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An Frau Marie Immerwahr in Berlin
Neapel, den 18. Juni 1902.
Gnaedige Frau! Einer Reisekünstlerin wie Ihnen einen Reisebrief zu schreiben, ist nicht leicht. Trotzdem darf ich den Versuch nicht unterlassen, schon von wegen unsrer gemeinsamen Reiseerinnerungen: Landegg-Finstermünz-Vulpera-Guarda – und was drauf folgte! Wenn wir uns damals nicht getroffen hätten, – würde ich dann jetzt mit Frau Gemma Bierbaum gebornen Pruneti-Lotti in Italien herumfahren? Gewiß nicht! Also: »in diesem Sinne!«
Augenblicklich haben wir Rasttage. Eine kleine Unpäßlichkeit hindert mich am Ausgehen, und so leben wir, seit wir in Neapel sind, ausschließlich hier im Hotel. Sie brauchen uns aber deswegen nicht zu bedauern, denn es ist ein Bertolinisches Hotel, in dem wir gefangen sind, und noch dazu das schönste, das dieser Familie gehört, die aus der Hotelführung eine Kunst gemacht und diese Kunst zu einer klassischen Höhe gebracht hat. Wer so viel reist, wie Sie, weiß, von welcher Bedeutung es für den mit Kulturbedürfnissen ausgestatteten Reisenden ist, ob er es mit dem Gasthofe gut oder ungut trifft. Wir haben in Italien die Erfahrung gemacht, daß man in der Regel in den Häusern am besten aufgehoben ist, die von Italienern (oder Schweizern) auf englische Manier gehalten werden. Die rein englischen Hotels sind uns Deutschen zu steif, die rein italienischen im besten Falle zu laut, die deutschen zu – gemütlich. Die Art Bertolini ist entschieden die angenehmste (auch Paoli in Florenz gehört in diese Kategorie); äußerste Reinlichkeit, ruhige, geschulte Bedienung, unaufdringlicher Komfort, exquisite Küche, das beste Durchschnittspublikum aller Nationen (also weder Protzen noch Rüpel), kein Embarras von überflüssigem Personal, – alles das vereinigt sich in diesen Häusern zu dem angenehmen Effekte eines wirklich behaglichen Aufenthaltes. Hier kommt noch eine schlechterdings ideale Lage hinzu. Dem Lärm und Getrubel Neapels ist es vollkommen entrückt, da es in einem abgeschlossenen, ehemals königlichen Parke und so hoch liegt, daß kein öffentliches Fuhrwerk da hinaufkommt. Die Gäste des Hauses werden mit einem eigens für das Hotel angelegten Fahrstuhle durch einen über hundert Meter hohen Schacht hinaufbefördert, und das Hotel selbst ist wieder fünf Stockwerke hoch, wobei der oberste Stock als der beste gilt, denn alles ist hier daraufhin angelegt: je höher, um so ruhiger, und je ruhiger, um so besser. So sitze ich denn hier hoch über Neapel, und mein Blick schweift über die ganze Stadt, den ganzen Golf, vom Vesuv bis zum Posilipp, und grade vor mir, weit im Meere, liegt Capri. Die Höhenlage des Hauses spendet aber nicht allein Ruhe, sondern auch Frische, und so darf die Hotelleitung es wagen, das Haus auch im Sommer offen zu halten, während selbst in Rom und Florenz die meisten Hotels geschlossen sind. Es ist durchaus nicht heiß hier oben, und den südlichen Sommer sieht man nur, ohne ihn zu spüren. Mehr kann man schließlich von einem Hotel nicht verlangen. – Wir studieren also einstweilen Neapel aus der Vogelperspektive, verfolgen den vielreihigen Wagenkorso auf der via Caracciolo von oben, sehen die großen Schiffe im Porto Mercantile aus- und einfahren, die Segelboote auf den Wellen des Golfes tanzen, und, wenn es Abend wird, die Lichtketten in den Straßen und die einzelnen Lichter auf den Bergen sich entzünden, während die Musik von der Villa Nazionale bis zu uns herauftönt, wobei wir, wie überall in Italien, die Bemerkung machen, daß die Wagnersche Musik die am meisten gespielte ist. Zwar stammt sie nicht immer vom bayreuther Meister selbst, aber sie kommt doch meistens von ihm her, manchmal freilich auf Umwegen, bei denen sie einiges verloren hat. Ich für mein Teil kann allerdings nicht finden, daß die echte wagnerische Musik oder auch nur die wagnerisch tuende besonders gut hierher paßte. Wozu die Stöße des Nebelhorns, wenn rings nichts ist als eitel Sonnenschein? Freilich spielen sie Wagner auf italienisch und machen, ohne sich Sünden zu fürchten, aus dem Einzugsmarsch in die Wartburg einen Kehrausgalopp, aber dieses Mittel, die Musik aus dem thüringer Walde im Golf von Neapel zu akklimatisieren, tut der deutschen Musik Gewalt an, ohne seinen Zweck zu erreichen. Ich würde hier lieber eine Tarantella hören. – Vom Vesuv ist zu melden, daß er nicht im mindesten spuckt. Er raucht nicht einmal. Seitdem ich vernommen habe, daß Herr Thomas Cook alles Geschäftliche, was den Vesuv und seinen Besuch angeht, in Monopol genommen hat, bin ich geneigt, zu glauben, daß dieser smarte Herr ihn nur in der eigentlichen Saison funktionieren läßt. Das ist das Einzige, was mir hier abgeht. Ist man in Neapel, so will man den Vesuv rauchen sehn. Was nützt der Mantel, wenn er nicht gerollt ist?
