Roland Betsch
Der Wilde Freiger
Roland Betsch

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6.

Die Mailänder Konkurrenz war zu Ende. Man hatte verschiedene Ueberraschungen erlebt. Die Amerikaner standen an der Spitze. Das Riesenflugzeug einer Chicagoer Großfirma hatte die transatlantische Probe meisterhaft bestanden. Es war sowohl im Bau als auch in den Flugeigenschaften von seltener Vollkommenheit, und die europäischen Ueberseemaschinen waren von diesem genial konstruierten, zwölfmotorigen Typ mühelos geschlagen worden. Auch die amerikanischen Jagdmaschinen standen an der Spitze. Der 8-Zylinder Whitschall-Motor gab eine brillante Steigleistung und zeichnete einen verblüffend konstanten Tachographenstreifen. Eine Unzahl von neuen Typen war bei dieser Konkurrenz gestartet. Darunter auch mehrere Schwingenflieger und einzelne Fesselflieger, die eine ungarische Firma geliefert hatte. Die deutschen Maschinen waren solide, durchdacht, elegant in der Form, aber die Steigleistungen blieben hinter den anderen zurück. Mehr Kuriosum als praktisch von Bedeutung war ein englisches Sportflugzeug. Es war ein kleiner, freitragender Eindecker mit einer dünnen Bespannung von Seehundsleder und einem hundertundzehnpferdigen Umlaufmotor. Die tragende Fläche betrug nur sechs Quadratmeter, und es war das schnellste Flugzeug der Welt. Eine Geschwindigkeit von 280 Kilometern war mehrmals einwandsfrei von der technischen Kommission abgestoppt worden. Das Flugzeug hatte nur für eine halbe Stunde Benzin und mußte außer Konkurrenz starten, da es die Bedingungen für Betriebsstoffe nicht erfüllte.

76 Hans Welker und Kurt Seeberger hatten ihre Arbeit gemacht und waren mit dem Ergebnis ihrer Reise zufrieden. Sie verließen das Feld. Auf dem Mailänder Bahnhof verabschiedeten sie sich. Seeberger fuhr mit dem Nord-Süd über den Gotthard, und Hans Welker wollte über Verona nach München, von wo ihm der Geruch einer neuen Jagdmaschine in die Nase gestiegen war.

In Verona nahm er den D-Zug nach Innsbruck.

Er setzte sich in ein Abteil erster Klasse. Es war leer und roch dumpfig. Er öffnete die obere Fensterklappe und warf sich in die roten Polster.

Eine schläfrige Befriedigung lag in seinem Gesicht. Er warf die Beine auf den gegenüberliegenden Sitz und zog eine Anzahl von Photographien aus der Tasche. Es waren technische Aufnahmen von englischen und amerikanischen Maschinen, die bei der Flugwoche konkurriert hatten. In der Hauptsache Jagdtypen. Einige schlanke Rumpfgerippe aus Stahlrohr, unbespannt und mit Angaben der Rohrstärken. Feingliedrige Eschenholzkonstruktionen und startfertig montierte Flugzeuge.

Zwischen den schmalen Schlitzen der faltigen Augenlider hindurch betrachtete er aufmerksam die Bilder.

Jede Photographie kostete ihn tausend Lire. Aber er hatte sie, und solche Bildchen waren, weiß der Teufel, nicht leicht zu bekommen. Und wertvoll waren diese Fetzen; was waren tausend Lire? Er öffnete halb den Mund und brütete in die Dämmerung des Novemberabends. Ungeahnte Möglichkeiten schwollen ihm wie eine Brandung entgegen, mit springendem Gischt und tosender Kraft. Er holte den flachen Lederkoffer aus dem Gepäcknetz und entnahm ihm eine Rolle mit Blaupausen.

