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II. Sein Werk.

Der Dramatiker.

I Im »Pfarrer von Kirchfeld« hatte Anzengruber den Stoff und die Form gefunden, welche seiner Natur und Kunst entsprachen: im Sprengel eines Landgeistlichen gelernt und gelehrt, wie man das Herz des Volkes gewinnt oder verliert. Die sonst der hohen Tragödie vorbehaltene Darstellung des Kampfes »um der Menschheit große Gegenstände«, den Streit »um Herrschaft und Freiheit«, brachte er im Bauernstück zur Anschauung. Als geborener Dramatiker verdeutlichte er das Ringen um »Herrschaft (über die Geister) und Freiheit (des Gewissens)« in sinnfälligen Vorgängen, in menschlichen Einzelschicksalen. Je weltferner er den Schauplatz seiner Geschichte wählte, desto offenkundiger wurde, welche weite Kreise der Zwiespalt der Zeit erfaßt hatte; je schlichtere Leute in den Hader der Glaubensstreiter verstrickt erschienen, desto tragischer wirkte die Erkenntnis, daß der Gegensatz der Geister nicht auf den Höhen der Gesellschaft, bei den Führern der heutigen Gesittung Halt mache, sondern bis in die tiefsten Schichten der Massen hinabreiche. Und nirgends äußert sich diese »Unzufriedenheit mit aller irdischen und himmlischen Straßenpolizei« unmittelbarer, leidenschaftlicher und ungestümer, als in Herz und Hirn des kleinen Mannes. Erdennot und Seelenpein des Landvolkes, Denken und Fühlen des zugewanderten oder eingeborenen Wiener Handwerkers und Kleinbürgers bot deshalb auch unserem elementaren Dramatiker seine elementaren Motive und Menschen.

Wohl hat Anzengruber den »Versuch, eine Tragödie hohen Stils zu schreiben, als das Höchste und Schönste, das der dramatische Dichter zu leisten berufen ist, für die Zeit seiner Reife« sich aufsparen wollen; wohl hat er auch im Jambenstück und dem hochdeutschen Drama (Bertha von Frankreich, Elfriede, Hand und Herz) den Dichter nicht verleugnet: historische Gestalten, Adelige, wie Graf Rankenstein im »Faustschlag«, Graf Finsterberg im Pfarrer, ja selbst nur Wiener Patrizier und Weltkinder liegen indessen schon außerhalb seines eigentliches Bereiches. Sicher steht er nur auf dem Boden der Wiener Vorstadt: selbstherrlich und ganz daheim ist er nur bei seinen Bauern. Engumgrenzt erscheint dies Gebiet auf den ersten Blick – allerdings nur demjenigen, der Anzengrubers tiefes Wort nicht beherzigt: »Sehen ist eine Kunst.« »Wenn ich das Buch so in der Kirch vor mir hinleg'«, meint der Großknecht im »Meineidbauer«, »da seh i's ordentlich vor mir lieg'n de Örter, wo ich meine Tag zubracht hab', da liegt tief im Grund das kleine Ottenschlag und hoch oben das nette Wirtshaus zur Grenz, klein wie a Schwalbennest – weiter im Land, nur zwei Stund', liegt der Kreuzweghof und noch zwei Stund' weiter Alt-Ranning, und da verwunder' ich mich, daß man auf nur vier Stunden im Umkreis im Land so viel daleb'n kann.« »Du lieber Himmel,« sagt die Mutter in »Heimkehr«, »was doch all's auf Deiner weiten Welt vorgeht.« »Jo«, krähte der alte Bauer, » frei völlig mag mer sagen, daß all's g'schieht, was nur g'scheh'n kann

Das gilt, wie von der wirklichen Dorfwelt, auch von der Dichterwelt Anzengrubers. Wer seine Leute kennen lernt, wird mit Menschen – »Menschen von Grund aus,« wie Goethe Shakespeares englische Römer nennt – vertraut. Von den Händeln seiner Bauern führt der Weg geradeaus zu den Welthändeln. Und der streitbaren Grundstimmung seiner großen Tendenzkomödien würde man anmerken, wie tief ihre Wurzeln hinabführen auch ohne sein denkwürdiges Bekenntnis in einem Brief an Bolin: »Hätten die gottverdammten Religionsstreitigkeiten, damals Zeit des dreißigjährigen Krieges, nicht die Leute hier im Süden in unserer herrlichen Natur vergiftet, stimmten Menschen und Natur überein. Wie schön wär's. Nun, wie dem auch sei: die Natur bleibt schön und die Menschen werden doch leidlicher.«

Für seine Pflicht hielt er es aber, seinerseits mit voller Kraft dahin zu wirken, daß der Widerspruch zwischen Natur und Menschen mehr und mehr schwinde. Sittlicher Unwille über die Verdunkelung der reinen Natur, gerechter Zorn gegen die Verkehrung der Gebote reiner Liebe bewegte ihn bei seinen ernst- und scherzhaften Vorstößen wider die Mißwirtschaft der Machthaber. Anzengruber will bessern und bekehren. Er ist von moralistischen Anwandlungen stark beeinflußt, stärker als Gottfried Keller, der in den »Leuten von Seldwyla«, wie im Martin Salander, bewußt Schweizer Art und Unart »bemoralisiert«. Vor übertriebener Lehrhaftigkeit bewahrte Anzengruber dabei in der Regel die angeborene Bildnerkraft, die ihn befähigte, seine Ideen im eigentlichen Wortverstande in Fleisch und Blut, in leibhaftige Menschen umzusetzen. Vor Einseitigkeit behütete ihn der unbefangene Künstlersinn, der bei aller Parteinahme für Lieblingsgedanken doch nie zu der Gehässigkeit sich entwürdigt, jede, auch die ehrliche, Gegenmeinung schlankweg als Schlechtigkeit zu betrachten und zu behandeln. Und vor Einförmigkeit beschützte ihn die glückliche Mischung von Pathos und Humor in seinem Wesen, die, den meisten echten Tragikern zu eigen, schon einen Ahnherrn der Wiener Posse, Philipp Hafner, zu dem Ausspruch bestimmt hat: »Ein guter Tragödienschreiber ist meistens ein guter Komödienschreiber, ein guter Komödienschreiber ist aber selten ein guter Tragödienschreiber: ein Schreiber aber ist jeder: denn die Tragödie ist die Seel', die Komödie aber der Leib des Theaters.« Für diesen Leib und diese Seel' der Volksbühne hat Anzengruber in seinen dramatischen Schöpfungen gleicherweise vorgesorgt. Ihm, wie seinem Steinklopferhanns, »kost Juchhe und Auweh ja doch nur an Schroa.« Und immer, als Komödien- wie als Tragödienschreiber bleibt er seiner ethischen Absichten eingedenk: als Warner und Tröster, als »Kind und Narr des Volkes.«

Über seine ethischen Pflichten vergißt er aber seine künstlerischen nicht. Er will auf der Bühne mit allen Mitteln der Bühne wirken, wie ein begeisterter und berufener Kanzelredner zur Erhärtung seines Textes alle technischen Kunstgriffe der Beredsamkeit prüft und übt. Wer die ganze Bedeutung eines gelungenen Anzengruberschen Stückes erfassen will, muß seine dramatischen Gleichnisreden hören, nicht bloß lesen, auf dem Theater lebendig werden, nicht nur in Buchstaben vor sich sehen. »Wer beurteilte wohl,« so meint Otto Ludwig, »ein Gemälde nach der bloßen Untermalung? Was von einem echten Drama aufgeschrieben ist, ist nichts als Untermalung des Gemäldes. Shakespeare und nach ihm Lessing waren so bescheiden, dem Schauspieler seinen Teil an dem Werke zu gönnen.« Dabei arbeitete Anzengruber, der nicht umsonst jahrelang auf den Brettern und hinter den Kulissen sich umgethan, genau so, wie es die »Shakespeare-Studien« vorschreiben: »er ging im Geiste den Schritt, den er für die Figur gewählt, er fühlte die Schauspielermaske im Gesicht und Leibe, die Haltung der Gesichtszüge, der Gestalt, wie eine von allen Seiten auf sein Selbst modifizierend eindrängende Form – wie ein Schauspieler, der gewohnt ist, ganze Abende hindurch genau in derselben Form zu stecken, ein und dasselbe Charaktergesicht, dieselbe Art zu gehen, sich zu wenden, bis in die kleinsten Züge hinein streng festzuhalten.« Zu den großen Gaben Anzengrubers gehörte es dabei, daß er die auf Fernwirkung gestellten Anforderungen der lebendigen Bühne durchweg in Einklang zu setzen wußte mit der Lust und Kraft, jede, auch die unscheinbarste Nebengestalt, in persönlicher Bestimmtheit herauszuarbeiten. Ist Anzengruber (auch als Erzähler) vor allem Dramatiker, der Freskomalerei verstehen und treiben muß, so überrascht er uns doch immer wieder durch die Klein- und Feinmalerei, mit der er die Einzelfiguren, die Seitenmotive ausführt. Er, der den Fortgang der Handlung so ruhelos zu beschleunigen weiß, daß zwischen dem ersten und letzten Auftritte mancher Stücke (»Meineidbauer«, »G'wissenswurm«, »Jungferngift«, »Trutzige«, »Heimg'funden«, »Stahl und Stein«) kaum vierundzwanzig Stunden verstreichen, liebt innerhalb dieser engen Zeitgrenzen aufatmendes Verweilen: mit seine schönsten Eingebungen, seine reinsten, lyrischen Ergüsse, wie den Naturhymnus des Steinklopferhanns, danken wir solchen Ruhepunkten. Da und dort hemmt solches Eingehen in die innersten Seelenstimmungen allerdings den streng dramatischen, thatsächlichen Verlauf der Dinge: in den guten, d. h. in den meisten Stücken Anzengrubers beachtet der Dichter aber die Forderungen und Überlieferungen der bestehenden Bühnen, die er auch auf ihre Verbesserungs- und Entwicklungsfähigkeit sorgsam studiert hatte. Er verschmäht es nicht, »Rollen« zu schreiben; er vergißt niemals, die richtigen Darsteller mit den richtigen Aufgaben zu bedenken; er hält sich an das Herkommen, der ersten Schauspielerin Gelegenheit zu Entrée- und sonstigen Liedern zu geben, die Bedürfnisse der Truppe zu berücksichtigen, neben dem Charakterspieler den Naturburschen, den zweiten Liebhaber, die Episodisten, die Darstellerinnen komischer und tragischer Mütterrollen zu beschäftigen. Niemals vernachlässigte er das Handwerksmäßige, das er kannte, wie Wenige und künstlerisch zu adeln wußte, wie kein Anderer.

Im Großen und im Kleinen gleich gewissenhaft, achtete er auch das Beiwerk nicht gering. Da er am »G'wissenswurm« arbeitet, erkundigt er sich bei Rosegger einläßlich nach dem Unterschied zwischen »Heumandel« und »Schober«, »Schupfen, Scheuer, Scheune«; ein andermal fragt er ihn, »welches bessere und gewöhnliche G'wand die richtige Älplerin trägt? Ich kann so was oft sehen und habe kein Auge dafür und wenn ich wie jetzt Einer die ganze Kleiderordnung abgucken möchte, weil ich es wissen will, so hab' ich keine vor mir«. »In vollem Ernste, ich lasse mich gerne über solche Dinge belehren, so nebensächlich sie scheinen mögen, weil ich nicht gerne solche Verstöße mache, welche, wenn sie einmal von mir geschehen sind, von mir eine Faulheit zeigen, die nicht einmal eine Frage daransetzen will, um ins Klare zu kommen.« Mehr noch, als dieser Wunsch nach litterarischer, äußerlicher Nettigkeit, leitete ihn dabei der Sinn für das Wesentliche, der Blick für die Wirkung des Bühnenbildes. Wenn man mit Recht bemerkt hat, daß Raimund schon in der Art, wie er z. B. den Einzug des hohen Alters im »Bauer als Millionär« vorschreibt, seine poetische Natur beglaubigt, so gilt das nicht minder von der Bestimmtheit, mit der Anzengruber Tracht und Haltung seiner Lieblingsgestalten, die Dekorationen und Gruppierungen entscheidender Scenen anordnet. Man lese daraufhin die Bühnenanweisung, in der er die Erscheinung des Steinklopferhanns, des Einsam', die Gesellschaft und Umgebung der Schänke im »Vierten Gebot«, wie mit dem Auge eines Genremalers geschaut, vergegenwärtigt. So sieht nur ein Künstler, so schildert nur ein Theatermensch, der im Bühnen-Rahmen zu komponieren versteht.

Weniger unbedingt kann ich seinem Gebrauch der Mundart beistimmen. Echt und sicher meistert der Dichter in den Wiener Volksstücken den Dialekt der Vorstädter. In den Bauernkomödien hat er, wie er in der Einleitung zu den »Dorfgängen« erklärte, der Mehrheit der Menge verständlich bleiben wollen: deshalb sei er nur ein »halber Dialektdichter«. Nicht eine geltende, nur eine selbstgeprägte, Mundart macht er sich als Dramatiker zurecht: »weil ich inmitten des Schaffens und Schilderns die Dialekte selber anklingen höre, so gebe ich diese Anklänge, voll oder schwach, wie sie sich just bemerkbar machen und in der vielleicht etwas vermessenen Meinung, daß jedes deutsche Ohr jeden Dialekt deutscher Zunge auch erklingen hören müsse«. Ohne Willkür kann es dabei nicht immer abgehen. Bisweilen reden die Leute weder in der Schriftsprache, noch in der Mundart – glücklicherweise aber immer anzengruberisch und deshalb meinte Rosegger nach der Lektüre des »G'wissenswurm«: »Ich bewundere nicht die Fabel an sich; bewundere auch nicht die Charakterzeichnung Ihrer Gestalten; die Trefflichkeit dieser Dinge versteht sich bei Ihnen von selbst. Aber ich bestaune, bejuble die Wahrheit der Ausdrucksweise Ihrer Personen. Ich hege Verdacht, Sie haben dreimal sieben Jahre bei einem oberbayrischen Altknecht gedient, so wie Jakob bei Laban«.

Wie wurde Anzengruber aber der Seelen- und Sittenmaler des süddeutschen Bauern? Er war in der Großstadt aufgewachsen, verweilte weder als Schauspieler, noch hernach dauernd auf dem Lande, kam zeitlebens nicht in das Hochgebirge, hielt nie anderwärts, und auch dann nur selten und widerstrebend, Sommerfrische, als im Weichbild von Wien. Rosegger sagte denn auch rundweg, er stände hier vor einem Rätsel, das vermutlich mit den Geheimnissen der Vererbung zusammenhänge. Anzengruber war anderer Meinung: »Was das Unerklärliche in meiner Produktionskraft anlangt, (so antwortete er dem Grazer Freund) so bin ich mir selbst dahintergekommen, daß ich als unruhiger Geist mit stets abspringender Phantasie immer und allzeit aus flüchtigen Begegnungen und wechselnden Bildern mehr Anregung zog und bleibendere Eindrücke gewann, als im ständigen Verkehr und dauernder, gleicher Umgebung; daß ich aber in solcher Weise genügend oft mit Bauern zusammenkam und ihre Hausungen besuchte, das ist sicher, freilich verschwindet damit die mystische Umhüllung und für Darwinsche Theorien geht ein hübscher Erweis verloren, aber Wahrheit über alles«. Gelöst ist auch damit nicht die Frage, weshalb von den 22 Stücken Anzengrubers eilf im Dorfe spielen. Im Schlußwort des »Sternsteinhof« giebt der Dichter nur den bedeutsamen Wink, daß »schon in den ältesten, einfachen, wirksamsten Geschichten die Helden und Fürsten Herdenzüchter und Großgrundbesitzer waren und Sauhirten ihre Hausminister und Kanzler. Der eingeschränkte Wirkungskreis des ländlichen Lebens beeinflußt die Charaktere weniger in ihrer Ursprünglichkeit und Natürlichkeit. Die Leidenschaften bleiben in rückhaltloser Äußerung oder linkischer Verstellung verständlicher und der Aufweis, wie Charaktere unter dem Einfluß der Geschicke werden oder verderben, ist klarer zu erbringen an einem Mechanismus, der gleichsam am Tage liegt, als an einem, den ein doppeltes Gehäuse umschließt und Verschnörkelungen und ein krauses Zifferblatt umgeben«. Das ist immerhin ein, wenngleich nicht der entscheidende Grund, weshalb sich Anzengruber vornehmlich an den Bauernstand hielt, den Granit der bürgerlichen Gemeinschaft, wie ihn Immermann, das Konservatorium unverfälschter Nationaltypen, wie ihn Carl Justi in seiner Velasquez-Biographie genannt hat.