Neapel, den 19. Juni.
Der Vesuv raucht noch immer nicht, und ich werde mich, sobald ich ausgehen kann, bei Herrn Cook beschweren. Ich verlange ja keinen direkten Ausbruch, aber bloß so dazustehen wie jeder andre Berg, ohne die geringste Rauchsäule, das ist für einen allgemein anerkannten und im Bädeker mit zwei Sternen versehenen Vulkan entschieden zu wenig. Gemma kommt allerdings aller zwei Stunden aufgeregt mit der Neuigkeit ins Zimmer, jetzt rauche er wirklich, und zwar »bedeutend«, aber es sind immer bloß Wolken, und die kann man ebensogut über dem Kreuzberg sehn, der gar keinen Stern hat. Herr Bertolini, den ich interpelliert habe, erklärt, er rauche doch, aber »sehr dünn«. Ein netter Rauch, den man nicht sieht! Auf den Renommierphotographien des Vesuvs sieht man bekanntlich immer sehr dicken Rauch, aber mir scheint, das ist ein Kunststück des Retoucheurs. Kurz, ich werde immer skeptischer. – Trotzdem wollen wir diesen zweifelhaften Vulkan besuchen und zwar unter Übergehung des Herrn Thomas Cook mit dem Automobil.
Neapel, den 26. Juni.
Da der Vesuv immer noch nicht raucht, haben wir fürs erste nur das Museum und das Aquarium besucht. Das sind wenigstens solide Institute, die halten, was sie versprechen. Oder nein: sie geben viel mehr, sie übertreffen jede Erwartung.
Im Neapler Museum werden immer in erster Linie die Malereien aus Pompeji interessieren, obgleich die hier aufgestellten antiken Skulpturen künstlerisch unvergleichlich wertvoller sind. Aber wen drängte es nicht, sich zuerst die Gelegenheit zunutze zu machen, die sich in diesem Umfange nur hier bietet: einen Begriff von der antiken Malerei zu gewinnen? Freilich muß man sich darüber klar sein, daß, was man hier zu sehen bekommt, ganz gewiß kein Bild der reinen malerischen Kunst der Antike ist, sondern daß wir auf Dekorationsmalereien handwerksmäßiger Art angewiesen sind, die man eigentlich richtig nur an Ort und Stelle beurteilen könnte. Das Richtige wäre, man hätte diese Sachen in Pompeji an den Wänden gelassen (wie es übrigens bei den neuen Ausgrabungen geschieht). Immerhin hat auch die Aufstellung im Museum ihre Vorzüge. Man hat vieles nahe beieinander, und man kann leichter erkennen, daß es sich hier nicht um rein künstlerische Leistungen, sondern um Arbeiten geschickter Zimmermaler handelt. Als solche genommen sind sie vorzüglich und stehen turmhoch über dem, was wir heute von solchen Arbeiten verlangen. Daß die Darstellungen von Szenen aus der Mythologie nicht selbständige Erfindungen jener Handwerksmeister sind, darf wohl ohne weiteres angenommen werden, und es hat die Mutmaßung viel für sich, es seien freie Wiederholungen von Tafelbildern angesehener Künstler. – Die rein dekorativen Sachen: Ornamente, Frucht- und Blumengewinde, Darstellungen von Tieren u. dgl. haben den Renaissancedekorateuren zum Vorbilde gedient und leben heute noch auf den Schablonen unsrer Anstreicher, – soweit man das ein Weiterleben nennen darf. Sie sind in dieser uns hier vors Auge tretenden frühesten Form sehr reizend, aber man sagt sich doch: nun endlich fort damit aus unseren Häusern! – Daß dagegen die antiken Skulpturen