»Bitte sehr, auch damit kann ich dienen« – sprach er lachend zu seinem unsichtbaren Gegenüber – »gibt es etwas, was ich nicht bekommen kann? Gibt es ein Geheimnis, das ich nicht auseinanderreiße und zerfetze wie das Flitterkleid einer Dirne? Gegen eine Geldbrieftasche ist kein Gewissen widerstandsfähig genug!«

77 Er studierte über den Zeichnungen und dachte über ihre Ausführung nach. Fand blitzschnell und ohne lange Ueberlegung verschiedene Aenderungen, die ihm gut schienen und die er sofort mit einem Bleistift hineinkorrigierte.

Das war keine Kleinigkeit gewesen, bis er das Material endlich davonschleppen konnte. Zehntausend Lire! Man muß den Leuten gleich mit größeren Summen ins Gesicht springen, Gewissen und Ehrgefühl und Rationalitätendünkel müssen davongefegt werden, wie lahme Hammelherden von einem Gewittersturm.

Zehntausend Lire! Wer wagt es, zu widerstehen? Welcher armselige Angestellte mit einer Schar halbverhungerter Kinder und einer abgerackerten Frau will sich dagegen anstemmen? Zermalmt werden alle Bedenken, wie die Kieselsteine von der Straßenwalze.

»Das wäre mir doch eine Sache, die ich nicht auf die Beine brächte!« Hans Welker zeigte die Zähne und kritzelte mit dem Bleistift eine Skizze in die Ecke einer Zeichnung.

Die Nachtwache selbst hatte ihm diese Zeichnungen aus den Arbeitsräumen des Aeronautischen Preisrichterkomitees gestohlen. Den Bock hatten sie hier zum Gärtner gemacht; war doch wirklich zum Lachen!

Nur eines ärgerte ihn maßlos. Ueber die Sportmaschine des Engländers hatte er nichts Näheres erfahren können. Da hatten ihn alle Bestechungskünste im Stich gelassen. Der Monteur dieses ledernen Engländers hatte ihm glatt ins Gesicht gelacht. Es war nicht zu glauben. Nicht mal eine lumpige Photographie hatte er machen können, denn dieser Kerl hatte die Maschine nicht eine Sekunde aus den Augen gelassen und nachts unter ihr geschlafen. Hans Welker zog die Stirn in Falten und nahm sich vor, einen Mann eigens nach England zu schicken, der diesen Engländer breitschlagen sollte.

Er verbarg die Zeichnungen und Photographien sorgfältig unter seinen Kleidern und trommelte an der Fensterscheibe. Bei der Zollkontrolle hieß es vorsichtig sein. Das wäre ja ein Trauerspiel geworden. wenn 78 diese verschimmelten Zollbeamten ihm die Zeichnungen beschlagnahmt hätten!

Der D-Zug lief in Ala ein. Das Gepäck wurde revidiert. In jedes Abteil kamen die Zollbeamten und durchwühlten die Koffer. Hans Welker verstand es. Er besänftigte den dickbeschnauzbarteten Oesterreicher auf Anhieb. Und freute sich wie ein Kind.

Der Zug fuhr polternd aus der Bahnhofshalle.

Hans Welker legte sich in die staubigen Kissen und schloß die Augen. Eine klare Novembernacht war vom Westen gekommen, still und verträumt wie ein spielmüdes Kind.

Eintöniges, taktmäßiges Stoßen der Räder und leichtes Schlingern des Wagens in den Federn. Von Zeit zu Zeit vorbeiflüchtende Schatten am Fenster, blitzende, streifenartige Lichter und fernverhallende Signalglockenschläge. Ein Donnern, wenn die schweren Wagen über eine Brücke rollten, ein Knirschen und Aufstöhnen in den Kurven. Dunkle, vielgestaltige Silhouetten schoben sich in den Horizont mit leuchtend funkelnden Rändern, wie von einem fernen Rampenlicht beleuchtet. Das waren die südlichen Ausläufer der Dolomiten. Dahinter strahlten schneebedeckte Spitzen und Kuppen, kobaltblauschimmernd und silberflitternd.

