Hugo Bettauer
Der Kampf um Wien
Hugo Bettauer

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10. Kapitel

Eine sentimentale Melodie.

Der Frost war längst gewichen, die Schneemassen zerflossen, die Straßen der Inneren Stadt waren mit fausthohen Schmutzlachen bedeckt, nervös beobachtete Ralph, wie von den Rädern seines Autos die Passanten in den engen Gassen über und über bespritzt und besudelt wurden.

Er krampfte die Hände in Qual zusammen.

Muß es denn immer sein, daß die einen gar nichts und die anderen alles haben? Und der, der im Wagen fährt, die anderen, die zu Fuß gehen müssen, bedroht, insultiert, befleckt? Oh, daß ich doch ganz Mensch, nur Mensch wäre und den Mut hätte, zu den Armseligen und Bedrückten hinunterzusteigen!

Im Unterbewußtsein empfand Ralph es aber, daß er diesen Opfermut nie haben, immer nur würde von hoher Warte das Leben betrachten können. Er erinnerte sich an den herrlichen Roman »Christian Wahnschaffe« von Jakob Wassermann, den er in St. Paul mit fiebernden Pulsen gelesen. Damals war es ihm als höchste Glückseligkeit erschienen, zu sein, wie dieser Christian. Jetzt kam es ihm undenkbar vor, sich alles dessen zu entäußern, was ihm Herrenbewußtsein, Unabhängigkeit und – Beglückungsmöglichkeit bot. Aber er würde auch nicht erstarren, sondern Mensch bleiben. Und eine Mission erfüllen. Ob diese, die ihm die letzten Worte seiner Mutter eingegeben, das würde die Zukunft erweisen.

Sehnsucht stieg in ihm auf, Sehnsucht nach einem guten, treuen Menschen, der in ihm nicht den klotzigen Geldsack, sondern den Bruder, Freund, Geliebten sehen würde. Und vor seinen Augen stieg das Bild eines blonden, süßen Mädchenkopfes mit großen Märchenaugen auf.

Kribbelnde Unruhe ließ ihn nicht länger im Auto sitzen. Mitten in der Kärntnerstraße stieg er aus, ging zu Fuß weiter. Es war fünf Uhr, kurz vor Weihnachten, großstädtisches Gedränge füllte die Straße. Aber drinnen in den schönen Geschäften gähnte die Leere, hockte der Pleitegeier auf den Verkaufstischen. Ein schlechteres Weihnachtsgeschäft hatte Wien seit Jahrzehnten nicht erlebt, Juweliere erzählten, daß ihre Tageslosung nicht einmal die Beleuchtungskosten decke, in den Galanteriewarenhandlungen wurde der jeweilige Käufer von zehn Kommis umringt und sogar die Buchhandlungen waren leer.

Ralph erinnerte sich, daß er in diesem Jahr niemand zu beschenken hatte, wie auch ihm niemand eine Freude bereiten würde. Allein und einsam fühlte er sich wie noch nie im Leben, überflüssig, ein Popanz für die Menschen, die an ihm nichts schätzten, als sein Geld.

Versonnen blieb er vor der hellerleuchteten Auslage eines Juweliers stehen. Ein Zigarettenetui, der eine Deckel aus mattem Gold, der andere in Email, in das kleine Diamanten eingestreut waren, fiel ihm in die Augen. Er betrat den Laden, in dem sich nur die Verkäufer aufhielten, ließ sich das Etui vorlegen, fand den Preis von zwanzig Millionen in Dollar umgerechnet niedrig, stellte einen Scheck aus und wollte die Kostbarkeit einstecken. Als er aber das maßlos bestürzte Gesicht des Juweliers sah, lachte er hell auf.

»Richtig, in Wien reimt sich, wie man mir gesagt hat, auf Scheck Schreck! Also lösen Sie ihn erst bei der Bankgesellschaft ein und schicken Sie mir dann das Etui nach dem Hotel Imperial, Zimmer 10 bis 12.«

Der Juwelier entschuldigte sich verlegen, erzählte von mehreren Fällen, in denen Geschäftsleute durch unwertige Schecks um große Summen betrogen worden waren, und kam dann auf den schlechten Geschäftsgang zu sprechen.

»Die Weltparität, die wir erreicht haben, die Unbeweglichkeit der Krone, der Tiefstand an der Börse vereinigen sich, um uns Geschäftsleute zugrunde zu richten. An jedem Monatsersten haben wir die Luxussteuer abzuführen, enorme Gehälter auszuzahlen, Millionen für Strom zu entrichten. Wenn es so weiter geht, werden wir unsere Lager mit Verlust verkaufen müssen oder aber zusperren und unsere Kapitalien aufzehren.«

Ralph zuckte die Achseln. »Es scheint mir, als wenn sich Wien, verlockt durch die gute Konjunktur der letzten Jahre, übernommen hätte. Wie kann die Hauptstadt eines niedergerungenen kleinen Landes solchen Warenluxus vertragen, wie man ihn allenthalben hier sieht?«

»Ja wir haben eben alle mit den Fremden gerechnet, die in hellen Scharen nach Wien zu kommen pflegten, und nun, wo sie nicht mehr kommen, stehen wir mit unserem Luxus da und können ihn nicht los werden. Wenn nur die Fremden wiederkämen!«

»Warum sollten sie?« fragte Ralph lächelnd. »In Amerika, England, sogar Südamerika sind die Zeiten schlecht, man spart dort und geht nur ins Ausland, wenn man dabei Geld profitieren kann. Das scheint mir in Wien kaum noch möglich zu sein. Späterhin aber, wenn es im Westen wieder besser geht, wird Wien sich bemühen müssen, durch erlesene Attraktionen, Festspiele, Sportturniere, Kongresse, Ausstellungen, die Fremden anzulocken.«

Ralph stand nun am Ring, querte die Straße und überlegte, ob er nicht endlich die urwienerischeste Spezialität, das Kaffeehaus, kennenlernen sollte, als ein an sich kleiner Zwischenfall eintrat, der für ihn von Bedeutung wurde. Eine alte Frau wollte einen Straßenbahnwagen, der sich eben in Bewegung gesetzt hatte, besteigen, stürzte dabei, wurde mitgezerrt, bis sie im Straßenkot, aus mehreren Wunden blutend, ohnmächtig liegen blieb.