Die derbe Lebenslust und »Liebeswoislerei«, die Rauflust und Rüpelhaftigkeit dieser Ur-Menschen konnte der Komödiendichter, den Trotz und Ungestüm gewaltthätiger Bauernnaturen der Tragödiendichter noch besser gebrauchen, als der Erzähler. Zumal der moderne Bühnendichter. Während das alte Schäferspiel idyllische Menschen in idyllischen Zuständen darstellte, erscheinen Anzengrubers ungebrochene Naturen im Bruch der modernen religiösen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gegensätze. Das führt zu Stoß und Gegenstoß, zu lustigen und traurigen – immer aber zu dramatischen Verwickelungen. Wenn Arm und Reich, Geistlich und Weltlich, Sinnlichkeit und »Klosterei«, Eiferer und Separatisten, Altgläubige und Freigeister, Heimständige und Landstreicher aufeinanderplatzen, dann giebt es Kämpfe: schalkhafte, die mit Küssen oder Prügeleien geschlichtet werden, blutige, bei denen Leib und Seelenfrieden eingesetzt werden. Wenn der Bauer spaßt, so spaßt er ausgiebig und wenn er Ernst macht, so macht er gründlich Ernst. Nicht anders hält es Anzengruber mit seinen tragischen und heiteren Vorwürfen aus diesem Kreise. Er gestaltet ein und dasselbe Motiv bald pathetisch, bald humoristisch, immer aber aus einer unwandelbaren Grundansicht heraus. So behandelt er die Geschichte vom »Sündkind« launig im »G'wissenswurm«, grausig im »Einsam«: beidemale aber als Fürsprecher barmherziger Nachsicht wider Hartherzigkeit und Pharisäertum. All seine noch so fern von einander abliegenden Stoffe durchwaltet dasselbe Sittengesetz. Läuterung, nicht Lippendienst, so lautet der Weisheit letzter Spruch im »Meineidbauer«, wie in den »Kreuzelschreibern«. Seine innerste Gesinnung wird durch düstere und muntere Stimmungen nicht anders berührt, wie ein Gebirgssee durch den Wechsel von gewitterhafter und sonnenheller Beleuchtung. Er »betrachtet sich als Priester eines Kultus, der nur eine Göttin hat, die Wahrheit und nur eine Mythe, die vom goldenen Zeitalter, doch nicht in die Vergangenheit gerückt, ein Gegenstand vergeblichen Träumens und Sehnens, nein, aller Zukunft voraufleuchtend, ein einziges Ziel aller freudigen Ahnung und alles werkthätigen Strebens.« Freundlich gegen Alle, die bewußt und unbewußt an dem gleichen Werke mithelfen: feindlich gegen Jeden, der liebreiche Lehren lieblos auslegt, verständige Rechtsordnungen unverständig anwendet, Macht und Reichtum wider die Ohnmächtigen und Armen mißbraucht. Einen Revolutionär auf der Bühne, einen Tendenz-Dramatiker hat man Anzengruber deshalb gescholten. Und in der That hat er nur selten einzig und allein aus reiner Künstlerfreude oder weil der Tagesdienst der Bühne das von ihm verlangte, »Harmloses und Harmlosestes geschaffen« (wie »'s Jungferngift« und »die Trutzige« für bestimmte Possenkräfte; »Doppelselbstmord«: mit seine lieblichste, rundeste Komödie; »Die umkehrte Freit«, das Ideal eines Gelegenheitsstückes). Sonst nahm er den vermeintlichen Spott- als Ehrennamen auf. Er hegte bei seinen meisten und besten Stücken die Absicht, Wandel zu schaffen in falschen Anschauungen und kranken Verhältnissen, soweit das bei der »gebrechlichen Einrichtung der Welt« überhaupt möglich ist. Er scheute den Vorwurf der Lehrhaftigkeit nicht, wenn er als Lehrer der Massen wie der Machthaber neckend und grollend das Wesen der Dinge und Menschen in wahrhafter Gegenständlichkeit »beispielmäßig« darstellte. Von der alten Kanzel Lessings, von der Bühne herab, wiederholte er immer wieder, daß der Staat nicht blinden Gehorsam, die Kirche nicht blinden Glauben, der Einzelne nicht blinde Selbstsucht zum obersten Gebot machen dürfe: daß es keine Rechte ohne Pflichten gebe – alte, schlichte, nur leider noch lange nicht allerorten beherzigte Wahrheiten. Deshalb that es Not, daß Anzengruber, unbekümmert um, wie Luther sagt, »Meister Klügling und Junker Faulwitz«, diese nüchterne »Philisterweisheit« an der satten Pharisäermoral maß, Stärke und Schwäche des geltenden Herkommens an den Vorgängen des wirklichen Volkslebens erprobte. Von ganz alltäglichen Geschichten, wie sie im Gemeindewirtshaus, im Zeitungsblatt, im Gerichtssaal in stetem Einerlei erzählt werden, ging er deshalb in seinen Fabeln aus; nirgends suchte er romanhafte Erfindungen, fein ausgeklügelte Theaterstreiche; überall bringt er Ereignisse und Schicksale, sachlich, überzeugend, überraschend, wie das Leben selbst.

Ein Bauer lebt in wilder Ehe mit einer armen Dirne, deren Kinder er letztwillig zu seinen Erben einsetzt; sein habsüchtiger, gleißnerischer Bruder wird nach dem jähen Tode des Testators von der Erbin so herausfordernd behandelt, daß er das Testament vernichtet und vor Gericht den jesuitischen Eid leistet: »die Urkunde wär' nit da«; das ganze Anwesen fällt ihm zu; jahrzehntelang ist er weit und breit als der reichste und deshalb auch bravste Mann angesehen, den die Kirche seiner vielen Meßstiftungen halber unter ihren besonderen Schutz nimmt. Unversehens bekommen dann die unehelichen Kinder seines Bruders, an denen er sich noch als gewissenloser Vormund versündigt, ein Schriftstück in die Hand, welches das Verbrechen des » Meineidbauers« gerichtsordnungsmäßig beweist. Ähnliche Fälle kommen jahraus jahrein auf dem Lande vor: sie sind so gewöhnlich, daß sie höchstens das Kreisblatt, nicht aber die Presse der Großstadt verbucht. – Im Jahr 1871 meldete eine Zeitung, daß die Bauern einer oberbairischen Ortschaft, einem protzigen »Großkopfeten« zulieb, eine Adresse an Döllinger unterschrieben hätten. Die empörten Beichtväter ihrer Weiber hätten diese nun vermocht, den Männern die eheliche Gemeinschaft aufzusagen, bis sie Buße thäten. Mutter Natur war aber stärker als das geistliche Gebot und » Die Kreuzelschreiber« kamen mit der Drohung davon. Ein wirklicher Vorfall, nicht die Aristophanische Lysistrata gab also Anlaß zu unserer Dichtung. – Ein alter, reicher Bauer wird eines Tages von einem leichten Schlaganfall gestreift. Ein Vetter macht dem Schwachmütigen das Leben noch schwerer mit der Erinnerung: daß das Gottesstrafe sei, weil er bei Lebzeiten seines siechen Weibes eine Hausmagd verführt habe, die mit ihrem Sündkind wohl schon in der Hölle schmore. Die gekränkte Unschuld war aber ein Ausbund von Bauernschlauheit, die sich einmal auch verrechnen kann. Als sie merkt, der Bauer würde sie trotz seines Seitensprungs nicht heiraten, geht sie ihrer Wege und findet einen ebenso reichen, nur minder gewitzten Mann, den sie mit dem ganzen Hausstand als Keiferin unter der Fuchtel hält. Die vermeintlich in Schande versunkene oder verkommene Tochter wuchs aber, wenn sie »auch nicht sakramentalisch auf die Welt gekommen«, Dank der Fürsorge der Frau des Sünders, zu einem Prachtgeschöpf heran, das den » G'wissenswurm« samt dem erbschleichenden Wurmdoktor beseitigt. – Die reichste, früh verwaiste Bäuerin der Gegend ist von frömmelnden Dienstleuten erzogen worden, die ihren Ledigen Hof der Kirche zuschanzen und deshalb jeden Freier fernhalten wollen. Was ihr bis zu ihrem 28. Jahr in die Nähe kommt, ist »alter Jahrgang oder Mißwachs«. Selbstverständlich verliebt sich die rüstige Bäuerin in den ersten strammen Burschen, der als Großknecht auf ihre Wirtschaft kommt. Sie will ihn heiraten, hört aber durch die enttäuschte Erbschafts-»Wacht am ledigen Hof«: der Bursche habe in seiner Heimat einen Schatz mit einem unversorgten Büblein im Stich gelassen, nur weil die Dirn' arm gewesen. Der »Ledige Hof« wird weder Kirchengut, noch Schauplatz einer Hochzeit. – »Pfaff Vater – Sohn Mörder«: in diesen lapidaren vier Worten erschöpfte Anzengruber gesprächsweise (jahrelang vor der Niederschrift des »Einsam« und seiner Dramatisierung in Stahl und Stein) das (weniger gewöhnliche, aber gewiß nicht unmögliche) Motiv dieses Volksstückes. – Ein Dorfkind wird als Dienstmagd einer Städterin eines Diebstahls verdächtigt; sie kommt in das Zuchthaus; hinterdrein stellt sich ihre Unschuld heraus. Sie geht wieder in ihre Heimat und heiratet dort; ihr Mann, dem sie den Vorfall verschwiegen, erfährt plötzlich die Geschichte und treibt durch seine Rohheit die Verzweifelnde zum Selbstmord, vor dem sie in letzter Stunde bewahrt wird ( Der Fleck auf der Ehr').

Ebenso nüchtern ließen sich die äußeren Geschehnisse der Wiener Volksstücke unseres Dichters berichten. Was erhebt nun diese Bauern und Bürger über die Masse, diese gewöhnlichen Begebenheiten zu solcher Höhe, daß wir menschlich und künstlerisch mehr Anteil an ihnen nehmen, als an allen Fürsten und Historien aller Jambenstücke der letzten Jahrzehnte? Einmal die geniale Charakteristik, die jede Gestalt, Durchschnitts- und Ausnahmsmenschen, in scharfer Bestimmtheit zu halten weiß: dann aber der Tiefsinn, mit welchem Anzengruber das Einzelwesen zur Gemeingiltigkeit, das Einzelbild zum Weltbild hinaufsteigert. In der Einen Familie des Meineidbauers verdichtet sich die Geschichte von mehr als einem Geschlecht und Zeitalter. Den Hintergrund zum Liebeskrieg der » Kreuzelschreiber« giebt die weltalte praktische Philosophie des Ehestandes und ein Stück Psychologie des Beichtstuhles. »Dö Welt taugt mir nit, wo so 'was d'rin vorkommt« sagt die gottlose freimäulige Burgerlies im »Meineidbauer«. »Himmelheiligkreuzdonnerwetter, ich möcht doch wissen, wie s' dazu käman, daß sie sich zwischen Mon und Weib einmischen« fragt der Gelbhofbauer in den »Kreuzelschreibern«. Beidemale beschweren sich naive Leute, keineswegs als Chorus des Stückes oder als Sprachrohr des Dichters: die Alte der Tragödie, daß die berufenen Friedensrichter für das Wohlergehen ihrer Tochter und Enkel zu wenig, der gereizte Ehemann der Komödie, daß unberufene Störenfriede – »a fremd Wort und a fremd Ansehen« – für sein angebliches Seelenheil zu viel gethan. Derart streut unser Dichter im Trauerspiel und im Lustspiel, immer wieder, wie im »Pfarrer von Kirchfeld« »den Keim der Unzufriedenheit in die unbefangensten Gemüter«. Nicht, um zu schelten, zu toben, zu lästern. Im großen und erquicklichen Gegensatz zu den altösterreichischen Raisonneuren und »Raunzern« zürnt und stichelt unser Dichter nicht, um die Luft zu erschüttern: er erspart »Euch keinen Stein des Anstoßes, keine Rauheiten des Weges, keine Krümmung, nicht um zu ermüden, sondern um Euch die Erkenntnis aufzuzwingen, daß, ob nun mit leichter Mühe oder schwerer Arbeit, allen Wallern der Pfad gangbar gemacht werden könnte.« Anzengruber ist Patriot, österreichischer Patriot, Patriot der ganzen Menschheit: gewiß nicht der geringste seiner Ruhmestitel. Zu seinem, wie zu unserem Glück war aber der Künstler in ihm ebenso groß, als der Moralist. Fast immer handelte er nach Goethes Geheiß: Bilde, Künstler, rede nicht, Deine Rede sei Gedicht. Wo Anzengruber unter den Leuten seiner Wahl sich bewegt, da ist oder vielmehr da war er Meister von seinem ersten Volksschauspiel an. In der Kraft der Charakteristik hatte der Schöpfer des »Wurzelsepp« und des Pfarrers Vetter, in der Entwickelung der Handlung der Dichter des »Meineidbauer« nichts zuzulernen.

Eine chronologische Scheidung seiner Werke hat deshalb weit weniger Bedeutung, als ihre Abgrenzung nach Stoffkreisen. Dieser Meinung pflichtete Anzengruber selbst bei, als er mit einem Freunde den Plan der Gesamtausgabe derart feststellte, daß seine Stücke nicht nach ihrer Entstehungszeit, sondern in drei Hauptgruppen geordnet – Bauernstücke, hochdeutsche Dramen, Wiener Volksstücke – erscheinen sollten.

Die äußere Form der Bauernstücke hat denn auch in Wahrheit vom »Pfarrer« bis zum »Fleck auf der Ehr'« kaum eine Änderung erfahren. Zu der Einteilung in Akte treten als Unterabteilungen meist die »Verwandlungen«. Nicht nur als technischer Behelf. Der Dichter, der im Großen und Kleinen Gegensätzen nachgeht, führt uns in einem und demselben Aufzug aus einem belebten Bauerngehöft in die einsame Schmugglerschänke zur Grenz'; vom reichen Anwesen des Meineidbauers zur Felsschlucht der Schwärzer-Steige; aus der Einschicht des Steinklopferhanns in das Getümmel der Rompilger; aus der ärmlichen Hütte der Verlassenen auf den »Ledigen Hof« der reichsten Bäuerin im ganzen Viertel; von der »Felsluk'n« des »Einsam« zu den Thorflügeln des geräumigen Vaterhauses; vom Heim der Franzl zur Kirchhofsmauer an die Grenze der geweihten Erde, die der Leiche der Selbstmörderin, wegen dieses untilgbaren »Fleck auf der Ehr'«, versagt bleiben müßte. Mit diesem Ortswechsel beabsichtigt und erzielt der Volksdichter Kontrastwirkungen; er liebt es, Bilder und Gegenbilder vor uns hinzustellen; er weiß, weshalb die Melodramenschreiber die Masse mit »Tableaux« gewinnen und bedient sich derselben Handwerksgriffe, die dort rohen Instinkten, dem elementaren Theatersinn der Schaulust, entgegenkommen, zu tiefgehenden, poetischen Wirkungen. Auf regelrechte, akademische Geschlossenheit ist er niemals ausgegangen. Bisweilen (so zumal in den aus Erzählungen erwachsenen Stücken: »Stahl und Stein«, »Fleck auf der Ehr'«, oder der durch krause Possenelemente geschädigten Komödie »Jungferngift«) wird das Gefüge seiner Bauernstücke gar zu lose und locker. Wo der Dichter aber glückliche Eingebungen mit gesammelter Kraft verwirklicht, da wuchtet Akt auf Akt, Bild auf Bild, Verwandlung auf Verwandlung, wie Felsblock auf Felsblock einer cyklopischen Mauer. Nicht ein Auftritt kann im Meineidbauer wegbleiben: von der einführenden ersten Erzählung des Großknechts, den weiterführenden Erzählungen der Burgerlies, Jakobs und des Meineidbauers bis zur zermalmenden letzten Erzählung der Baumahm. Hier ist nicht nur jede Erzählung in Handlung umgesetzt, hier ist auch – wie in der Wirklichkeit sich häufender Katastrophen – jede einzelne Begebenheit, so notwendig sie dem Verlauf der Gesamthandlung sich einpaßt, neu für sich exponiert und gegipfelt: Vronis Vertreibung vom Adamshof; Jakobs Heimkehr und Tod; Franz' Besuch des Vaters; der neue Handstreich des Meineidbauers wider Vroni und Franz; seine Zwiesprach mit dem höllischen Erbfeind; die Sühne der Frevel des Vaters durch die Liebe der Kinder. Jede dieser »Verwandlungen« ist ein Drama für sich; jeder Hauptcharakter entfaltet sich und seinen ganzen früheren Lebenslauf innerhalb dieser nur einen Tag und eine Nacht währenden Vorgänge so deutlich, daß wir nicht nur sehen, was der Meineidbauer, die Vroni, die Burgerlies, Franz sind und thun; wir schauen bis in alle Heimlichkeiten ihrer äußeren und inneren Erlebnisse; wir werden die Vertrauten ihrer ganzen Vergangenheit; wir erfahren aus ihrem eigenen Munde, wie sie zu dem geworden, was sie sind.

Denselben Eindruck weiß meines Erachtens der Dichter in seinen drei Meisterkomödien ( Kreuzelschreiber, G'wissenswurm, Doppelselbstmord) hervorzubringen. Hier hat auch der Kenner nur zu lernen und zu genießen. Die Fabel der drei Stücke – allemal, echt lustspielmäßig, mit einer völlig unvorhergesehenen, noch nie vorgekommenen Lösung abschließend – bringt das Seltenste, was das Drama überhaupt zu bringen vermag: neue Motive, neue Wendungen. Die Erfindung des »Jungfernbundes« als Reisegesellschafterinnen der »Kreuzelschreiber« hat Anzengruber nirgends, am wenigsten bei Aristophanes, geholt; die Wiederbegegnung mit der Jugendgeliebten, die aus dem vermeintlichen »G'wissenswurm« zum regelrechten Drachen sich ausgewachsen; der – durch zweimaliges Vorlesen – vom Dichter zu einer der rührendsten dramatischen Steigerungen benutzte Brief, der Grillhofer sein Kind zuführt; der unbeschreiblich einfache und doch so überwältigend geniale Einfall der »Doppelselbstmörder«, »zu gehen, um sich selbst auf ewig zu verbinden«: doch nicht wie »Romeo und Julie auf dem Dorfe« in das Wasser, sondern als echt österreichische Naturkinder auf die Alm, wo's ka Sünd giebt – dieses überraschend schlichte Umbiegen der Situation gemutet schon rein stofflich wie die Wunderwerke des Volkshumors, die seit Jahrhunderten mündlich von Geschlecht zu Geschlecht, von Nation zu Nation überliefert werden, bis sie von gewitzten Sammlern als Meisterstreich in ihren Schwankbüchern durch die Schrift verfestigt werden. Krittler mögen an dem »Meineidbauer« Einzelheiten ausstellen: (Franz zumal wird nicht ungestraft von hochdeutschen Anflügen heimgesucht): die drei Bauernpossen Anzengrubers halte ich mit für das Beste, was die deutsche Lustspielkunst überhaupt hervorgebracht: echte Volkskomödien, untadelig im Ganzen und im Einzelnen: technisch und poetisch schlankweg die Vollkommenheit selbst.

