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An Herrn Bruno Grafen Khuen in Sankt Michael bei Eppan
Rimini, den 22. April 1902.
Mein lieber Herr Graf Khuen! Mit einem Automobil von Ihrem alten schönen Englar an Gandegg vorbei und dann die Mendelstraße hinaufzufahren, ist höchstens insofern ein Kunststück, als auch die Straßen um Englar herum den Namen Ihres Schlosses bewähren: »auf Geröll gebaut«, und als nirgends in der Welt die Kutscher sich böswilliger und törichter benehmen können, als zwischen Bozen und der Mendel, aber als eigentliche Fahrleistung kommt eine solche Partie nicht in Betracht. Da ist die Fahrt nach San Marino hinauf und wieder herab schon ein andres Stück Arbeit. Es sind von hier nur zweiundzwanzig Kilometer zum Monte Titano, aber der führt seinen Namen in der Tat und sieht so trutzig herunter auf das ebene Land mit seinen natürlichen Zacken und künstlich aufgesetzten Zinnen, daß einem das Herz wohl in den Motor fallen kann, wenn man sich ihm mit immer zaghafter werdendem Töff-töff naht. Diese einzig übrig gebliebene italienische Republik, die sich auf ihrem Felskegel mitten in der Unita Italia mit all ihren Gebräuchen und Einrichtungen als politische Kuriosität erhalten hat, weil sie gar so niedlich und darum politisch genommen quantité négligeable ist, tut ganz so, als wollte sie, die nie eroberte, sich selbst der Eroberung durch das Automobil widersetzen. Aber unser Adlerwagen ist aus Frankfurt, und die Frankfurter sind den Sachsenhäusern zu nahe benachbart, als daß sie sich durch irgend welche alte Ruhmestitel oder sonst welche Erhabenheiten imponieren ließen. Es ist erreicht! durfte unser Adlerwagen heute vor den Toren von San Marino gleich dem historischen Hoffriseur ausrufen, der den Deutschen ihre Barttracht und damit einen wahrhaft haarigen Ausdruck ihrer nationalen Sonderstellung gegeben hat. Den Ruhm, San Marino als erstes Automobil genommen zu haben, hat unser Adlerwagen freilich nicht. Vor ihm haben schon drei andere das gleiche Wagnis mit Erfolg unternommen. Der erste, der diese kurzkehrigen Serpentinen hinaufgefahren ist, war ein Wagen des Herzogs Strozzi aus der berühmten florentiner Familie. Für uns war die Sache deshalb besonders schwierig, weil unser Wagen ungewöhnlich lang ist, weshalb seine Lenkung um kurze Kehren die höchste Aufmerksamkeit und Geschicklichkeit des Fahrers erfordert. Trotzdem bin ich überzeugt, daß diese lange Form die bleibende für Reiselaufwagen sein wird. Sie allein ermöglicht die Mitnahme von Reisegepäck für längere Zeit, und nur ein Wagen, der diese Möglichkeit gewährt, kann Reisezwecken wirklich dienen. – Der Ausflug nach San Marino war in unserm Reiseplan eigentlich nicht vorgesehen; er war eine Improvisation, aber eine sehr glückliche. Noch nie hat sich unsern Blicken eine so gewaltige und schöne Landschaft aufgetan. Der Appenin und das Meer gleichzeitig, – das ist viel Augenglück auf einmal. Das Wetter war freilich nicht klar, und unbescheidenere Reisende, als wir es sind, würden sagen, daß es schlecht war, und ich finde es blasphemisch, im Laufwagen von schlechtem Wetter zu reden. In der Stadt mag man so sprechen, denn Regen in der Stadt ist unangenehm, – fährt man aber in einem guten Reisewagen durch ein schönes Land, so darf man wohl von heiterem oder düsterem, klarem oder trübem, trockenem oder feuchtem Wetter reden, beileibe aber soll man sich nicht unterstehen, das Wort schlechtes Wetter zu brauchen. Schlechtes Wetter auf der Reise gibt es nicht, – das ist mein Axiom. Es ist wahr, wir sahen kein azurnes Meer, und die Berge lagen unter Wolkenschatten, – aber wir herrlich aufgetürmt über Meer und Gebirge waren diese Wolken, wie phantastisch war es anzusehen, wie die Wetter um die Gipfel zogen, wie köstlich waren die schnellen Sonnenblicke, die mitten im schwarzen Schatten plötzlich eine Bergflanke wie mit Gold übergossen. Dumm ist nur, daß der photographische Apparat im Futteral bleiben muß, und meine Frau, die der Amateurphotographie leidenschaftlich ergeben ist, verwünscht die Wolken, die ich so schön finde. Anfangs wollte sie auch dem Nebel Lichtbilder