Hans Welker saß in Gedanken in einer englischen Maschine und studierte die Ruder. Er vergaß Zeit und Ort.

»Rovereto! Ro–vereeee–to! Nach Riva umsteigen!«

Links ragte der Montebaldo, wie ein schlafender Riese zusammengerollt, mit bläulich funkelndem Haupt. Die Sterne leuchteten stärker und gossen ihre ewige Ruhe und gesetzmäßige Größe über das verschwenderische Nachtgewand der Berge. Rechts stieg die vornehm geschwungene Filadonna wie eine stumme Wächterin in das dunkle Blau.

Hans Welker zog den Schirm vor die Lampe.

Da schien die weiche Nacht stärker zu leuchten, und die schneebedeckten Zacken der Dolomiten wurden 79 plastischer und gewaltiger. Näher traten sie heran, schwollen riesenhaft und unendlich, öffneten purpurnschillernde Schluchten und todvereiste Kamine. Im Nordwesten schlief die majestätische Brentagruppe mit der Kaiser-Franz-Joseph-Spitze, und über der eingehüllten Trienter Kreuzspitze stand die farbenwechselnde Vega wie ein Diamant im weißen Haar einer Königin.

Mit halbgeschlossenen Augen blickte Hans Welker in diese weite Nacht der Schweigsamkeit. Er hatte keinen Sinn für das Gewaltige der Natur, das Gigantische jener unendlich vielgestaltigen, ragenden Formen, die alles lautlos aus der Wirklichkeit zu heben schienen.

Er dachte über ein Flügelprofil nach, das ein Franzose mit anscheinend gutem Erfolge ausgeführt hatte.

Dann wurde er müde und schlief ein.

Halb im Schlaf noch hörte er, wie aus der Ferne, die Stimme des Schaffners: »Franzensfeste!« . . .

Die schweren Wagen hatten wieder angezogen.

Hans Welker öffnete die Augen.

Da stand eine Gestalt an der geschlossenen Innentür.

Eine Dame im Sportkostüm mit einem vollen Rucksack und Schneeschuhen. Hans Welker war halb erschrocken. Mit der Hand fuhr er sich an den Kopf.

Sie zog den grünen Schirm von der Lampe, legte Schneeschuhe und Rucksack ins Gepäcknetz und lächelte.

»Sie erschrecken, Herr Welker? Darüber könnte man sich freuen. Ich hätte nie geglaubt, daß Sie erschrecken können.«

Sie machte eine halbe Wendung und klammerte sich mit einem spöttischen Blick an Hans Welker. Ihr elastischer Wuchs schien sich zu dehnen, mit den schlanken Fingern der rechten Hand griff sie scheinbar spielend in die schwarzen Haare, die sie in einer ungekünstelten, hochstehende Frisur trug.

Hans Welker hatte rasch seine Fassung gefunden. Er fühlte etwas Unbestimmt-Gefährliches und wußte, daß es hier auf Augenblicke ankam. Er mußte etwas von sich 80 abschütteln, einen Vorteil dieses Gegners zuschanden machen. Mechanisch zeigte er die Zähne.

»Ich kenne Sie nicht. Ganz egal! Sie gefallen mir! Ich will Ihnen was sagen.« Er zwang sich mit Gewalt, ihren lauernden Blick auszuhalten. »Ich will Ihnen was sagen: Sie sind fabelhaft skrupellos!«

Ein Nebel von Argwohn brach aus ihren großen Pupillen. »Was wollen Sie mit dieser Erkenntnis?«

»Mit dieser Erkenntnis sind Sie für mich ungefährlich. Woher kennen Sie mich?«

Hans Welker griff nach seinen Taschen. Hatte er die Photographien? Natürlich!