Dem Schauspiel der Ledige Hof gebührt als Kunstwerk kaum geringere Geltung. Die Großbäuerin, die, wie als Kind, wieder einmal mitten ins Feuer greift: dies echte, großangelegte, majestätische Weib, das ihren Knecht zum Herrn ihres Gutes macht, zum Beherrscher ihres Selbst machen will und nichts anderes von ihm verlangt, als Ehrlichkeit, erscheint bei jeder erneuten Betrachtung, wie die Zinshofer-Helen' im »Sternsteinhof«, immer tiefer. Die Hast, mit der sie zu der Halbverlorenen eilt, als sie hört, daß ihr »Erster und Einziger« falsches Spiel mit ihr getrieben; das Gespräch zwischen den beiden Betrogenen; Agnes' Heimkehr; der Rachegeist, der sie überkommt, den Lügner in den Seesturm hinaus, in den sichern Tod zu schicken – all das ist gedacht und gemacht, daß man es besser bewundert, als beredet. Der harte und doch wahre Abschied, den Agnes dem wie durch ein Wunder Geretteten giebt, stimmt zu allem Vorangegangenen. Nicht so der Versuch, auch hier wie in der »Tochter des Wucherers« durch Liebe gegen das (uneheliche) Kind die Grausamkeit gegen den Vater zu mildern und noch weniger der gar zu lehrhafte Lehrer mit seiner an sich beherzigenswerten, nur mehr gepredigten als veranschaulichten Weisheit: »Ein wahrer Mensch sein – nicht hochmütig – aber allfort aufrecht.« » Die Trutzige« ist, als Virtuosenrolle für die Gallmeyer angelegt, weit mehr als ein Virtuosenstück – ein echter Anzengruber. Besser als » Jungferngift«, in dem übrigens auch Züge und Leute vorkommen, die sein Meisterzeichen tragen. Als Muster seiner Art möchte ich aber im Bauernstück doch nur die Tragödie vom » Meineidbauer« und die drei Komödien ( Kreuzelschreiber, G'wissenswurm, Doppelselbstmord) gelten lassen. Hier deckt sich seine Natur vollkommen mit seiner Kunstübung. Hier braucht er in der Tragödie das »Tremolo« in dem Augenblick, da der Meineidbauer nach dem Schuß auf den eigenen Sohn zum »Marterl« sich hinschleppt, grobe Mittel für den Massengeschmack, so sicher, wie die feinsten, psychologische Abgründe der Menschennatur aufdeckende und erhellende Züge in der Beichte seines Helden. In den Komödien gesellt er dem Widerstreit der Naturen in Rede und Gegenrede, dem Ränkespiel von Trumpf und Gegentrumpf das erquicklichste musikalische Spiel und Gegenspiel. Zum Element und Sinnbild der Handlung wird, wie Kirchenlied und Schnadahüpfel, Fuge und Jodler, Buß- und Trutzlied einander ablösen. Für seine ersten Stücke stand ihm der tüchtige Kapellmeister Adolph Müller sen. als willkommener Helfer zur Seite. Dreimal, so schrieb der dankbare Dichter kurz vor der Inscenierung des »G'wissenswurm« dem »verehrten Meister«, habe Müller die Gesangnummern zu seinen Komödien geliefert und jedesmal habe er sich erfreut »an der Frische, an der Herzlichkeit möcht' ich sagen der Melodien, eine Frische und Lebendigkeit, die Jeden überraschen muß, der das Vergnügen hat, Sie persönlich zu kennen und weiß, daß Sie kein Kind sind!« Diesem rüstigen Siebziger, dem Altmeister der Wiener Dialekt-Musik (dem Anzengruber auch zwei allerliebste Gedichte in der Mundart zur Komposition stiftete) konnte unser Dramatiker getrost sehr eindringlich seine Wünsche inbetreff der Vertonung einzelner Gesangseinlagen aussprechen. Obwohl oder weil Müllers Eingehen auf die Absichten des Dialekt-Dichters kein Vers-Maß genierte – »Sie haben das auch im Steinklopferlied glänzend bewiesen« – setzte er ihm auseinander, daß im Lied des G'wissenswurm »o schöne grüne Welt, laß' seh'n wie D' mer g'fellst« in dem geänderten Versmaß der einzelnen Strophen eine poetische Absicht liege, ein Aviso für den betreffenden Kompositeur, »daß er sich vom Humor der früheren Strophen zum Ausbruch jauchzender Lebensfreudigkeit »hinaufradeln« soll.« So gut wie mit Adolph Müller senior verstand sich Anzengruber mit keinem seiner späteren Komponisten. Vergebens summte er auch bei seinen letzten Stücken den Tonsetzern vor, wie er beiläufig die und jene selbsterfundene Weise zu dem und dem Text wünsche: »was die Musik anlangt«, so klagte er jedoch einmal Schlögl, »so bringe ich, was ich auch vermeine, es nie dazu, daß einfache Lieder auch einfach im Volksliedton gehalten werden.« Die richtigen Melodien zu den eingestreuten Liederspielen im »G'wissenswurm« und »Doppelselbstmord« vermöchten allerdings nur Meister des musikalischen Humors zu schreiben. Vielleicht haben auch diese musikalischen Motive mitgewirkt, das ausnehmende Wohlgefallen von Johannes Brahms am »G'wissenswurm« zu steigern, die Burgtheater-Aufführung des Dialektstückes zu einer der letzten Lebensfreuden des großen Tondichters und echten Kenners zu gestalten. Wenn Mozart, Schubert oder Rossini diese Bauernkomödien erlebt und gekannt hätten: wer weiß, ob sie als Bauernopern auf Flügeln des Gesanges nicht schon die Reise um die Welt angetreten hätten, wie der »Barbier von Sevilla« und »Figaros Hochzeit«.

Formenreicher, als im Aufbau seiner Stücke, ist Anzengruber als Charakteristiker. Nicht nur an die Träger der Handlung oder an die Verkünder seiner Lieblingsideen (den Steinklopferhanns, den Hauderer, den Einsam', den Meineidbauer etc.) wendet er seine volle Schöpferkraft und -Lust; niemals vernachlässigt er über einer Centralfigur die anderen Gestalten, ja mehr als einmal ist er in seinen kleinsten Episoden am größten. So mächtig sich der Steinklopferhanns »mit seiner extraigen Offenbarung: die Welt is a lustige Welt« bei uns einführt und einlebt, nicht minder mächtig prägt sich, wie eine höchst persönliche Bekanntschaft, der alte Brenninger, den die Aufhebung der ehelichen Gemeinschaft in den Tod treibt, dem Gedächtnis des Zuschauers ein. Und mit welchen Mitteln arbeitet hier der Künstler! Nichts von empfindsamer Philemon- und Baucis-Idyllik. Scheinbar geradezu groteske, fast an das Tierleben streifende Einzelheiten von Glück und Ende seiner Ehe erzählt der Greis: wie er mit einemmal die Schnarcher seiner alten Annamirl nicht mehr hören, ihre Speckknödel nicht mehr essen darf; ihren Salat, Kaffee und den schön' neuchen brennroten Brustfleck an den Nixnutz, den Knecht Andrädl, vergeudet sieht. Man weiß nicht, wo die Gewohnheit aufhört und die Liebe beginnt, ob mehr enttäuschte Gefräßigkeit oder ehrliche Eifersucht aus dem alten Brenninger spricht: Eifersucht auf »dö alte Staud'n«: Herzeleid zwischen zwei Leuten, »denen völlig grausen könnt', für einand' – hihi – völlig grausen – wenn man halt nit auch die schön' Zeit mit einander verlebt hätt' …« Wiederum giebt uns die eine Begegnung Einblick in ein ganzes, langes Menschenleben: wir sehen den alten Brenninger als jungen verliebten Dalk, als Hausvater, der sieben Stück Kinder in Freud und Leid aufzog'n und dann eins nach'm andern 'naus'tragen auf'n Gottesacker und sich als Siebziger erst recht ins Zusammenleben mit seiner Annamirl schickt; wir hören seinen letzten Weheruf: »Mein' Ordnung hon ich nimmer und wo ich mein Ordnung nit hab' …« Und nicht bloß dem Steinklopferhanns ist leid um ihn, recht leid um ihn, da er »verunglückt«, weil er den Heimweg nicht mehr finden kann. »Sein Hauswesen hab'n 's ihm ja doch zernicht', dös hätt' sich nimmer geb'n.« Anzengrubers Meistergeheimnis, solche Gestalten zu Wege zu bringen, hat er nicht verborgen: »Ich schuf meine Bauern so real, daß sie (der Tendenz wegen, die sie zu tragen hatten) überzeugend wirkten und so viel idealisiert, als dies notwendig war, um im Ganzen der poetischen Idee die Wage zu halten. Ich habe mir zuerst den idealen Bauern konstruiert aus hunderten von Begegnungen und Beobachtungen heraus und dann realistisch variiert nach all den gleichen Erfahrungen: ein eigentliches Studium hatte ich ihm nie gewidmet: ich faßte ihn mit einem Griffe:« Unbedeutende meist typisch, Bedeutende individualisierend, Alle – nach Goethes Gebot – als Epitomator der Natur.

Wie eigen behandelt sind z. B. seine – an sich nicht durch bemerkenswerte Besonderheiten hervorstechenden – Großbauern im G'wissenswurm, Doppelselbstmord, den Kreuzelschreibern, Stahl und Stein, Fleck auf der Ehr'. Der bußfertige Grillhofer hat nicht einen Zug gemein mit dem prahlerischen Grundldorfer, dem »großartigen« Sentner, dem pharisäischen Eisner, oder dem ehrenfesten Andrä Moser und doch sind sie Alle rechte Bauern und rechte Menschen. Individuen und Typen zugleich. Wie grundverschieden hebt sich von diesen Massenköpfen aber der Charakterkopf des »Meineidbauers« ab: Der ist ein Mann für sich: die Anderen verkörpern die Gattung.

Derselbe Unterschied fällt uns bei den Bauerndirnen des Dichters auf. Träumerische, sinnige Mädchen kommen in seinen Liebesgeschichten so selten vor, wie auf dem Dorf selbst, wo mehr vollsaftige Sinnlichkeit, als Zartsinn herrscht; »resch«, schneidig, hurtig bei der Hand mit Schnadahüpfeln und Ohrfeigen sind Kernmädeln wie die Horlacherlies und ihresgleichen. Und welche Fülle von ungewöhnlichen, falschen und wahren Frauennaturen überrascht uns neben den gewöhnlichen Liebhaberinnen der Bauernstücke: streitbare, heldenhafte, wie die Vroni im »Meineidbauer« und die Bäuerin vom »Ledigen Hof«, in der Größe und Grausamkeit dicht bei einander wohnen; die verführerische, mit den heiligsten Hoffnungen des Weibes verlogen spielende Gelbhofbäuerin; die nicht gerade treulose Regerl, die ihren Liebsten, einen Knecht, aber doch gleich im Stich läßt, als sich ein reicher Freier meldet (Jungferngift); die blutarme, vermeintlich blöde und doch sehr gewitzte und mutige Agerl (Doppelselbstmord); die verlassene Theres Kammleitner, deren Zwiegespräch mit der Bäuerin vom »Ledigen Hof« mit das Einschneidendste, was Anzengruber je gedacht und gesagt; die bezähmte Widerspänstige in der »Trutzigen«; der Rachedämon Pauli in »Stahl und Stein«, in all ihrem Haß ein Weib mit weiblichen Regungen; die »narrisch heitere« und in ihrer hilflosen Kindlichkeit durch tragische Schicksale doppelten Anteil weckende Franzl im Fleck auf der Ehr'.

Und wie die Jungen die ebenbürtigen Alten. Typisch: die brave, alte Marthe in »Stahl und Stein«; die hilfreiche Großbäuerin im Fleck auf der Ehr'. Individuell: die fanatische Obermagd Crescenz im »Ledigen Hof«; die kriecherische und wohl auch kupplerische alte Kammleitner im »Ledigen Hof«; die freigläubige Burgerlies im »Meineidbauer«, die uns noch eine Seite der Weltanschauung unseres Dichters deuten wird und das Mannweib im »G'wissenswurm«, die Bäuerin an der kalten Lehnten, die Niemanden für sich reden lassen darf und wird:

»hat Neamand darnach z'fragen, was ich sunst bin oder war. Hast denn glaubt, ich hätt mich um was anderscht mit Dir abgeb'n, als weil ich vermeint hab, Dein Bäuerin seg'n't bald 'es Zeitliche und ich käm' an ihrer Stell z'sitzen?! Nöt a so viel (ein Schnippchen schlagend), sixt, war mer sunst an Dir g'leg'n. Grillhofer (zu Dusterer): Schwoger, z'weg'n der werd' ich mich nöt z'viel am Totenbett abiängstigen! Bäuerin: Dein Bäu'rin is aber net so bald versturb'n und wie's mer hinter mein Trachten käma is, hat's all ihre Ersparnus d'rauf g'wend't, daß 's mich los word'n is, denn mit leere Händ war ich net weg, a 'es Kind hat's mer verpfleg'n müssen! Grillhofer: 's Kind? Um Gott'swöll'n sag mer nur Oans: wo dös verblieb'n is?! Bäuerin (etwas bewegt): Kunnt Der's net sagen, Grillhofer, wenn i a möcht', a Dirndl is g'west, is mer ja gleich nach der Geburt furtg'nummen word'n! (wieder barsch.) Such Dir's hizt. Damal hon ich für mich allanig g'nug Sorg' tragen müssen und nachert im Ehstand sein nacheinander zwölf Kinder kämen und alle – als hätt' mich der leidige Höllteufel frotzeln wöll'n, han af der Linken Dein ausdrehten klein' Finger mitbracht. Alle rennen's no af der Welt herum, fünfe hon mer hizt no auf der Schüssel; meinst ich hätt' noch Lust g'habt, mich ums Dreizehnte außer der Eh' umz'schau'n? Grillhofer: Hättst nur oan Fingerzeig. Bäuerin: Nix hon ich und jetzt ha'n mer ausg'redt – wanns net schleunig g'nug seid's, so mach' ich eng Füß und laß dö Hund von der Ketten – Dusterer: Hizt jagt's uns gar aus. Bäuerin: Ratet's a Koan, er kam wieder! In meiner Ruhigkeit will ich verbleib'n – brauch koane alten G'sichter zu sehen, brauch dös net!«

Der »leidige Höllteufel« selbst wird dieser Hexe ausweichen, wenn sie ihn wegen der »Frotzlerei mit Grillhofers ausdrehten klein' Finger« an der Linken ihrer Poltnerschen Kinder standfest machen wollte: in ihre Höhle wagt sich nur ein Jesuit, wie Dusterer.

Minder reich abgestuft sind die Liebhabertypen. Der Gelbhofbauer in den Kreuzelschreibern, der Wastl im G'wissenswurm etc. sind einfache Naturburschen. Der Mann im »Fleck auf der Ehr« ist verzeichnet oder richtiger gar nicht gezeichnet. Einer der bedeutendsten Charaktere des Dichters ist dagegen der Leonhardt im »Ledigen Hof«; er hat es faustdick hinter den Ohren, ist falsch und wahr, feig und tapfer zugleich: »Elternlos bin ich aufg'wachsen, abgemahnt im Guten hat mich niemand, abwehren im Gestrengen haben mich alle wollen: so bin ich mit Listen meine Weg' gegangen, schlecht bin ich dabei nie gewesen, aber auch nie gut geblieben.« Der Mann redet nicht blos so von sich, er ist so und er darf also von sich reden: er hat sich und sein Innerstes erst in verzweifeltem Kampf auf Leben und Tod entdeckt. – Ungleich gelungen sind Anzengrubers Standespersonen: die Pfarrer (vom Kirchfelder und Vetter bis zum Ledigen Hof, Jungferngift, Fleck auf der Ehr' etc.) vortrefflich; der Professor so wenig geschmackvoll, wie sein Steckbriefname »Foliantenwälzer« (Jungferngift); mit mehr Liebe als Schärfe geschildert ist der aufgeklärte Volksschullehrer im Ledigen Hof; konventionell der (eifersüchtige) Forstbeamte in der »Trutzigen«. Genial, mit wenigen Strichen getroffen sind Gemeindeschreiber, Gemeindewächter, Gensdarmen, Armenhausleute, beflissene Wirte, boshafte Krämer, Kleinbauern (Waser, Weiser, Wieser), halbe und ganze Trotteln (Kühjung, Lipp, Simi Simmerl); der trunkene Fuhrknecht im »G'wissenswurm«; Hetzer und Klätscher (Dusterer; der alte Seldinger in »Stahl und Stein«); gute und bösartige Lotter (der Schneidertomerl in Stahl und Stein, der Altlechner in den Kreuzelschreibern); Gaunerhumor und Verbrecherromantik (Hubmayr im »Fleck auf der Ehr'«, Jakob im Meineidbauer).

Dieser ganzen, großen Bauernwelt hat unser Dichter Heimatrecht auf der Wiener Volksbühne erobert und damit den merkwürdigen Kreislauf ihrer Entwickelung zu ihrem Ausgangspunkt zurückgeführt. In der Maske eines Salzburger Theaterbauern hatte zu Anfang des 18. Jahrhunderts Stranitzky die rohe Urform der Wiener Posse geschaffen; mit seinen leibhaftigen Bauern verjüngte und verklärte Anzengruber das mundartliche Wiener Volksschauspiel.

