Hugo Bettauer
Der Kampf um Wien
Hugo Bettauer

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48. Kapitel

Athleten und Tänzer.

»Die ganze Welt ist eine Stadt« hatte Ralphs Mutter oft gesagt, und er mußte an diese Worte jetzt denken, da der Breitbart-Rummel ganz Wien beherrschte. Niemals schienen ihm die Zeiten so kritisch gewesen zu sein, wie jetzt. Wachsende Unruhe unter den Arbeitslosen, Deutschlands Katastrophe, die früher oder später Österreich mitreißen mußte, das Säbelrasseln im Osten, zunehmende Verarmung und – »Breitbart, Breitbart über alles!« Bei Ronacher trat dieser russische Jude auf, der alles, was man bisher auf dem Gebiete der Muskelleistungen gesehen, weit in den Schatten stellte. Und ganz Wien rannte hin, Hunderte von Menschen mußten allabendlich enttäuscht abziehen, weil sie keinen Platz mehr bekommen konnten, und als ein sogenannter Telepath im Apollotheater mit einem sogenannten Medium auftrat, das dem Breitbart Konkurrenz machen sollte und nicht konnte, da geriet Wien vollends aus dem Häuschen und man sprach von nichts anderem mehr als von Breitbart.

Herr Underwood, der eben die fünfzigste Kiste mit Bildern nach New York expediert hatte und sich als Mäzen von Wien vorkam, rügte dies heftig:

»Total verkommene Stadt«, sagte er indigniert. »Lebt von Wohltätigkeit, läßt sich aushalten, wie eine Kokotte –«

»John«, rief Frau Underwood mahnend, da sie solche frivole Worte nicht liebte.

»Kurzum, die ganze Welt glaubt, daß die Wiener in Sack und Asche einhergehen und in Wirklichkeit haben sie keine anderen Sorgen, als sich über so einen Kerl aufzuregen, der Nägel durchbeißt.«

»Hm«, meinte Ralph lächelnd, »ist es bei uns anders? Hat nicht ganz Amerika durch einige Tage den Weltkrieg über den Kampf um die Weltmeisterschaft im Boxen vergessen gehabt? Und was glauben Sie, interessiert die guten New Yorker mehr: Eine neue epochale Erfindung oder das Match zwischen ›Giants‹ und ›Yankees‹?«

Der Schluß war, daß Ralph beauftragt wurde, eine Loge zu Ronacher für die Familie Underwood und sich zu beschaffen, was ihm mit Hilfe eines Zwischenhändlers auch gelang.

Das Verhältnis zwischen Charmion und Ralph war seit einigen Tagen irgendwie geändert. Sie war nicht mehr so zärtlich gegen ihn, hatte es scheinbar aufgegeben, ihn zu erobern, machte einen fahrigen, gereizten Eindruck, wenn sie mit ihm allein war. Und auch äußerlich schien sie ihm verändert, weniger mädchenhaft, ruheloser und nervöser geworden zu sein.

Am Tag vor dem Besuch bei Ronacher fand Ralph durch einen Zufall den Schlüssel zu Charmions Wesensänderung. Es war stürmisches, aber schon fast frühlingsmildes Wetter gewesen, Ralph schritt rasch und angeregt von seiner Wohnung der Stadt zu, wobei er die Hauptstraßen mied. So kam er hinter die Volksoper, ging die Sechsschimmelgasse abwärts, als er sah, wie der Schauspieler Senker aus einem Autotaxi stieg und in einem Haustor verschwand. Unwillkürlich, instinktiv hemmte Ralph seine Schritte, blieb einen Augenblick auf der anderen Seite der Straße stehen. Und schon kam abermals ein Autotaxi vorgefahren, dem eine Dame entstieg, um im selben Haustor zu verschwinden. Diese Dame war niemand anders als Charmion.

Einen Augenblick empfand Ralph etwas wie Schmerz. Dann lachte er vor sich hin und ging weiter.

Was geht es mich an? Und was schadet es ihr? Der Moneymaker, den sie drüben heiraten wird, wird es nie erfahren, daß vor ihm ein anderer dagewesen ist! Schließlich, sie ist zweiundzwanzig Jahre alt, muß wissen, was sie tun und lassen darf. Außerdem – vielleicht setzt sie auch droben bei dem Komödianten nur den Flirt im amerikanischen Stil fort. Obwohl – er scheint mir für solche Scherze ein wenig zu brutal zu sein.

Bei Ronacher wurde sogar der skeptische Herr Underwood, der es eigentlich nicht gelten lassen wollte, daß es außerhalb Amerikas auch starke Männer geben könne, von den beispiellosen Leistungen des Mannes mit den doppelten Knochen enthusiasmiert und er scharrte, um seinen Beifall zu bezeugen, mit den Füßen. Charmion schüttelte sich. Ihr gefiel der massive Mann nicht, und sein Zerbeißen von Ketten irritierte ihre feinen Nerven, während Mama Underwood sehr schwer atmete und ihr Opernglas am liebsten wirklich zum »Zubizarrer« gemacht hätte.

Man ging nachher – die seltsam aufgepulverte Frau Underwood legte nur einen ganz schwachen Protest ein – in die Femina-Bar, in der nach der Revue teils von den engagierten Kräften, teils vom Publikum fleißig getanzt wurde. John Underwood entschloß sich wohl oder übel trotz seines Temperenzlertums Champagner zu bestellen, von dem er aber nichts trank. Hingegen beobachtete ihn Ralph, wie er im Theatersaal verschwand, sich dort vom Kellner einen Cocktail bringen ließ und bei dieser Gelegenheit von einer kleinen, leicht geschürzten Nymphe die Visitkarte bekam.

Einer der Artisten, ein Berufs-Bartänzer, ein überschlanker, exotisch aussehender Jüngling mit nervösem, fein geschnittenem Gesicht und melancholischen schwarzen, von langen Wimpern umschatteten Augen, begann mit Charmion Blicke zu wechseln, ging plötzlich auf den Tisch zu, verbeugte sich und forderte sie zu einem Jazz auf. Einen Augenblick nur zögerte Charmion, dann nickte sie und nahm seinen Arm. Er, Meister im Tanz, sie, jeder Bewegung folgend, ganz hingegeben, die Augen geschlossen, lasziv und doch keusch. Das Publikum applaudierte dem schönen Paar wie rasend, als der Tanz beendet war. Ralph war amüsiert, Papa Underwood wütend. Mama Underwood schockiert, was sie nicht hinderte, mit einem muskulösen Herrn am Nebentisch zu kokettieren.

Nochmals tanzte Charmion mit dem Bartänzer, diesmals aber schloß sie nicht die Augen, sondern flüsterte mit ihrem Partner und nickte zum Schluß, wie man es tut, wenn man eine Frage bejaht. In diesem Augenblick trat an die beiden ein geschminktes junges Ding im Flitterkleid, das den Oberleib fast nackt ließ, heran und rief dem Tänzer heftig ein paar Worte in einer fremden Sprache zu. Worauf er sie wie ein Raubtier anfunkelte und in gebrochenem Deutsch zu Charmion sagte:

»Es ist meine Frau, sie scheint wieder einmal eifersüchtig zu sein.«

Aus dem Programm war zu ersehen, daß der junge Mann und seine Frau das rumänische Tanzpaar Pietro und Pepita Manescu waren.

Ralph flüsterte nachher auf dem Weg ins Hotel Charmion zu:

»Du, dein Schauspieler, Herr Senker, wäre heute wenig mit dir zufrieden gewesen.«

Charmion warf ihm einen forschenden Blick zu.

»Ach der!«


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