Roland Betsch
Der Wilde Freiger
Roland Betsch

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

18.

Es gibt zwei Methoden des Schulfliegens. Bei der ersten Art wird der Schüler in eine Maschine gesetzt und vor allem mit der Bedienung des Motors und der Handhabung der Steuer vertraut gemacht. Hier muß zu Anfang förmlich exerziert werden, alle Handlungen sollen individuell und ohne Ueberlegung vor sich gehen. Beim Fliegen kommt es auf Bruchteile von Sekunden an, Zeit zu Schlußfolgerungen ist nie oder nur selten vorhanden. Das nächste ist, daß der Schüler auf der Erde mit wenig Gas rollt und dadurch mit Bewegung und Geschwindigkeit vertraut wird. Schon das Rollen ist eine Kunst und läßt die persönliche Veranlagung deutlich erkennen. Wer nicht gut rollt, wird nie zuverlässig starten können. Die dritte Stufe bilden kurze Sprünge über den Platz. Der Schüler gibt Gas, versucht zu starten und nimmt gleich, wenn er den Boden verloren hat, das Gas fort zum Landen. Diese Sprünge steigern sich und werden schließlich zum ersten Platzflug.

Bei dieser Lehrmethode sitzt der Schüler von Anfang an allein in seiner Maschine, rollt, hüpft und fliegt, ohne Lehrer. Lernt also das Fliegen ganz individuell und aus sich selbst heraus. Dieses System ist das ältere, hat große Vorteile, aber auch manchen Nachteil. Ein Hauptfehler ist die große Gefahr der Brüche. Schon beim Rollen und dann vor allem bei den ersten Sprüngen werden häufig Maschinen mehr oder weniger stark beschädigt werden.

Aus diesem Grunde ist man auch schon bald allgemein zur zweiten Methode übergegangen. Lehrer und Schüler 183 fliegen zusammen in der Schulmaschine. Der Lehrer sitzt hinter dem Schüler und betätigt die Hilfssteuer, die mit den Hauptsteuern, die der Schüler handhabt, festgekuppelt sind. Durch diese Anordnung ist jedes Steuer doppelt vorhanden, so daß Schüler und Lehrer imstande sind, jede Steuerbewegung der Maschine und auch die Regulierung des Motors zwangläufig auszuführen.

Bei den ersten Flügen wird der Lehrer steuern und der Schüler an seinem gekuppelten Steuer die Bewegungen vorerst nur mitfühlen und dadurch lernen, wie die Maschine von den Steuerausschlägen beeinflußt wird. Bei den nächsten Flügen wird der Schüler selbst versuchen, zu steuern, und die falschen Bewegungen, die er ausführt, können vom Lehrer verbessert werden. Hat dieser keine Korrekturen mehr vorzunehmen, dann ist der Schüler reif zum Alleinflug. Der Eintritt dieses Zeitpunktes ist verschieden. Er kommt bei manchen schon nach fünfzehn, bei andern erst nach hundert und mehr Schulflügen und bildet kein Ausmaß für die Befähigung zum Fliegen.

Der erste Alleinflug ist ein Nervenkitzel, wie er im Leben nicht oft einem Menschen widerfährt. – –

Herta Land lernte fliegen. Die Zeit war nicht günstig, denn der Winter hatte scharfen Frost gebracht. Paul Welker ließ in einer seiner Jagdmaschinen ein Hilfssteuer einbauen, und an einem klaren Morgen fingen sie an, zu schulen. Herta war voll seliger Vorfreude, als sie zusammen durch den erstarrten Wald zum Flugplatz schritten. Die Maschine stand schon startbereit, und der Motor lief sich mit zweihundertfünfzig Touren gemächlich warm. Die Startmannschaften lächelten und machten ihre Scherze, als Herta Land, dick verpackt, in den Sitz kletterte. Paul Welker untersuchte die Maschine, kontrollierte jede Kleinigkeit aufs peinlichste und stieg langsam und gleichgültig in den zweiten Sitz. Bedächtig prüfte er die Steuer, gab volle Verbindung und hartes Seiten- und Höhensteuer. Er sah die Kupplungen des 184 Hilfssteuers, der Gasdrossel und des Zündhebels nach und ließ den Motor versuchsweise auf den einzelnen Magneten laufen. Die Benzinhähne wurden geschaltet, und nun ließ er mit Vorzündung laufen.

