch gar nicht, ob ich was verbrochen habe. Aber ich begreife, daß euch das zur zweiten Natur wird wie den Schauspielern das gerollte R. Übrigens: Bewußtseinswolke ist ein passendes Wort. So wars: als wenn ich eine Wolke im Schädel hätte statt der Gehirnwindungen. Zuweilen hellte sie sich wie durch einen Blitz. Um Gotteswillen, was thust du? frug's in mir, und ein Schreck durchfuhr mich, als wüßte ich: da, im Dunkeln, ist eine offene Fallthüre, und du trittst hinein. Dann wieder, beschwichtigend: Unsinn! Die Thüre ist ja natürlich verschlossen! Aber da drückte ich auch schon behutsam auf die Klinke, und, alle guten Götter! – die Thüre ging leise auf. Mein Gott, mein Gott, was mach ich denn nur, ich kann doch nicht . . . ich werde doch nicht . . . Zurück! zurück! Ich zitterte am ganzen Körper und die Zähne schlugen mir aufeinander. Zugleich aber war mir's, als Pochen, Stoßen, Heben in mir. Mit furchtbarster Anstrengung hielt ich den Atem an und kniete vor dem Bett nieder. Noch ein letztesmal rief's in mir: nein! nein!! Da fühlte ich unter meinen Händen ihre kleine, heiße Brust, und mein Kopf fiel darauf wie hinterrücks abgeschlagen. Da . . . was für ein sonderbarer Laut . . . es war wie das tonlose Zwitschern eines träumenden Vogels im Neste, ganz leise, ganz leise, ein Hauch, erstaunt und wehrend und unendlich hold: »Wer? Nein! nein! nein! Nicht doch! nicht!« In diesem Augenblick sah ich sie, obwohl es nicht heller wurde, als es im dunstigen Lichte des versteckten Mondes immer gewesen war. Ich sah zwei große erschreckte Augenund einen bebend offenen Mund. Jetzt wird sie schreien, jetzt, jetzt . . . und nun warf ich mein Gesicht über das ihre und küßte ihre Lippen, die noch unter meinen Küssen bebten, und meine Hände schlossen sich um ihren Hals, daß ich die Schlagadern deutlich spürte. Und doch könnte ich es schwören: ich dachte an nichts weiter. Da aber legten sich ihre Arme linde um meinen Hals und unter meinem Munde flüsterte es: »Leise! leise doch!« und nun kamen die Küsse von ihr . . . Das war, als würde ich aus mir selbst gesogen, und die dumpfe, stürzende Sehnsucht von vornhin verstand auf einmal sich und mit brennender Klarheit ihr Ziel, und ich fühlte mich nicht mehr, ich fühlte blos noch sie, diese anschmiegende, ansaugende Wärme, diese höchste, brodelnde Aufregung aus ihrem Innersten, bei vollster, atempressender Stille um uns, dieses Toben des Blutes aus ihr zu mir, aus mir in sie, in uns beiden zu eins . . . Ach, liebe Leute! Und wenn mir der Himmel selber mit glühendem Eisen das Wort Selbstzucht in den Rücken gebrannt hatte, – ich hätt es nicht gespürt und nicht verstanden.
Wir sahen es dem Sanitätsrat an, daß er im tiefsten erregt war, und schwiegen mit ihm. Nur der kleine Referendar fand ein schnelles Wort:
– Das ist ja ein rein pathologischer Paroxysmus!
Da lachte der Sanitätsrat und streckte ihm die Hand entgegen:
– Recht so, daß Sie mich alte Punschbowle abkühlen, Herr Corpsbruder. Wenn Sie einmal heiß werden sollten, will ich ein Gleiches thun.
– Na, und dann? fragte Deneke.
– Ach so, der Schluß! Ich dachte, ich wäre schon fertig.
Der Sanitätsrat lächelte sonderbar, indem er das sagte.