»Sagen Sie, woher kennen Sie mich eigentlich? Wie kommen Sie mit einem Male hierher? Bitte, nehmen Sie doch Platz!«

»Das hätte ich auch ohne Ihre höfliche Aufforderung getan. Woher ich Sie kenne? Gott, Hans Welker kennt man. Ich kenne Sie von Johannisthal her. Ist doch weiter nicht verwunderlich. Ich traf Sie vor einiger Zeit auch in München. Einfach, aber so überaus einfach.«

Hans Welker fand keine Klarheit. Wie war denn die zu behandeln? Höflich oder frech? Zart oder gewaltsam? »Aber warum stehlen Sie sich in mein Abteil?«.

»Was reden Sie für unlogisches Zeug!« Langsam wippte sie mit dem linken Fuß und rieb die zusammengeballten Finger an den inneren Handflächen. »Hier sind vier Sitzplätze! Haben Sie diese alle vier gekauft? Ich traue Ihnen das zu, denn Ihre Selbstbewunderung mag so weit gehen, daß Sie versuchen, sich von der übrigen Menschheit zu isolieren. Sie greifen so ängstlich in Ihre Taschen! Ich habe das Gefühl, als ob Sie etwas verborgen hielten, was Sie eigentlich rechtmäßig gar nicht besitzen dürfen. Täusche ich mich? Nur nebenbei!«

»Sie kümmern sich um fremde Angelegenheiten.«

»Nicht, daß ich wüßte. Sagen Sie, Hans Welker, haben Sie verbrauchte Nerven? Sie träumten vorhin mit offenen Augen. Sie waren vollkommen wach und redeten, 81 wie man nur im Traum redet. Diese interessante Tatsache hat mich verführt, Ihr geheiligtes Abteil zu betreten, um diesen kleinen spiritistischen Scherz zu genießen.«

»Ich weiß nicht, was Sie wollen. Erzählen Sie mir, wer Sie sind! Ich interessiere mich für Ihre gewagte Persönlichkeit. Sie haben ein schlankes Gesicht, nicht gerade hübsch, aber vornehm. Ich kann Ihnen das ruhig sagen, denn für Schmeicheleien sind Sie nicht empfänglich. Sie haben schwarze Haare, die im Seidenlicht blau schimmern wie das Gefieder einer Krähe. Darin liegt eine gewisse Extravaganz. Ihr Auge mag für andere schwer zu ertragen sein, für mich nicht! Lassen Sie das Lächeln, ich täusche mich nicht.«

»Sie begutachten mich da mit dem Blick eines Porträtmalers. Aeußerlichkeiten trügen. Und was Sie alles von mir wissen wollen! Wer ich bin? Wo geboren, beheimatet und wer gegebenenfalls für meinen Unterhalt aufzukommen hat, was?« Sie ließ sich auf dem leeren Polster ihm gegenüber nieder. Dabei zeigte sie nicht ohne Absicht ein feingeschwungenes Bein.

Lachend fuhr sie fort: »Bin ich in einem Polizeibüro? Habe ich gestohlen, gemordet?«

»Wer weiß!« Hans Welker kniff die Augen zusammen und dachte im gleichen Augenblick: Sie würde stehlen und morden, wenn es darauf ankäme. Sie hat kein Gewissen. Der Mund ist sinnlich, die Augen sind sinnlich. Alles an ihr ist sinnlich.

»Warum zeigen Sie mir Ihre Beine? Sie legen mit Absicht das Kleid so, daß ich Ihr Bein sehen kann. Ich schließe daraus, daß Sie es aus irgendeinem Grunde nötig haben, mit Ihren Reizen zu spekulieren. Brauchen . . .«

Blitzschnell hob sie die Hand. Drohend! Er schwieg. Brauchen Sie Geld? wollte er sagen, aber er schluckte es hinunter. Gegen diese Handbewegung war nicht anzukommen. Scheinbar gleichgültig stellte sie die Spitzen der Finger gegeneinander. »Bei Gott, wenn Sie geschmacklos werden, verschwinde ich.«