»Klötze vor!«

Zwei Klötze wurden vor die Räder geschoben, und drei Monteure hielten den Schwanz fest. Paul Welker gab langsam Gas, der Motor stieg auf seine volle Leistung mit zwölfhundertvierzig Touren am Stand.

Langsam nahm er die Drossel zurück. »Ist alles fertig?« Er beugte sich zu Herta. Sie war festgeschnallt und nickte mit dem Kopf. Da wurden die Klötze von den Rädern genommen, Paul Welker rief: »Frei,« gab Vollgas, und die Maschine lag im Start.

Genau paßte Herta Land auf. Noch war das Steuer weit vorgedrückt, und sie hatten den Boden nicht verlassen. Der Motor kam mehr und mehr auf Touren. Nun fühlte sie, wie Paul Welker das Höhensteuer schwach anzog und gleich darauf kurz vordrückte. Sie schwebten. Noch einen kurzen Augenblick sammelte er Fahrt, dann zog er an, und sie rauschten aufschwebend über die Pappeln. Ein Stück flogen sie geradezu. Dann kündigte Paul Welker eine Linkskurve an. Herta hatte beide Füße lose auf dem Seitensteuer und die Hände am Steuerknüppel. Jetzt fühlte sie genau, wie er links ins Seitensteuer trat und mit der Verwindung leicht nachfolgte. Die Maschine schien sich hochzubäumen und legte sich geschmeidig in eine Linkskurve. Paul Welker ging schärfer in die Kurve, gab hartes Seitensteuer und volle Quersteuerung. Einen kurzen Augenblick überkam Herta ein Schwindelgefühl, als die Maschine mit dem rechten Flügel hochstand und sie über Backbord frei hinunter auf die Erde schaute. Alles wollte sich drehen, da ging Paul Welker aus der Kurve, gab zweimal Gegensteuer, und sie waren im normalen Geradeausflug. Herta atmete auf, und das Herz schlug ihr hoch. Welch ein wundervoller, kühner Sport!

185 Paul Welker schloß eine Rechtskurve an und nahm das Gas fort. Gleichzeitig drückte er das Steuer vor und ging im flachen Gleitflug nieder. In Häuserhöhe fing er elastisch ab, zog mählich an und landete auf dem Platz.

Er stellte den Motor ab und riß die Mütze vom Kopf. Herta Land machte sich frei und schaute ihn glückstrahlend an. Ein dünnes Lächeln schlich sich über sein Gesicht. »Hast du alles verstanden und mir folgen können?«

»Ich habe alles gesehen und auch verstanden. Nur die Rechtskurve war mir noch ein bißchen schleierhaft. Das Gefühl schien mir viel unangenehmer als bei der Linkskurve.«

»Das geht den meisten Fliegern so. Die Linkskurve liegt mehr im Gefühl. Man hat das schon zu erklären versucht. Es hängt wohl in der Hauptsache mit dem Drehsinn des Motors zusammen. Man sagt auch, die Linkskurve fliegt sich leichter, weil das Herz als Gefühlszentrum auf der linken Seite liegt. Das ist vielleicht möglich, denn es ist auch Tatsache, daß die meisten Radfahrer und Automobilisten lieber und besser Links- als Rechtskurven fahren.«

Herta war das begreiflich, da es ihr beim Schneeschuhlaufen ähnlich ging.

»Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Aber es ist wahr, ich mache viel lieber einen Telemarkschwung nach links als nach rechts. Merkwürdig!«

Paul Welker rollte die Maschine zum Start.

»Wir wollen jetzt gleich mehrere Schulflüge machen. Ich werde starten, und du versuchst dann oben, vorerst mal geradeaus zu steuern. Du kannst ruhig einige Steuerbewegungen machen, ich werde im rechten Zeitpunkte schon eingreifen.«

Sie starteten, und Herta faßte oben kräftiger in die Steuer. Sie machte alle die Fehler von Anfängern. Die Steuerbewegungen waren zu hart und ruckartig, es fehlte die Geschmeidigkeit und das Schmiegsame. Beim Ziehen überzog sie, namentlich auch, da es eine Maschine 186 ohne Dämpfungsflächen war. Wenn sie etwas falsch machte, stieß ihr Paul Welker kräftig in den Rücken und korrigierte sie.

