Hugo Bettauer
Der Kampf um Wien
Hugo Bettauer

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40. Kapitel

Wiener Fasching.

Filmredoute im Konzerthaus. Um zehn Uhr abends schon alle Säle überfüllt. Ein wogendes Meer in hundert Farben. Ganz Wien rümpft über diese Redoute die Nase, ganz Wien besucht sie. Kaum in einer anderen Großstadt ist solche Mischung möglich; Kokotte und Dame, Tippmädel und Fabrikantensgattin, Kommis und Bankdirektoren. Die einen in großer Toilette, mit Schmuck beladen, die anderen im billigen selbstgemachten Kleidchen, im ausgeborgten Smoking oder gar Jackettanzug. Und alle von einer großen Sehnsucht erfüllt: Der Sehnsucht nach dem Abenteuer, das den Alltag unterbrechen soll.

Die leichte, graziöse Vornehmheit, die früher einmal auf den Wiener Redouten sich so köstlich mit Ausgelassenheit und guter Laune mischte, ist nicht mehr zu finden. Die Regel, daß nur die Damen die Herren ansprechen dürfen, ist längst vergessen, die Redoutenintrige ist zur platten Banalität geworden, Herren bilden Gruppen und sprechen über die Börse, Frauen stehen in ihrer wenig verhüllten Nacktheit verlegen umher und warten, bis sie als »schöne Maske« angesprochen werden. Und die Mehrzahl der Herren weicht ängstlich dem Büfett mit seinen sündhaft teuren Preisen aus. Früher promenierte man auf den Redouten, jetzt wird getanzt. Früher war die Redoute der Tummelplatz für Flirt und Galanterie, jetzt ist sie zum Liebesmarkt und zur Tanzdiele geworden. Früher gab es eine einheitliche Gesellschaft in Wien, die mit unsichtbaren Fäden verbunden war, jetzt sind die Neuen eingebrochen, haben die Einheit zerrissen.

Für Ralph war das Bild neu, und da er das alte nicht gekannt hatte, fand er auch das neue hübsch und anregend. Er wollte sich betäuben um jeden Preis. Charmion voll Lebenslust und Neugierde wurde ihm zu Segen: Sie entriß ihn dem Weltschmerz und dem Schmerz um Hilde.

Auf Schritt und Tritt wurde Ralph intrigiert. Und immer waren es vorwurfsvolle Worte, die die Frauen ihm zuflüsterten. Immer die Klage, warum er sich der Wiener Gesellschaft so ganz entzogen habe. Ralph erkannte die Frauen nicht, ahnte nur Jourbekanntschaften in ihnen. Nur als eine ihm lachend-zornig »Amerikanischer Stockfisch« zurief, glaubte er Frau Hedi Günzel in ihr zu erkennen. Und verwundert schüttelte er den Kopf.

Kaum zwei Monate waren es her, seitdem die kokette, nach Schmuck und Geld gierige Frau in seinen Armen gelegen, und doch schien es ihm, als wäre eine ganze Ewigkeit verflossen.

Eine schlanke Frau, in Goldstoff gehüllt, der den jugendlichen Körper so eng umschmiegte, daß er wie nackt aussah, sprach ihn englisch an. Es war Charmion in königlicher Schönheit. Er hätte sie schon an der köstlichen Perlenschnur erkannt. Sie nahm seinen Arm und lachte.

»Du, furchtbar komisch ist es hier! Sehr hübsche Mädchen sieht man und fast alle haben schöne Beine. Die Herren finde ich gräßlich! Fracks, wie sie ein besserer Kellner in St. Regis nicht tragen würde, und die meisten haben mächtige Bäuche, und wenn sie einen ansprechen, so fallen ihnen fast die Augen heraus. Ich weiß nicht, ob das meinem Dekolletee gilt oder nur meinen Perlen.«

Sie gingen in Ralphs Loge, tranken Champagner, speisten. Charmion war voll Spannung, ihre Nerven vibrierten, immer wollte sie wissen, wer diese und jene Person sei. Ralph konnte selten Auskunft geben, war froh, als Korn erschien, der die ganze und halbe Welt kannte.