82 »Ob ich das ertragen könnte?«

»Scheinbar vielleicht, äußerlich! Aber innerlich würden Sie mir nachkommen. Sie würden mich suchen. Was machen Sie für Bewegungen mit Ihren Händen? Grade eben sahen Ihre Hände aus wie Krallen. Ich bringe das gar nicht fertig, so die Glieder zu bewegen. Ob man das lernen kann? Ich glaube, Sie sind als Raubtier auf die Welt gekommen. Zeigen Sie mir doch mal die Bilder, die Sie da in der Tasche haben! Na?! Ich verrate nichts!«

Hans Welker bäumte sich gegen diesen Angriffsgeist. Da gab es nur Gewalttätigkeit. »Sie sind unverfroren! Frech sind Sie! Sie verstehen es allerdings, Ihrer Frechheit ein interessantes Gewand zu geben, hüllen sie in ein gewisses Draufgängertum ein. Aber ich bin für solche Scherze unempfindlich. Bis jetzt finde ich das Gespräch noch ganz unterhaltsam, aber wenn Sie anfangen, mir lästig zu werden, werfe ich Sie glatt hinaus!«

Ein klingendes, kurzes Lachen. »Jetzt schnappen Sie nach Luft wie ein Karpfen im abgelassenen Teich. Wenn man Ihnen eine kleine Gaunerei ins Gesicht sagt, werden Sie unverschämt. Das finde ich zu durchschnittlich. Ich hätte von Ihnen etwas anderes erwartet.«

»Glatt heraus! Warum schleichen Sie um die Wahrheit? Was wollen Sie von mir? Heraus mit der Sprache! Heraus!! Seien Sie doch in Drei-Teufels-Namen nicht so verflucht feige! Sie haben das ja gar nicht nötig. Warum lauern Sie so lange? Ich bin zu allem bereit. Zweifeln Sie an meiner Großzügigkeit?«

Sie suchte nach einer Antwort. Jetzt hatte er sie getroffen. Er fühlte es selbst, daß sie festgefahren war. Das währte nur Sekunden.

Sie beugte sich vor, stützte den Ellbogen auf das Polster und stieß mit dem wohlgepflegten Nagel des kleinen Fingers an die Zähne. »Mir fällt da ein, daß Sie wohl aus Mailand kommen. Sie staunen, daß ich so orientiert bin? Ich kenne Sie genauer, Hans Welker, 83 als Sie glauben, denn ich interessiere mich für Menschen Ihres Schlages. Wenn Sie in Mailand waren, haben Sie gestohlen! Wetten?«

Hans Welker sprang auf und griff nach ihrem Handgelenk. Sollten Sie hier miteinander ringen? »Was wollen Sie wissen? Sie treiben Spiegelfechterei. Sie werden sich täuschen, wenn Sie glauben, mich klein zu kriegen!«

Sie wehrte sich, und er fühlte, wie etwas Macht über ihn bekam. »Mich hat noch niemand in den Käfig gesperrt, und Sie sind die letzte . . .« Sie krallte ihn am Arm, und während er sie mit Gewalt ins Polster drückte, sprach sie ruhig: »Ich freue mich doch, daß ich Sie hier so zufällig getroffen habe. An diese Extravaganz meines Schicksals hätte ich gar nicht geglaubt!«

Er sah ihr voll ins Gesicht. Sein Atem verlor an Gleichmaß. Ihr Widerstand war geheuchelt, das merkte er. Mit beiden Händen hatte er sie gepackt und neigte sich zu ihr, sah, wie sich ihr Mund öffnete und die weißen, kräftigen Zähne hervorleuchteten.