abtrotzen, – so kühn sind Dilettanten! Je mehr sie sich aber der Kunst des Photographierens näherte, desto mehr lernte sie, sich zu bescheiden. Das ist wie mit dem Dichten. Anfangs versucht man's auch invita Minerva, aber nach und nach wird man fromm und wartet auf die Göttin. – Das erste, was uns zeigte, daß wir den Boden der italienischen Monarchie verlassen hatten, war ein Schild mit der großen und demonstrativen Inschrift: Café repubblicano. Zollwächter gibt es zum Glück keine, denn San Marino ist mit Italien im Zollverein. Die Marinesen scheinen überhaupt, so eifersüchtig sie ihre politische Sonderstellung wahren, dem großen italienischen Vaterlande mit aller Liebe anzuhangen. Auch in San Marino wird mit Garibaldi derselbe Kultus getrieben, wie überall in Italien, und im großen Saale des Regierungsgebäudes prangt das Wappen Roms als der großen Mutter des Landes. An einen Besuch des ersten italienischen Königs erinnert dessen Büste; sonst ist aber recht häufig der republikanische Charakter des kleinen Staates betont. So finden sich mehrere Büsten von Präsidenten der französischen Republik, die der kleinen Kollegin allerhand Aufmerksamkeiten erwiesen hat. So schenkte sie ihr u. a. die Stühle für die sechzig Ratsherren, die die Regierung San Marinos bilden: zwanzig aus dem Adel, zwanzig »artisti«, zwanzig Bauern. Diese sechzig wählen aus sich alle sechs Monate die jeweiligen beiden Konsuln, capitani regenti geheißen, die eine etwas mißlungene renaissancemäßige Amtstracht haben und auf eine so feierliche Weise in ihr Amt eingeführt werden, als handelte es sich um die Übernahme eines Imperiums. Das ist vielleicht ein bißchen komisch für unsern Geschmack, aber im Grunde haben die Bürger von San Marino nicht unrecht, wenn sie ihre Souverainetät etwas stark betonen. Sie haben es ein paar Mal bewiesen, daß sie der »Libertas«, die in ihrem Wappen steht, würdig sind. Einmal geschah das, als sie der Verlockung des ersten Napoleon widerstanden, der ihr Gebiet vergrößern wollte. Hätten sie damals zugegriffen, es bestände heute ihre Libertas sicher nicht mehr. Das andre Mal geschah es, als sie es ablehnten, in ihrer Stadt eine Spielbank begründen zu lassen. Hätten sie es gestattet, so würde es das Ende des alten San Marino bedeutet haben. Das Felsennest würde eine große Hotellerie und die Bürgerschaft von San Marino eine Klientele fremder Bankiers geworden sein. – In einer Kirche wurde uns ein schönes Bild gezeigt, das man dem Giovanni Bellini zuschreibt und das, von wem es auch sein mag, wert ist, mit Andacht betrachtet zu werden. Es ist auf Holz gemalt und soll lange Zeit als Tischplatte in einem Käseladen gedient haben. – Bei dieser Gelegenheit fällt mir ein, daß der Schafkäse von San Marino auch eine Sache ist, die Erwähnung verdient, wie denn überhaupt der italienische Käse eine schöne Sache ist. Das Lob des Parmesaner Käses und des Stracchino braucht nicht noch gesungen zu werden, und auch der Gorgonzola ist eine anerkannte europäische Größe, aber auch die Lokalkäse könne sich kosten lassen. Sie unterscheiden sich von den spezifisch deutschen Käsen vornehmlich dadurch, daß sie, wie das Elixier in der Hexenküche im Faust, »auch nicht im Mindsten stinken«. Wäre dies anders, so würde Italien allerdings mephitisch riechen, denn was man hier in den Städten an Käse aufgestapelt findet, ist enorm. – Vom Käse zur Küche ist nur ein Schritt, und ich tue ihn gern. In Deutschland herrscht vielfach eine Voreingenommenheit gegen die italienische Küche, und manchen unserer Landsleute bereitet schon der Gedanke, daß hier mit Öl statt mit Butter oder Schmalz gekocht wird, Übelkeit. Ich kann diese patriotisch kulinarische Antipathie nicht teilen, finde vielmehr, daß man in Italien, selbst in ganz kleinen Orten, ausgezeichnet ißt, und umsobesser, so weniger man sich darauf steift, nach heimatlicher Art beköstigt zu werden. Zumal alle Teiggerichte, alle, was mit Makkaroni verwandt ist, verdient das Bädekerkreuz, und Kotelettes und gedämpfte Braten, sowie alle Salate habe ich nirgends so gut gefunden wie hier. Nur zu dem grünen Spargel der Italiener vermag