Stranitzky erzählt in seiner lustigen Reyß-Beschreibung, wie sein Hannß Wurst, der Kraut- und Sau-Schneider Knecht von des Riepels Geschlecht nach Fahrten und Abenteuern in aller Herren Ländern endlich in das Wiener »großmächtige Hauß unweit von dem Kärnthner-Thor-Theater kommt und im Comödi-Hauß villerley Leut in närrischem Kleid sieht, Pirrot, Buffon, Skapin, Pasquin, Harlequin; da sprach er bey sich selbsten: darunter taug' ich wohl auch.« Von dem »Prügl-Bedienten, der für ein Siebner täglich den Puckel herhalten muß,« läßt er sich den Weg zur Bühne weisen: da kommt er zu einem »schwarzgekleideten Mann in langen Hosen, ein Halßtuch umb den Bauch, anbey noch ein Kreß umb den Halß, ein ledernes Teller auff dem Kopf und einen Bart wie 2 Sichl umb das Maul hergestrichen«; es ist Scaramuz. »Ey«, meint Hannß-Wurst »hierinnen kann ich auch noch gradiren, daß ich ohne weitere Beschwerden auß einem Bauern zum Narren kann werden«. Damit stellt er sich in seiner deutschen Bauerntracht zu den Charaktermasken der wälschen Stegreifkomödie und faßt »den steiffen Entschluß nimmer nach Salzburg zum Riepel zu gehen, sondern auf dem Theatro allen Respective Zuschauern zu Diensten zu stehen.« So wurde Hannßwurst (oder wie ihn Prehauser gelegentlich nannte: Hannß von der Wurst) der Liebling der Wiener; seine Stücklein schmeckten »wie's liebe Brot, des man nicht satt wird; er macht allemal den nämlichen Spaß und 's muß Einer halt doch lachen.« Gottsched und Sonnenfels rückten ihm mit gelehrtem Rüstzeug auf den Leib: er aber überdauerte die beiden und ihren akademischen Geschmack. Die Jacke des Salzburger Bauern, Hut und Pritsche legte er allgemach wohl ab. Je länger er in der Kaiserstadt lebte, desto weniger gedachte man seiner Herkunft. Mit »lustigen Gesprächen, angenehmen Begebenheiten, artlichen Ränken und Schwänken, kurzweiligen Stichreden, politischen Nasenstübern, subtielen Vexierungen, spindisierten Fragen, spitzfindigen Antworten, kurieusen Gedanken und kurzweiligen Historien, satyrischen Püffen« etc. hatte Stranitzky begonnen: das Théatre italien geplündert, verroht, vor allem aber lokalisiert. An dieser Erbweisheit, alles ins Wienerische zu übersetzen, hielt jeder folgende Hanswurst fest. Dank diesem »Verwienern« seiner Person und seiner Stoffe behauptete sich Hanswurst als das einzig bleibende in jeder neuen Mode des »Metamorphosen-Theaters« der Wiener Volksbühne. Im Ritterstück wird er der vielgeprügelte Knappe, der aber nach allen Fährlichkeiten seinen Herrn doch auslachte und in echtem Sancho-Pansageist sang: er sei froh kein Ritter zu sein. Im Zaubermärchen, in der Travestie und Parodie, in der Gesangsposse und im Lokalstück wurde er zur lustigen oder doch belustigenden Person. Er machte sich im Olymp und der Feenwelt, bei orientalischen Wüterichen und romantischen Minnesängern, im Reich der Römer und der ersten Habsburger heimisch. Er verwienerte Werthers Leiden und verhanswurstete die Geisterkomödie, (denn zuguterletzt wurde z. B. im »Gespenst auf der Bastei« der »umgehende« Herr Tobias Unglück mit seinem drolligen Reisepaß, seinem Geister-Stamm-Kaffeehaus, dem besonderen Merkmal seiner Vorliebe für Plutzerbier, unbeschadet seines totenbleichen Angesichtes und seiner abgestochenen Augen, selbst zum Possenreißer). Anstellig und beweglich schickte er sich in immer neue Trachten und Verkleidungen. Kasperl, Lipperl, Thaddädl, Staberl stammen unmittelbar von ihm ab. Im Zeitbild wird er zum tölpischen Bedienten, zum Bruder Liederlich, zum groben Hausmeister und furchtsamen Hausherrn, zum Stutzer und Trunkenbold, zum Schelm, Gauner und geprellten Nachtwächter. In Raimunds Valentin erlebt Hanswurst seine Verklärung. In Nestroys liederlichem Kleeblatt umgarnt ihn der böse Geist Lumpacivagabundus. So hatte er alle Charaktere gespielt, so war auch er »vom Himmel durch die Welt zur Hölle« gewandelt: nur seinen ureigenen Charakter, seine ureigene ländliche Heimat hatte er nicht wiedergefunden. Da machte Anzengruber den Narren wiederum zum Bauern, die Theaterfigur zum leibhaftigen Menschen. Auch seine Bauern verstehen Spaß, aber sie sind nicht nur zur Kurzweil anderer da; sie freuen sich einer saftigen Keilerei, doch nicht wie der alte Hanswurst, der Wange und Buckel für ein paar Groschen oder Gulden hinhielt, ohne zurückzuschlagen; sie entblößen sich nicht, wie die vielberufenen Gaukler, die 1717 nach Lady Montagues Bericht »ihre Hosen grade den Logen gegenüber, ohne Umstände niederließen« – aber der Wurzelsepp verbirgt uns die Wundmale seiner Seele nicht; der Steinklopferhanns enthüllt uns, wenn »sich's grad schickt«, sein Innerstes: die »Eingebung« seiner Weltanschauung.

Ergiebiges Neuland hatte der Dichter solcherart für die Wiener Volksbühne urbar gemacht. Mit nicht geringerem Eifer hütete und pflegte er außerdem ihr reiches Stammgut: das Wiener Lokalstück. Die Geschichte dieser »Burlesken, Lebens- und Charakterbilder« ist unbegreiflicherweise noch immer nicht geschrieben worden, obwohl der rechte Kenner in und mit derselben die Sittengeschichte Wiens von Philipp Hafner bis auf Anzengruber geben könnte. Trotzdem oder vielmehr weil das Wiener Volkstheater im Freien, aus der Kreuzerbude und dem Jahrmarkttheater erwachsen war, verlor es niemals die Berührung mit dem Leben des Volkes, die dem Schuldrama so rasch und leicht entgeht. Und es ist denn auch kein Zufall, daß Grillparzer und Bauernfeld ihre ersten entscheidenden Theatereindrücke von der Volksbühne empfingen, daß die Staël für die Wiener Tragödie nur Worte mitleidigen Bedauerns, für Kasperl und das »Donauweibchen« dagegen freundliche Anerkennung findet. Schon im 18. Jahrhundert sehen wir, wie der Schöpfer des Wiener Lokalfeuilletons ( Philipp Hafner) mit den für Prehauser geschriebenen Songes hanswourstiques Lokaltypen auf die Bühne bringt. Und nicht etwa bloß spaßhaft gehaltene Genregestalten, sondern echt realistische Figuren. So den nichtsnutzigen Burlin, ein echtes Wiener Früchtl, das mehr als ein Mädel beraubt und betrügt und seinen Vater so lange plündert und reizt, bis ihn dieser zur Strafe unter die Soldaten stecken läßt (daß der Militärdienst als tragische Abstrafung gilt, diese für den Geist der Zeit höchst bezeichnende Auffassung, begegnet uns übrigens schon in Maurus Lindemayrs Dialektkomödien). Weiter: in der »Bürgerlichen Dame oder den bezähmten Ausschweifungen«: der Geschichte einer leichtfertigen Lebzelterstochter, die während der zeitweiligen Abwesenheit ihres Mannes den Hausstand dermaßen verwahrlost und verschuldet, daß ihr heimkehrender Gatte sie verstößt, zuerst mit dem »Haus der Züchtigung« bedroht, dann in das Kloster schickt. Nicht zum wenigsten aber in der Lebensregel des Hanswurst, unter keiner Bedingung zu heiraten: »denn eine üble Eh', ihr Herren, caveatis – ist uns auf dieser Welt die Hölle punctum satis«. Hafner war der erste, doch nicht der einzige Wiener Possendichter, der im tollsten Übermut nicht vergaß, den Wienern die Schwächen und Gebrechen ihres Wesens vorzuhalten. Im »Zwirnhändler aus Oberösterreich«, im »Tanzmeister« (1807) lernen wir durchweg Charaktere kennen, wie sie nur ein scharfer Beobachter aus dem leibhaftigen Treiben der Großstadt herauszugreifen vermag: schurkische Beamte, welche die Verlobten ihrer Subalternen verführen wollen; alte Handwerker, die Hab und Gut verschmitzten Buhldirnen zutragen; Hausväter, die unbekümmert um Pflicht und Familie, Zeit und Geld in nichtsnutziger Gesellschaft verjubeln; erbärmliche Haussöhne, die sich, den anderen Geschwistern zum Trotz, wenn's ihnen Vorteil bringt, als Kuppler und Angeber beim Vater einschmeicheln wollen. Meisl und Gleich brachten gelegentlich wohl lustige Tagesereignisse, fast niemals aber das echte Wiener Volksleben auf die Bühne. Raimund dagegen vergaß, bei aller Romantik, der Streiflichter auf die Gesellschaft seiner Zeit nicht; der »Verschwender« ist eine Wiener Figur, sein Glück und Ende so genrehaft kräftig, wie Danhausers Gegenstücke: »Der Prasser« und »Die Klostersuppe«. Nestroy hielt sich – von dem wackeren Zimmermann im »Unbedeutenden« abgesehen – fast durchweg an die häßlichen und unsauberen Züge des Volkscharakters. Friedrich Kaiser liebte die Kontraste: dem prahlerischen über seine Verhältnisse hinausstrebenden städtischen Großkaufmann stellte er den biederen Bruder Viehhändler vom Lande, dem Jesuiten den edlen Priester, dem Standesvorurteil einen Idealfürsten entgegen, der seinen unehelichen Sohn nicht bloß öffentlich anerkennt, sondern auch zur »Mißheirat« mit einer Försterstochter ermutigt. Wenn der Alt-Wiener Volksbühne bis dahin »im Grunde nur eins versagt geblieben, wenn sie sich nicht an staatliche Dinge wagen durfte«, so hat sich das mit Friedrich Kaisers Tendenzstücken gründlich geändert. Von den Brettern herab verkündigte er, daß »die Geister der Völker wuchsen, daß der Herrscher aus einem Vater zum Freunde werden müsse«; daß ein würdiger Bürger mehr tauge, als ein durch fremden Willen zum unwürdigen Priester Gezwungener; daß, »wenn auch alle Jesuiten aufgelöst sind, die Jesuiten im Civilkleid doch bleiben«; daß, »auch wer für das Recht kämpft, für Gott kämpft und Priester sei«.

An diesen Vormann hielt sich Anzengruber bei der Tendenz seiner Komödien zunächst. In der Charakteristik seiner echten Alt-Wiener erinnert er an Raimund. Seine warmherzigen Kleinbürger und Junggesellen (Spielereiwarenhändler Thomas in »Heimg'funden«, der Kernhofer in den Alten Wienern) sind Wahlverwandte des Valentin im Verschwender; in der Schneidigkeit des Dialogs, der Schlagkraft des Wortwitzes überflügelt er selbst Nestroy. Die Absicht, für das Wiener Volkstheater zu wirken, hegte er von Anbeginn. Eine Posse nach Nestroyschem Muster schrieb er (S. 43) noch in seiner Lehrlingszeit. Und das Leben und Treiben der Großstadt, Neu-Wien mit allen Krisen der Übergangszeit, wollte er auf die Volksbühne bringen, auch nachdem er durch die Erfolge des Pfarrers, des Meineidbauers und der Kreuzelschreiber endlich als »Auerbach, Defregger« oder von allzu überschwänglichen Kritikern gar als »Shakespeare« des Bauerndramas eingefächert erschien. Anzengruber ging, bei allem Idealismus, wie sein Lehrer Weldner, uneigennützig immer auf das Nutzbare aus. Er war der Ansicht, »daß es der Volksbühne noch mehr, als anderen, die von den Dichtern vergangener Zeiten zehren, an einem Repertoire fehle: ohne ein solches gab es aber keine Mission für dieselbe, weder eine künstlerische, noch eine kulturelle«. Deshalb wollte er mit unversieglicher Schöpferlust jahraus, jahrein mit der Fruchtbarkeit eines echten Theaterdichters (S. 146/7) immer neue Bauern- und Wiener Stücke, Possen, ja, gelegentlich wohl gar, nach dem Holberg'schen Don Ranudo, eine Musteroperette oder – auf Richard Heubergers Bitte – einen Operntext schreiben, als dessen Hauptfigur er Walther von der Vogelweide vorschlug. Die Kritiker und Direktoren mißverstanden ihn bei diesen Bemühungen, wie Merck den jungen Goethe: »muß ja doch nicht alles über alle Begriffe hinausgehen: hätte ich damals ein Dutzend Stücke der Art geschrieben (wie Clavigo), welches mir bei einiger Aufmunterung ein Leichtes gewesen wäre, so hätten sich vielleicht drei oder vier davon auf dem Theater erhalten. Jede Direktion, die ihr Repertorium zu schätzen weiß, kann sagen, was das für ein Vorteil wäre.« Unter den sieben Wiener Stücken Anzengrubers ist kein einziges ein unbrauchbares Theaterstück: Eines ein Meisterwerk. Und nicht die Schuld Anzengrubers ist es, daß er, in den knappen zwei Jahrzehnten seines künstlerischen Schaffens, nicht die nötige Anregung und Ermutigung zur Ausführung von mindestens einem Dutzend anderer Wiener Stücke fand, die ihm deutlich vor Augen standen.

In der Tochter des Wucherers führte uns der Dichter zum erstenmale (1873) auf Wiener Boden. Ein herzloser Geldmakler, Öhrlein, benutzt als Lockvogel sein Kind. Frl. Mathilde läßt sich von Wiener Früchteln den Hof, selbst Heiratsanträge, machen. Unmittelbar vor der Hochzeit werden dem Bräutigam aber die mittlerweile erlisteten, uneingelösten Wechsel präsentiert. Mehr als Einer wird der vermeintlichen Braut wegen zum Defraudanten, Einer, der Sohn braver Wiener Bürgersleute, zum Selbstmörder. Seine Eltern geben den letzten Kreuzer her, um vor der Welt den ehrlichen Namen des Toten zu retten: der Vater des Unglücklichen sinkt zum Bettler herab (eine echt Anzengruberische Episodenfigur). Als Rächer aber tritt ein Freund des jungen Käferl ein, der, als Lieutenant vom Feldzug heimkehrend, von den schmachvollen Händeln hört. Er läßt sich in das Haus Öhrleins einführen, gewinnt das Herz der Spröden. Die Hochzeit ist bereitet. Angesichts aller Festgäste giebt er nun der »Mörderin seines Freundes« den Abschied. Wie nun mit einemmale Mathilde Buße thut, das Haus ihres sauberen Vaters verläßt und als liebevolle Schützerin eines natürlichen Kindes des Offiziers sein Herz gewinnt, das gemahnt mehr an das Altwiener Rührstück, als an die sonstige Künstlerart Anzengrubers. Die Freunde rückten ihm die Fehler der Arbeit unumwunden vor und das ließ er gelten; in der Kritik wurden aber Stimmen laut, die mehr Schadenfreude und Neid, als sachliche Ausstellungen zum besten gaben. Anzengruber nahm beides gelassen hin:

»Daß ich auch bei der verunglückten Tochter nicht ins Blaue hineingearbeitet habe (so schrieb er Schlögl), mögen Sie, der mich kennt, wohl denken. Ich habe da einen Mißgriff gemacht, ich habe tragische Effekte auf dem Wiener Boden gesucht, das ist der Fehler – die urwüchsigen Typen sind nur komisch oder gemischt »humoristisch« zu verwerten und was darüber oder darunter wegläuft, ist unserem Publikum nicht produzierbar: es nimmt gleich für oder wider Partei und das geht nicht. Es betrachtet die Fabel und deren Entwickelung nicht wie ein Geschehnis, sondern wie ein Erlebnis und nimmt Partei. Das ist gefehlt – für mich, der ich gern kalte, beobachtende Temperatur für meine Geschöpfe habe.«

So gescheit und bemerkenswert diese Betrachtungen an sich sind, auf »Die Tochter des Wucherers« und glücklicherweise auch auf die Tragödie des Wienertums »Das vierte Gebot« treffen sie nicht zu. Es währte aber volle vier Jahre, bevor sich Anzengruber wieder an einen Vorwurf aus dem Wiener Leben wagte. Wiederum mit einem halb mißglückten Werk, dem Faustschlag. Er wollte die Arbeiterfrage auf die Bühne bringen: »das Volk fordert«, so meint der arbeiterfreundliche Graf, »wie ein Kind oft Unmögliches. Gebt ihm viel, es verzettelt, es verstreut, es verdirbt manches, gebt ihm aber zur rechten Zeit, was es braucht und es ist begnügsam und dankbar wie ein Kind.« »O, Ihr kennt uns nicht«, so sagt der Agitator Bergauer zum Schlusse, »wir sind wild, wo man uns mit Füßen tritt, aber lenksam unter gerechten Händen, doch wo ihr uns mit Großmut beschämt, da werden wir weich.« Leider werden diese Wahrworte dramatisch nicht ganz lebendig. Der Dichter stellte einem trotzigen Fabrikherrn einen Arbeiterführer entgegen, den vor Jahren ein betrunkener übermütiger Lebemann ins Gesicht geschlagen. Das Weib des Arbeiters sah den Schimpf, den der eilig davonfahrende Reiche dem armen Gatten angethan und empfand Mitleid mit dem Mißhandelten – so viel, daß sie ihm bei erster Gelegenheit durchging. Von Stund an lebt der Werkführer Bergauer nur mehr seiner Agitation und seiner Tochter, in die sich der Sohn desselben Fabriksherren verliebt, der sich an dem Arbeiter so gewaltthätig versündigte. Wie nach allerhand durch einen Ausstand hervorgerufenen Wirren der Fabrikant seinen Frevel erkennt und durch Abbitte büßt (– er bietet dem Werkführer seine Wange zum Gegenstreich –); wie das Liebesglück des Mädchens den Lebensschmerz des Werkführers sühnt, das ist besser gedacht als gemacht. Gut ist, daß nicht die besonnenen streikenden Arbeiter die Fabrik anzünden wollen, sondern ein Wirrkopf: Kammauf, dessen Vater, ein ehrlicher Mann, im Armenhaus starb, dessen Mutter, eine fromme Frau, sich für die Kinder zu Tode arbeiten mußte, dessen Schwester, ein unschuldiges Mädchen, zur – Kavallerie kam. »Da haben Sie Pflichtgefühl gegen andere, Gottesfurcht und Gewissen. So wahr ein Gott lebt – so schließt er im Wippchenstil – ich bin ein Atheist«. Den Hauptschaden des Stückes verschulden aber Salongestalten, die Anzengruber nie gekannt und getroffen hat. Die meisten seiner Weltkinder und Aristokraten sprechen wie Vorstädter, die sich Gewalt anthun, um gespreizt und unsicher »hochdeutsch« zu reden; mitunter geradezu in dem überschraubten, unwahren Ton des Lokalromans.