»Dieser Herr da ist Dirigent Bierfeld. Großartiger Musiker, merkwürdiger Charakter. Als seine schöne, bedeutende Frau starb, tat er, als würde ihn der Schmerz töten. Jetzt ist er wieder verheiratet. Gemisch von Genie und tüchtigem Kaufmann. Die Kunst ist ihm heilig, aber eine heilige Kuh, die man gut melken kann.

Diese hübsche Blondine? Eine von den drei Pospischil-Mädeln. Hofratstöchter, mit großen Ambitionen und wienerischem Leichtsinn. Die und die andere Schwester haben glücklich nach mancherlei Abenteuern Großindustrielle geheiratet, die dritte und schönste ist an einem Prinzen kläglich gescheitert. Hat Selbstmord begangen, nachdem sie ihn mit Kupfervitriol übergossen.

Aha! Sie meinen diese etwas üppige schwarze Dame, deren Schleppe scheinbar das ersetzen soll, was ihr oben fehlt? Wundert mich, daß sie hier ist. Na, sie wird ja die Loge kaum verlassen. Sie und ihre Schwester waren einmal ›die‹ beiden Wiener Kokotten. Jawohl, die beiden! Immer hat Wien nämlich eine oder zwei Kokotten, die jeder kennt. Diese beiden wurden von einer zärtlichen Mama geschickt gemanaged. Mama sorgte dafür, daß sie die Preise hielten. Souper und tausend Kronen per Nacht bildeten den festen Tarif. Nach tausend und einer bezahlten Nacht stellte sich das große Glück ein. Ein junger Herr, hübscher Bursch und schreckhaft reich, Sohn eines Juwelenhändlers, verliebte sich auf Tod und Leben in sie. Mama sah das und zeterte: ›Du, der kriegt dich nicht für tausend Kronen, der muß dich heiraten!‹ und richtig heiratete er sie.

Und jetzt ist sie die anständigste Frau, hat Kinder, man kann ihr nichts mehr nachsagen. Ich bin überzeugt, daß sie für Tugend schwärmt.«

Charmion hatte lachend zugehört.

»Wien ist eine sehr komische Stadt! Ich glaube, man kann hier allerlei anstellen, ohne daß es einem besonders schadet.«

Ihre Augen leuchteten auf.

»Hier, das ist ein schöner Mann! Wer ist das?«

Sie wies auf einen überaus großen Herrn, eine mächtige, kühne Erscheinung, die man allerdings lieber mit ledernem Schurzfell und entblößten Armen, als im Frack gesehen hätte.

Korn lächelte malitiös.

»Es scheint doch, daß es nur einen internationalen weiblichen Geschmack gibt: Dies ist Herr Senker, Schauspieler, Liebling der Frauen, bis vor kurzem noch mit einer Soubrette innig liiert, die er glücklich an einen anderen, auch einen schönen Mann, verloren hat.«

»Ist er ein bedeutender Schauspieler?«

»In Meter und Zentimeter gemessen sicher. Sonst eher das Gegenteil. Aber bei solcher Körperlichkeit ist das Nebensache. Wenn er auftritt, richten sich sämtliche Operngucker der Damenwelt nach seinen Schenkeln und dann erst nach dem edlen Römerkopf. Talent wäre hier wirklich Verschwendung.«

Charmion, die die ganze Zeit ihre Hand auf dem Knie Ralphs gestützt hatte, erhob sich.

»Jetzt will ich einmal den schönen Mann intrigieren.«

Verschwand im Menschengewühl, tauchte am Arm Senkers wieder auf, der mit einem prüfenden Kennerblick Figur, Schultern, Busenansatz und die köstliche Perlenschnur umfaßte.

Einige hundert Lorgnons richteten sich plötzlich nach einer Loge, die bisher leer geblieben war. Ein junges Weib von bizarrer Schönheit nahm an der Brüstung Platz, ein großer schwerer Herr mit einem dunklen, schläfrigen Raubtiergesicht setzte sich in den Hintergrund.

Ralph zuckte zusammen. Die Dame war niemand anders als Lolotte Valon! Er hatte sie seit dem verhängnisvollen Tag nicht mehr gesehen, wußte aber, daß sie in Wien geblieben war, ohne öffentlich aufzutreten.

»Kennen Sie den Herrn hinter Lolotte?« fragte er befangen.