Mit feinster Abstimmung im Tonfall sprach sie: »Sie . . . sind ja . . . ein . . . Schwächling . . . ha ha ha . . .«

Er überwand etwas mit ungeheurer Willenskraft. Bäumte sich auf dagegen. Wenn ich sie eben geküßt hätte, durchzuckte es ihn, dann läge ich am Boden. Sie wollte es, sie wollte mich damit fangen. Er trat einen Schritt zurück und pfiff durch die Zähne. »Ihnen springt ja die nackte Sinnlichkeit aus den Augen!« rief er verächtlich. »Schauen Sie doch einmal hier in den Spiegel!«

Sie erhob sich langsam und ging zum Fenster. »Kinderei! Warum ließen Sie es sich einfallen, handgreiflich zu werden?«

Innerlich dachte sie: Ich hatte es noch nicht erwartet. Ich war nicht darauf vorbereitet. Das war eine Niederlage, die ihr zu überraschend gekommen war. Entschlossen trat sie vor Hans Welker hin.

»Sie denken wohl, ich habe mich nicht in der Gewalt? Das ist ein unverzeihlicher Trugschluß. Aber Ihnen sehe 84 ich es an, daß Ihre Ruhe Sie ein ganz Teil Ueberwindung kostet. Oh! Lassen Sie das graue Lachen! Haben Sie sich schon einmal selbst beobachtet. Wenn Sie lachen, dann sind Sie von einer absurden Häßlichkeit!«

»Offen gesagt, Sie geben mir ein Problem zu lösen. Ich bin nicht so nichtstuerisch veranlagt, daß ich Zeit fände, mich mit der Frauenpsyche zu beschäftigen, aber wenn man Sie hier so stehen sieht wie ein lebendiggewordenes Rätsel, könnte man verleitet werden, Sie interessant zu finden. Vielleicht liegt hinter dem ganzen Geheimnis eine verblüffend einfache Veranlagung. Schließlich sind ja alle Abweichungen vom Normalen nur betrunkene Zufallslaunen der Natur. Sie wären ein gefundenes Fressen für meinen Grafen Scanzoni. Der zerlegt Sie auf Anhieb in Ihre Bestandteile.«

Hans Welker warf sich erleichtert in den Sitz und erwartete neugierig ihre Antwort.

»Der Mann könnte mich nicht für sich einnehmen, zumal er mit einem Vorurteil an seine Aufgabe herantreten wird. Solche Experimente mißglücken in der Regel.«

Der edle Kranz der Sarntaler Alpen stieg aus dem tiefen Blau.

Sie zog neue Register und sprach für sich, ohne sonderliche Betonung, und es klang wie eine abgelesene Predigt:

»Ich liebe starke Menschen. Man kann sich an ihre Kraft klammern, und sie stürzen nicht. Sind wie ein derbes Führerseil bei steilem Kammweg. O, es ist halsbrecherisch, sich mit solchen Menschen zu messen, und wenn man sich einmal moralisch das Genick gebrochen hat, dann . . .« Mit einer halben Wendung des Oberkörpers beugte sie sich zu Hans Welker: »Ich möchte fliegen lernen! Dieser waghalsige Sport kann mich ungemein reizen. Ich habe mancher Gefahr kaltlächelnd ins Auge geblickt, und ich glaube, auch Sie, Hans Welker, könnten mir mit Ihrer Luftakrobatik das Gruseln nicht beibringen! Ja, ich möchte fliegen lernen! Wollen Sie mich nicht mitnehmen? Im Ernst! Ich kann ja der 85 Ordnung halber vielleicht Ihre Privatsekretärin werden! Ich glaube, ich würde ganz gut für Sie passen!«

Er stand aufrecht vor ihr und fand Gefallen an diesem Vorschlag. Zum wenigsten wäre das doch wieder etwas gegen seine ewige Langeweile.