Vorbilder von dauernder Giltigkeit für uns bleiben werden, – wer möchte das anzuzweifeln wagen angesichts der marmorenen Herrlichkeiten, die man hier zu sehen so glücklich ist. Fast noch mehr haben mich die Bronzen entzückt. Dem, der sie kennt, braucht man nur die Namen zu nennen, und es wird vor ihm die Erinnerung hohen Augenglücks aufsteigen; dem, der sie nicht kennt, dient keine Schilderung. Und so nenne ich nur, was zu mir am stärksten sprach: die herkulanischen Tänzerinnen, der ruhende Merkur, der bärtige Dionys. – Wie bei allen großen Museen ist auch hier der Reichtum an aufgestapelten Kostbarkeiten dem Genusse hinderlich. Für den, der Studien machen will, sind diese Riesensammlungen sehr bequem; für den, der sich nur dem Genusse der Schönheit hingeben möchte, sind kleine Sammlungen sehr viel angenehmer. Denn es ist leider so: man möchte möglichst alles gesehen haben, und es lockt so vieles, daß man der ruhigen Sammlung vor dem einzelnen verlustig geht. Unsere Museen sind vornehmlich Konservatorien; sie entziehen die Kunstwerke dem gegenwärtigen Leben, um sie der Zukunft aufzubewahren. Allen Respekt davor! Aber manchmal möchte man wünschen, daß mehr für uns, als für unsere Kinder und Kindeskinder gesorgt werde. Wie ganz anders würden diese Statuen in offenen Säulenhallen wirken, oder in den Wandelgängen der Theater. Für solche Orte waren sie gedacht, und nun stehen sie numeriert in – Bildungsanstalten. Aber das führt auf das weite Feld der ästhetischen Kultur, die wir nicht haben. Dafür sind wir Alle mehr oder weniger kunstgelehrt, und die kleinsten Backfische sind imstande, zu sagen: »Mama, findest Du nicht auch, daß der Kopf des Antinous zu weiblich ist?« »Ja, mein Kind,« antwortet die Mama, »aber immerhin ist er sehr edel.« Derlei kann man in allen Museen hören, und es ist ein Beweis dafür, wie fest wir in unsere Haut gewachsen sind, daß dabei noch keiner aus ihre herausgefahren ist. – Es wäre im Sinne der Erziehung zur Schönheit kein Fehler, wenn in allen großen Museen nur ein einziger Saal dem allgemeinen Besuche geöffnet, dieser aber nur mit dem Erlesensten ausgestattet und nicht als ein Museumssaal, sondern als ein Festsaal gedacht wäre. Aber, ach, auch dort würde die kleine Marie und Jung-Adolar mit dem Klemmer auf der Nase nichts weiter zu tun wissen, als Vergleichen zwischen den »Schulen« aufzustellen, denn es wird uns von früh auf kein andrer Begriff von der Kunst beigebracht, als der des Kunstgelehrten. Aber wir gehen einer besseren Zeit entgegen, und es gibt sogar schon Museen, in denen man vergessen kann, daß man in einem Museum ist. Sie in Berlin sind so glücklich, ein solches in dem zu haben, das Herr Geheimrat Bode leitet, dessen Leistungen als sammelnder, sichtender, arrangierender Direktor sogar seinen greulichen Stil als Schriftsteller vergessen lassen.
Die Berliner haben auch ein sehr gutes Aquarium, aber das in Neapel, obwohl es nur Seetiere und Seepflanzen aus dem Golf von Neapel unterhält, ist doch noch interessanter, denn es ist nicht so sehr bloß auf die widerstandsfähigeren Salzwasserlebewesen angewiesen, die einen weiten Transport vertragen.