Sie flogen mehrere Platzrunden, und beim fünften Start versuchte Herta Land, in die Kurven zu gehen. Es zeigte sich schon bald, daß sie Fliegergefühl besaß. Sie fing schnell an, weiche Steuerungen zu geben, und fühlte es selbst, wenn sie überzogen hatte. Eigentlich machte ihr nur das Landen größere Schwierigkeiten.

Als sie an diesem Morgen vom Flugplatz nach Hause gingen, sprach Paul Welker: »Du wirst es rasch lernen. Wenn du so weiter machst, lasse ich dich in acht Tagen allein los.«

Sie schulten jeden Morgen und jeden Abend. Nach zwanzig Flügen flog Herta schon so, daß Paul Welker hinter ihr auf seinem schmalen Sitz saß und nichts mehr zu verbessern hatte. Er erkannte, daß sie besser fliegen würde als er. Sie fühlte mit der Maschine, gab jede Steuerbewegung aus sich selbst heraus und flog meisterhaft abgetastete Kurven. Die Landungen waren mit wenigen Ausnahmen gut, wenn auch zu kühn und mit zu viel Fahrt. Dies war der einzige Grund, warum er noch nicht den Mut hatte, sie allein fliegen zu lassen.

Aber das kam anders.

Herta Land trug in ihrem Innern die feste Gewißheit, daß sie fliegen konnte. Daß er immer noch hinter ihr saß und auf sie aufpaßte, war ihr nun lästig, und sie hatte die Empfindung von Unfreiheit. Sie konnte fliegen, davon war sie überzeugt. Und diese Ueberzeugung ließ ihr keine Ruhe mehr.

Eines Nachts wachte sie auf, und ihr kam der Gedanke: Heute morgen werde ich allein davonfliegen. Ohne daß er es weiß. Ganz einfach losfliegen werde ich!

Sie sah nach der Zeit. Es war fünf Uhr morgens.

Da kleidete sie sich eilig an, hüllte sich in ihren Pelz und lief den weiten Weg am See entlang und durch den Wald nach Paul Welkers Flugplatz. Der Mond stand 187 weiß über den Bäumen, und im Südosthimmel verblaßten die Sterne.

Sie ging zum Schuppen und öffnete. Ein Monteur war da und füllte Benzin in eine Maschine. Sie ging auf ihn zu und sagte: »Helfen Sie mir doch einen Augenblick die Schulmaschine zum Start bringen.«

Er schaute sie groß und fragend an. »Wat wull'n Se jetzt mit de Scholmaschin'? Herr Welker kümmt nich vor Klock söben.«

Herta Land lachte und antwortete seelenruhig: »Ich will versuchen, allein zu fliegen!«

»Wat wüll'n Se dau'n?«

»Ich will allein fliegen!«

Das schien ihm unbegreiflich. Er glaubte, sie wäre übergeschnappt. »Minsch, paß man upp, dat's di nich de Knaken breckst!«

»Ich sage Ihnen, daß ich nicht die geringste Lust habe, mir die Knochen zu brechen. Aber wir wollen uns beeilen, sonst kommt Herr Welker, und der ganze Spaß ist verdorben.«

Der Monteur kletterte kopfschüttelnd von der Maschine. »Wenn dat man keen Quatsch ward,« sprach er immer wieder, während er schob.

Von den Türmen der Stadt schlug es sieben Uhr.

Herta hatte sich in dichte Pelze gehüllt, einen wollenen Schal um den Hals geschlungen und eine gefütterte Ledermütze über den Kopf gezogen. Sie kletterte in den Führersitz und prüfte Steuerungen und Hähne. Der Monteur pustete sich in die verfrorenen Hände und schob zwei Klötze vor die Räder. Dann drehte er den Motor durch.

»Aus?« – – »Aus!«

»Frei?« – – »Frei!«

Herta drehte an der Anlaßkurbel. Der Motor sprang nicht an.

»Hei is to kolt. Hüt freert dat Steen und Been tausamen,« brummte der Monteur. Er spritzte Benzin in die Zylinder und drehte nochmals durch.

188 Jetzt sprang er an.

»Lat se man irst good wormlopen. Wenn Se alleen abhaun wullt, dann möt wi irst föftig Kilo Ballast achtern rinsmiten.«

Er lief nach der Halle und brachte zwei Säcke Ballast, die er hinten beim zweiten Sitz in die Maschine warf. –

Der Tag graute. Herta war ruhig und voll Erwartung. Sie hatte nur einen Gedanken: Heute muß ich fliegen. Heute oder gar nicht. Dann schlich für kurze Zeit das unbehagliche Gefühl über sie, das alle Anfänger kurz vor dem Start haben. Aber sie erstickte es.