Langsam drehte er den Kopf und schielte aus den Augenwinkeln. »Ich bin einverstanden!«

Sie war halbwegs überrascht und blitzschnell entschlossen. »Abgemacht! Ich komme mit Ihnen. Ich habe niemand, der mir im Wege steht!«

Er suchte nach einer Demütigung für sie. »Ich kann es ja ruhig mal versuchen, denn wer hindert mich, Sie jederzeit vor die Türe zu setzen?«

»Das dürfte Ihnen vielleicht schwer fallen. Was glauben Sie denn? Ich würde Ihnen ja Ihre ganze Maskerade vom Leib reißen. In der Oeffentlichkeit kennt ja niemand Ihr Gesicht. Da gehen Sie hindurch, gespreizt und aufgeblasen. Wie eine Filmfigur. Aber ich würde Sie ohne Retouche vorführen, im Ankleideraum Ihres Charakters.«

»Geben Sie sich doch keine Mühe, mir Angst zu machen. Wollen Sie am Ende damit Ihre Gehaltsforderung hochschrauben?«

»Sie würden mir das gar nicht bezahlen können, wenn ich weiter nichts unternehmen wollte, als Ihre rohen Umgangsformen zu glätten. Auf Ihr Gehalt bin ich nicht angewiesen. Gott sei Dank nicht! Sie lachen vielleicht, wenn ich Ihnen sage, daß ich zweimalhunderttausend Mark Vermögen habe. Das geben Sie so nebenbei jährlich an Bestechungsgeldern aus. Vor fünf Jahren haben Sie nicht mal den vierten Teil davon besessen, und man kann nie wissen, was Sie in weiteren fünf Jahren besitzen werde. Es ist nicht ausgeschlossen, daß Sie dann in Berlin an der Friedrichstraße stehen und Schnürsenkel verkaufen oder in irgendeinem obskuren Lokal die ungewaschene Hand nach Trinkgeldern ausstrecken.«

»Sie phantasieren!«

86 Der Gedanke an das, was sie gesagt hatte, flößte ihm Widerwillen ein. Er ekelte sich buchstäblich vor einer solchen Möglichkeit. Mit einem boshaften Blick beobachtete er ihre Bewegungen. Musterte die schweren Gebirgsstiefel, stahl sich aus den Augenwinkeln über die wohlgeformten Beine und kam über den schlanken Hals vorsichtig nach ihrem Gesicht. Er fühlte ihren Blick und kniff die Augen zusammen.

»Ist Ihnen zu hell hier? Ich kann ja die Lampe verdunkeln!«

Ihr Spott ärgerte ihn wieder. Reizte ihn zur Gewalttätigkeit. Er hätte sie ohrfeigen mögen, weil sie nicht nachließ, weil sie nicht erlahmte.

»Wissen Sie, wo ich herkomme? Ueber die Alon-Spitze! Vorher habe ich eine Wanderung gemacht mit Schneeschuhen in den Gletscherfeldern der Silvrettagruppe. Wenn Sie eine seelische Kräftigung brauchen, dann gehen Sie in das Gebiet des weißen Todes. Die Luft dieses vergessenen Gestades stärkt Ihnen das Rückgrat. Ich will Ihnen einen Vorschlag machen!«

Hans Welker hatte den Faden verloren. Sie war nicht vom einfachsten Schlag. Sie brachte Ueberraschungen.

»Ich bin sicher,« sprach Hans Welker, »daß jetzt etwas ganz Ausgefallenes ans Tageslicht kommt.«