Da sind vor allem die Polypen merkwürdig, weil sie so überaus scheußlich sind. Als Rumpf hat der »Pulp« oder die Tintenschnecken einen Eingeweidesack, und im übrigen besteht er aus einem dicken Kopf mit Glotzaugen und einem harten Freßwerkzeug, das von acht unsäglich scheußlichen Fangarmen überdeckt ist. Diese Arme sind mit Saugnäpfen besetzt, vermöge deren der Pulp kriechen und klettern kann, und mit denen er seine Opfer ergreift, um sie schleunigst an das hartkieferige Maul zu führen, wo sie mit einem starken Gifte aus den Speicheldrüsen getötet, von den Kiefern aufgeknackt und ausgesaugt werden. Dieses Schauspiel ist sehr gräßlich, aber es genügt auch schon, dieses Quallenungetüm, das sich jede Form und Farbe zu geben vermag, zwischen den Felsen des Behälters einfach herum kriechen oder wie ein umgestülpter Schirm herumschwimmen zu sehen. Die Gesellschaft, die die Aufnahmen für die Vorführung lebender Photographien macht, sollte einmal einen Pulp bei seinen verschiedenen Verrichtungen vorführen lassen. Der entsetzte Zuschauer (man läßt sich ja gerne entsetzen, wenn man sicher ist, daß nichts dabei geschieht) würde sich dann einen Begriff von dem sagenhaften Kraken machen können, dessen tatsächlich im Ozean vorhandenes Urbild ein Verwandter des Pulps vom neapler Golf ist, und dessen Fangarme bis zu 12 Meter lang werden. Es übersteigt alles Schreckliche, was die Phantasie erdenken kann, wenn man hört, daß diese qualligen Ungetüme mit diesen Armen Matrosen von den Schiffen herabgeholt haben. – Ein Verwandter des Pulps ist auch der Kalmar, den die Italiener wegen seiner reichlichen Tintenabsonderung Calamajo (Tintenfaß) nennen. Im Aquarium hält er nur ein paar Tage aus, und es hat etwas beängstigendes, dieses milchweiße, durchsichtige Tier, in dessen Leib es zuweilen karminrot aufglüht, und dessen Augen fast in der Mitte des Körpers sitzen, unaufhörlich vorwärts und rückwärts schwimmen zu sehen, ohne daß es dabei den Körper wendet. Der Anblick ist deshalb beängstigend, weil man hier ein scheinbar vollkommen automatisches Leben gewahrt. – Es gibt aber auch angenehme, ja drollige Anblicke in diesen Bassins, die die Welt des Golfs von Neapel bedeuten. Wunderschön sind einige Schwebefische, die, silber- oder goldschuppig, gelassenen Flossenschlags hin und her schwimmen, scheinbar auf nichts bedacht als auf gute, würdige Haltung. Komisch dagegen nehmen sich einige Krebse aus, die so tun, als wenn sie keine Krebse wären. Da ist z. B. der Pagurus striatus, der sich mit Erfolg den Anschein gibt, als sei er eine Schnecke, die sich mit einer Seerose geschmückt hat. Das macht er so: er frißt eine Schnecke aus ihrem Hause heraus und steckt seinen Hinterleib in die nun verfügbare Wohnung, in die er sehr gut paßt, weil er spiralig gewunden ist. Die Seerosen ihrerseits aber siedeln sich gern auf diesen von dem Krebs herumgetragenen Schneckenhäusern an, weil sie auf diese Weise der Abfälle der Mahlzeiten des Krebses teilhaftig werden. – Das Maskieren lieben überhaupt viele Seekrebse. So bepackt sich die Wollkrabbe gern mit einem orangegelben Schwamme, den sie mit den Klauen der hinteren Beine ständig über sich hält, sodaß sie von oben gesehen eben nur wie ein Stück orangegelber Schwamm aussieht. – Man kann mit Beobachtungen dieser Art Stunden vor diesen Bassins zubringen und merkt kaum, daß die Zeit vergeht, und es passiert einem zuweilen, daß man dabei in Gedanken vom Leben im Golfe von Neapel auf das Leben in der Friedrichstraße zu Berlin oder sonstwo gekommen ist. Es gibt mehr als eine Wollkrabbe mit zwei Beinen, die sich Zeit ihres Lebens mit einem schönen orangegelben Schwamm bepackt, wobei ich nicht an die Damen denke, die sich die Haare apfelsinenfarben färben, sondern an die seelischen Maskeraden aller Art, mit denen mancher und manche es vergessen zu machen sich bemüht, daß er oder sie nichts ist, als eine gemeine Krabbe. Wohl dem, der kein Ärgernis daran nimmt, sondern nur lächelnd bemerkt: »Madame, der orangegelbe Schwamm paßt ihnen nicht ganz.«
Sie sehen, wir vertreiben uns hier die Zeit nicht unangenehm. Denn, welchen angenehmeren Zeitvertreib gäbe es, als den, sich über die werten Mitmenschen zu moquieren? Doch brauchen Sie uns deshalb nicht für ausnehmend boshaft zu halten und zu glauben, wir gingen darin auf, schnöde Vergleiche zwischen Seekrebsen und Zeitgenossen zu machen. Das ist schon deshalb nicht so, weil uns im Grunde die Schönheit dieses unvergleichlichen Landes doch beträchtlich mehr einnimmt, als eine kleine Neigung, menschliche Schwächen zu verlachen. Eine so große Natur, wie die hiesige, hebt einen schließlich über die Nuttigkeiten, berlinisch zu reden, des menschlichen Lebens weg. Selbst Niederträchtigkeiten, unter denen man eben gelitten hat (wie es uns in der letzten Zeit widerfahren ist), vergißt man zwischen Vesuv und Posilipp schnell und gern.
So dürfen sie also gewiß sein, daß wir uns hier wohl fühlen. Wir hoffen das Gleiche von Ihnen.