Im September 1877 hatte der Poet das schwache Schauspiel beendigt und schon im November desselben Jahres brachte er das Vierte Gebot fertig. Mit dem Plan zu diesem Werk scheint er sich schon 13 Jahre früher getragen zu haben: »Ich bereite ein neues Volksstück vor« – so schreibt Anzengruber aus Bruck a. d. Mur am 2. September 1864 an Lipka – » Das vierte Gebot« – soll hübsch werden, so mein Genius und der Herr Gott will.« Dann verlieren wir geraume Zeit jede Spur dieses Vorhabens, bis der Dichter die endgiltige Entscheidung über dessen Ausführung fremdem Anstoß anheimgiebt. Das Verdienst, das mächtigste nicht bloß seiner Wiener Volksstücke zur rechten Zeit »bestellt« zu haben (ich gebrauche das eigene Wort Anzengrubers), gebührt dem Leiter des Josefstädter Theaters Eduard Dorn im Jahre 1877/78. Dieser Direktor hatte sich an den Dichter mit der Bitte um ein neues Stück gewendet und Anzengruber antwortete ihm:

»Zwei Stoffe zu Volksstücken habe ich in petto, erlaube mir dieselben in aller Kürze zu skizzieren. Ein Stück (Das vierte Gebot) behandelt das Thema der Verziehung, des üblen Beispiels, der Eltern, daraus resultierend die Unmöglichkeit des ›Ehre Vater und Mutter‹. Die Tochter wird leichtfertig, Sohn jähzornig, Soldat, erschießt seinen Vorgesetzten. Figuren: das unsaubere Elternpaar, die Tochter, der Sohn, die brave Großmutter (rührende Episode), der Feldpater (junger Geistlicher mit reinem Charakter, braven Eltern, beneidet von dem Sohn, dessen Jugendfreund er ist). Die Geschichte wird effektvoll, aber tragisch. Ernst, aber nicht bis zur Tragik sich »hinaufradelnd« wäre der andere Stoff Man lebt nur einmal. Auf Grund dieser Devise verschiedene Lebenskreise schildernd. Resultat: man soll dies einemal honett leben. Mehr Ihnen zu verraten, ist mir derzeit thatsächlich noch unmöglich, erst muß ich die laufende Arbeit erledigen, dann ginge ich nach Ihrer Wahl an eine der betreffenden. Und erst dann lichtet sich bei mir das Chaos, die Gestalten bekommen Umriß und Charakter. Daß in beiden Stoffen, richtig angefaßt und gewissenhaft durchgeführt, der Fonds zu wirksamen Volksstücken liegt, das werden Sie wohl, trotz der kurzen Andeutung, meine ich, zugeben. Freilich, zu lachen wird es dabei nicht viel absetzen. Aber als Dramatiker bleibt es für mich eine wohl aufzuwerfende Frage, ob denn immer gelacht werden muß? Man kann das Publikum auch packen. Und für die Schauspieler sind ernste Aufgaben eine Notwendigkeit. Ich erwarte Ihre freundliche Entschließung.«

Dorn entschied sich für das Vierte Gebot und der Mut, mit dem er nach Anzengrubers wortkargen Andeutungen gerade diesem Vorwurf sich zuneigte, bleibt unseres Dankes wert. Der Dichter wußte, als er an die Arbeit ging, sowenig, wie sie ihm geraten würde, als beim Anbeginn des Meineidbauer (s. S. 107), des Einsam' und des Sternsteinhof. Als sich ein Bekannter an seinem Stammtisch lustig machte über die Buchhändleranzeige dieses Romans, in der es hieß: der Verfasser habe schildern wollen, welche verderblichen Wirkungen der Anblick des Reichtums auf die Armen ausübe, antwortete der Poet ruhig: die Inhalts-Angabe habe er auf Wunsch des Verlegers selbst geschrieben und von dieser Grundidee sei er in der That ausgegangen. Sehr begreiflich, daß ein Kenner, wie Ludwig Laistner, weniger geglückten Schöpfungen Anzengrubers einen gewissen Katechismus-Beigeschmack anmerkte. Wie verstand es aber Anzengruber in Werken, an die er zu guter Stunde ging, die kasuistische Erörterung eines Katechismussatzes in Fleisch und Blut umzusetzen. Mit welcher dramatischen Urkraft, mit welcher Gewalt wußte er im Vierten Gebot seinen Grundgedanken an leibhaftigen Vorgängen zu erhärten, in den Schicksalen echter Wiener Kinder (die er nicht allzuweit zu suchen hatte) zu offenbaren. Der edle, doch weltunkundige Priester des Stückes fordert unbedingten Gehorsam der Kinder gegen die Eltern in jedem Falle. Also selbst dann, wenn die Eltern, wie Anzengrubers grelle Bildertafeln zu diesem strengen Texte zeigen, die Kinder häßlichem Beispiel, dem Laster, allen bösen Trieben preisgeben? In der Familie Schalanter ist der Vater ein Säufer, die Mutter eine Putiphar und Kupplerin: der Mann der Wiener Kleingewerbetreibende, wie er nicht sein und doch in zahlreichen Exemplaren gedeihen soll: nicht der wirklich bedauernswerte Handwerker, den unbarmherzige Konkurrenz oder Konjunktur brotlos macht, sondern ein Großmaul und Faulpelz, der immer im Wirtshaus sitzt, die Gesellen (die meist die überfütterten Liebhaber seines Weibes sind) für sich arbeiten läßt, sein »Geldladl« vor der Frau nur hütet, um der eigenen Trunksucht zuliebe bei erster Gelegenheit eine Kaution »anzureißen«; wie's mit der »Draxlerei« nicht mehr geht, sofort bereit, vom Sündenlohn der Tochter mitzuzehren und einen kleinen Nebenverdienst als ehrloser Angeber in fremden Liebeshändeln zu suchen; ein Hetzer und Kläffer, der den eigenen Sohn im Rausch zu Zank und Totschlag aufreizt; dabei jederzeit bei der Hand, die Schuld an aller Mißwirtschaft daheim auf die Mutter zu schieben. Das Weib durchtränkt von echt wienerischer Liederlichkeit: nicht bösartig, nur ohne Halt und Pflichtgefühl: lüstern, falsch, willfährig gegen jede Regung der eigenen, wie der fremden Genußsucht; da sie dreiviertel Jahr mit dem Zins im Rückstand ist, ermutigt sie die Besuche des Hausherrnsohnes bei ihrer Tochter Josepha. Barbara Schalanter ist von Natur nicht grundschlecht und doch gefährlicher als eine Giftmischerin: denn sie wird der Verderb, die Lehrmeisterin aller bösen Lüste für Jeden, Mann, Kinder, Liebhaber. Den einzigen Gesellen, der ihr nicht zu Willen ist, drängt sie aus dem Haus, obwohl er Josepha, dem ersten Fehltritt zum Trotz, heimführen, wieder ehrlich machen will. Besser und einträglicher für den Hausstand ist doch, wenn die Tochter im »Kaffeeschank« »so einen guten Verdienst hat«; sie ruht nicht, bis »das Madl verschandelt is«, bis dies ursprünglich gut, ja edel angelegte Mädchen zur Straßenläuferin herabsinkt, die im Spital endet. Als diese Eltern vor der Armensünderzelle ihres als Mörder gerichteten Sohnes um Einlaß flehen, weist sie der (die eigene Schuld tief) Bereuende mit dem Wort ab: »Nein, sie haben mir nichts zu verzeihen und ich ihnen nichts abzubitten«. Auf die versöhnliche Einrede des Priesters: »Denk an das vierte Gebot« lautet die grauenhaft wahre Abwehr: »Du weißt nit, daß 's für Manche 's größte Unglück is, von ihre Eltern erzogen zu werd'n. Wenn du in der Schul' den Kindern lehrest: Ehret Vater und Mutter, so sags auch von der Kanzel den Eltern, daß's darnach sein sollen«. Die Mahnung gilt nicht bloß dem Kreise der Schalanter, in dem ja mitunter die Not als Versucherin leichtes Spiel hat. In anderer Form kommt dieselbe Pflichtvergessenheit bei den »Hausherrn vom Grund« vor, die, einer reichen Verschwägerung zu Gefallen, ihre einzige Tochter einem Stolzenthaler preisgeben, dessen Namen zum Gattungs-, zum Steckbriefnamen werden sollte. Einem armen Musiker, der trotz des »himmelweiten Abstands« zwischen einer Hausherrntochter und einem Klavierlehrer das Mädchen liebt, weist der Vater mit Haß und Hohn die Thür; die Bedenken der Mutter verschwinden sofort, als sie hört, ihre Tochter werde »die reichste Frau vom Grund«. Daß der Herr Stolzenthaler, ein Ausbund von Rohheit und Schlemmerei, ihre Tochter an Leib und Seel vergiften wird, bekümmert die Eltern weiter nicht. Kein neueres Bühnenwerk giebt es, in dem auf offenem Theater mit offenen Worten offene und verschleierte Geheimnisse großstädtischer Verderbnis so unumwunden zur Sprache gebracht würden. Und doch steht dieser geniale Realismus durchweg im Dienst des reinsten Idealismus und doch überglänzt diese ganze Sudelwirtschaft, wie leuchtende Himmelsglorie, die stärkste sittliche Überzeugung, ein Geist der Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Liebe, der ebenso schlicht und ebenso wahr in lebendigen Menschen verkörpert erscheint, wie Schmutz und Schmach des Wiener Lebens. Mit scharfer Kontrastwirkung stehen den gewissen- und gedankenlosen Eltern Urbilder echtwienerischer Gemütlichkeit gegenüber: blutarme Hausmeisterleute, die als die »sorglichsten Pfleger, die treuesten Berater« ihres Sohnes der Lebensregel folgen, daß es kein Kastenwesen geben darf, daß es, Dank dem Zusammenwirken von Eltern und Kindern, der kommenden Generation besser gehen muß, als der vorangehenden; dann »hätten die Leut' vor nötigen Gedanken zu keinen unnötigen Zeit und das Geschimpf und Geraunz über Gott und Welt möcht' a End' finden.« Und auch hier sühnt reine Weiblichkeit alle irdischen Gebrechen. Das greise Großmütterlein der Schalanter-Kinder, eine Frauengestalt, die nicht umsonst den Familiennamen der Mutter Anzengrubers trägt: – Herwig. Die Eltern Schalanters haben die Alte mit ihren langweiligen Predigten nicht im Hause dulden mögen. Als Martin Soldat wird und Josepha ihre erste Liebschaft hinter sich hat, kommt sie als Warnerin:

»mit ein ehrlichen G'werbsmann hättst Du Dich nicht verkünden lassen, wohl aber ausrichten mit ein Hausherrnsohn. Schau, Pepi, Du warst jung, so viel jung und unbehüt', viel schlimmer noch, laß Dich jetzt auf kein so zweites Stückl ein, das eine verzeiht man Dir, wenns Dein einzigs bleibt. Und Du Martin, Du kommst jetzt zum Militär und da tragt man zwar Handschuh, aber nur zur Paradi. Denk, wohin Dich der Zornteufel bringen könnt.«

Und als das Entsetzliche geschehen, kommt die Greisin »von selbst« zu dem Mörder in die Zelle. Erbarmen haben auch Andere mit ihm: aber sie hat ihn immer gern g'habt und »a Lieb, a Lieb« zeigt sie dem Enkel, vor dessen blutigen Händen sie zuerst zurückschaudert. Martins letzter Gang wird auch ihr letzter Gang sein. Sie wird ohnmächtig bei dem Ausbruch jäher Todesfurcht des Enkels. Sie verzeiht ihm, sie segnet ihn: aber – sie bemitleidet ihn nicht. Hätte Anzengruber nichts geschaffen, als die Gestalt dieser Greisin, besäßen wir keine andere Beglaubigung seiner Dichterkraft, als den Abschied des zum Tod verurteilten Martin Schalanter von seiner schmerzen- und gnadenreichen Großmutter, aus der die Stimme des Gewissens, das Gemüt des Volkes laut und lebendig zu uns spricht – wir würden ihn den ersten Dramatikern Deutschlands anreihen.

Daneben kommt es kaum in Betracht, daß Anzengruber in seinen Wiener Volksstücken der größte Sittenschilderer der Wiener Zustände seiner Tage ist. In den Alten Wienern (1878) sehen wir, »wie a Bub Vater« und die Verführte fast zur Selbstmörderin wird, bis Kernhofer, das Ideal eines hilfreichen Mannes, aller Verkennung zum Trotz, in der Stille alles wieder schlichtet, nur, weil's ihn »im Herzen reißt«. In den Braven Leuten vom Grund (1879) das Ideal einer reschen, resoluten Wienerin, die – in »Liebesgeschichten«, dem »Regiment im Hause« und im »Mädchenhüten«, als Schatz, Frau und Mutter – gleicherweise allen, ohne Tyrannei, durch gescheites Gewährenlassen, die Köpfe zurechtrückt. In Heimg'funden (1884-85), wie Weihnachtsstimmung ein verirrtes, verstörtes Menschenkind, der Zauber treuherziger Bruder- und Mutterliebe eine zwiespältige Natur bekehrt und bezwingt. In der Posse Aus'm g'wohnten G'leis (1879), daß »'Rauskommen so viel wie Umwerfen werden kann, wenn man jählings aus der tiefen Fahrspur alter Lebensgewohnheiten« geworfen wird. Keines dieser Wiener Volksstücke kann sich mit dem Vierten Gebot vergleichen. In jedem aber steckt ein gesunder Kern, in jedem neben halb und ganz mißratenen Zwischenspielen und Charakteren eine Fülle von echt wienerischem Humor, Theatersinn und leibhaftigen Wiener Kindern. Die Mutter Hammer in »Heimg'funden« hat Saar kurzweg holbeinisch genannt. Die Heldin der »Braven Leut vom Grund«; Kernhofer, Thomas, der Deutschmeister und die Magd (in »Alte Wiener«); die Frau Xandl und der Austräger Florian (in »Heimg'funden); der alte Komptoirist im »G'wohnten Gleis«, der plötzlich 20 000 Fl. erbt, doch nach kurzem Versuch, außerhalb der Schreibstube zu leben, sich wieder heimlich in das Komptoir einschleicht – all diese ernsten und spaßigen Gestalten offenbaren Anzengruber als Kenner und Maler des Wiener Volkes seiner Tage sondergleichen. Wie kein Schriftsteller des Vormärz ein Bild des Wiener Volkslebens gegeben, das durch Grillparzers Schilderung des »Armen Spielmanns« nicht verdunkelt würde, so sollen und können auch die begabtesten, gemütlichsten Wiener Genrefeuilletonisten mit ihren Humoresken und Lokalskizzen nicht in eine Reihe mit Anzengrubers Volksstücken gestellt werden. Der größte Dramatiker Neu-Österreichs ist da zugleich der tiefsinnigste Kulturhistoriker der Massen der Großstadt. Pathetisch und launig vergegenwärtigt er Altwiener, Ehrenmänner und Biederschufte, das schöne, wie das häßliche Neu-Wien. Denn niemals hatte er Schmeichelsalbe für das von Bäuerles gelehrigem Troß, den Volkssängern und Lokalschriftstellern, bis zum Überdruß gleißnerisch und wohldienerisch besungene goldene »Weana Herz« und nur mit Hohn wiederholte er Anton Langers selbstgefällige Prahlerei: »Sollen's uns nachmachen«. Als treuer Sohn der Vaterstadt ging er mit dem Zorn der Liebe so ingrimmig ins Gericht mit allem, was ihm krank und falsch schien im Wiener Wesen seiner Zeit, wie Grillparzer, da er im »Abschied von Wien« alle Halbheit und Trägheit der engeren Landsleute in unvergänglichen Versen züchtigte. Nicht zum wenigsten deshalb haben die Beide ein Ehrenmal um die Wiener verdient. –

Hatte sich Anzengruber in diesen Lokalstücken seiner Herkunft von Wiener Bürgern, in den Bauernstücken seiner Abstammung von oberösterreichischen Bauern erinnert, so bewährte er sich als Sohn seines Vaters in hochdeutschen Schauspielen. 1872 versuchte er sich mit Elfriede zum erstenmal im Gesellschaftsstück. Nicht mit vollem Gelingen. Elfriede kann in einer Konvenienzehe mit einem Gatten, der sie nicht kennt, ihren Jugendgeliebten nicht vergessen. Als sie den Abschiedsbrief des im fernen Osten vorzeitig Geschiedenen erhält, regt sich die Eifersucht ihres Gatten. Eine heftige Auseinandersetzung Beider führt fast zum Bruche. Je leidenschaftlicher sie aber das seit Jahren mehr Geahnte, als deutlich Empfundene aussprechen, desto besser lernen sie einander verstehen; desto näher kommen sie sich im Zeichen »der ernstlächelnden Gottheit: Pflicht«. Die eine und die andere Rede über den Wert der Ehe, das Los des Weibes lobt ihren Meister; auch die Gestalt eines alten Forschungsreisenden, der Europas Duell- und Ehrbegriffe munter abfertigt, ebenso die (mitunter nur allzu große) Schlichtheit, mit der die mehr zu novellistischem, als dramatischem Vortrag geeigneten Vorgänge dieses Familienbildes zur Anschauung gebracht werden, verdient Zustimmung. Dauernden Erfolg konnte das Stück, das im Grunde kein Schauspiel, sondern nur eine Reihe von Charakterskizzen in scenische Form bringt, auch in der Meisterdarstellung der Wolter, Sonnenthal und Baumeister nicht erringen. – Einzig in der Reihe der Dichtungen Anzengrubers steht der erste Aufzug der Tragödie Bertha von Frankreich (1872-74) da. Die Wahl dieses Stoffes aus der Capetingerzeit ist für den Poeten bezeichnend. Die Geschichte kennt einen gutmütigen, schwachen Fürsten Robert, der mit Bertha, seiner Verwandten im vierten Grade, vermählt, demzufolge Aussicht auf die Erbschaft oberburgundischer Länder hatte, die sonst dem Kaiser zufallen mußten. Papst Gregor V. befahl nun im Einverständnis mit dem Kaiser die Auflösung dieser den kanonischen Regeln nicht angemessenen Ehe und belegte den anfangs widerstrebenden König mit dem Bann. Sowie seine Vasallen Robert aber im Stich ließen, fügte er sich und heiratete Constanze, die Tochter des Grafen v. Arles, ein schönes, doch wildes und grausames Weib, das sein Leben fortan verbitterte. Aus Unterwürfigkeit gegen die Kirche ließ er die fränkischen Häretiker aufspüren und in schaudervoller Weise hinrichten. Als er starb, führte er den Beinamen des Frommen. Wir können wohl ahnen, was Anzengruber gerade an diesem Vorwurfe reizte. Ausgeführt ist nur ein Expositionsakt, der mit wenigen Meisterstrichen das Treiben barbarischer, gewaltthätiger, in einem Kloster-Refektorium zechender und raufender Großer und den Einzug des Kardinal-Legaten Damiano mit Constanze und dem Grafen v. Arles vergegenwärtigt. Die merkwürdigste Scene des Fragmentes ist aber das Zwiegespräch zwischen einem weltläufigen Laienbruder und einem weltentrückten, im Luerez belesenen alten Mönch Ambrosius. Reinere Gedanken, feinere polemische Spitzen und schönere Jamben als in Ambrosius' Preis der Heiden-Weisheit – »gar eine schöne Gottesgabe ist Vernunft« – sind dem Poeten kaum jemals geglückt. – Zwischen Stadt und Land spielt das Trauerspiel der Bigamie Hand und Herz (1873-74). Anzengruber tritt offen gegen die Unlöslichkeit der Ehe auf. Das Würfelspiel der Ehe hat ein rechtschaffenes Mädchen die Frau eines Tanzbodenkönigs werden lassen, der sie betrügt, entwürdigt, als Sträfling verläßt. In stiller Abgeschiedenheit haust sie fortan mit einem idealen Manne, der ihr nach jahrelangem Nebeneinandergehen Hand und Herz bietet. Sie gewinnt es nicht über sich, nein zu sagen, noch weniger, ihm ihre Vergangenheit zu beichten. Wie im Traum folgt sie ihm zum Altar. In innigster Harmonie lebt sie nun mit dem Gatten ihrer Wahl bis zur Stunde, in welcher der heimkehrende Unhold ihr Versteck erspäht. Auf seinen Rechtstitel als Eheherr pocht der katholische Görg, um sich wieder warm zu betten. »Ist denn nicht«, so fragt die Verzweifelnde, »mit dem Manne, der mich zu Haß und Abscheu treibt, das Sakrament entheiligt? gilt Euch die Ehe mit dem Manne des Herzens nichts?« Umsonst. Kirche und Staatsgesetz stehen auf der Seite des ehr- und schonungslosen Landstreichers. Tragisch, mit schuldig und unschuldig vergossenem Blut bezahlen die Liebenden ihren kurzen Glückstraum, büßen sie das Elend »verfehlter Satzungen«. Die Lösung ist eine grausame, wie das Problem, wie das grausame Gesetz und Leben selbst. Daß Anzengruber an dieses Werk vielleicht die sauerste Arbeit seines Lebens gewendet, würden uns (auch wenn man es nicht von ihm selbst gehört hätte) die Charaktere des Ammanns, des Bettelmönchs P. Augustin, von Paul und Katharina Weller, vor allem aber der geniale Görg, einer seiner merkwürdigsten Vagabunden, sagen. Görgs ungewöhnliche Gaunerphilosophie ist der Niederschlag eines ungewöhnlichen Lebenslaufes. Schlecht wurde er an dem Tag, da ein Fürst Schelmufsky den armen Eltern die verlorene Ehre seiner Schwester abkaufen durfte: »hoho, dachte ich, meint der, er sei hier auf der Welt überall zu Gast geladen, weil er mit goldenem Löffel zulangen kann? Nun, so wirst du auch kein Narr sein, sondern mit der ledigen Hand in die Schüssel greifen.«