»Ich kenne Ihren Geschmack noch zu wenig, um darauf antworten zu können. Sehen Sie da links hinüber! Dort tauchen diese weißen Spitzen auf. Ganz fein und friedlich wie die Lämmer. Das ist der Wilde Freiger. Dort habe ich mit dem Tode Duzfreundschaft geschlossen. Die Geschichte ist kurz und tragisch. Ich bin jahrelang mit einem Baron gereist . . . Nein, nein! Nicht wie Sie denken! Ich kannte ihn seit meiner Jugend. Wir hatten als Kinder schon zusammen Mohnblumen gerauft und waren im hohen Grase liegend mit den Wolken gesegelt bis in die fernsten Länder, die ein Kindertraum nur malen kann. Ich höre noch das Rauschen des Schilfs, wenn wir am schlafenden Waldsee lagen und 87 märchenselig in seine dunkle Tiefe stiegen. A bah! Nun werde ich noch sentimental! Das finden Sie abgeschmackt und widerwärtig. Sie haben vielleicht recht, und das ist ja alles längst vorüber. Verrauscht wie ein fruchtbarer Frühjahrswind. Also, was wühle ich da in der Kammer der Vergangenheit? Später reisten wir. O, ich sage Ihnen, Hans Welker, was habe ich gesehen auf diesen Reisen! Aber das Schönste waren die Hochtouren, die wir im Winter auf Schneeschuhen unternahmen. Tagelang durch diese schweigende Einsamkeit der vereisten Hochgebirgskämme. Denken Sie nicht, daß wir dort eine triviale Liebe spazieren führten! Wir verloren unsere Liebe. Ist das nicht seltsam? Das ewige Alleinsein tötete unsere Liebe ab. Sie erfror, erstarrte. Da können Sie auch sehen, wie schwächlich die Liebe ist. Sie verträgt keine Kälte, keine Einsamkeit und keine Gefahren. Das ist alles Büchergeschreibsel. Unsere Liebe mußten wir mit einem Male zu Grabe tragen. Wo, das weiß ich nicht. Auf dem zackigen Gipfel des Großglockners! Dort liegt sie vielleicht unter dem wildvereisten Kreuz, das auf der höchsten Spitze ragt und die Kleinheit des Menschen hinauspredigt in das Schweigen des Weltalls. Vielleicht auch liegt sie in den grünen Gletscherspalten des Finsteraarhorns, oder ist beim schwindelnden Gornergrat abgestürzt in die graue Tiefe eines wesenlosen Nichts. Wir aber wurden um so fester zusammengekettet. Es war, als ob uns beiden ein Kind gestorben wäre. Das können Sie nie verstehen. Ich sehe es Ihrem Gesichte an.«

Sie legte sich zurück und fuhr mit der Hand durch die Luft. Kein Muskel ihres Gesichtes bewegte sich.

Da sprang sie auf und deutete nach dem Fenster. »Sehen Sie dort! Die silberne Spitze ist der Wilde Freiger. Dort ist sein Grab. In einem Spalt. Mit einem Ruck war er fort. Ich kam gar nicht zur Besinnung, da war der Platz vor mir leer. Wie wenn ein Theatergeist in der Versenkung verschwindet: Ich weiß 88 es. Einer von uns beiden mußte gehen. Ich lebe, aber der Wilde Freiger steht bei meinem Schicksal, riesenhaft, wie eine stumme, gebieterische Warnung . . . Nun habe ich Sie doch wieder ein Endchen zum Staunen gebracht, was? Hans Welker!«

»Eigentlich nur deshalb, weil Sie sozusagen Ihrer Seele schon wieder ein neues Kleid angezogen haben. Aber wie ist das mit Ihrem Vorschlag?«

»Sie sind ein Sportsmann, Hans Welker. Ich sehne mich nach knirschendem Pulverschnee. Wir pilgern zusammen über den Arlberg auf die Valuga. Schlagen Sie ein! Ist das nicht eine grandiose Idee? Eine herrliche Abfahrt von der Valuga nach Zürs und über die Flexenstraße. Sie kommen mit, ich gehe sonst allein. Was machen Sie für ein Gesicht?«

Hans Welker hatte den Kopf auf der Brust hängen. Diese Möglichkeit reizte ihn. Er wandte den Kopf und wieder mußte er flüchten vor ihren Augen. Wie um sich zu befreien, sprach er:

»Es ist eine Laune. Aber warum nicht! Mich tyrannisiert zurzeit auch wieder die Langeweile des Daseins. Das könnte am Ende eine wohltuende Abwechselung werden! Sagen Sie mir, wie Sie heißen! Ich muß das jetzt auf der Stelle wissen!«

Das war ihm angeflogen. Seine eigenen Worte kamen ihm unverständlich vor.

Sie lachte.

»Ich heiße Herta Land!« 89

 


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