Bevor noch Ralph hilfsbereit zur Stelle war, kniete eine weibliche Person im Schmutz neben der Alten und versuchte sie aufzurichten. Aber schon hatte sich Ralph über die Verunglückte gebeugt, nahm sie in die Arme und trug sie, nun von einer ganzen Menschenmenge begleitet, über die Reitallee in das nächstgelegene Haustor. Das Mädchen, das zuerst geholfen hatte, ging mit und trug die Handtasche der alten Frau. Jetzt war auch ein Polizist zur Stelle, einer der Umstehenden lief ins Café Bristol, um die Rettungsgesellschaft zu avisieren, Ralph flüsterte dem Polizeimann seinen Namen und die Adresse zu, mit der Bitte, ihn von dem Befinden der Frau verständigen zu lassen, da er bereit sei, für die Herstellungskosten aufzukommen.

Nun erst hatte er Gelegenheit, sich dem weiblichen Wesen zuzuwenden, das erste Hilfe geboten hatte. Das Blut schoß ihm ins Gesicht, sein Herzschlag setzte aus, fassungslos, erschreckt und beglückt stand er dem blonden Mädchen mit den grauen Augen gegenüber, das er seit Tagen vergeblich gesucht hatte.

Auch das Mädchen erkannte ihn wohl auf den ersten Blick, es errötete, ein anmutiges Lächeln blitzte auf, aber mit einem »Ich danke, mein Herr« wandte es sich rasch ab.

Ralph, der noch nie ein Mädchen auf der Straße angesprochen, nahm seinen ganzen Mut zusammen und sagte mit heiserer, gepreßter Stimme:

»Nein, mein Fräulein, so können Sie nicht gehen! Sie sind über und über mit Straßenschmutz bedeckt, ihre Handschuhe sind blutig. Wenn Sie gestatten, werde ich einen Wagen nehmen. Schließlich – wir kennen uns ja schon!«

Das junge Mädchen blickte ihn voll an. Und aus seinem Gesicht strömte so viel Güte und Zärtlichkeit zu ihr über, daß ihre Augen dunkel wurden und sie leise, mit zitternden Lippen, erwiderte:

»Jawohl, wir haben uns wie im Fluge begegnet. Wenn Sie wirklich so gütig sein wollen und einen Wagen, besorgen – ich kann tatsächlich so nicht mit der Elektrischen weiter fahren.«

Plötzlich bemerkten beide, wie Leben in die Menschenmenge kam, die sich vor dem Haustor, unter dem die Verunglückte lag, angesammelt hatte. Rufe wurden laut, der Polizeimann erschien verstört auf der Straße, sah Ralph und rief ihm zu:

»Der Frau ist nicht mehr zu helfen, sie ist tot! Schädelbruch!«

Ralph konnte nicht einmal seinem Entsetzen Ausdruck geben, denn das Mädchen an seiner Seite wurde totenbleich und fing zu schwanken an. Willenlos ließ sie es geschehen, daß Ralph den Arm um ihre Schulter legte und sie rasch mit sich nach dem Café Bristol führte, um sie dort im Hintergrund auf einen Stuhl gleiten zu lassen. Schon war sie zu sich gekommen und als sie das Gläschen Kognak, das Ralph ihr an die Lippen führte, ausgetrunken hatte, kam wieder rosige Farbe in ihre Wangen.

»Dummes Mädel«, schalt sie sich selbst, »gleich schwach zu werden und noch dazu auf der Straße! Aber ich habe noch nie einen Toten gesehen und es berührte mich so seltsam – – Sie werden sich aber für dieses Abenteuer bedanken, mein Herr!«

»Jawohl, das werde ich«, sagte Ralph ernst, »von ganzem Herzen danke ich dem Schicksal, das Sie zu mir geführt hat. Wenn auch der Weg weniger schauerlich hätte sein dürfen. Sie müssen wissen, mein Fräulein, daß ich seit damals, da Sie in der Straßenbahn an mir vorbeifuhren, Sie jeden Tag stundenlang gesucht habe.«

Das Mädchen senkte den Kopf.

»Seltsam, auch ich habe immer am Schottentor mich umgesehen und geahnt, daß ich Sie nochmals sehen würde.«

Und beide schwiegen, weil sie so sehr von dem Augenblick erfaßt waren, daß sie keine Worte finden konnten.

Bis der Amerikaner es an der Zeit fand, sich vorzustellen. Aber schon schoß ihm der Gedanke durch den Kopf: Um Himmels willen, sie soll nicht erfahren, wer ich bin, noch nicht, sie darf nicht verwirrt werden dadurch, daß sie ein goldstrotzendes Monstrum vor sich hat, nicht einen Menschen aus Fleisch und Blut, sondern eine lebende Schatzkammer, die man mit Hohn und Wut, mit geifernder Ehrfurcht und mit ätzendem Haß den »reichsten Mann der Welt« nennt.

»Patrick Ralph«, murmelte er leise, worauf ihm eine weiße, schmale Hand mit spitzen Fingern und rosigen Nägeln entgegengestreckt wurde:

»Ich heiße Hilde Wehningen.«


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