»Ob ich den kenne? Den kennt doch die ganze Welt! Herr Kastagnetti, einer der gewaltigsten und interessantesten Finanzmänner Mitteleuropas.«

Ralph nickte.

»Den Namen habe ich allerdings oft gehört.«

»Aber sehen Sie nur diesen entzückenden jungen Burschen da unten, der immer zu mir herauf schaut! Schöner Kerl, sicher ein Aristokrat, der seinen ersten Ausflug ins Menschliche macht. Ich werde ihn ansprechen!«

Rasch verschwand Korn, auch Ralph erhob sich, um im Menschengetümmel unterzutauchen. Der Strom der Promenierenden riß ihn mit, er wurde dicht an die Loge gedrängt, in der Lolotte saß, und schon hatte sie ihn erblickt. Winkte ihm zu, rief: »Kommen Sie doch zu mir in die Loge!«

Ralph, über die Sicherheit dieses Weibes, das tat, als wenn nie etwas geschehen wäre, erstaunt, konnte, ohne den primitivsten Anstand zu verletzen, nicht anders, als ihrer Einladung folgen.

Lolotte ging Ralph rasch einen Schritt entgegen, grub ihre spitzen Fingernägel in seinen Handballen und flüsterte erregt:

»Ralph – dadurch, daß Sie Bartos vernichtet haben, haben Sie mich befreit! Zürnen Sie mir nicht, kommen Sie wieder zu mir – ich kann ja für all das Häßliche, was geschehen ist, nichts. Kommen Sie – Sie werden sehen, ich bin eine andere geworden!«

Ralph lächelte skeptisch.

Zwei Tage später besuchte Ralph mit Charmion – amerikanische Eltern lassen ihre Töchter überallhin mit ihrem »Flirt« allein gehen – Wiens repräsentativstes Fest, den Concordia-Ball. Und er hatte unter Führung seiner Freunde Gelegenheit, das geistige Wien kennen zu lernen. Von dem Präsidium mit Ehrfurcht begrüßt – auch geistige Arbeiter erweisen dem Gold ihre Reverenz – wurden er und Charmion auf die Estrade geführt, auf der sich die bevorzugten Gäste versammeln.

Arthur Schnitzler, nun schon ein alter Herr, aber vom Feuer ewiger Jugend durchströmt, Hugo von Hofmannsthal, einst die Hoffnung der ganzen Welt, die in ihm, als er jung war, einen Goethe österreichischer Fechsung sah und mit Schmerz das rasche Welken frühreifer Begabung erlebte, der vielumstrittene Werfel, dessen Spiegelmensch, kaum entstanden auch schon vergessen war, Schönherr, knorrig, herb, ein mächtiger Könner, aber nicht Meister in Selbstbeherrschung, der alte Hermann Bahr, einst Führer der Jungen, heute ein bemannter Löwe, der im Zirkus durch Reifen springt, Leo Perutz, dessen unvergleichliche Romane einem echten Dichtergehirn unter mathematischer Kontrolle entquellen, Ginzkey mit zwei Vornamen und einem einzigen Pfund Talent, Bartsch, auch zwei Vornamen und zwischen deutschvölkischem Gefühl und »Neuem Wiener Tagblatt« unsicher schwankend, Verherrlicher des steirischen Rokokos, Plagiator seiner selbst, diese und viele andere, durch ihre Werke Ralph längst bekannt, wurden ihm vorgestellt.