Anzengruber hat genau gewußt, weshalb dieses Stück nicht durchgriff:

»Daß die Machwerke von Y gefallen,« so schrieb er Bolin, »ist kein Rätsel. Das liegt in dem heutigen Publikum, welches über ganz Deutschland gebreitet, vor jedem ungewöhnlichen Wort, vor jedem kecken Witz, vor jeder ungeschminkten Menschennatur erschrickt und sich in ungemeines Behagen hineingeschläfert fühlt, wenn man ihm schlafmützige Gesellen tragierend oder komödierend vorführt. Und dieses Einschläfern ist ein Amt, das seinen Mann nährt. Natürlich wird ein solcher Mann nicht nur in den unteren Ständen geachtet, der Erzphilister von dem anderen, sondern er wird auch von den hohen und höchsten protegiert. Er ist ja »so ein anspruchsloser Mensch,« er lebt nur von der »Kunst«, er vermengt diese nicht mit verderblichen Elementen, er treibt nicht Aufklärerei, nicht Sünden und Schwächen erklärende Psychologie, er – er thut eben nichts, gar nichts und das ist so schätzenswert an ihm. Er weiß: ein Theaterstück, das ist ein Ding, das auf dem Theater von Darstellern vorgeführt werden soll, und so schreibt er denn ein »Stück«, wo der Herr N. und die Frau X. so sprechen, agieren, und solche Dinge auszuführen haben, wie eben Schauspieler es gewohnt sind und das Publikum von denselben zu sehen gewohnt ist, ohne daß deshalb ein Mensch auf der weiten Welt so sprechend, agierend und solche Dinge ausführend anzutreffen wäre.«

Im Übrigen zog er still seine Straße: »nach Nachahmern«, so meinte er zu Rosegger, »hat es mich nie gelüstet. Nicht meine Art und Eigenheit, meine Richtung empfehle ich zur Nachfolge, nicht meinen Gang, sondern den Weg, den ich nehme.«

Ein stolzbescheidenes Bekenntnis für einen Dramatiker, dem in der Geschichte des deutschen Volksschauspiels vielleicht nicht einmal Hans Sachs und Ferdinand Raimund gleich kommen.


Der Erzähler.

Unser Dichter hat jederzeit in Dankbarkeit und Liebe auf Berthold Auerbach und J. P. Hebel als auf seine Vormänner und Pfadfinder hingewiesen. »Die aufklärerische Tendenz der von mir hochgehaltenen Auerbachschen Dorfgeschichten führte mich zuerst in Versuchung, dergleichen Konflikte und Charaktere auch für die Bühne zu verwerten« (so schrieb Anzengruber 1876 an Julius Duboc). »Mir erschien der Erzähler Auerbach (so meinte er 1888 mir gegenüber) wie ein Spielmann, der seine Weisen auf der Zither begleitet: mich drängte es, für das Theater mit vollem Orchester zu instrumentieren.« Die starke, unmittelbare Anregung, welche Vorwürfe wie »Ivo der Hajrle« und »Lucifer« dem Dichter des »Pfarrers«, des »Sündkind«, des »ungläubigen Huber« etc. gegeben haben, ist uns solcherart schriftlich und mündlich bezeugt. Als Kalendermann hat er sich, wiederum nach seinem eigenen Bekenntnis, vor allem an Hebel gehalten, dessen »Rheinischen Hausfreund« er jahraus jahrein immer wieder vornahm, dessen beste Stücklein er im Freundeskreise mit Behagen nacherzählte. Erfahren wir also von ihm selbst, wer ihm die Lippen geöffnet zum entscheidenden Wort, so wissen wir ebenso aus seinem eigenen Munde, »daß er nur Vorbilder, aber kein Vorbild, keine Schule, sondern nur Lehrer, kein Anlehnen, sondern nur ein frohes, freies Nachstreben kannte (s. S. 17).« So willig er sich in den Dienst der Zeit stellte, so bescheiden er sich in den Zusammenhang der geschichtlichen und litterarischen Entwickelung einreihen ließ: die »Originalität« seines Schaffens gab er niemals auf, konnte er niemals aufgeben, weil sie der Originalität seiner Naturanlage entstammte. Er sah die Menschen und die Dinge mit seinen eigenen Augen an. Ebenso scharf, ebenso eigentümlich, wie Jeremias Gotthelf, mit dem er, trotz der grundverschiedenen Tendenz, in der absichtlichen Art der Beweisführung, in der unwiderstehlich überzeugenden Charakteristik zusammentrifft. Ebenso gerüstet, die Leute mit lehrhaften, dramatischen Buß- und Gleichnisreden im Innersten zu packen, wie Pestalozzi in der mächtigen Bekehrungsgeschichte des Vogtes Hummel in »Lienhard und Gertrud.« Hätten wir es nicht aus fernem eigenen Munde, daß er keine Zeile von Gotthelf gelesen, bevor »Uli der Knecht« (wir glauben 1887-88) in der »Universalbibliothek« erschien; hätte er nicht immer wiederholt, daß nur die »Schwarzwälder Dorfgeschichten« ihn auf die Idee gebracht hätten, seine Lieblingsgedanken in Bauernstücken Fleisch werden zu lassen: wir hätten Art und Kunst dieses Enkels oberösterreichischer Bauern mehr noch als auf eine Wesens-, auf eine Wahlverwandtschaft mit den großen Schweizer Volksdichtern zurückgeführt. Bei den Söhnen des deutschen Mittelgebirges, in Hebels Wiese-Thal und Auerbachs Nordstetten, geht es milder, gesitteter, harmonischer zu, als bei den Kindern des Hochgebirges, dem Murtener Bitzius, den: Zürcher Pestalozzi, die es mitunter gleich Anzengruber lockt, in den Wildnissen unwegsamer Gegenden sich zurechtzufinden, in kaum zugängliche Abgründe der Menschennatur hineinzuleuchten. Ein geborener, von Gottfried Keller kurzweg genial genannter Epiker, wie Gotthelf, hat dabei ebenso wie sein Landsmann, der ebenso geniale »Erzieher der Kleinen und der Großen«, Pestalozzi, vor allem als Moralist wirken wollen. Beide haben deshalb manche Hauptauftritte ihrer Darstellung, menschenumwandelnde Begebenheiten – Pestalozzi seinen Vogt Hummel am Markstein, Gotthelf Dursli, den Branntweinsäufer im Heerbann der wilden Jagd – mit der höchsten, d. h. dramatischen Anschaulichkeit vergegenwärtigt. Anzengruber hat – von seinen ersten novellistischen Versuchen an – den geborenen Bühnendichter auch als Erzähler zu seinem Segen und zu seinem Schaden nie verleugnet. Homerisches, breites Ausmalen von Zuständen, Walter Scottisches Verweilen bei Schilderungen von Landschaften und Sitten war seine Sache nicht. Er suchte in der kleinsten Skizze mit größter Deutlichkeit einen bestimmten Charakter – in umfassenderen Dorfgängen und Romanen humoristische oder tragische Probleme herauszuarbeiten, die mehr als einmal nur der erste Entwurf oder die notgedrungene Verkleidung echter Schauspiel-Motive waren.

In den hochdeutschen, schlecht geschriebenen Geschichten seiner (von ihm selbst sogenannten) »prähistorischen Zeit« kommt durchweg der Dramatiker zu Wort, der aufregenden Fällen, außergewöhnlichen Charakteren nachgeht. Ein alter Bettler wird eines Nachts an einem abgelegenen Ort bei der Leiche eines eben Erschlagenen betroffen; die Geschworenen verurteilen ihn, der eine Busennadel des Ermordeten an sich nahm, als Mörder; er stirbt, noch bevor ihr Spruch rechtskräftig geworden; an seinem Grab betet jahraus, jahrein seine kleine Enkeltochter, die an seine Unschuld glaubt. Allerseelen spricht sie einmal ein Fremder an, der sich der Verlassenen annimmt, sie erziehen läßt und endlich heiratet. Nach Jahren glücklicher Ehe entdeckt die Ärmste, daß die Mordthat, die ihrem Großvater zur Last gelegt ward, von ihrem Gatten begangen wurde, der sich an dem Verführer seiner Schwester rächte. Ihr Mann endet als Selbstmörder, sie wandert mit ihren Kindern nach Amerika aus. Vorgeschichte und Entwickelung dieser Düsteren Grabschrift sind theatergerecht gedacht, das Testament des Mörders insbesondere gemutet wie die Lebensbeichte des »Meineidbauer« oder »Einsam«; wir hören, wie er zum Verbrecher geworden; wir sehen, wie ihn der freche Roué reizt, belügt, verhöhnt; er macht uns zum Vertrauten seiner geheimsten Gedanken über die Notwendigkeit, die vermeintliche Gerechtigkeit seiner Blutthat; er erfleht unmittelbar vor seinem freiwilligen Ende in echt Anzengruberischen Wendungen die Vergebung seiner Johanna:

»Durch Liebe gezüchtigt zu werden, ist zu herb, gerechter Gott! Verzeihe, wenn Du nicht, wie soll Gott verzeihen! Johanna, gemarterte Seele, Du einzig reiner, heiliger Punkt meines Lebens, das ist das erstemal in der Geschichte des Alls, daß der Mensch Gott mit dem Beispiel vorangeht. – Noch eins, warum ich mich nicht als Verbrecher stellte für Deinen unschuldigen Großvater? Ich möchte Dir zeigen, daß ich Dir nie ein Leides zufügen wollte; selbst als ich Dich nicht gekannt, ahnte ich in Dir mein Glück. Leb wohl! Es war doch entsetzlich kleinlich und thöricht, daß ich den rohen und nichtsnutzigen Burschen getötet und so viel Rechtschaffene elend dadurch machte, ohne die Welt gesäubert zu haben. O, wer es (das Unrecht) vertilgen könnte vom Licht!«

Ein »weltenschwerer« Seufzer hebt die Brust der Witwe, als sie diesen letzten Brief ihres Gatten liest; ihr Beichtvater aber spricht angesichts der Grabschrift ihres Großvaters als Chorus das Schlußwort:

»O, arme Menschheit, löschtest du doch von dieser, wie von vielen steinernen Tafeln, welche die Gräber der Vergangenheit drücken und quälend in unsere Zeit hineinragen, deinen Spruch und schriebest: Alles ruht in Gott und sein ist das Gericht! Amen!«

Ein Brief, der tötet (aus den Tagebuchblättern eines Komödianten) ist die zweite dieser Jugendnovellen betitelt. Ein verkommener, von einer Schmiere davongejagter Schauspieler erzählt im Wirtshaus Kameraden und Spießern, wie er so elend geworden. Er hat in wilder Ehe mit einer Sängerin gelebt. Der Intendant einer Hofbühne, an der sie gastieren soll, weiß ihn zu bereden, ihr vor ihrem Debüt zum Schein einen Abschiedsbrief zu schreiben; der jähe Schreck, so meint der nichtswürdige Hofmann, werde erst ihre volle Künstlerschaft zur Entfaltung bringen. Das Mittel wirkte: nur allzugut. Die Empörte verschwindet spurlos. Nach Jahren begegnet ihr der Komödiant zufällig wieder. Sie ist eine vollendete Künstlerin, aber auch eine vollendete Buhlerin geworden, die Engelstein durch ihre Härte zum Selbstmord treibt. Die Expositionsscene, in welcher der gekündigte Mime sein Mißgeschick erzählt, die Auftritte mit seinem »alten Mütterlein, das im kalten, winterfrostdurchhauchten Gemach im Bette unter wollenen Decken zusammengekauert sitzt«, die Scenen im Boudoir der Sängerin, scheinen geradezu aus einem Stück herausgeschnitten. – Nicht viel anders, als das Scenarium zu einem Rührstück giebt sich auch die Novellette Ein Unheimlicher. Ein junger, reicher Kaufherr fühlt sich vor jeder bedeutsamen Wendung in seinem Leben beirrt und gehemmt durch einen alten Juden. Als der Störenfried eines Tages wiederum seinem Wagen in die Quere kommt, gerät er unter die Räder seiner Kutsche. Bei dem Anlaß erfährt der Patrizierssohn, daß der vermeintliche, lästige Widersacher ein Ausbund von Tugend, der treueste Freund seines Vaters gewesen, der in Tagen der Gefahr die Ehre seiner Firma gerettet und als Schutzgeist selbstlos über seinen Schicksalen gewaltet habe. Tiefbeschämt eilt der vornehme Jüngling zu dem kranken Juden. Er bittet ihm nicht nur alles Unrecht ab, er fragt ihn auch, ob er ihm nicht die Hand seiner Rebekka, einer imponierenden, orientalischen Schönheit, die er von Kind auf gekannt, schenken möchte.

»Das wird nicht gehen«, erwidert Vater Aron, »übertreten zu anderen Glaubend wozu da die Umständ'? es muß doch sein eine gewaltige Idee, die mit tausendjähriger Überlieferung bricht. Unsere Apostaten, die mit süßer Zunge alte Verheißungen in neue kehrten, sie haben im Sturze ihres Abfalls die Welt belehrt und umgebaut und diese hat sie dafür geehrt, wie den Spinoza und Andere und angebetet wie Einen. Aber wenn die«, er deutete auf Rebekka, »abfiele von dem Glauben ihrer Väter, möglich«, sagte er mit feinem Lächeln, »daß sie auch möcht' angebetet werden, doch gäbe es der Welt nichts als ein Ärgernis.«

Auch die zürnende Diana behandelt einen novellistischen Stoff theatermäßig. Ein Maler sieht auf einem nächtlichen Ritt ein badendes Weib, das er als Urbild seiner Diana verewigt; die Verwandten und Verehrer der Dame fordern ihn; er stellt sich zu einer ganzen Reihe (gegen alle Kartellregeln verstoßender) Zweikämpfe; das gekränkte und doch verliebte Mädchen sieht aus einem Versteck dem Ausgang des Duells zu, in welchem der Künstler fällt. Von all diesen Erstlingen hat Anzengruber nur der »einfachen Dorfgeschichte Die Polizze« Aufnahme in seine Werke gegönnt. Ein blutarmer, vom Vormund seiner Frau lang und arg gepeinigter Bauernbursche soll plötzlich für den Erkrankten einen Arzt aus der Stadt holen. Das Leben des Alten hängt einzig und allein von dem rechtzeitigen Eintreffen des Doktors ab: wenn Hans zögert oder nur nicht eilt, stirbt sein Quälgeist und er bekommt die Polizze herausbezahlt. Einen Augenblick, aber auch nur einen Augenblick tritt die Versuchung an den Braven heran – dann wirft er die verfängliche Urkunde in das Feuer. Der Alte wird gerettet, erfährt von der Selbstüberwindung des Verhaßten und geht in sich. So unscheinbar die Erzählung an sich ist: sie wird bedeutsam durch die Wahl des Stoffes, der Anzengruber zum erstenmale – 1868 – auf ländlichen Boden führt.