ich mich nicht zu bekennen, und die übermäßige Verwendung von Tomaten in den Saucen geht mir auch gegen den Geschmack. Übrigens ist die italienische Küche nach den Landschaften ebenso verschieden wie die deutsche. – Die Herabfahrt von San Marino kostete uns ein paar Bremsleder. Für diese steilen Berge dürften die Bremsvorrichtungen unseres Wagens noch stärker und dauerhafter sein, und vor allem wäre es nötig gewesen, uns reichlicher damit auszustatten. Das Bremsen ist im Leben überhaupt eine wichtige Funktion (wenn man seine Wichtigkeit auch meist erst Mitte der Dreißiger zu würdigen beginnt), – beim Laufwagenreisen in den Bergen gehört es zu den Hauptsachen, und es dürfte daher keine Reise unternommen werden ohne ein paar Reservegarnituren von Bremsledern. Noch besser freilich wäre es, ein Bremsmaterial zu finden, das widerstandsfähiger als Leder ist. Kupferne Bremsflächen sind wohl auch noch nicht das Ideal, aber dauerhafter als Leder müßten sie immerhin sein. – Meine Frau behauptet, daß wir infolge des verbrannten Bremsleders in Lebensgefahr gewesen wären, und sie malte es mir gleich kurz nach dem Anrumpler, den wir uns an einem Steinhaufen leisteten, gräßlich genug aus, in welchem Zustande sich unsre werten Leichen jetzt befinden würden, wenn jener Steinhaufen nicht dagewesen wäre, als die Bremse versagte. Mich aber macht der Umstand daß der gepriesene Steinhaufen eben da war, nur noch übermütiger, – so übermütig, daß ich (erschrecken Sie nicht!) den nächsten Esel, der uns begegnete – italienisch angedichtet habe. Da ich wohl nie wieder italienisch »dichten« werde, sei das Elaborat des Übermutes Ihnen mitgeteilt, obgleich meine Frau erklärt, es sei durchaus nichtswürdig. Und also lautet mein Anruf an den Esel von San Marino:
O pellegrin' asinello! Quanto tu sei bello! Ma, ahime, stupidone, Com' tuo padrone |
Auf deutsch würde ich das so gesagt haben:
O Esel, grauer Pilgersmann, Du siehst dich wirklich reizend an, Doch kommst du mir, Mein holdes Tier, Dumm wie dein wackrer Führer für. |
Es lebe die Dichtkunst lieber Graf! Evviva la poesia! Und alle Steinhaufen an der rechten Stelle! – Nun lassen Sie sich noch etwas von Rimini erzählen! Es liegt an keiner der Haupteisenbahnrouten Italiens und ist daher in dem Reisebuche, das ich mitgenommen habe (Italien in 60 Tagen von Gsell-Fels) sehr en passant behandelt. In Deutschland ist sein Name der höheren Töchterschaft bekannt von wegen der Stelle im Dante »An diesem Tage lasen sie nicht weiter«, und man pflegt es deswegen eben nicht allein, sondern in Verbindung mit jener Francesca zu nennen, die eigentlich da Polenta hieß, auf deutsch also etwa ein Fräulein von Mehlbrei war. Die Geschichte dieser Franzesca ist ja sehr rührend, aber Rimini verdient nicht bloß ihretwegen besucht zu werden. Es besitzt zwei antike Bauwerke, einen Triumphbogen und eine Brücke, beide aus der Zeit des Augustus und die letztere ein kapitales Werk, aus dem man wieder einmal erkennen kann, daß Roms »Verfallzeit« eine Décadence war, die, zum mindesten im Bauen, nicht an den Untergang, sondern an die Ewigkeit gedacht hat. Was diese Zeit an öffentlichen Bauten schuf, kam immer aus dem Geist der Monumentalität, war immer echt und groß, niemals Kulisse und Bloßsotun. Die Renaissance macht, an der Antike gemessen, vielmehr den Eindruck des Abgleitens. Sie erscheint in den Künsten als der letzte Versuch, werden heidnisch groß zu werden, – aber es fehlt die in einem Zuge strömende Kraft, es ist zu viel Sehnsucht in ihr und zwar Sehnsucht in die Vergangenheit, während in der Antike alles selbstbewußte Gegenwart, reine, nämlich selbstverständliche Modernität, naives Leben war, unangekränkelt durch irgendwelche historischen Neigungen. Die Renaissance ist uns heute ein rührendes Schauspiel, das wir, ach so sehr, verstehen, weil wir an derselben historischen Krankheit leiden. Aber das ist, mit Fontane zu reden, auch »ein weites Feld«, und empfindsame Reisende können sich kaum unterfangen, es nur übersehen zu wollen. Doch wird man hier, auf diesem wahrhaft klassischen Boden, immer wieder darauf hin geführt, und es fehlt nicht