Besonderes Interesse brachte Ralph den Wiener Männern von der Presse entgegen. Korn und Kriegel flüsterten ihm Kommentare zu, die es ihm ermöglichten, rasch zu erfassen und aus flüchtigen Worten ein Bild zu gewinnen. Im Verlauf von wenigen Stunden hatte er alle die Männer kennen gelernt, die die öffentliche Meinung beherrschen, wiedergeben oder auch fälschen, die Kritiker und Leitartikler, Blattleiter und Blattgründer. Mit Verwunderung stellte der Amerikaner fest, daß hier »Journalist sein« Schicksal, Bestimmung, unlösbare Verknüpfung mit einem undankbaren, sorgenvollen Beruf bedeutet, während drüben die Zeitung nur das Durchhaus und Sprungbrett ist. Daher gibt es in Amerika fast nur junge Journalisten, in Wien der Mehrzahl nach alte. In Amerika gehört es gewissermaßen für den gebildeten jungen Mann zum guten Ton, sich ein, zwei Jahre in einer Redaktion zu betätigen, in Wien wird man Journalist, weil man nicht anders kann, Talent, Weltanschauung, Temperament einen der Presse in die Arme treiben. Nur so kann es kommen, daß Männer wie der alte Julius Sauer, Meister galligen Humors, schärfsten Witzes, feinsten Stils, als Siebzigjähriger noch über jede Neuaufführung schreibt, während er in Amerika längst Senator, Gouverneur, Bundesrichter oder vielleicht gar Präsident geworden wäre. Und so kommt es, daß der erfolgreichste Wiener Librettist mit dem unverrückbarsten Monokel und höchstem Hemdkragen Millionen in allen Valuten der Welt einnimmt und doch dabei Redakteur bleibt, weil die Leidenschaft für seinen Beruf größer ist als das Bedürfnis nach Bequemlichkeit und Behagen. Und er beweist, daß man Schriftsteller, Journalist und Gentleman in einer Person sein kann.

Auffällig war es für Ralph, daß es fast ganz an jenen jungen, eleganten Reportern fehlt, die in Amerika der ganzen Zeitungswelt ihr Gepräge geben. Korn erklärte ihm das.

»Kunststück! Unsere jungen Leute mit Phantasie und Begabung schinden lieber Devisen als Zeilen und verdienen durch eine geschickte Umwandlung von Leis in holländische Gulden über Dollars und Dinars mehr, als ihnen die Zeitung in sechs Monaten zahlen könnte.«

Die Chefredakteure und Herausgeber waren fast vollzählig vertreten. Ernst Fichter, der gegen Neigung und Begabung das Erbe seines Vaters hatte antreten müssen, ein zerstreuter, feinsinniger Gelehrter, sich gewaltsam zu Interessen zwingend, die ihm ferne lagen, erstarrend in Tradition, Verfasser von Leitartikeln, bei deren Niederschrift ihn der Geist des Vaters begleitete.

Lipowski, schon wohlbeleibt, aber noch immer Lebemann, Meister im Erraten des Publikumsgeschmacks, in ein und dieselbe Nummer tiefgründige Abhandlungen über die letzten Dinge, die unerträglich langweiligen Lebenserinnerungen Bahrs, die wüstesten Tratschgeschichten, Spiritistisches, Medizinisches, Mode und Kochrezepte einschachtelnd. Und ein wahrer Meister in der Anwendung der Schere, von dem richtigen Gedanken geleitet, daß ein guter Artikel aus der »Frankfurter Zeitung« mehr wert sei als drei schlechte, die in der Redaktion gemacht werden. Ein großer Dichter, der bei ihm Redakteur gewesen, hatte, als er austrat, ihm den boshaften Abschiedsvers gewidmet:

»Kleben Sie wohl – Schneiden tut weh!«

Dabei persönlich eine sympathische Figur, Feinschmecker und Frauenverehrer noch immer.

Ralph verbrachte, während Charmion aus Leibeskräften mit dem hühnenhaften Schauspieler Senker flirtete, den Rest des Ballabends mit einem geistvollen Journalisten, der in spielerischer, leicht hingeworfener Weise Lichter in Ecken und Winkel warf, die Ralph noch dunkel waren.

Es war drei Uhr, als Ralph mit Charmion den Ball verließ. Das schöne Mädchen hatte dem Champagner mehr zugesprochen, als sie es im Lande der Temperenzler gewohnt war, und nun hing sie im Auto weinschwer an seinem Halse und sagte kichernd:

»Weißt du, in diesem sinnlichen, leichten Wien wird es einem klar, warum in Europa sich die Mädchen nicht wie bei uns prinzipiell mit dem Flirt begnügen.«

Ralph lachte, dachte aber an Hilde, die sich vielleicht mit freien, keuschen Sinnen dem Mann ihrer Wahl auch ohne Ehe schenken, niemals aber frivol werden würde, wie Charmion. Und der Vergleich fiel nicht zugunsten seiner Landsmännin und Jugendgespielin aus.


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