Alles war bereit.

Der Monteur legte sich mit seinem ganzen Körpergewicht auf den Schwanz der Maschine, und Herta gab langsam Vollgas. Der Tourenzähler stieg auf zwölfhundertvierzig.

Der Monteur kam bei und wischte sich die Nase. Umständlich kletterte er am Sitz hoch und schnallte Herta fest. »Allens in Ordnung?«

»Alles!«

»Nu kann't losgahn. Oewers fleig'n Se nich von'n Platz furt! Denn man tau!«

Nun war es so weit. Der Monteur zog die Klötze fort. Herta fühlte, wie eine eiserne Ruhe über sie kam.

Sie gab Vollgas und zog mit kurzem Start die Maschine von der Erde. Rauschend schwebte sie in die Morgendämmerung. Sie spürte nicht die eisige Kälte, die ihr das Gesicht peitschte. Sie wußte nur, daß sie flog. Allein flog.

Im Augenblick, als sie schwebte, überkam sie die Gewißheit, daß ihr überhaupt nichts passieren konnte. Es war ja alles so einfach, so selbstverständlich. Am Ende des Platzes ging sie in die Linkskurve. Die Maschine tat, was Herta wollte, war gehorsam wie ein treuer Hund. Die Maschine lebte ja mit ihr. War ihr einverleibt. Ein Stück ihres eigenen Selbst schien sie zu sein.

189 Sie flog zwei Platzrunden und ging in den Gleitflug. Mit etwas zu hoher Fahrt landete sie glatt vor dem Schuppen.

Der Monteur kam herbeigesprungen und grinste über das ganze Gesicht: »Na, denn gratuliere ick Se man, Fräulein. Dat dörp Se glöwen, ick heff mihr Angst utstahn as Se. Dat dörp Se mi, wahrhaftigen Gott. glöwen.«

In Herta Land jubelte es.

»Ich werde gleich probieren, ein Stück weiterzufliegen!«

Ihr zweiter Start war formvollendet. Sie blieb im Kurs liegen und zog die Maschine. In wenigen Minuten war sie tausend Meter – –

Im Osten färbte sich der Himmel.

Sie stieg in das Fest der aufgehenden Sonne.

Ruhig saß sie am Steuer und schaute mit trunkenen Blicken vor sich ins Unendliche. Höher und höher stieg sie, und es war, als hätte sie die Erde vergessen. Sie schien ihr so fern und vernebelt.

Eine namenlose Wärme faßte ihr bis ans Herz und rüttelte an der verschlossenen Gruft ihrer Seele wie ein heißer Frühjahrswind.

Sie schien auferweckt, auferstanden und emporgehoben in dieser seligsten Einsamkeit, in die kein Laut drang als der donnernde Hymnus ihres Achtzehnzylinders. Das starre Material schien ihr lebendig zu werden in dieser Höhe, ein bester und einziger Freund.

Rot schoß es auf, und mächtige Feuer schienen zu lodern.

Zwei schleierdünne Wolken schwammen durch das blendende Rot in eine traumferne Unendlichkeit.

Herta Land stieg höher.

Glühende Feuerballen stürzten ihr in die Augen.

Wieder kamen zwei feine Wolken. Fast körperlos waren sie und zart. Rechte Gaukler! Sie verwehten wie die Bilder einer Dämmerstunde.

190 Sieghaft stieg das Licht. Alles Schlafende, alles Träumende, alles Tote erwachte.

Herta Land sah nach dem Barographen. Sie war viertausendachthundert Meter. Es ist Zeit, dachte sie, und legte die Maschine in Gleitflug. Sie versank in ein Meer, schwebend und schweigsam.

Eine Harfe hörte sie klingen.

Da schrak sie hoch. Nun hieß es aufpassen! Dort war der See. Wie flüssiges Gold lag er im Morgenlicht.

Ein Schleier kam und zerstob vor ihren Augen.

Unter ihr lag der Flugplatz. In einer steilen Linksspirale kam sie über dem Platz herunter und landete mit kurzem Auslauf.

Der Traum war verrauscht.

Sie sah, wie Paul Welker über den Platz eilte.

Da sprang sie aus der Maschine und lief ihm entgegen. Die Leuchte des Tages stand am Himmel mit abertausend schenkenden Armen. 191

 


 << zurück weiter >>