Jahre verstrichen, in welchen der Dichter weder für eine Zeitschrift, noch für seine Tischlade Geschichten schrieb. Nach den durchschlagenden Erfolgen seiner ersten Bauernkomödien nahm er aber, anfangs als Neben-, späterhin als Hauptarbeit, seine Dorfgänge wieder auf. Sie bestehen neben den dramatischen Schöpfungen Anzengrubers, wie die Handzeichnungen eines großen Malers neben seinen Fresken und Tafelbildern. In sparsamen und doch ausgiebigen Umrißlinien stellt er Einzelgestalten vor uns hin, die als tragische oder humoristische Charaktere, als Träger oder Episoden eines Bauernstückes, in allen Eigenheiten ihrer äußeren Erscheinung, ihrer Denk- und Redeweise schaubar und hörbar vor uns lebendig werden. So die »verrückte« Gänseliesel, die als halbes Kind einem Burschen, der sie zum besten hält, zu Willen ist als »aufrichtige Dirne, die auf der Welt von nix mehr weiß, als von ihrem Schatz«; sein Verrat macht sie nicht irre; als er aus dem Krieg nicht heimkehrt, glaubt sie ebensowenig an seinen Tod: –

»unser Herrgott ist ein Mann«, sagt sie zu einem Marienbild, »der versteht unsereins nicht so gut, man kann ihm auch nicht alles so sagen, wenn ich mit dir reden könnt', möcht vielleicht noch alles gut werden. Ist's doch kein größeres Wunder, wenn der Tote wieder lebendig würd', wie daß der lebendige Mensch kann sterben! Hättest nichts dagegen, käme ich heut noch zu dir in die Kirche.«

Am nächsten Morgen findet sie der Meßner bewußtlos am Boden der Kirche, das seiner Prachtgewänder entledigte Muttergottesbild im Arm; da er sie aufrüttelt, hat die »Übergeschnappte« blos das grasse Wort: »Die ist auch nur von Holz.« Ebensoweit über die bloße Genrefigur greift der bezeichnend individualisirte Huber hinaus, dessen grobliniges Gesicht aussah, als wär' es nur so im Rauhen aus Sandstein gehauen und der Steinmetzgehilf mitten unter der Arbeit abgerufen worden. Nach dem Tod seiner Bäuerin geht er auf den Kirchhof, um nach einer passenden Grabschrift auszuschauen. Dabei wird er, eine der christgläubigsten Seelen des Kirchspieles, auf ganz unbegreifliche Widersprüche geführt. Einem Leutschinder und Kornwucherer haben sie auf den Denkstein gesetzt:

»Lächelnd blick ich auf die Meinen von dem Himmelreiche nieder.« »Kam' so Gesindel ins Himmelreich, möcht sich ja kein ehrlicher Mensch hineinverlangen. Was das für ein Unwesen ist! Straf' und Lohn kann doch nur nach nach'm Urtel anheben. Wär einem das schon zuvor durch die Höll und den Himmel gewiß, dann wär das jüngste Gericht unnötig und hielt man bis dahin ohne Leib aus, so brauchte es ja auch keine Auferstehung.«

So kommt er von Ketzerei zu Ketzerei, bis er auf einer zerschellten Steinplatte mühselig die Verse entziffert:

»Von der Wiege nach der Bahr sein wir All von Einem Orden, was ich einst gewesen war, bin ich jetzo wieder worden MDCLXXXVIII.« »Leben wir halt«, sagt er dann zur Sonne. »Thu du am blauen Himmel oben dein Tagewerk und ich da herunten auf der Scholle. Wird schier recht sein. Ehrlich verbleib ich und brauch dazu kein Gebot.« »So ward der Huber ungläubig und der Weg, auf dem er es wurde, war ganz sein eigener. Seiner Philosophie läßt sich wohl schwerlich das Wort reden, denn es war wohl gar keine und man muß nicht immer sagen, es philosophiere einer, wenn er weiter nichts thut, als sich Gedanken machen und beim Volke muß mau das schon gar nicht sagen, wenn es denn doch mitunter denkt, was ja auch vorkommt.«

An Kontrastfiguren zu diesem Zweifler im Bauernrock fehlt es nicht: da ist der unvergleichliche Sinnierer, der nicht bloß wissen will, warum das Wasser den Berg hinunter und nicht umgekehrt hinaufläuft? warum das Eisen sommers in der Sonne so heiß, im Winter trotz derselben so kalt sein mag? sondern eine reiche Bäuerin, die ein Aug' auf ihn geworfen, zu seinem Unheil fragt, warum sie »auch so ein bartet's Ding sei, wie die alte Hex von Zigeunerin, die er im Vorjahr gesehen« und ein andermal die Gunst einer alten Erbtante verscherzt, als er sie, die angesichts eines anderen, studentischen Stadtneffen über die Kinderlosigkeit ihrer zwanzigjährigen Ehe klagt, daran erinnert, daß »die Frau Taut in ledigen Stand …« Da ist der gottüberlegene Jakob, der acht Heiligen große Wachskerzen gelobt, wenn sie ihm seine kranke Kuh wieder gesund machen wollen, dann aber das geheilte Tier einem reichen Großbauer verkauft, der hinterdrein auch für die Gelöbnisse aufkommen soll, die »auf der Kuh liegen geblieben, weil halt zu Anfang der liebe Herrgott nit hat daran mögen und er ihn erst hat bemüssen müssen.« Da ist Ein Mann, den Gott liebt, ein Wucherer, Haustyrann und Totschläger, dem alles hienieden herrlich geriet; er nimmt es denn auch, weil der liebe Gott es mit seiner Gesundheit, seinem Vermögen und seiner Familie so gut meint, sehr genau mit Beicht-, Bitt- und Kirchgängen und will schlechterdings von diesem Leben nicht lassen. Spricht ihm der Pfarrer einmal vom Jenseits, dann hört er:

»bis zum Schluß der Rede des Hochwürdigsten zu: dann aber reckt er die Rechte mit einer ganz unnachahmlichen Gebärde von sich, als wäre sie der ausgereckte Arm eines verfallenen Wegzeigers, der ins Blaue weist und dabei sieht der alte Sünder selber wie der fleischgewordene Zweifel aus.«

Da ist die läppische Lotteriesepherl, die angeblich mit Gott hadert, weil ihre Ziege ihr einen Riskonto-Zettel weggefressen und ihr Widerspiel, der Holzknecht Valentin, der Gott verloren an dem Tage, da er seinen Buben drei Thurm hoch überm Thal an einem Stammerl Gestrüpp hängend findet und keinen Strick von anderthalb Klafter Länge, keine Hand vom Himmel herablangen sehen kann. Da ist die fromme Kathrin, die den doppelten Verrat ihres Schatzes und ihrer Schwester damit vergilt, daß sie den Axthieb, den der Vater der verführten Ploni vermeint, auffängt und ihre Mitgift hergiebt, nur um die anderen glücklich zu sehen; zum Lohn für ihre Entsagung sitzt sie zuletzt im »armen Leut-Haus«; heiter, stillbegnügt, duldsam auch gegen die Andersdenkenden: denn fromm kann nach ihrer Meinung »auch der Ungläubigste sein, wenn er friedsam ist, denn friedsam nennt man ja auch fromm.« Alle Spielarten echter, kranker und falscher Frömmigkeit, Typen und Schicksale, die zum »Meineidbauer«, dem »Dusterer«, dem »Wurzelsepp« und anderen das religiöse Problem streifenden Leuten und Stücken Anzengrubers stimmen, begegnen uns also in den »Dorfgängen«. Sie ergänzen und verstärken in Gehalt und Gestalt den Eindruck seiner dramatischen Schöpfungen; sie geben gute Aufschlüsse auch über die Technik des Meisters, der uns seine Leute am liebsten durch ihre eigenen unbefangenen Reden oder naturgemäß veranlaßten Selbstbekenntnisse verdeutlicht.

Neben der Glaubensfrage sind es insbesondere wieder die Schicksale katholischer Geistlicher, welche der Dichter auch als Erzähler behandelt. Das erstemal im Einsam', der Tragödie des Pfaffenkindes, den der eifernde, ahnungslose Vater zuerst »aus dem säuischen Durcheinander dieser Welt« in das Zuchthaus und hernach aus seiner Felsluck'n in den Tod jagt. Diesen Stoff behandelte Anzengruber als Erzählung nur, weil er ihn nicht dramatisch behandeln durfte: denn es lag lediglich an der Zensur, daß er den grellen (nach meinem Dafürhalten allzugrellen) Vorwurf nicht auf die Bühne bringen konnte. Das anderemal im Sündkind:

»Es ist mehr Lebens- und Charakterbild, als fortschreitende Erzählung, aber von großer, einfacher Energie der Schilderung, von tiefer einschneidender Wahrheit und Kraft der Empfindung,« urteilte dazumal nach einer Vorlesung des Dichters Josef Bayer, sonst kein unbedingter Parteigänger Anzengrubers. »Das Sündkind ist ein uneheliches Kind, das die Verirrung der Mutter dadurch büßen soll, daß es dem geistlichen Stande gewidmet wird: »in die Kutte hat er müssen« (so sagt sein älterer Bruder, der Erzähler) »die hat freilich größere Säck wie eine Bauernjoppe und da geht alle fremd Sünd hinein«. Was für Unheil daraus entsteht bis zu dem kläglichen Sterben des armen Pechleitner-Poldl, das erfahren wir Zug für Zug: es ist ein ganzes Trauerspiel in den einfachen holzgeschnitzten Rahmen einer Bauernnovelle gefaßt. Die Erzählung erscheint fast wie ein Nebenschößling oder Seitentrieb des Pfarrers von Kirchfeld. Die Schilderung des kleinen, kräftig herausgearbeiteten Meisterstückes ist voll der ergreifendsten Details: eine tiefernste, fast schonungslose Lebensauffassung geht hindurch – wir möchten sagen: eine harte Innerlichkeit der Empfindung. Doch wo das Gemüt heraufquillt, da überkommt uns ernster Schauer und Rührung zugleich. Was der totkranke junge Pfarrer seinem älteren Bruder auf dem Sterbebette zu sagen hat, gehört zu dem ergreifendsten, was man lesen und hören kann. Und wenn er vorher um Mitternacht die Kanzel nachtwandelnd besteigt, und sich ein wenig hinüberbeugt, »als wären die Kirchstühl' unten voll Leut und er sie erst wollt' mustern«, da fragen wir uns unwillkürlich: Wo haben wir solche Töne und Wendungen schon vernommen? Und wir freuen uns dann recht herzlich der Gegenwart eines Dichters, der uns bei manchem roh Zugehauenen und Seltsamen so viel tief Eigentümliches, an der Quelle des echt menschlichen Geschöpftes zu sagen weiß.«

Und wie in den Stücken fehlt es auch in den Dorfgängen nicht an »jubeltollem« Humor: an ganz harmlosen, an den mittelalterlichen Schwank gemahnenden Schnurren wie die Überlistung des Teufels durch einen » Schatzgräber«, dem er zur Buße dafür unversehens ein böses Weib anhängt; die derbe, von saftiger Sinnlichkeit durchtränkte Posse des Weibertausches in Nit geh'n than that's; die (ursprünglich als Virtuosenstück für eine halb gesprochene, halb gesungene Einlage der Gallmeyer geschriebene) echt künstlerische Humoreske: Für d' Katz; die (vermutlich von Gottfried Kellers gerechten drei Kammmachern angeregte) schwänkige Geschichte: Wenn einer es zu schlau macht; die ins Moderne und Frauenzimmerliche übertragene Geschichte vom Wunschhütlein: Annerl, Hannerl und Sannerl.

Eigen hat Anzengruber stets auch die Kriminalgeschichte behandelt. Neben ganz herkömmlichen, wie die Befreiung eines Unter schwerer Anklage fast Zusammenbrechenden, finden sich bei unserem Poeten »b'sundere Fäll« und seltsame Leut'. Daß unschuldig Verurteilten volle Genugtuung gebühre, hat er in Wissen macht – Herzweh (dem Urstoff des »Fleck auf der Ehr'«) mit Nachdruck begehrt. Weit anziehender war ihm aber stets die Erforschung der Frage, wie die Kinder des Volkes zum Verbrechen kommen und die heiklere, ob und wie weit der gerichtlich gestempelte Verbrecher denn auch in Wahrheit allzeit und allein alle Schuld trage? In der »Räubergeschichte« des Hoisel-Loisel lernen wir einen Stammgast des Evidenzblatt kennen, dessen erste Abstrafung zehn Jahre Zuchthaus wegen eines »versuchten Raubes« waren; dazumal aber hat der Bauernbursch der Klosterbäuerin (zum Schein) im Wald ein goldenes Kreuz vom Hals gerissen aus demselben Grund, aus dem sich der Held von Gustav Freytags »Valentine« als Dieb verhaften läßt. In seinen alten Tagen denkt der nicht so opfermutige Bauernbursche weniger romantisch: er will sich ausfüttern lassen von dem reichen Weib, dessen Frauenehre er gerettet. Nur dem klugen, braven Zureden der Botengänger-Traudel gelingt es, ihn von seiner Freigeisterei abzubringen, »daß wir uns um kein Herrgott und kein Teixel zu kümmern brauchen, wie sich kein Herrgott und kein Teixel um uns kümmert« mit der schlichten Gegenrede: »wann's nach'm klein winzig Neichtl Zeit all's miteinander vorbei is, da strapazier ich mich nit erst und zahlt sich auch nit aus, daß mer bös und schlecht is.« Ein Charakterkopf, den man kaum wieder vergißt, ist auch Hartinger's alte Sixtin, eine abgestrafte Kindesmörderin, die ein gutmütiger Bauer als Magd in sein Haus ausnimmt. Als eines Abends sein junges, bildschönes Töchterl nahe daran ist, der Versuchung eines liederlichen »Gasselgehers« zu erliegen, erzählt ihr die Alte, wie sie in das Elend geraten:

»zu was wär' denn all der Jammer in der Welt und zu was erlitten wir ihn denn, wenn es nicht einmal zu einer Lehr und Mahnung für andere gut wär'?«

Daß auch der findigste, verschwiegenste Übelthäter überlistet werden kann, beweist Der Verschollene. Wie in Hartingers »alte Sixtin« das uralte Motiv der Kindesmörderin, ist hier das Motiv vom pfiffigen Polizeiagenten überraschend umgewendet. Er saßt den trotzigen, freigeistigen Mörder bei seiner Eitelkeit, erzählt ihm, daß ein anderer, lange nicht entdeckter Verbrecher durch Gespenstererscheinungen dergestalt geplagt wurde, daß er sich plötzlich selbst stellte und fängt ihn, indem er ihn von Bekenntnis zu Bekenntnis verleitet, nach der ersten Prahlerei: »Pah, es treibt sich wohl mancher in der Welt herum, der seinen Mann auf dem Gewissen hat und den es nicht mehr beschwert, als hätt' er eine Fliege erschlagen.« Eine der tiefgreifendsten (von Anzengruber lange als dramatischer Vorwurf gehegten) Geschichten ist Die Heimkehr. Der Tritz Poldl hat den Scheibner Franzl mit einem Stein zwei Streich übern Kopf versetzt für Zeit und Ewigkeit. Zu lebenslangem Kerker verurteilt, wird er nach der Geburt des Kronprinzen begnadigt. Bevor er ein neues Leben beginnt, drängt es ihn, den Eltern des Mädchens, dessentwillen er die That begangen, die Erklärung seiner Handlung zu geben. Er hat die Viktel geliebt und gewußt, daß der Andere sie in die Schand' gebracht, auch gewußt, daß sie sicher mit dem noch Ungeborenen aus der Welt gehen würde, wenn ihr Verführer sie im Stich ließe. Da hat er den Gedanken gefaßt: »Wenn den Malefizlumpen unversehens der schönste Teufel holet, dann hätt' d' Viktel kein Anlaß zu ihr'm sündig' Vornehmen.« Er stellt den Verführer: redet ihm »z' Herzen« und erst, als der Andere nur Hohn für die Verratene, Schimpf für den »Kupplerkerl« bereit hat, giebt er ihm sein Teil. Im Ton und Vortrag ist die (ganz scenisch gedachte und geführte) Geschichte des Tritz-Poldl bester Anzengruber. Breiter ausgeführt ist die nach den Briefen an Lipka schon 1865 geplante Geschichte vom Diebs-Annerl, die ihr Schatz sitzen läßt und erst heiratet, nachdem er als Stelzfuß aus dem Krieg heimkehrend allerorten abgewiesen wird. Der Auftritt, wie Diebin und Krüppel wieder in Wut und Schmerzen zu einander kommen, ist einzig. Ebenso die Schlußscene, in welcher der Stelzfuß der Rückfälligen, als sie dem in ihrer Hütte vorsprechenden Pfarrer die silberne Dose entwendet, das Kind entführt, bis er weit draußen auf der alten Richtstätte mit dem Wehruf zusammenbricht: »Hol's, von wohin Du's noch bringst.« Wie immer und überall vertritt der Dichter auch hier

»das Wirkliche gegen das Eingewöhnte: man muß den Schlüssel suchen zu dem menschlichen Herzen und was für dunstige Räume ohne Luft und Licht, für Grüfte halbfauler Erinnerungen, für Ställe angeketteter toller Leidenschaften wir dabei auch erschließen mögen, wir lernen doch verstehen und Verständnis ist die beste Münze, die wir eintauschen können; sie ist nicht gang und gäbe, wie andere auf Zeit und Weile, sie kursiert ewig.«

Ein Nachtstück, das Anzengruber Die Herzfalte betitelt, scheint mir denn auch dem Namen, wie der Art nach besonders bezeichnend für sein Wesen. Einem alten, reichen, tyrannischen Bauern, der seine Tochter einem Nichtswürdigen preisgegeben, wird der einzige Sohn erstochen. Da er nun im Schmerze fiebernd hindämmert, da ihm Gedanken und Bilder durch das Gehirn schießen, »jeder Gedanke ein Schrei, jedes Bild eine Wunde«, da werden ihm jählings »die Blicke recht ins Innere gekehrt«. Zwei Mägde erzählen arglos vor dem Fenster, wie es bei der Rauferei herging: »I leid amal nit«, hat der Widerpart des Bauernsohnes gemeint, »daß Du mit meiner Schwester 's selbe Spiel treibst, wie Dein Vater mit meines Vater seiner.« Und damit wird dem Alten »herausgepreßt, was in angstvoller Scheu im tiefsten seiner Herzfalte sich noch versteckt halten will.« Er hat eine Dirn nicht nur verführt, zu Tode gehärmt. Er ist auf ihren letzten Wunsch an ihr Sterbebett getreten. Als sie bei seinem Anblick neu auflebt, erfaßt ihn die Sorge, ob seine Stimme, seine Freundlichkeit ihr am Ende nicht die Gesundheit wiedergebe? Will sie nicht hin werden? so fragt er sich. Auf dem Heimweg beschäftigt ihn der Gedanke, wie er es anstellen werde, die Gleichgiltige nochmals abzuschütteln. Und leicht wird ihm erst ums Herz, als er das Zügenglöcklein läuten hört. Und nun wird ihm heimgezahlt, daß

»ihn einstmals das Sterben eines Menschen erfreut: so begehrlich der nach seinem Leben, warst Du nach seinem Tode. Damals stand neben dem Nachtkästchen der Sterbenden ein Fläschchen mit krampfstillenden Tropfen, von denen sie sagte, wenn sie fehlten, wäre es wohl mit einemmale aus und vorbei. Dir zuckte die Hand nach dem Fläschchen, Du hieltest es schon mit Deiner Faust umschlossen …«

Ja wohl! Anzengruber kennt bis in die verborgensten Herzfalten feine Leute. Harmlose, nach kurzem Mißverstehen einander findende Liebesleute wie den starken Pankraz und die schwache Eva, Uralte, die sich – Grünes Reis unterm Schnee – erst in Not und Verzweiflung an Jugendzeit und Jugendglück erinnern. »Unsterbliche Steinköpfige«, wie die Örtler (zu deren seltensten, bestgeratenen Exemplaren vielleicht der Dichter selbst gehört); Optimisten und Pessimisten, »Nerven- und Muskelmenschen«, von denen Anzengruber in der Begegnung zu melden weiß. Die vom Verhaßten widerwillig verführte Liesel, die an den Teufel glaubt. Frischlebendige und längst überlebte, wie den hundertundzwei Jahre alten Greis, dem der Poet anfangs meint, eine Weltgeschichte im Kleinen abfragen zu dürfen, bis er erfährt, der Wundermann höre und verstehe gar nichts mehr – eine Entdeckung, die als einzigen Fund die Erkenntnis zeitigt: »Es kann wohl einer länger leben, aber mehr erleben kann Keiner«.