– Der Schluß! der Schluß! Ich habe mir ihn früher oft dazu gedichtet: Wie ich die kleine Lisbeth später irgendwo wiederfände, und ich spräche zu ihr: Du hast doch auf mich gewartet, mein liebes Ding? Hast du? Und sie nickte mit lächelndem Munde und strahlenden Augen. Ich aber spräche weiter: Und ich, ich hab dich gesucht all die Zeit, mein Schatz, du, und nun bin ich nicht mehr der kleine, dumme, tappige Mulus, sondern ein Zweibändermann und Doktor der Medizin dazu, und meine Praxis ist groß genug für eine kleine Frau. Wir waren einmal so über alle Begriffe glücklich mitsamm', wie man's nur sein kann, wenn man kein Recht dazu hat; nun wollen wir das Unrecht gut machen, indem wir uns künftig und inmerzu mit dem erlaubten Glücke begnügen! . . . Poetische Licenz! Nichts davon! Ich habe sie nie wieder gesehen seit dem Augenblicke, als ich ihr im Lichte des grauenden Morgens den langen, langen Abschiedskuß gab auf ihren kleinen Mund, der wieder so eigen bebte, während in ihren Augen doch ein Schein war wie von innerlichster, seligster Zufriedenheit. Sie hatte die Arme um meinen Nacken geschlungen und hing an mir, als sollte ich sie nehmen und forttragen. Aber da knarrte drüben ein Bett, und sie fiel erschreckt zurück mit schiefem, ängstlichem Kindermund, und ich wankte davon wie ein Betrunkener . . . Und wie ein Betrunkener schlief ich zehn Stunden lang, ohne aufzuwachen. Wie ich wach wurde, war es vier Uhr nachmittags, und ich begriff erst gar nicht, wo ich war. Auf einmal kam mir die Erinnerung, und es fehlte nicht viel, daß ich, noch berauscht von dieser wunderbaren Nacht, im Hemde hinuntergelaufen wäre, sie zu sehen. Es hätte mir nichts genützt. Schon um zwei Uhr war die Familie Brandeiß abgereist. Als mir die gute Traubenwirtin das sagte, da gab es mir einen Schlag ins Herz, und ich stand wohl da wie Stoffel vor'm leeren Stall, als ihm das Kalb gestohlen war. Ich konnte es gar nicht begreifen. Wohin sind sie denn gereist, die Herrschaften? fragte ich mit unvollkommener Ruhe. – Nach Franfurt! . . . So, so, nach Frankfurt! Ich war wie verblödet. Na, kurz und gut: am selben Abend war ich in Freiburg, und acht Tage später hatt ich die rote Mütze auf und das Fuchsenband um . . . Nun, Leibfuchs, wie denkst du über den Fall? Sag's strikte!
Der Staatsanwalt zuckte die Achsel:
– Die Jugend!
Und Sie, Herr Korpsbruder?
– Gewiß, Herr Sanitätsrat, relativ betrachtet . . . ! Natürlich . . . Ja, ja, ja freilich . . .
Aber der gute Major sang:
Und als das Mädel sich satt geküßt,
So, so!
Da hab' ich leider davon gemüßt,
Oh, oh!
Der Rapp' war schon gesattelt und scharrte vor der Thür,
Sie guckte hinter'm Vorhang am Kammerfenster für,
So, so!
Oh, oh!
Bald reiten wir einen Schimmel, bald einen Rappen, wir!
Wir Reiter, hoho!
Wir Reiter, hoho!
Wir sangen den Refrain heiter mit. Nur der alte Sanitätsrat schwieg und schien ernst geworden. Und er sagte:
– Aber Sie haben doch recht, Herr Korpsbruder: Selbstzucht! Uns geht's ja leicht hin, wenn wir uns mal vom Blute überrennen lassen. Aber so ein armes Mädel . . . Ich bin manchmal vor Schreck zusammengefahren, wenn ich mir vorstellte, die Kleine könnte . . . Nein, so lange die werte Welt noch mit Steinen wirft, wo sie die Hand auflegen und die besten Worte vorstehender Liebe haben sollte, solange ist es Pflicht, sich in der Kandare zu halten . . . Ich sprach vorhin von einem goldenen Ziele, es ist aber doch wohl mehr eiserne Kette, und ich fürchte sehr, wir dürfen sie noch nicht sprengen.
– Zum mindesten würde ich mir erlauben müssen, mit allen Kräften dagegen aufzutreten, sagte der Staatsanwalt mit Ernst und Ueberzeugung.
Er hatte, wie billig, das letzte Wort.