an Augenblicken, wo man sich erschüttert fragt, welchen Sinn es in der Ökonomie des Ganzen unserer europäischen Kultur gehabt haben mag, daß die Antike so zertrümmert werden mußte. Die großen Herren der Renaissance und ihre Künstler haben geglaubt, das Trümmerfeld im Sinne antiker Größe neu bebauen zu können, aber es war doch nur ein romantisches Spiel voll schöner Einzelheiten, und die Kirche, die kein Tempel werden konnte, ist Siegerin über die ästhetischen Heiden geblieben. Vielleicht wäre es ohne den Mönch von Wittenberg anders gekommen. Sein »Los von Rom« hieß auch »Los von der Form« und »Hin zum Wort«, – und Rom wurde selber auf diese Seite gedrängt, die im Grunde antiromanisch ist. – Aber da bin ich wieder auf dem »weiten Felde« und habe gar das bei Ihnen in Österreich aktuelle Wort »Los von Rom« ausgesprochen, über das auch wir beide, Sie und ich, oft genug geredet haben, oben in meinem alten Schreibzimmer von Englar, wo mich einmal ein Sankt Paulser Pfarrer zum Katholizismus hat bekehren wollen. Wie erstaunt war der Gute, als ich ihm sehr ernsthaft sagte: Hochwürden, der Protestant von uns beiden sind Sie. Die ganze heutige katholische Kirche ist protestantisch. Der Wittenberger Exmönch hat leider sehr gründliche Arbeit gemacht und alles Schöne aus dem Christentum hinausreformiert. Lassen Sie sich einen Backenbart stehen, nehmen Sie sich eine Frau und singen Sie im Chorus mit zwölf Kindern: Das Wort sie sollen lassen stân. Denn Sie sind vom »Worte« nicht weniger besessen, als Doktor Martinus der Gottesmann, der bei uns allenthalben in Bronze oder Stein herumsteht, die Faust auf der Bibel. Der alte Katholizismus, die wahre, allein selig machende Kirche aber war nicht dem Worte, sondern dem Leben ergeben, und am heißesten, schönsten zu der Zeit, als die Päpste im Vereine mit den Künstlern ihren Blick ins herrliche heidnische Altertum wandten, beseligt vom Anblick einer Zeit, die so stark und herrlich, so ganz und aufrecht war, daß wir es heute kaum zu ahnen vermögen. »Hin zu Rom und Hellas!« war ihr Ruf und ihre Sehnsucht. Eure Lehre aber heißt: »Los von Rom! Hin nach Golgatha!« Aber es wird euch nicht gelingen, die Erde zur Schädelstätte zu machen. Der große Pan lebt noch. Ich sah ihn kürzlich auf der schönen Buchwaldwiese von Matschatsch sich die Augen reiben.
Hochwürden schlug ein Kreuz und empfahl sich eilends.
Was würde er hier wohl zum »Tempel des Malatesta« sagen, wo der heidnische Olymp sich in den köstlichen Reliefs des Agostino di Duccio ein Stelldichein gegeben hat dicht neben der heiligen Jungfrau? Es geschieht zwar unter dem Deckmantel der Himmelskörper des Kalenders, aber das Mäntelchen ist dünn und lose, die himmlischen Körper dagegen fest und voll. Auch Frau Venus ist dabei, die in ihrer vollkommenen Nacktheit sehr holdselig anzusehen ist, wie sie, unter dem Voranfluge ihrer Tauben, über das Meer fährt, von Schwänen gezogen, wie der christliche Ritter Lohengrin. Schöner noch, aber durchaus nicht christlicher ist die Göttin Diana, und das schönste sind zwei antike Genien, die sich hier als Engel präsentieren, aber so gewiß aus dem antiken Olymp stammen, wie das spielende und musizierende Puttenvolk aus der Antike her ist, das sich hier an den Eingängen zu den Kapellen christlicher Heiligen sehr ungeniert und ausgelassen herumtreibt. Das Kreuz ist an der alten Architektur dieses »Tempels« nun einmal diskret als Ornament angebracht. Deutsche Bilderstürmer hätten von diesem ganzen heidnischen Teufelswerk gewiß nicht einen Stein übrig gelassen. Freuen wir uns, daß sie nicht bis nach Italien gekommen sind, wo freilich Savonarola in ihrem Geiste allzulange wüten durfte. Dieser scheußliche Mönch war eine Luthernatur, nur ins Wälsche übersetzt. Wenn je ein Mensch mit Recht verbrannt worden ist, so er. Denn, wenn Luther wenigstens aus dem Geiste seines Volkes heraus handelte, das in der Tat antirömisch angelegt ist, d. h. wortversessen und ohne Instinkt für das Sinnenschöne, so hat Savonarola sich auch gegen die Instinkte seiner Rasse versündigt, deren auszeichnende Gabe Verständnis des Schönen und Begabung zum Leben ist.