Und weil Anzengruber seine Volkskreise so gut kannte, durfte er sich mit Hebel auch vermessen, »des Blinden Auge zu sein«. Als Kalendermann weiß er nicht nur etwas zu erzählen, sondern auch etwas zu sagen. Er blättert die Kalender im Herzinnersten der Menschen auf, hilft gegen üble Gewohnheiten durch Abgewöhnen, fragt nie: warst du ein guter unierter oder nicht unierter Grieche, Katholik, Protestant, Jude, Türke oder Fetischanbeter, sondern immer nur: Warst du ein guter Mensch? verschmäht hier wie anderswo die Gelegenheit, landläufigerweise Aufklärerei zu treiben, versteht sich ab und zu wohl auch zu farblosen Konzessionen, lachenden Lügen: in Scherz und Ernst freilich allezeit mit Finessen, mit »sakrischen Finessen«. Alle Töne schlägt er an. Daß weder ein Säbel-, noch ein Kuttenregiment die Menschen fördere, sondern einzig und allein Milde, Duldsamkeit, Volksgefühl, erzählen die Drei Prinzen mit einer Feinheit, die an Voltaires Contes, mit einer Wärme und Schalkhaftigkeit, die an Hebels beste Stücklein erinnert. Daß jeder von uns schon einmal seinen Herrgott geprügelt habe, exemplifiziert der Schmierendirektor – in »Wie mit dem Herrgott umgegangen wird« – »der sich stets am Kruzifix vergreift, wenn ihm ein Regen die Einnahme verdirbt. Daß Aberglaube gelegentlich am besten durch Aberglaube wettgemacht werden kann, lehrt der lustige Schwank: Treff Aß. Das Sprichwörter auch Lügenwörter sein können, zeigt die tragische Geschichte von bösen Sprichwörtern. Daß Unverstand auch Zu fromm sein kann, erfahren betrübt gescheite Pfarrherren. Daß und wie man den Kalenderlesern sein Bestes und Geheimstes sagen soll, hat Anzengruber in 's Moorhofers Traum und vor allem in den Märchen (seines Neusonntagskindes) des Steinklopferhanns beherzigt, die uns mit den anderen Phantasiestücken (Jaggernaut, Teufelsträume) noch seine Weltanschauung werden deuten helfen.

Weniger glücklich, als unter den Dörflern ist der Erzähler Anzengruber unter den Städtern. Sowie er hochdeutsch redet, wird er in seiner Empfindsamkeit (man muß es lesen, um es zu glauben) gelegentlich süßlich, altjüngferlich; in seinen Grotesken oft allzukraß; in seinen Wiener Typen, die im Volksstück so trefflich gerieten, mitunter geradezu abstoßend. Seine Genrebilder Bekannte von der Straße (Leipzig, Albrecht, 1881) hat er denn auch bei der Anordnung seiner ersten Gesamtausgabe ausgeschieden. Ebenso die (in Allerhand Humore, Leipzig, Breitkopf und Härtel, aufgenommenen) Bilder aus dem Leben einer großen Stadt. Daß die eine und die andere Gestalt anheimelt, daß er einen abgewirtschafteten Kammmacher, der im Prater als Wilder von Profession lebendigen Tauben die Hälse abbeißen muß, so humoristisch verfestigt, wie ein herabgekommenes Volkssängerpaar in Unsere kleine Enttäuschungen; daß er hübsche novellistische Anläufe in der Freundin nimmt (eine von ihrem Jugendgeliebten Verschmähte, die als alte Frau den von einer Epidemie Erfaßten pflegt); daß er echte Verderbtheit in Muttersorge und echt wienerische Gedankenlosigkeit in feiner (übrigens weitaus besten, hochdeutschen) Novelle: Sein Spielzeug zu schildern weiß, verrückt nicht den Kernpunkt, daß niemand Anzengruber einzig und allein auf seine Wiener Geschichten hin die »Dorfgänge« oder »das Vierte Gebot« zutrauen würde. Der große Wiener Roman, mit dem sich der Dichter jahrelang trug, Sumpf, hätte uns wahrscheinlich mit seinen Vorstadtfiguren und Dialektreden einen ebenso überraschenden Fortschritt gebracht, wie die Dorfromane: Der Schandfleck und Der Sternsteinhof.

Der Schandfleck ist in seiner Ur-Form (1876) nicht viel anders, als ein Volksstück, das seines kühnen Vorwurfes wegen – die Katastrophe streift einen Incest – von vornherein für die Bühne unmöglich war. Die Schilderungen von Bauernhof, Mühle und Landschaft nehmen sich nicht anders aus wie knapp gehaltene Angaben von Theaterdekorationen oder (wie auch in Gänseliesel, Sternsteinhof, Einsam, Märchen des Steinklopferhanns etc. geübtes) Dickensisches Spiel mit der Natur. Da erheben sich Hügel, die den Versuch machen, eine Gebirgskette aufzubauen; ein andermal läuft die breite Straße neben gelben Kornfeldern hin, bis ihr die Augen wehthaten u. dergl. Unarten mehr. Im Aufbau der Handlung können wir genau die Abteilungen der Akte, die Unterabteilungen der Verwandlungen, die Rollenfächer, Hauptcharaktere und Episoden verfolgen. All diese Äußerlichkeiten würden uns aber nicht weiter stören, wenn die kühn gegriffene, bis in die erste Hälfte so stetig und mächtig wie in Goethes »Wahlverwandtschaften« emporwachsende Fabel nicht jählings und geradezu unbegreiflich in »städtischen« Anzengruber umschlagen würde. Die Bäuerin Reindorfer hat sich mit dem herumstromenden Müllerssohn Florian vergessen. Ihr Mann vergilt die unverdiente Kränkung nicht an dem schuldlosen Kinde, das er nicht nach dem Willen der büßenden Mutter in das Kloster schickt, sondern wie sein eigenes aufzieht. An seiner Statt greift das Schicksal rächend ein. Der Sohn des Ehebrechers erglüht für das Sündkind und der Tag des vermeinten höchsten Liebesglückes, die Freiwerbung der Mutter Florians bei Vater Reindorfer, bringt Schuldigen und Schuldlosen furchtbares Erwachen. Der Liebhaber, der mit eins zum Bruder herabsinkt, sieht Zukunft und Vergangenheit gleicherweise verekelt. Verzweifelnd an Gott und Welt endet er nach wüstem Selbstverlieren in heldenhaftem Aufschwung als Kämpfer für die Unschuld eines Kindes gegen die Rohheit eines wilden Gewaltmenschen. Die Leni aber, Anzengrubers lieblichste, mildeste Frauenfigur, bewährt das Wort des Dichters: »ein Weib ist da wie von Lehm und der Mann wie von Stein und worunter sie noch weichen kann, darunter zerbröckelt er.« Sie nimmt die Prüfung auf sich, geht aus der Heimat in die Stadt, widmet alle unterdrückte Zärtlichkeit dem Töchterchen eines Witwers, der, von so viel Treue und Selbstlosigkeit gerührt, dem Naturzauber dieses Landmädchens nicht widerstehen kann und sie zu der Seinigen macht. Ihrer Cordelia-Seele ist es noch vergönnt, dem alten, von seinen leiblichen Kindern mißhandelten Reindorfer alle Gutthat durch reinste Liebe zu vergelten. Nur er, ihr Ziehvater, gilt ihr als Vater. Da nach Florians Tode ihr natürlicher Vater sie mit der Bitte antritt, ihm als Hausgenossin und künftige Erbin auf sein reiches Anwesen zu folgen, weist sie ihn ab. Nicht mit denselben Worten, doch aus denselben Gründen, aus welchen d'Alembert nichts von seiner reichen Mutter wissen wollte, die ihn als Säugling aussetzen ließ, sondern seiner Pflegemutter, einer Glaserwitwe, treu blieb. Leni beglückt und verklärt Reindorfers Alter: der Schandfleck ist zum Ehrenpreis geworden. Mit Unrecht hat Auerbach die Fabel französisch überbeizt genannt: mit Entschiedenheit der Dichter Julius Dubocs Einwand bestritten, daß er die Heldin nicht in dieser Situation, oder die Situation nicht mit dieser Heldin vorführen durfte. Vergl. Beilage D. Mit gewichtigen Gründen wurde dagegen die Durchführung des zweiten Leitmotivs von der Kritik angefochten. So lieblich die Kinder- und Liebesscenen auf dem Lande; so gewaltig die tragische Enthüllung des drohenden Incestes vorbereitet und entwickelt wird; so genial beruhigend und überleitend das Zwischenspiel des als Chorus wirkenden Fuhrmanns auf dem Wege in die Residenz; so markerschütternd (wenn auch »tableauartig«) der Zweikampf und die letzte Fahrt Florians: die Erlebnisse Lenis in Wien, die hochdeutsche Liebeswerbung des Witwers bei dem Kindsmädchen und dem alten Reindorfer, die städtischen Gestalten des Wortknausers Mittrowitzer und von Tante Helene vertragen und verdienen nicht schärfere Beurteilung. Wir haben (o. S. 129) erzählt, welches Verdienst sich Professor Bolin um den Dichter und seine Schöpfung erworben, indem er ihn zur Umarbeitung des Schandfleck vermochte. Wir sehen dabei von der Einrahmung der städtischen Motive in der Kameradin (Dresden, Minden, 1883) ab. Der Dichter taufte da die Leni in eine Brigitte um und fügte eine (recht gewöhnliche) von der ursprünglichen abweichende Verwickelung und Lösung hinzu. Das Dorfmädchen, ein Mündel des Bürgermeisters, verläßt die Heimat sich zuleide, andern zuliebe, um die Ehre der Haustochter, einer »verkündeten« Braut, zu retten. In der Residenz gewinnt sie Hand und Herz des Witwers, dessen Kind sie pflegt: seine Werbung bringt auch nach allerhand Wirren die Lösung des Geheimnisses. Wirklich gut in der »Kameradin« ist nur das erste Kapitel – die Fuhrmannsgeschichte, die Anzengruber aus der Ur-Form des Schandfleck in die Stadtgeschichte herübernahm: sie hätte sachlich und künstlerisch weit besser zu dem umgearbeiteten, nun durchweg unter Bauern spielenden Dorfroman Der Schandfleck (Werke, Band II, Cotta) gepaßt. Die erste Hälfte des Buches stimmt Buchstab für Buchstab zu dem alten »Schandfleck« bis zu Lenis Abschied von der Mühle Reindorfers. Auf der Bahn trifft sie einen alten Bauern, der sie von der Reise in die Großstadt abredet und zu seiner vom Veitstanz geplagten Enkelin bringt; ihre Ruhe und Sorgfalt beglückt die Kranke und deren Vater, der in erster Ehe wenig Freude gefunden und Leni zu seiner Großbäuerin macht. Der technische Fortschritt in diesem zweiten Teil des Dorfromans ist sehr bedeutend: der Dichter hatte sich mittlerweile nicht umsonst als Erzähler immer mehr geübt. So wäre der umgearbeitete Schandfleck die beste Leistung des Erzählers geblieben, wenn er nicht sich und seine treuesten Verehrer überrascht hätte durch einen neuen Dorfroman Der Sternsteinhof (1883), der in der Reihe – nicht bloß von Anzengrubers Dichtungen – einzig dasteht.

Der Name, den das reichste Anwesen im Gau führt, rührt davon her, daß der Großbauer ein Meteor, das vom Himmel auf seinen Acker niedersauste, in die Grundgewölbe seines Hofes einmauern ließ. Man möchte das fast sinnbildlich auf das Werk selbst beziehen. Es ist, als ob der Dichter ein Wunderzeichen des Himmels, einen geheimnisvollen Sternstein, in seine Schöpfung eingemeißelt hätte. Je länger ich den Roman kenne, je häufiger ich ihn lese, desto mehr wächst mein Erstaunen über die sichere Beherrschung der diesmal nicht ausschließlich dramatischen Technik, über den Reichtum einzigartiger, in engem Rahmen nebeneinandergestellter Gestalten, über die Größe des Entwurfes, die Aufrichtigkeit einer Weltmoral, die »nur zeigt, wie's im Leben zugeht« und deshalb rundweg ausspricht, daß zielbewußte Kraft der Gesamtheit unter Umständen bedeutsamere, dankenswertere Dienste leistet, als kraftlose, nur auf den engsten Kreis beschränkte Empfindsamkeit. Die Heldin des Sternsteinhof hat ihresgleichen nicht unter den meistgerühmten Gestalten des modernen Romans von der George Sand und der Eliot bis auf Turgenjew und Zola. Sie ist die verkörperte Begehrlichkeit und Willenskraft. Sie ist die ärmste, aber auch die schönste Dirn' im Dorf. In ihre Reize verschaut sich, schon da sie als halbwüchsiges, von allen als Tochter des schlechtesten Weibes verachtetes Dirndel herumläuft, die Künstlernatur unter den Bauern: ein kränklicher Holzschnitzer, Muckerl, dessen Huldigungen und Geschenke sie sich gefallen läßt. Ihr Herz hängt aber an der Macht und sowie sie merkt, daß der Sohn des Sternsteinhofbauern ein Auge auf sie geworfen, verläßt sie die Hoffnung nimmer, daß sie noch einmal als Gebieterin da oben thronen werde. Der verliebte junge Großbauer ködert sie mit einem geschriebenen Eheversprechen. Sie verabschiedet kurz und hart den Holzschnitzer und giebt sich dem Toni vom Sternsteinhof hin. Der alte Bauer aber, zu dessen Hof sie emporsteigt, um kniefällig die Bitte vorzubringen, sie vor der Schande zu bewahren, in die sein Sohn sie gebracht, will sie mit Geld abspeisen. Und da der Starrkopf seinen Burschen kurzweg unter die Soldaten steckt, muß sie glücklich sein, als ihr Brackenburg Muckerl sie heiratet. Ihr erster Sohn, in Wahrheit das Kind des Toni vom Sternsteinhof, gilt vor der Welt als Muckerls Junge. Nach der Militärzeit kommt Toni wieder heim; diesmal gewillt und gewitzt, dem Vater seine Tücke heimzuzahlen. Die Braut, die er ehedem ausgeschlagen, Käsbiermartels Sali, wird nun sein Weib, nachdem er, mit ihrem Vater verschworen, durch einen pfiffigen Anschlag seinen Vater hintergangen und zur Abtretung des Hofes gezwungen hat. Aber die Sternsteinhofbäuerin siecht nach dem ersten Kindbett dahin: ihre Tage scheinen gezählt, wie die des hektischen Muckerls. Und nun findet die fessellose Sinnlichkeit Tonis nach manchem, vergeblichen Versuch die nie vergessene Jugendgeliebte wieder. Helene wird sein Kebsweib. Tonis Frau und Helenens Mann wissen um den schmachvollen Verrat. Das Ärgernis wird allgemein und nur die Welterfahrung des alten Pfarrers (eines der weisesten Menschenkenner) bewahrt die Frevelnden vor Mordthaten. Nach dem Tode der beiden Kranken heiratet Toni Helene. Und nun sie als Herrin auf dem Sternsteinhof sitzt, entwickelt sie Herrschertugenden, die selbst ihrem Todfeind, dem alten Sternsteinhofbauer, Eindruck machen. Sie will die Vergangenheit vergessen, Frieden mit dem Alten halten. Da dieser ihr aber in das Angesicht trotzt, zeigt sie ihm die Meisterin. Sie nimmt ihm seine eiserne Kasse, die »Ausnahms-Ausnahme« und beschämt ihn durch ihren männlichen Mut und Sinn, da sie nächtens unerschrocken einem geheimnisvollen Lärm im Keller folgt, wo sie den Alten trifft, wie er aus dem Kellergewölbe den Sternstein und damit den Segen ausmauern will. Sie bewahrt ihm Verschwiegenheit. Als dann ihr Mann zur Landwehr einberufen, im bosnischen Feldzug fällt, wandelt sich die Gegnerschaft in ein Schutz- und Trutzbündnis der Beiden zu Ehren der Größe und des Gedeihens des Sternsteinhof. Komposition und Einzelnheiten, Muckerls Bauern-Ästhetik und die Chorus-Betrachtungen des alten Pfarrherrn, der Bildschnitzer und seine brave Mutter, seine verschmähte Liebste, die Matzner-Sepherl, und deren Mutter, der jüdische »Handels-Agent für religiösen Hausrat« und der Kaplan Sederl, der alte und der junge Sternsteinhofbauer, Käsbiermartel und Sali, Helenens Mutter und Helene selbst: – sie erregen immer aufs neue unsere Bewunderung. Hier ist wieder nur zu lernen und zu genießen. Daß Anzengruber aber diesen Fall nur als Ausnahms-Fall gelten ließ, daß seine Helen' nur eine Ausnahmsnatur im Bösen, wie im Guten, hat er unzweideutig durch den Mund seines Pfarrers verkünden lassen: »er hatte ein feines Gefühl für des Volkes Art und Weise, ein feines Gehör für dessen Rede und das schließliche Abfinden und Zurechtlegen einer Sache, die sich nicht ›geben‹, nicht unterducken lassen wollte, kam ihm nicht unerwartet.«

Das trifft Wort für Wort auch auf Anzengruber selbst zu, der denn in Wahrheit, wenn nicht geradezu »ein Pfarrer auch außer der Kirche«, doch ein Seelsorger des deutschösterreichischen Volkes gewesen ist, wie sehr, sehr Wenige vor und neben ihm.

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